Kapitel 2
Abschied von Deutschland
Die Tasse, die Justus vor mich stellt, dampft und ist bis zum Rand gefüllt. Ich frage mich unwillkürlich, wie er es bis hierher geschafft hat, ohne auch nur einen einzigen Tropfen davon zu verschütten. Mit einem dankbaren Nicken sehe ich zu ihm auf und puste vorsichtig in den schaumigen Cappuccino, der ganz offensichtlich noch viel zu heiß ist, um ihn genießen zu können.
„Die haben heute Familientag.“ Justus öffnet mit einer zügigen Bewegung zwei Tütchen Zucker und gibt den Inhalt in seinen Cappuccino, bevor er umrührt. „Da kosten drei Brote nur so viel wie zwei.“
„Du könntest zweieinhalb einfrieren“, schlage ich vor.
Justus nickt. Nicht dass er es rein finanziell betrachtet nötig hätte, den Familientag der Bäckerei abzuwarten, um am Brot zu sparen, im Gegenteil. Aber da ist er wieder, der Pragmatismus, den ich so sehr an ihm und an unserer Beziehung schätze. Justus handelt nie überstürzt, nie unüberlegt, nie, wenn ein Risiko besteht. Alle seine Entscheidungen sind wohlüberlegt und basieren auf Vernunft. Genau wie bei mir.
Auch das nun sehr bald bevorstehende Schottlandjahr ist kein fixer Gedanke, wie der einer Abiturientin, die spontan nach Australien fliegt, weil sie vor dem Studium etwas von der Welt sehen will und Koalabären süß findet. Dass ich für dieses Jahr meinen Job als Bürokauffrau kündigen und es vor meinem Studium in Angriff nehmen und ohne Probleme bewältigen werde, steht schon seit einer halben Ewigkeit fest. Dass mein Arbeitgeber ein Mann ist, dem ich nie zuvor begegnet bin und dessen Stimme ich nicht einmal kenne, ist, wenn man den Rest meines Lebens betrachtet, allerdings tatsächlich ein wenig untypisch für mich. Aber ich vertraue auf meinen gesunden Menschenverstand und meinen Realismus. Außerdem hat der Lord eine nahezu surreal schöne Handschrift, und mir ist in meinem Leben bisher kein Mensch untergekommen, der derart schön schreibt und ein Psychopath, Serienkiller oder Vergewaltiger ist. Schönschreiber sind in 99 Prozent der Fälle intelligent und ausgeglichen, das sagt sogar Google.
Justus nippt an seinem Kaffee, der offenbar noch eine Spur zu heiß ist, und behält einen kleinen, schaumigen Milchbart zurück. Sofort führt er seine Serviette zum Mund, tupft diesen ab, faltet sie ordentlich wieder zusammen und legt sie zurück auf die Untertasse.
„Weißt du, was mir in Schottland fehlen wird?“, frage ich ihn.
„Ein Regenmantel?“
Ich muss lachen. Justus hat es so trocken gesagt, dass ich unsicher bin, ob er scherzt oder es ernst meint.
„Du!“, korrigiere ich ihn immer noch grinsend. „Du wirst mir fehlen.“
„Es sind doch bloß zwölf Monate“, erinnert er mich an unser letztes Gespräch. „Wir werden mit unseren Jobs beide so viel zu tun haben, dass die Zeit, bis du wieder in Deutschland bist, geradezu verfliegen wird. Apropos wieder in Deutschland – es wäre vielleicht praktisch, nach dem Jahr zusammenzuziehen.“
Zum Glück habe ich die Tasse gerade erst zum Mund geführt und noch nicht getrunken, sonst hätte ich mich vermutlich verschluckt. Betont langsam stelle ich sie zurück, wobei ein wenig Schaum überschwappt.
Justus sieht mich zwar an, scheint aber durch mich hindurchzusehen. Fast so, als würde er während des Gesprächs in seinem Kopf ununterbrochen etwas zusammenrechnen.
„Wir würden Miete und Sprit sparen“, zählt er auf.
Ich nicke und versuche, mir meine jäh aufkommende Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. So ein winziger Funke Romantik wäre ab und an bei dem ganzen Realismus doch nicht schlecht. So, wie Justus vor mir sitzt und mir das Zusammenziehen schmackhaft macht, als würde er mir gerade einen ranzigen Gebrauchtwagen verkaufen wollen, mag einfach keine Freude über den Vorschlag in mir aufkommen. Ich sehe, wie sich seine Lippen weiterhin bewegen, höre aber kaum noch zu. Gesprächsfetzen wie mit dem Fahrrad und vor der Arbeit und GEZ teilen dringen wie durch einen Wattebausch an mein Ohr. Fehlt nur noch, dass er mir ein günstiges Abo inklusive Hochzeit und erstem Kind anbietet. Wegen der Steuervorteile.
„Klingt gut“, sage ich und bemühe mich, es nicht unterkühlt klingen zu lassen, obwohl ich mich tatsächlich genau so fühle: unterkühlt, ernüchtert, auf den Boden der Tatsachen befördert.
Ich trinke meinen Cappuccino und sehe aus dem Fenster. Der Geschmack des heißen Getränks dringt gar nicht zu mir durch.
Am Fenster geht eine junge Frau mit Babybauch vorbei. Sie schiebt einen stylish aussehenden grauen Buggy mit drei Rädern, in dem ein pausbäckiges Kleinkind sitzt, vor sich her. Sie sieht ein wenig gestresst aus, blass und müde, auch wenn sie lächelt. Sie trägt einen ziemlich verstrubbelten Dutt, aus dem einige wirre Strähnen herunterhängen und ihr schmales Gesicht umspielen. Und irgendwie, obwohl in drei, vier Jahren auch bei uns exakt zwei Kinder – idealerweise ein Junge und ein Mädchen – auf dem Plan stehen, beneide ich sie. Für ihre Gegenwart, für ihr Jetzt.
Am nächsten Tag bringt Mia mich zum Flughafen. Nachdem sie sich auf der Fahrt sichtlich angestrengt zurückhält, brechen in der steril geputzten, riesigen Halle schließlich alle Dämme und sie tupft sich schluchzend mit einem Taschentuch das Gesicht trocken, während ich am Check-in-Schalter meine Unterlagen vorzeige und das Gepäck aufgebe. Anschließend gönnen wir uns einen sündhaft teuren und nichtssagenden Flughafen-Kaffee und nehmen auf den Plastikstühlen im Wartebereich Platz.
„Deutschland wird scheiße sein ohne dich“, beklagt Mia sich zwischen einem Schnäuzen in ihr Taschentuch und einem Schluchzen, das ihren Körper erzittern lässt. So verzweifelt habe ich meine Freundin zuletzt erlebt, als sie nach Wochen des Flirtens an der Hand des hübschen Eisverkäufers einen Ehering bemerkt hat.
Beruhigend streiche ich über ihren Rücken. „Das wird schon“, versuche ich sie aufzumuntern. „Du bist ja nicht alleine. Du hast Phillip, Mara und Yassin, Tabea, Lisa …“, zähle ich an meinen Fingern ab, doch Mia unterbricht mich mit einem heftigen Kopfschütteln.
„Das ist nicht dasselbe“, sagt sie mit geschürzten Lippen und erinnert mich mit einem Mal an ein bockiges Kleinkind.
Als schließlich mein Flug aufgerufen wird und Mia wie vom Donner gerührt aufspringt, gebe ich ihr einen sanften, aufmunternden Stoß gegen die Schulter und einen Kuss auf die Wange.
„Wir telefonieren jeden Tag“, verspreche ich und schultere mein Handgepäck.
Sie nickt, unfähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen. Mit einem ziemlich schlechten Gewissen, sie so zurückzulassen, mache ich mich auf den Weg zu meinem Gate. Nach einigen Metern bemerke ich, dass sie mir in einem etwas schnelleren Laufschritt folgt. Mit einem festen Griff umfasst sie mein Handgelenk.
„Mia!“, rufe ich halb belustigt, halb verärgert aus.
„Mir ist klar, dass ich mich wiederhole! Aber … ich weiß nicht, Bonnie, es ist einfach …“, bringt sie mit erstickter Stimme hervor. „Ich habe kein gutes Gefühl bei Schottland. Überhaupt kein gutes Gefühl.“
Kapitel 3
Ein denkbar schlechter Start
Als ich in Montrose, Schottland, ankomme, regnet es. Schwere, daumendicke Tropfen prasseln in rascher Abfolge an das hintere Wagenfenster. Ein Nebelschleier, dicht, grau und finster, hängt über dem gesamten Ortsteil, und es wird nicht besser, als wir Montrose verlassen und Lainsburgh ansteuern. Der Scheibenwischer fährt mit einem leicht quietschenden Geräusch unaufhörlich über das Frontfenster.
Seit ich dem Fahrer gesagt habe, wohin er mich bitte fahren soll, hat er kaum mehr auf die Straße gesehen und scheint mir stattdessen über den Rückspiegel fast ununterbrochen in die Augen zu starren. „Das Anwesen der Familie befindet sich etwa einen halben Kilometer außerhalb der Stadt Lainsburgh“, berichtet er, „einsam und abgelegen.“
„Man erzählt sich, dass es dort spukt“, fährt er nach einer kurzen Pause in breitem Englisch mit schottischem Akzent und so leise fort, dass seine Stimme kaum gegen das laute Prasseln des Regens ankommt.
Ich fühle mich unwillkürlich in den Anfang eines schlechten Horrorfilms hineinversetzt. Alles fügt sich zusammen: die endlos lang wirkenden schmalen und abgelegenen Wege, das Wetter, das klapprige alte Taxi und sogar die leiernde Stimme des Fahrers, die hervorragend zu seinen müden, blutunterlaufenen Augen passt und eine Geschichte erzählt, die er wahrscheinlich schon tausende Male zum Besten gegeben hat. Nur gut, dass ich ganz und gar kein Angsthase bin.
„Ach, wirklich?“, frage ich müde und mehr aus Höflichkeit, als aus ernsthaftem Interesse.
In den dunklen Augen des Fahrers, die mich immer noch durchdringend mustern (scheinbar kennt er den Weg so gut, dass er nicht nach vorn sehen muss), tritt ein fanatischer Glanz. Nackte Begeisterung darüber, dass ich ganz offensichtlich mehr hören möchte. Er nickt.
„Ja, wirklich“, antwortet er betont langsam und senkt bedeutungsvoll die Stimme. „Der damalige Lord hat vor sechzig Jahren seine Frau, die allseits beliebte Lady MacLain ermordet. Das hat die MacLains auf ewig geprägt. Weder sein Sohn, der danach mit seiner Familie dort gelebt hat, noch der Enkelsohn, der nun dort haust, wurden je in der Öffentlichkeit gesehen. Sie verlassen nie das Grundstück und sie sprechen mit niemandem. Nur manchmal, in dunklen Vollmondnächten, da sieht man den Lord am Fenster stehen und ins Nichts starren. Und man erzählt sich, dass jedem neuen Lord die Frau stirbt, nachdem sie ihm drei Kinder geboren hat. Es ist wie ein furchtbarer Fluch, den niemand brechen kann.“
Eine Weile lang mustert er mich im Rückspiegel, als wolle er prüfen, wie sehr seine Worte mich bisher eingeschüchtert haben. „Jedes Jahr, seit vielen Jahrzehnten, wird ein Kindermädchen eingestellt. Die MacLains sind schon immer ein kinderreicher Clan gewesen. Ich meine, selbst der Ort wurde nach einem von ihnen benannt, so viele von ihnen gab es hier einst. Und, ob Sie es hören wollen, junge Dame, oder nicht, man erzählt sich, dass nicht jedes Kindermädchen das Haus lebendig wieder verlassen hat.“
Mit diesen fast flüsternd ausgesprochenen letzten Worten bremst er den Wagen und kommt mitten auf der schmalen Straße zum Stehen.
Ich sage ihm nicht, dass das, was er gerade erzählt hat, überhaupt keinen Sinn ergibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seit Jahrzehnten unaufhörlich kleine Kinder im Haus gibt, für die ein Kindermädchen benötigt wird – und dass einige von ihnen das Haus nicht lebend verlassen haben, ist eindeutig reine Panikmache – welche bei mir nicht funktionieren wird.
„Wieso halten Sie an?“, erkundige ich mich, ohne auf seine Geschichte einzugehen.
„Weiter nähere ich mich dem alten Spukhaus nicht.“ Er deutet auf etwas weit hinter der regenbenetzten Frontscheibe Liegendes, das ich nicht sehen kann. „Etwa zweihundert weitere Meter müssen Sie in diese Richtung und Sie gelangen zum Grundstück der MacLains.“
Mit zusammengekniffenen Augen folge ich seinem Zeigefinger, erkenne aber nach wie vor nichts als Regen, Bäume und eine graue Mischung aus Nebel und Dunkelheit.
„Zu Fuß? Ist das Ihr Ernst? Es regnet in Strömen!“
„Und deutsche Mädchen sind aus Zucker?“
Ich recke das Kinn in die Höhe. So ein abergläubischer Idiot! Ohne ihn eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, drücke ich ihm die abgezählten Scheine inklusive Trinkgeld in die Hand.
Das schottische Geld, das ich bei der Bank in Deutschland zuvor abgeholt habe, sieht komplett anders aus als unsere Euroscheine. Ein Pfund Sterling ist ungefähr so viel wert wie 1,20 Euro und setzt sich aus hundert Pence zusammen, habe ich mich zuvor belesen. Internet sei Dank.
Ich knalle die Tür zu, hole eigenständig meinen Koffer und meine Reisetasche aus dem Kofferraum und habe das Gefühl, bereits jetzt bis auf die Knochen durchnässt zu sein. Für einen Frühlingstag ist es ziemlich kalt, für einen Nachmittag ziemlich dunkel und für einen ersten Arbeitstag ein ziemlich kontraproduktiver Beginn.
Schon nach wenigen Metern bereue ich es, die hohen Schuhe angezogen zu haben. Um den Koffer zu öffnen und ein anderes Paar herauszuholen, ist es aber viel zu kalt. Abgesehen davon wäre dessen Inhalt binnen Sekundenbruchteilen völlig durchnässt.
Hinter mir wendet der Fahrer sein Taxi in mehreren Zügen, bevor er in die Richtung, aus der wir gekommen sind, verschwindet. Der Flug, wenn er auch nur knappe zwei Stunden gedauert hat, schlaucht mich nun im Nachhinein. Frierend und schlecht gelaunt versuche ich mein Bestes, das Gepäck den schlammigen Weg entlangzuziehen und zu schleppen, während ich nach wie vor nichts als Nebel, Regen und Bäume sehe. Mein dunkelblauer Blazer, die eng anliegende weiße Bluse und die schwarze Jeggins sind binnen weniger Meter gänzlich durchnässt. Und meine seriös wirkende Hochsteckfrisur zerfällt zu dicken, nassen Strähnen, die mir mit jedem Schritt etwas weiter ins Gesicht rutschen. Großartig, ganz großartig!
Die Absätze meiner Schuhe machen bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch, wenn ich sie aus dem Schlamm ziehe. Ich fahre mir unsanft mit dem Handrücken über das Gesicht, um den kalten Regen fort und die Haarsträhnen beiseite zu wischen. Ein Fehler, wie mir sofort bewusst wird. Schwarze, längliche Mascaraspuren kleben an meiner Hand und werden vom Regen fortgespült. Ein Wutschrei entfährt mir, der von Regen und Wind sofort verschluckt wird.
Beim nächsten Schritt sinkt mein rechter Schuh tiefer als bisher in den Schlamm. Verdammt! Als ich krampfhaft versuche, ihn herauszuziehen, verliere ich mit dem linken Fuß den Halt und falle der Länge nach in den Schlamm. Um es positiv zu sehen: Nun wird zumindest meine verschmierte Schminke kein Thema mehr sein, denn mein ganzes Gesicht ist voller Matsch. Ich habe sogar welchen in den Augen. Kapitulierend setze ich mich auf, ziehe die Schuhe aus und versuche, nicht in Tränen auszubrechen, als sich in das Geräusch des Regens und des Windes etwas anderes mischt. Etwas, das nach schweren, schmatzenden Schritten klingt.
„Kommen Sie!“, ruft eine dunkle Stimme, gar nicht weit von mir entfernt.
Meine mit Schlamm verkrusteten Augen erblicken eine Gestalt in der Dunkelheit, die zwischen zwei Bäumen am Gatter eines hohen Zauns steht und mit einer Laterne, in der eine flackernde Kerze leuchtet, winkt.
Als ich mich aufrapple und meine Schuhe, mein Gepäck und mich selbst irgendwie in die Richtung der Stimme und des Lichts schleppe, erscheinen hinter dem offen stehenden, mit Efeu bewachsenen Gatter jäh die Umrisse eines riesigen dunklen Gebäudes vor mir. Es sieht aus wie der Drehort eines FSK 18 Horrorfilms, in dem irgendwelche langhaarigen Geister unschuldige Jugendliche erschrecken.
Ich puste ein bisschen Schlamm aus der Nase, als die Laternen haltende, gänzlich in einen langen, dunklen Umhang gewickelte Gestalt mich wortlos einlässt.
Auf dem Grundstück, auf dem ich nun stehe, regnet es nicht. Das mag an den Baumkronen der vielen hohen, scheinbar uralten Bäume liegen, oder vielleicht hatte ich einfach nur Pech und habe einen immensen Regenschauer abbekommen, der nun endlich abebbt. Egal. Alles an mir tropft, ist schwer und kalt.
Die Gestalt, die ich dank der Schlammpackung in meinem Gesicht und vor meinen Augen kaum näher zu erkennen vermag, weist immer noch schweigend auf das leicht im Nebel liegende, in die Jahre gekommene Gebäude, das man so, vom Fleck weg und ohne irgendwelche Restaurationsarbeiten, als Requisite für einen gruseligen Film verwenden könnte. Jeder kennt sie, diese Art von Filmen: Eine kleine Familie oder ein junges Pärchen zieht in ein altes, abgelegenes Haus und plötzlich tauchen unheimliche Stimmen auf, geschehen mysteriöse Dinge. Genau so ein Haus ist das. Zum Glück gehöre ich nicht zur Sorte Mensch, der sich bei Horrorfilmen in die Hose macht.
Dennoch kann ich meinen Blick nicht von diesem Haus abwenden, das nun ein Jahr lang mein Zuhause sein soll. Meine Zähne klappern lautstark aufeinander, so kalt ist mir. Und plötzlich frage ich mich, ob Mia recht hatte und Schottland vielleicht doch eine Schnapsidee war.
Kapitel 4
Regeln über Regeln
Nachdem mein neuer Chef meine Koffer an sich genommen und mir nur knapp den Weg Richtung Gäste-Badezimmer gewiesen hat, stehe ich ihm nun frisch geduscht und zum ersten Mal ohne Schlammreste in den Augen gegenüber.
„Ich heiße Sie herzlich willkommen, Fräulein Kirsch“, sagt er förmlich und in fast schon akzentfreiem Deutsch.
Ich nicke und ringe mir ein Lächeln ab. Der Lord sieht ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt habe. Nicht schottisch, sondern eher britisch – auf eine steife, unnahbare, aber irgendwie sexy Art und Weise. Eine Mischung aus Colin Firth und Jude Law. Er hat volles braunes Haar, das sich in kurz geschnittenen Wellen auf seinem Kopf kräuselt, ein schmales Gesicht mit markanten Wangenknochen und vollen Lippen sowie intelligente graue Augen, die mich durchdringend ansehen. Kein einziges Barthaar sprießt auf seinem perfekt rasierten makellosen Gesicht.
Zudem ist er groß, mindestens einen Kopf größer als ich, und ich bin mit meinen einsfünfundsiebzig schon nicht gerade klein. Er ist eigentlich viel zu jung, um schon drei Kinder zu haben und verwitwet zu sein. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass er mir sofort sympathisch ist, denn obwohl er eindeutig attraktiv ist, strahlt er etwas Unnahbares und vielleicht sogar etwas wie Überheblichkeit aus.
All das schießt mir durch den Kopf, während ich ihn nach wie vor anstarre und kein Wort zustande bringe. Als mir das klar wird, straffe ich die Schultern und räuspere mich diskret. So kenne ich mich gar nicht.
„Danke“, beeile ich mich zu sagen und streiche mir eine noch nasse Haarsträhne hinter das Ohr. „Ganz schön groß, Ihr … Anwesen.“ Haus klingt irgendwie zu klein für dieses monumentale Gebäude mit den endlos hohen Decken, den altmodischen Kronleuchtern und Zimmern, in die gefühlt meine gesamte Wohnung hineinpassen würde.
„Kinder brauchen Platz. Vor allem wenn sie zu Hause unterrichtet werden“, antwortet er trocken, ohne den Blick von mir abzuwenden. Dann zieht er den Brief hervor, den ich ihm zuletzt geschrieben habe. Kurz gleiten seine Augen über die eng aneinander gedrängten Buchstaben. Druckschrift, weil mir Schreibschrift nie gefallen hat.
„Ja, richtig“, stimme ich ihm in Ermangelung kreativerer Antworten zu.
Wir befinden uns in einem Raum mit einem offenen Kamin, in dem ein Feuer knistert, einem großen, schlichten Sofa und einem altmodischen Teppich. Wahrscheinlich das Wohnzimmer. Es wundert mich, dass nicht ein einziges Spielzeug oder herumliegendes Kleidungsstück auf die Existenz der drei Kinder hinweist, die der Lord angeblich hat. Die Fenster sind mit dunklen Vorhängen zugezogen, und an den Wänden hängen eine Menge Gemälde, auf denen unterschiedliche erschrocken dreinblickende Gesichter zu sehen sind. Irgendwie gruselig.
„Sie haben schottische Vorfahren?“, fragt er.
Ich wende den Blick von einem Gemälde mit einem übergewichtigen, Flügel tragenden nackten Mann ab, der an einer Blume schnuppert, und nicke.
„Mein Vater ist gebürtiger Schotte. Er bestand auf einen schottischen Vornamen. Meine Eltern waren nur kurz verheiratet, und als sie sich scheiden ließen, nahmen meine Mutter und ich ihren Mädchennamen wieder an – deshalb habe ich einen deutschen Nach- und einen schottischen Vornamen“, erkläre ich betont ruhig. So schüchtern kenne ich mich gar nicht.
Während mein neuer Chef mich inspiziert, hebt er eine seiner Augenbrauen leicht an. In seine strenge Mimik mischt sich etwas wie Interesse.
„Ihre Haare sind rot, wenn sie sauber sind“, stellt er mit einem überraschten Unterton in der Stimme fest. „Rote Haare und grüne Augen. Das ist eine sehr seltene Kombination, wussten Sie das?“
„Das wusste ich nicht“, gebe ich zu.
„Sie sind sehr hübsch“, sagt er, und es klingt überaus aufrichtig.
„Danke“, nuschle ich mit glühenden Wangen.
Der Lord mustert mich noch einen Moment lang, dann gleitet sein Blick zurück zum Brief.
„Wie schon geschrieben, erwarte ich, dass Sie mit den Kindern immer mal wieder deutsch sprechen, damit ihre Sprachkenntnisse optimiert werden.“
„Selbstverständlich.“
„Bevor Sie die Kinder kennenlernen, muss ich Ihnen noch die eine oder andere Frage stellen, auch wenn wir natürlich eigentlich alles Wichtige per Brief geklärt haben. Von Angesicht zu Angesicht ist es doch noch mal etwas anderes“, fährt er geschäftig fort. „Zu Beginn … haben Sie Geschwister?“
„Zwei ältere Halbschwestern aus der ersten Ehe meiner Mutter. Ich bin ihr Kind aus zweiter Ehe und … nun ja … gerade hat sie die dritte begonnen.“ Ich grinse schief und füge unnötigerweise hinzu: „Aller guten Dinge sind drei.“
Der Lord hebt eine Augenbraue an und lässt meine Aussage unkommentiert im Raum stehen.
„Und Ihre Beziehung zu Ihrer Familie ist …?“
„Gut … denke ich. Wir mögen uns“, erkläre ich mit einem unsicheren Lächeln. „Meistens zumindest. Manchmal treibt sie einen zur Weißglut, das kennen Sie sicher. Aber im Endeffekt ist die Familie das Wertvollste, was man haben kann.“
Keine Ahnung, wieso ich so viel rede, aber meinem Gegenüber scheint die Aussage zu gefallen.
„Da haben Sie völlig recht, Fräulein Kirsch“, stimmt er mir mit einem milden Lächeln zu. „Den Wert der Familie kann man nicht mit Gold aufwiegen.“
Einen Moment lang sehen wir einander an, dann räuspert er sich, als hätte er kurz vergessen, dass er sich an ein Protokoll zu halten hat.
„Wie denken Sie über das Vermitteln von Werten und Normen?“
Was für eine merkwürdige Frage.
„Ich denke, dass sie … wichtig sind“, antworte ich zögerlich.
„Gut.“ Der Lord nickt, ohne sich anmerken zu lassen, ob meine Antwort ihm ge- oder missfallen hat. „Und Sie wollen mit Kindern arbeiten, weil …?“
„Ich liebe Kinder“, wiederhole ich, was bereits in meinem Brief steht. „Ich möchte in den nächsten Jahren selbst gerne Mutter werden und habe schon als junges Mädchen gerne auf die Kinder der Nachbarn aufgepasst.“
Der Lord nickt.
„Sehr schön, Fräulein Kirsch. Wie bereits in den Briefen geklärt, erhalten Sie für Ihre Dienste hier Kost und Logis sowie eine höhere Summe nach Abschluss des Jahres, die ich Ihnen bei Ihrer Abreise bar auszahlen werde.“
Ich nicke.
„Zudem“, fährt er fort, „befindet sich immer ausreichend Geld in der Schüssel im Eingangsbereich. Sie können sich dort jederzeit bedienen, wenn Sie etwas brauchen oder sich etwas in der Stadt kaufen möchten. Haben Sie da keine Scheu. Es ist bloß wichtig, dass Sie es mit aus dem Haus nehmen und wirklich ausgeben sowie das Restgeld unverzüglich zurücklegen. Ich möchte nicht, dass Sie sich etwas davon in Ihre private Geldbörse stecken.“
„Natürlich nicht!“
„Gut. Und zu guter Letzt – besitzen Sie ein Telefon?“
„Ein Handy? Natürlich.“ Ich ziehe mein Smartphone aus der Tasche meiner engen schwarzen Stoffhose. Darüber trage ich eine roséfarbene Bluse, die sich mit weit fallenden Rüschen an meinen Oberkörper schmiegt. Die Kleidungsstücke, die ich ursprünglich für das Kennenlernen und den Weg hierher eingeplant hatte, sind leider dermaßen nass und schlammverkrustet, dass sie kaum mehr als Kleidung zu identifizieren sind.
„Gut. Das nehme ich an mich.“ Ehe ich etwas dagegen tun kann, hat der Lord seinen Arm ausgestreckt und mir mit spitzen Fingern das Handy abgenommen. Als würde es sich dabei um eine tickende Bombe und nicht um etwas völlig Ungefährliches handeln, das heutzutage eigentlich jeder besitzt. Er legt es oben auf eine altmodisch aussehende Kommode aus dunklem Holz. „Ihre Vorgängerinnen besaßen auch eine solche Gerätschaft“, fügt er trocken hinzu.
Das ist das erste Mal, dass jemand mein Smartphone als Gerätschaft bezeichnet. Offensichtlich färbt das altmodische Flair des Hauses ein wenig auf ihn ab. Perplex und verunsichert verharrt mein Blick auf der Kommode. Dass er es mir einfach abgenommen hat, fühlt sich falsch und auch ziemlich übergriffig an, und ich ringe mit mir, etwas dazu zu sagen.
„Sie können mir doch nicht einfach mein Handy abnehmen!”, protestiere ich.“
„Wieso nicht?”, erkundigt er sich sichtlich irritiert.
„Weil das mein Privatbesitz ist und ich erreichbar sein möchte!”
„Nun … dieses Haus …”, er breitet die Arme aus und macht eine alles einschließende Bewegung. „… ist mein Privatbesitz und ich dulde solchen neumodischen Schnickschnack nicht.”
Neumodischer Schnickschnack? Wie alt ist er? Hundert?
„Ich fühle mich nicht wohl dabei”, erkläre ich fest, während mein Blick zwischen seinen grauen Augen und der hohen Kommode hin und her streift.
„Sie können es jederzeit zurückhaben und benutzen, wenn Sie das Grundstück verlassen“, erklärt der Lord mit entwaffnender Höflichkeit. „Aber hier im Haus wird es nicht benutzt.”
„Darf ich vielleicht noch kurz meinen Freund anrufen und ihm mitteilen, dass ich wohlbehalten hier angekommen bin?“, bitte ich.
„Nein.“ Er schüttelt unnachgiebig den Kopf. „Nicht von hier aus. So etwas benutzen wir hier nicht. Sie können aber gern wieder hinaus in den Regen.“ Er nickt in die Richtung der großen, mit zugezogenen Vorhängen bedeckten Fenster, hinter denen ich immer noch Weltuntergangsstimmung vermute. In der Ferne prasselt der heftige Regen auf die Erde. Allein der Gedanke, wieder dort draußen zu sein, lässt mich erschaudern.
„Ich rufe ihn einfach morgen an“, sage ich schnell.
„Das dachte ich mir.“ Zum ersten Mal, seit ich hier bin, huscht ein echtes, breites Lächeln über das Gesicht des Lords. So ein hübscher junger Kerl … mit der Seele eines Hundertjährigen.
„Ich freue mich schon darauf, die Kinder kennenzulernen“, erkläre ich, um den womöglich nicht ganz so guten ersten Eindruck, den er bisher von mir hat, wettzumachen, und setze ein gestelzt klingendes „Lord MacLain“ hinzu.
„Oh, Sie müssen mich nicht mit Lord MacLain ansprechen. Lord MacLain war mein Vater.“ Er schüttelt den Kopf. „Nennen Sie mich einfach Scott.“
Scott, der Schotte. Wie klischeehaft.
„Okay, alles klar. Sie können mich Bonnie nennen.“ Ich lächle ihn an.
Gerade setzt er an, noch etwas zu sagen, als kaum hörbare Schritte ertönen, die sich dem Raum langsam nähern.
„Kommen Sie doch herein, Muira“, verlangt er mit etwas lauterer Stimme.
Erstaunt wende ich mich um, als eine ältere Frau das Zimmer betritt, so leise, dass sie beinahe zu schweben scheint. Sie ist mit einem karierten Rock über einer Strumpfhose und einer weißen zugeknöpften Bluse altmodisch gekleidet und hat ihr graues Haar, in dem sich noch einige Strähnen der schwarzen Naturhaarfarbe wiederfinden, zu einem straffen Dutt zurückgebunden. In ihrem Gesicht prangt eine Hakennase, darüber zwei zu schmalen Schlitzen verengte dunkle Augen, mit denen sie mich mit offensichtlichem Argwohn ansieht. Ihre knorrigen Finger greifen das auffällige schwarze Amulett, das mit einer Silberkette um ihren Hals hängt, und stecken es in ihre Bluse, als würde sie befürchten, dass ich es stehle. Es kommt selten vor, dass ich einen Menschen schon beim ersten Kennenlernen nicht mag, aber dieses Mal ist das definitiv der Fall.
„Herzlich willkommen bei uns“, sagt sie steif und reicht mir ihre faltige Hand, die wie ein nasser Lappen in meiner liegt, als ich sie schüttle. Auf ihren schmalen Lippen liegt nicht der Hauch eines Lächelns.
Ich gebe mir einen Ruck. „Bonnie“, stelle ich mich vor, gebe ihr die Hand und lächle höflich. „Bonnie Kirsch.“
„Muira ist unsere Haushälterin“, erklärt Scott sachlich. „Sie ist schon seit Jahrzehnten Angestellte der Familie MacLain und sorgt hier für gutes Essen und Sauberkeit sowie für Ordnung und Disziplin.“
Unwillkürlich erschaudere ich. Dass Muira für Disziplin sorgt, kann ich mir mehr als gut vorstellen. Sie wirkt wie eine alte verbitterte Lehrerin mit Rohrstock. Ohne ein Wort zu sagen, mustert sie mich fortwährend, und es ist ziemlich deutlich erkennbar, dass sie mich ebenso unsympathisch findet wie ich sie. Schweigend stehen wir da, die Luft um uns herum so dick, dass man sie schneiden könnte.
„Ich freue mich schon auf das Jahr hier bei Ihnen“, plappere ich los, bloß, um dieser unschönen Stille zu entkommen.
„Ja, das sehe ich“, antwortet Muira spitz und lässt ihren Blick über meine Kleidung gleiten, so, als wäre ich im Minirock und mit viel zu tiefem Ausschnitt hier aufgekreuzt. Scott steht schweigend daneben, die Hände wie ein alter Mann auf dem Rücken verschränkt. Entweder bemerkt er den bissigen Unterton in der Stimme seiner Haushälterin nicht oder aber er hat sich bereits so sehr daran gewöhnt, dass es für ihn normal geworden ist. So oder so – etwas sagt mir, dass Muira und ich früher oder später aneinandergeraten werden.
„Gut. Das wäre soweit alles.“ Scott räuspert sich und legt die Stirn in Falten, als würde er darüber nachdenken, ob womöglich in diesem Haus doch noch weitere skurrile Regeln existieren, die er mir erklären muss. Dann nickt er geschäftig.
„So weit, so gut. Muira, seien Sie doch so freundlich, und holen Sie die Kinder, damit Bonnie sie kennenlernen kann.“
Muira nickt, wirft mir noch einen letzten abschätzigen Blick zu, dreht sich dann postwendend um und eilt aus dem Raum.
Der Lord und ich sind wieder alleine. Etwas betreten blicke ich auf meine Füße.
„Waren Sie schon öfter in Schottland?“, fragt er leicht angespannt, als wäre er der Meinung, nun der Höflichkeit wegen unbedingt Konversation, und sei es nur Smalltalk, betreiben zu müssen.
„Als Kind“, antworte ich und hebe den Blick, um ihm kurz in die wachen grauen Augen zu sehen. „Mein Vater hat mich oft mitgenommen, wenn er gereist ist. Dann kam ich in die Schule, die Ferien wurden für die Reisen relevant und die Urlaube ohne mich immer länger. Bob hat schon fast die ganze Welt gesehen und ist nur noch selten in Deutschland.“
„Bob?“ Scott verzieht kurz das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Sie nennen Ihren Vater beim Vornamen?“
„Ja.“ Ich hebe die Schultern und lasse sie wieder sinken. „Schon von Anfang an. Für mich ist das ganz normal.“
Er scheint noch etwas entgegnen zu wollen, als Muira plötzlich wieder da ist, drei Kinder im Entenmarsch hinter sich her führend.
Die Kinder sehen adrett, fast wie aus einem Werbeplakat ausgeschnitten, aus. Sie tragen ausgehfeine Kleidung, haben gekämmte Haare, frisch gewaschen aussehende Gesichter und allesamt dunkelblaue Augen. Das Mädchen trägt das Baby, während der Junge die Hände wie ein winziger alter Mann auf dem Rücken verschränkt hat. Er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Scott tritt neben seine Kinder und legt dem Jungen, der, wie ich aus unseren Briefen weiß, der Älteste im Bunde ist, eine Hand auf die Schulter. Der Kleine trägt eine schwarze Stoffhose und eine Weste über einem braunen Oberteil. Sein dunkelblondes Haar ist zum Seitenscheitel gekämmt worden. Er sieht aus wie eines dieser Kinder, das nur Einsen schreibt, dem Lehrer die Tasche trägt und lieber Mathe paukt, statt im Freien zu spielen. Aber meistens sind die, die am harmlosesten aussehen, die, die es faustdick hinter den Ohren haben. Ich bin gespannt, was mich bei ihm erwartet.
„Das ist mein achtjähriger Sohn Scott Junior. Seine Nannys haben die Angewohnheit, ihn Scotty zu nennen, auch wenn ich das sehr unschön finde. Es ist wohl eine unerlässliche Angewohnheit von Nannys.“ Er seufzt kurz, als könne er die Verniedlichung des Namens kaum ertragen und deutet nun auf das Mädchen, dessen dunkle geflochtene Zöpfe beinahe bis zur Taille reichen. „Das ist Grace. Sie ist sieben Jahre alt. Und hier haben wir Lily, zehn Monate jung.“
Die zarte Grace trägt ein schlichtes graues Kleid über einer dunklen Strumpfhose und hat Schleifen statt Haargummis in den Zöpfen. Ihre Wimpern sind auffallend lang. Ein hübsches Mädchen, das mich ein wenig an eine zu groß geratene Porzellanpuppe erinnert. Lily, die ein weinrotes Kleid und ein Haarband mit einer Schleife um den noch fast gänzlich haarlosen Kopf trägt, sieht rosiger aus als ihre beiden etwas blassen Geschwister und entblößt nun, während sie mich freudig anlacht, zwei winzige weiße Zähnchen mit einer Lücke dazwischen. Ich kann nicht anders als zurückzustrahlen. Lily ist zuckersüß.
„Hi, ich bin Bonnie“, sage ich auf Englisch und zwinkere den Kindern zu. „Wir haben bestimmt sehr viel Spaß zusammen!“
„Gewiss“, antwortet Grace und macht einen leichten Knicks, während sich im Gesicht ihres Bruders rein gar nichts regt.
Meine Güte, ich habe nie zuvor derart wohlerzogene Kinder gesehen. Die sind mir beinahe schon zu wohlerzogen.
„Bonnie ist sicher müde vom Flug“, erklärt Scott mit einem Mal mit geschäftigem Unterton in der Stimme, und wie auf Kommando entfernen sich die Kinder mit einer Lautlosigkeit, die fast schon geisterhaft ist, aus dem großen Raum. Muira nickt und folgt ihnen schweigend.
„Sie können sich ausruhen“, sagt Scott gebieterisch und das klingt nicht wie ein Vorschlag, sondern wie ein Befehl. „Ihr Zimmer ist das neben dem Badezimmer, in welchem Sie vorhin geduscht haben. Das Badezimmer ist ebenfalls Ihres. Wenn es Ihnen an etwas fehlt, lassen Sie es mich wissen.“
Ich nicke schweigend.
„Wir essen um achtzehn Uhr zu Abend“, fährt er fort. „Wenn Sie möchten, mache ich morgen früh dann eine kleine Führung mit Ihnen, damit Sie sich hier zurechtfinden.“
„Gerne. Danke.“
Ich kann ihm nicht lange in die grauen Augen sehen, die mich mit einer Durchdringlichkeit mustern, welche ich nie zuvor gesehen habe. Verunsichert blicke ich auf meine Füße. Hoffentlich bemerkt er es nicht.
„Gibt es ein Problem?“, fragt er mit sanftem Unterton in der Stimme.
Mist. Er hat es bemerkt.
„Nun ja …“ Ich zwinge mich dazu, ihn anzusehen und lächle zaghaft. „Es ist nur … ich bin noch nie zuvor einem Lord begegnet“, gebe ich ungewohnt schüchtern zu.
Scott legt den Kopf ein wenig schief und mustert mich mit dem Anflug eines Lächelns, das ihn so jung aussehen lässt, wie er tatsächlich ist.
„Ein Mann darf sich Lord nennen, wenn er ein Stück Land in Schottland besitzt“, erklärt er ruhig. „Das ist keine große Sache und muss Sie nicht beeindrucken. Wenn ich Ihnen einen Quadratmeter meines Grundstücks schenke, sind Sie eine schottische Lady. Ganz einfach. Ich bin nur ein einfacher Mann mit einem großen Haus und drei Kindern. Kein Kaiser oder Papst.“
Ein einfacher Mann. Nun untertreibt er aber. Dennoch beruhigen mich seine Worte ein wenig. Ich lächle ihm erneut knapp zu, bevor ich den Raum verlasse und über die lange, mit rotem Samt versehene Wendeltreppe in die obere Etage gehe. Dort finde ich neben einem guten Dutzend Türen auch das Badezimmer wieder, in dem ich zuvor schlammverkrustet geduscht habe. Vorsichtig öffne ich die Tür direkt daneben und halte instinktiv den Atem an.
Bin ich in einem Film gelandet? Das Zimmer, das sich mir offenbart, ist so groß, dass mein ganzes Hab und Gut hineinpassen würde. Es hat eine quadratische Form mit puderrosafarbenen Wänden, hoher Decke und riesengroßen Fenstern, vor denen sich weiße, durchsichtige bodenlange Vorhänge befinden. Das Himmelbett, neben das jemand bereits meinen Koffer gestellt hat, ist mit blütenweißer Bettwäsche bezogen und größer als jedes Bett, in dem ich bisher geschlafen habe. Mit den gleichen hellen, durchsichtigen Vorhängen umsäumt, die am Fenster hängen, wirkt es durch und durch prinzessinnenhaft und verträumt. Vor dem Bett liegt ein edel aussehender, roséfarbener Teppich. Ich schlüpfe aus meinen Strümpfen, um ihn mit nackten Füßen zu berühren, und tatsächlich – er fühlt sich genauso weich und flauschig an, wie er aussieht. Als würde man auf einer Wolke stehen.
Zudem befinden sich in dem Zimmer ein altmodischer Schminktisch aus weiß lackiertem Holz mit passendem Hocker, ein Schrank und ein prall gefülltes Bücherregal.
Völlig überwältigt lasse ich mich auf das Bett sinken. Ich taste instinktiv nach meinem Handy, bis mir wieder klar wird, dass Scott es mir abgenommen hat. Diese verteufelte kleine Gerätschaft. Ich rolle mit den Augen. Obwohl er schon ein merkwürdiger Kerl ist und mir mit seiner Steifheit und seinen teils merkwürdigen Ansichten manchmal ganz schön auf den Geist geht, ist er aber ganz sicher kein Organhandel betreibender, deutsche Mädchen verkaufender Mafiaboss. Da kann ich Mia, sobald ich sie anrufen darf, beruhigen.
Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen. Nur ein wenig ausruhen. Die Eindrücke verarbeiten. Ankommen. Nur ganz kurz. Ganz kurz …
Als es durchdringend an meiner Zimmertür klopft, fahre ich erschrocken in die Höhe. Es dauert einen Moment, bis ich wieder weiß, wo ich bin. Meine Gedanken sind völlig durcheinandergewirbelt, als hätte man sie in einen Beutel gepackt und diesen kräftig durchgeschüttelt. Während ich sie zu ordnen versuche, klopft es rhythmisch weiter an der Tür.
„Ich komme sofort“, rufe ich und reibe mir mit beiden Händen über das vom Schlaf warme Gesicht.
Das Klopfen endet abrupt.
„Das Abendessen ist angerichtet“, teilt mir eine hohe Kinderstimme mit. Ich bin mir nicht sicher, ob es Scott Junior oder Grace ist.
„Bin in einer Minute unten, danke“, rufe ich, während ich aus dem Himmelbett stolpere und wieder in meine Strümpfe schlüpfe. Mit den Fingern beider Hände fahre ich mir grob durch die immer noch feuchten Haare, um sie ein wenig zu ordnen, und eile Richtung Tür. Als ich sie öffne, ist das Kind davor verschwunden. Der Flur ist völlig leer und still. Können diese Kinder fliegen? Ich kenne Kinder eigentlich nur als dauernd rennende, trampelnde Wesen. Wie es aussieht, bin ich nun die Lauteste unter diesem Dach.
Betont leise ziehe ich die Tür hinter mir zu, eile zur Treppe und nehme immer zwei Stufen auf einmal. Es dauert noch eine Weile, bis ich den Raum gefunden habe, in dem gegessen wird. Ich öffne ein paar Türen, verkneife mir ein Fluchen und schließe sie wieder. Das Haus hat verdammt viele davon. Als ich endlich die richtige Tür aufstoße, bin ich vor Aufregung ein wenig außer Atem.
Alle sitzen bereits am Tisch und warten. Wie unangenehm. Ich spüre, wie mir eine heiße Röte in die Wangen schießt. Lily sitzt in einem altertümlich anmutenden Hochstuhl und hält bereits einen Löffel in der Hand. Sie ist die Einzige, die einen Laut von sich gibt, als ich den Raum betrete. Ein kurzes, fröhliches Glucksen. Ich suche Scotts Blick. Er zwinkert mir beruhigend zu. Schnell setze ich mich auf den freien Platz zwischen ihm und Lily.
Es duftet köstlich. Ein feiner Geruch von Fleisch, Sauce und gekochtem Gemüse hängt in der Luft und lässt meinen Magen lautstark rumoren. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe.
Zuerst gibt es eine Vorspeisensuppe. Grace und Muira servieren sie in filigran aussehenden Porzellanschüsseln. Die satte Orangefärbung lässt auf eine Kürbiscremesuppe schließen. Auf der Oberfläche schwimmen kleine Speckwürfel. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, aber ich warte, da ich mir fast sicher bin, dass noch ein Gebet gesprochen wird, bevor wir mit dem Essen beginnen können. Wider Erwarten fällt dieses weg.
„Guten Appetit“, sagt Muira stattdessen, und die Kinder antworten ihr im Gleichklang. Der Lord und ich fallen etwas später mit ein. Ich bin mir nicht ganz, aber fast sicher, dass er es absichtlich getan hat, damit ich mir nicht noch blöder vorkomme. Dankbar lächle ich ihm zu.
In den nächsten Minuten hört man nichts außer dem leisen Klirren der Löffelspitzen in den Schüsselchen. Selbst das Baby isst, seinem Alter entsprechend, gesittet. Die Suppe ist hervorragend. Ob das an meinem Bärenhunger oder am Talent von Muira liegt, weiß ich nicht genau. Sie schmeckt würzig und hat genau die richtige Konsistenz. Als ich fertig bin, bin ich fast traurig, dass nichts mehr da ist.
„Ich helfe“, beeile ich mich zu sagen und stehe auf, als Grace und Muira ohne jegliche Aufforderung damit beginnen, die leeren Suppenschüsseln und sauber geleckten Löffel einzusammeln.
Muira ignoriert mich gänzlich, aber Grace nickt mir mit einem höflichen Lächeln zu. Ich staple meine, Scotts und Lilys Schüsseln ineinander und folge Grace und Muira, die den Rest tragen, in den Nebenraum, der sich als überdimensional große Küche herausstellt.
„Muira kocht super. Die Suppe war köstlich, nicht wahr?“, frage ich das Mädchen.
„Muira ist eine hervorragende Köchin, damit haben Sie vollkommen recht“, antwortet Scott an Graces Stelle. „Aber die Suppe habe ich zubereitet.“
Wo kommt er denn schon wieder her? Es wird mir schwerfallen, mich daran zu gewöhnen, dass die Bewohner dieses Hauses ständig so schleichen.
„Sie kochen selbst?“, wiederhole ich, wohl eine Spur zu überrascht, denn die Lippen des Lords kräuseln sich dezent.
„Was dachten Sie denn? Dass man als Lord bloß so dasitzt und sich bedienen lässt?“, erkundigt er sich amüsiert.
„Ich weiß nicht …“ Ich lächle unsicher. „Vielleicht sowas in der Art.“
Scott schüttelt den Kopf. „Ich koche gerne“, erklärt er entspannt. „Hier hat man viel Zeit zum Üben. Sehr viel Zeit.“ Für einen Moment scheint er durch mich hindurchzusehen, dann schüttelt er leicht den Kopf, so, als wolle er einer Erinnerung entrinnen. „Es gibt keine ausgefallenen Gerichte hier. Aber wenn Sie gute alte schottische Hausmannskost mögen, dann werden Sie hier in der Zeit sicher ein, zwei Pfund zunehmen.“ Er klopft sich mit der flachen Hand auf den eigenen Bauch, von dem ich ziemlich überzeugt bin, dass kein Gramm Speck daran vorhanden ist. Wahrscheinlich ist er sogar ziemlich knackig. Unwillkürlich stelle ich mir einen Sixpack unter der altmodischen Kleidung vor – nicht übertrieben, aber schon definiert. Keine Ahnung, woher diese Gedanken kommen. Ich versuche, das Bild aus meinem Kopf zu verdrängen.
„Helfen Sie mir, die Hauptspeise zu servieren?“, holt Scott mich in die Realität zurück.
Ich blinzle verwirrt. „Wie bitte?“
„Das mache ich schon“, mischt Muira sich ein.
Scott lächelt sie gutherzig an. „Muira, ich bin mir sicher, Bonnie kann das ebenso gut wie Sie und ich. Nicht wahr, Bonnie?“
„Natürlich“, antworte ich schnell.
Muiras schmale Augen verengen sich noch ein Stück mehr. Fast blickt sie drein, als hätte ich sie gerade persönlich beleidigt. Dabei liegt mir nichts ferner, als es mir mit irgendeinem Bewohner dieses Hauses schon am ersten Arbeitstag zu verscherzen. Scott sieht mich immer noch an. Ich nicke bekräftigend.
„Sehr schön.“ Er nimmt einen großen weißen Teller aus dem Schrank in der Ecke und öffnet den Ofen sowie die Töpfe, die auf der Herdplatte stehen. Dann legt er eine herrlich saftig aussehende Scheibe Fleisch auf den Teller.
„Das hier ist wahre Kochkunst. Angus Rind, zubereitet von unserer geschätzten Muira“, erklärt er und lässt eine Handvoll kleiner Kartoffeln aus einer Auflaufform aus dem Ofen folgen. „Und dazu feinste Rosmarinkartoffeln.“
Es folgen eine Portion grüner Bohnen und eine vor Hitze qualmende braune Sauce, die er wie ein Meisterkoch über die Kartoffeln und das Fleisch gibt. Vorsichtig reicht er mir den duftenden heißen Teller und holt alsbald einen zweiten aus dem Schrank. Als ich die Küche verlasse, bin ich mir unsicher, wem ich den ersten Teller bringen soll und entscheide mich dann für Grace.
„Vielen Dank, Bonnie“, sagt sie liebreizend und legt sich eine Serviette auf den Schoß.
Als ich in die Küche zurückkehre, wartet Scott bereits mit dem zweiten fertigen Teller auf mich, argwöhnisch beobachtet von Muira, die mit dem Amulett an ihrer Kette spielt.
Ruckzuck haben alle ihr Essen vor sich stehen – Lily bekommt ihres in mundgerechte Stücke geschnitten und isst teils mit einer kleinen Gabel, teils mit den Händen.
Das Essen ist so köstlich, dass es den Geschmack der Kürbiscremesuppe fast noch übertrifft. Das Fleisch hat einen leicht nussigen Geschmack, ist feinfaserig und sowohl saftig als auch zart. Es ist das erste Mal, dass ich Angus Rind esse. Aber auch die Rosmarinkartoffeln, die Sauce und die Bohnen schmecken anders und um Längen besser als alle, die ich bisher in meinem Leben gegessen habe. Dazu gibt es Saftschorle für die Kinder und Rotwein für die Erwachsenen.
Nach dem Essen fühle ich mich wohlig warm, satt und müde und muss mich fast dazu zwingen, Muira und Grace erneut beim Abräumen des Tisches zu helfen. Ich möchte schließlich nicht direkt am ersten Tag den Eindruck erwecken, faul zu sein. Allerdings frage ich mich, weshalb Grace es als so selbstverständlich ansieht, der Haushälterin bei dieser Aufgabe zur Hand zu gehen, während Scott Junior an seinem Platz sitzen bleibt und keine Miene verzieht.
Dieses Mal bleibt auch Scott sitzen. Grace und Muira servieren den Nachtisch, nachdem Muira ziemlich passiv-aggressiv versucht hat, mich aus der Küche zu vertreiben. Gerade so gelingt es mir, zwei Portionen zu schnappen und mich an ihr vorbeizudrängen. Es gibt eine Schokoladencreme mit Kirschen, die bereits in hübschen kleinen Gläsern im Kühlschrank steht. Als ich das Glas für Scott vor ihn stelle, fällt mir auf, wie gut er riecht: nach Minze und ein bisschen Zitrone. Als er hochsieht, treffen sich unsere Blicke, und ich werde rot. Zum Glück kann er keine Gedanken lesen. Die Tatsache, dass ich seinen Geruch aufregend finde, wäre nach der Vorstellung seines trainierten Oberkörpers nun bereits die zweite Peinlichkeit. Ich beeile mich, das zweite Glas abzustellen und mich wieder auf meinen Platz zu setzen.
Nachdem auch die Nachspeise gegessen und abgeräumt wurde, frage ich Muira, ob ich ihr beim Abwaschen helfen soll. Denn dass diese Küche keine Spülmaschine besitzt, war mir bereits klar, bevor ich sie betreten habe. Außerdem will ich unbedingt, dass sie mich zumindest als hilfsbereit empfindet. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Menschen grundlos unfreundlich zu mir sind.
„Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken“, sagt Scott sanft, noch ehe Muira selbst antworten kann. „Muira kümmert sich darum. Gehen Sie schlafen. Sie sehen müde aus. Das Zubettbringen müssen Sie heute noch nicht erledigen. Wir frühstücken morgen früh um sieben Uhr.“
Sieben Uhr! Ich bin keine Frühaufsteherin. Dennoch verziehe ich keine Miene und nicke stattdessen mit Pokerface. Ich bin gerade einfach nur froh, dass ich diese Berge von Geschirr nicht abspülen muss und freue mich darauf, erneut in das weiche Himmelbett zu fallen.
„Dann gute Nacht“, sage ich leise.
„Schlafen Sie gut, Bonnie.“ Scott schenkt mir ein aufrichtig wirkendes Lächeln. „Und denken Sie daran: Was Sie in der ersten Nacht unter diesem Dach träumen, wird in Erfüllung gehen.“
Ich lächle. Dann wünsche ich den Kindern und Muira ebenfalls eine gute Nacht und versuche genauso leise wie alle anderen die Treppe emporzusteigen.
In meinem Zimmer angekommen, werfe ich einen kurzen Blick aus dem Fenster, bevor ich die Vorhänge zuziehe und in eine bequeme Hose und ein Schlafshirt schlüpfe. Auf dem Nachttisch steht ein Wecker. Ich stelle ihn auf halb sieben. Es ist merkwürdig, nicht wie gewohnt einen Alarm am Handy stellen zu können.
Gähnend sinke ich ins Bett. Der Rotwein hat meinen Kopf leicht gemacht, meine Wangen fühlen sich erhitzt an.
Der Wind draußen legt sich allmählich, und während ich so daliege, wird auch mein Gedankenkarussell langsamer. Ich bin gut in Schottland angekommen. Das muss ich morgen dringend Justus und Mia erzählen. Und meiner Mutter und Bob – falls ich ihn erreiche. Schottland ist verdammt kalt, werde ich ihnen sagen. Und nass. Und still. Und minzig-zitronig.