Leseprobe Das Geheimnis der verlorenen Tage

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Oxford im April 2010

Amelia hatte sich nicht sofort in Oxford verliebt, doch der Bodleian Library konnte sie nicht einmal eine Sekunde lang widerstehen. Nicht nur weil es dort nach altem Papier roch oder nirgends sonst das Licht auf diese weiche, verspielte Art durch die Bogenfenster fiel. Nein, sie liebte die Stille dieses Ortes und die Möglichkeit, immer wieder aufs Neue von ihm überrascht zu werden. Bibliotheken waren Schatztruhen. Musste man anderswo erst eine Schaufel schultern, um alte Kostbarkeiten ans Tageslicht zu befördern, konnte man hier einfach an den hölzernen Regalen vorbeistreifen. Ihre Hände steckten in dünnen Stoffhandschuhen, als sie stehen blieb und das Objekt ihrer Begierde aus dem Regal zog. Vorsichtig strich sie über den Buchrücken und fühlte die kleinen Ausbuchtungen am Rand, die Teil der Bindung waren. Mit beiden Händen griff sie schließlich nach dem schweren Wälzer und ging damit zu einem der Lesepulte.

Gerade als sie ihn vorsichtig auf dem hölzernen, leicht abgeschrägten Pult platziert hatte, klingelte ein Handy laut in die erhabene Stille hinein. Ihr Handy! Innerhalb weniger Sekunden lasteten sämtliche Blicke der anderen Bibliotheksbesuchenden auf ihr. Sie spürte, wie ihre Wangen ganz heiß wurden, als sie hektisch ihr Smartphone aus der Hosentasche zog und den Anruf so schnell es ging wegdrückte. Eine der Bods, wie man hier die Lesesaal-Aufsichten nannte, warf ihr einen strengen Blick zu. Leise seufzend und wahrscheinlich immer noch tomatenrot wandte sie sich daraufhin wieder dem Buch zu.

Solche Anfängerfehler passierten ihr normalerweise nicht mehr, doch heute Morgen war sie etwas durch den Wind. Während sie vorsichtig den alten Wälzer aufschlug, fühlte sich der Brief, den sie beim Verlassen ihres Colleges eher beiläufig aufgerissen hatte, in ihrer Hosentasche bleischwer an. Sie schluckte und versuchte sich wieder auf das Buch zu konzentrieren. Behutsam schlug sie den brüchigen Deckel auf und begann nach hinten zu blättern. Jay hatte ihr gestern geraten, alte Zeitschriftenjahrgänge zu wälzen, um sich über die gesellschaftliche Stellung der Frau im 20. Jahrhundert zu informieren. Eigentlich mochte sie das Thema ihres Essays und normalerweise fand sie es unterhaltsam, Werbeanzeigen für ein „Bleichsucht“-Mittel oder ein Wasserlilien-Abonnement zu studieren. Nur nicht heute. Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich tiefer über einen Eintrag. Heute konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Statt ein paar Zeilen über gute Sitten und Manieren zu lesen, schoben sich ganz andere Wörter in Amelias Bewusstsein.

Sehr geehrte Ms Baker,

wir hoffen, Sie sind gut ins neue Semester gestartet. Gerne möchten wir Ihnen unsere aktualisierten Teilnahmebedingungen am Mary Somerville Stipendiat übermitteln. Die im Weiteren aufgelisteten Anforderungen sind fortan vorausgesetzt, um unsere vierteljährliche Fond-Zuwendung von 5000 Pfund zu erhalten. Bei Rückfragen können Sie sich gerne an …

Sie konnte den Brief von heute Morgen einfach nicht verdrängen. Vor allem nicht die schwindelerregend lange Liste von Notendurchschnitten, Mindesteinkommensgrenzen, Klauseln, Ausnahmen und Einschränkungen selbiger, die er enthielt. Aus dieser endlosen Aufreihung von Bedingungen ging letztlich vor allem eins hervor: Sehr gut zu sein würde dieses Semester nicht mehr reichen, um ihren Studienplatz zu sichern. Sie musste perfekt sein, sonst konnte sie Oxford kurz vor ihrem Abschluss ohne akademischen Grad verlassen oder einen Kredit aufnehmen, der ihren Speiseplan in den nächsten zehn Jahren auf Pasta ohne Soße beschränkte – sofern irgendeine Bank in Großbritannien sie überhaupt für kreditwürdig befand. Fünftausend Pfund klangen nach einer Menge Geld, aber das Studium hier verwandelte jede Summe schneller in ein leeres Konto, als man blinzeln konnte. Bei diesem Gedanken entfuhr ihr ein tiefer Seufzer, woraufhin sie sich erneut ein paar tadelnde Blicke einfing. Also beugte sie sich wieder über die Zeitschriften. Es wurde Zeit, dass sie sich ihrer Arbeit widmete. Geldsorgen hin oder her.

 

Eineinhalb Stunden später war sie kaum vorangekommen und immer noch damit beschäftigt, ziellos durch die Seiten zu blättern. So sehr sie auch versucht hatte, sich zu konzentrieren, in ihrem Kopf tanzten zu viele Gedanken umher. Hatte sie den einen gezähmt, kam schon der nächste auf wie bei einer Schar Kinder, die Reise nach Jerusalem spielten. Widerwillig beschloss sie, es für heute Vormittag gut sein zu lassen. So vorsichtig wie möglich schloss sie den Zeitschriften-Band und brachte ihn an seinen Aufbewahrungsort zurück. Als Nächstes zog sie die dünnen Stoffhandschuhe aus und schnappte sich ihre Tasche. Damit sagte sie den Menschen des 20. Jahrhunderts und den vielen anderen Geschichten, die hier schlummerten, fürs Erste Adieu. Mit eiligen Schritten und leicht fröstelnd ließ sie die endlosen Regale und Vitrinen hinter sich. Da in dieser Abteilung auch sehr alte Schriften aufbewahrt wurden, blieb die Raumtemperatur konstant niedrig. Sie freute sich auf warmes Tageslicht.

Trotzdem blinzelte sie erst einmal, als sie kurze Zeit später den Innenhof des Bodleian Gebäude Komplexes betrat, den Old Schools Quadrangle. Für einen Apriltag war es ungewöhnlich warm und viele der Touristen knoteten sich ihre bunten Funktionsjacken um den Bauch, während sie den Bodleian Ticket-Schalter ansteuerten. Auch wenn sie den Geruch von alten Büchern über alles liebte, blieb sie kurz stehen, um die frische Luft einzuatmen. Die Bibliothek zu verlassen, fühlte sich manchmal an, wie nach einem langen Tauchgang wieder an die Oberfläche zu stoßen. Sie öffnete wieder die Augen, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und verließ den lauschigen Innenhof. Draußen auf der Catte Street wandte sie sich nach links. Bis zu ihrem College waren es von hier aus nur zehn Minuten Fußweg und sie genoss den Spaziergang. Der erste Mittwoch des Aprils zeigte sich überraschend freundlich. Warme Sonnenstrahlen kitzelten ihr Gesicht und ließen das Grau der Sandsteinhäuser aufleuchten. Sie befand sich am Anfang des Trinity Terms und war jetzt schon in heillosem Rückstand mit ihrem ersten Essay. Kein gutes Omen. Sie legte normalerweise großen Wert auf Pünktlichkeit.

Als sie grübelnd am University Park abbog, vibrierte erneut ihr Handy in der Hosentasche. Eilig zog sie es hervor. Da in der Bibliothek absoluter Digital Detox galt, hatte sie gar nicht erst nachgesehen, wer versucht hatte, sie zu erreichen. Im Zweifelsfall riskierte man es lieber, seinen Zahnarzt zu brüskieren als die Bibliotheksaufsicht. In ihrem Fall hatte sie zwar keinen Arzt verprellt, aber doch eine Person mit ähnlich großer Autorität. Sie rief zurück und hielt das Handy an ihr Ohr.

„Hallo?“

„Hi, Granny! Tut mir leid, dass ich nicht rangegangen bin. Ich war in der Bibliothek, du weißt schon …“

„Du solltest lieber dort wohnen, als im College“, stellte ihre Großmutter auf ihre unvergleichlich direkte Art fest. Im nächsten Satz wurde ihre Stimme allerdings weicher. „Du hast ja schon als Kind davon geträumt, einmal in einer Bücherei zu übernachten.“

„Dieses Semester wird das eher nichts mit schlafen, fürchte ich“, gab Amelia zurück und seufzte. „Ich habe Jay als Tutor. Es kursieren wenig schmeichelhafte Spitznamen für ihn. Von Professor Snape in leibhaftig bis Freizeit-Schlächter habe ich schon einiges gehört.“

„Heißt das etwa, dieser Jay schlachtet andere Menschen in seiner Freizeit?“, hakte ihre Großmutter nach. „Du hast dieses Semester aber unheimliche Dozenten.“ Neben ihrer unverblümten Art kennzeichnete sie auch ein sehr britischer Humor.

„Nur unheimlich strenge!“, entgegnete Amelia und lachte. Sie beschloss, dem eigentlichen Gesprächsanlass auf den Grund zu gehen. „Sag mal, warum hast du mich vorhin angerufen? Ist alles in Ordnung?“

Daraufhin wurde es am anderen Ende der Verbindung plötzlich still. Sie wich einem Pulk Schulkinder aus, die gerade in ihren dunkelblauen Uniformen von der Mittagspause zurückkamen. Als die schnatternde Schar vorbeigezogen war, hatte sie immer noch keine Antwort.

„Bist du noch dran?“, fragte sie besorgt.

„Ja, ich bin noch dran“, meldete sich ihre Oma zurück, allerdings sehr zögerlich. „Es … es war nicht so wichtig, Liebes. Es war nur …“ Ihre Granny seufzte. „Ich habe heute Vormittag in der Zeitung gelesen, dass eine alte Freundin gestorben ist.“

„Oh“, erwiderte Amelia betroffen. „Das tut mir leid.“

„Ich war ganz durcheinander und dachte einen Augenblick lang …“ Ihre Oma verstummte kurz. „Vielleicht war es besser so, dass du mich verpasst hast“, ihr Ton wurde wieder entschlossener, „es geht jetzt schon wieder, Liebes. Tut mir leid, dass ich dich gestört habe.“

„Du störst nie“, antwortete Amelia. „Ich wäre ja rangegangen, aber diese Abgabe ist unglaublich wichtig für mich und ich will wirklich …“

„Weiß ich doch“, unterbrach ihre Granny sie liebevoll. „Mach dir nicht so einen Kopf, Amelia. Du schaffst das schon. Du hast es bisher immer geschafft, oder? Warum sollte es ausgerechnet dieses Semester anders sein?“

Weil ihr das Stipendium zu entgleiten drohte und sie beim strengsten Tutor der Uni gelandet war? Ihre Oma wollte sie allerdings nicht mit all dem belasten. Rasch wechselte sie das Thema.

„Geht es dir ansonsten gut? Brauchst du bei irgendwas Hilfe? Ich könnte am Wochenende vorbeikommen, wenn du möchtest.“

Amelia war mittlerweile beinahe am Somerville College angekommen. In der Ferne erkannte sie bereits die dunkelbraunen Mauern des Gebäudes mit den vielen kleinen Schornsteinen auf den abgeschrägten Dächern. Dass sie es „Mein Mini-Hogwarts“ getauft hatte, wusste zum Glück niemand außer ihr.

Unterdessen schnaubte ihre Oma entrüstet: „Sobald man neunzig zählt, ist es wie verhext. Ständig meinen die Leute, ich müsste irgendwie betüddelt werden …“

„Das wollte ich damit überhaupt nicht sagen“, antwortete Amelia geduldig. Was für sie verspätete Essays waren, war für ihre Oma die ständige Sorge, man könnte sie nicht mehr für voll nehmen.

„Ich komme gut zurecht!“, verkündete ihre Großmutter. „Aber ich wäre trotzdem froh, wenn du mich am Sonntag besuchst. Wir sollten zum Friedhof gehen. Es ist …“, zum zweiten Mal seit ihrem Telefonat klang ihre Stimme nicht mehr forsch und selbstsicher, „… es ist bald wieder der Tag. Du weißt schon …“

Natürlich wusste Amelia es. Weder sie noch ihre Oma würden es jemals vergessen.

„Ich komme gerne“, sagte Amelia sanft.

„Gut!“, erwiderte ihre Granny brüsk.

Amelia wusste, wie schwer es ihr nach all den Jahren noch immer fiel, darüber zu sprechen.

Mittlerweile war sie beim College eingebogen und lief den gepflasterten Weg entlang, der rechts und links von akkurat gemähter Rasenfläche eingeschlossen wurde. Rings um sie herum erhob sich der quadratische Gebäudekomplex des Somerville College, aus dem ihr ein paar Kommilitonen entgegenkamen. Sie grüßten mit einem Nicken. Amelia blieb im Innenhof stehen und überkreuzte die Beine. Wie immer, wenn sie nervös war.

„Dann komme ich am Sonntagvormittag zu dir nach Witney, ja?“

„Wenn es dir keine Umstände macht …“

„Natürlich nicht. Es ist doch nur eine halbe Stunde Fahrt. Ich komme gern.“

Eine Weile blieb es auf der anderen Seite der Leitung still. Ihre Oma wirkte seltsam abwesend. „Du tust so viel für mich, Amelia. Ich wünschte, deine Familie könnte sehen, was für eine wunderbare junge Frau aus dir geworden ist.“

Diese Bemerkung ließ Amelia im ersten Moment die Stirn runzeln. „Aber Gran“, sagte sie dann, „Hauptsache, du bist stolz auf mich. Wir sind doch eine Familie.“

„Natürlich, Liebes“, erwiderte ihre Oma und ihr merkwürdig nachdenklicher Ton verflog. „Wir sehen uns am Wochenende, ja?“

„Ich freu mich …“

Aufgelegt. Verwirrt nahm Amelia ihr Handy vom Ohr und betrachtete das Display. Vielleicht wurde Gran auf ihre alten Tage doch etwas wunderlich. Sie steckte das Smartphone ein und schob dann die Glastür auf, die zu den Unterkünften der Studierenden führte.

Während sie die steinerne Treppe in den zweiten Stock erklomm, ging ihr das Gespräch mit ihrer Großmutter einfach nicht aus dem Kopf. Sie wirkte irgendwie seltsam. Nachdenklich, als ob sie irgendetwas beschäftigte, und das war sonst überhaupt nicht ihre Art. Vermutlich belastete sie der nahende Todestag ihrer Mutter. Am Sonntag war dieser verfluchte Autounfall schon zwanzig Jahre her. Sie hatte den Gedanken nie laut ausgesprochen, und würde es auch nie tun, aber der Tod ihrer Mum lastete bis heute schwerer auf Granny als auf ihr. Als der Unfall ihre Mutter so unvermittelt aus dem Leben gerissen hatte, war sie gerade einmal vier Jahre alt gewesen. Sie hatte auch nicht mit ihr im Wagen gesessen. Ihre Oma hatte schon damals häufig auf sie aufgepasst, denn ihr Dad hatte nie viel Zeit für seine Familie gehabt. Er arbeitete bei der britischen Armee und war nie länger als ein halbes Jahr am selben Ort, oft nicht einmal in Großbritannien. Nach dem Tod ihrer Mutter war rasch klar geworden, dass es besser für alle Beteiligten wäre, wenn sie bei ihrer Granny bliebe.

Amelia bog von der Treppe in einen holzgetäfelten Gang ein. Die warmen Strahlen der Nachmittagssonne fielen in schrägen Streifen auf das Parkett. Mit einem leisen Lächeln betrachtete sie, wie die hellen Flecken über das Holz tanzten. Im Laufe der vielen Jahre waren ihr nur verschwommene Erinnerungen an ihre Mutter geblieben. Ähnlich alten Fotos, die zu oft durch zu viele Hände gingen, verband sie nur noch flüchtige Eindrücke mit ihnen. Wenn sie an ihre Mutter dachte, sah sie noch das klare Blau ihrer Augen, meinte, sich an ein blumiges Parfum zu erinnern und an die kratzige Wolle ihrer Pullover. Sie konnte manchmal noch ihre helle Stimme hören und ihr eigenes Glucksen, wenn ihre Mutter nicht aufhörte, sie zu kitzeln. Aber viel näher, viel lebhafter, waren ihr die Erinnerungen, die sie seitdem mit ihrer Großmutter geteilt hatte. Ihr Dad war in ihrem Leben irgendwann zu so etwas wie einem Patenonkel geworden, der nur auftauchte, wenn …

„Amelia, hey!“

Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Im Flur stand eine junge Frau mit rosa gefärbtem Bob und gut gelauntem Lächeln. Schwungvoll warf sie ihre Zimmertür zu und kam zu Amelia herüber. Als sie sich näherte, wechselte ihr Lächeln allerdings zu einem Stirnrunzeln.

„Alles in Ordnung mit dir? Du siehst fast noch nachdenklicher aus als sonst. Schlechte Neuigkeiten?“

Andromeda Hart baute sich vor ihr auf und musterte sie kritisch. Ihr Vater war ein international hochgeschätzter Altertumswissenschaftler. Amelia vermutete, das war auch der einzige Grund, der seine Tochter dazu gebracht hatte, Archäologie zu studieren. Romy war nicht unbedingt jemand, der sich auf Grabungsstätten heimisch fühlte.

„Hi, Romy!“, antwortete sie und versuchte, den sorgenvollen Ausdruck aus ihrem Gesicht mit einem Lächeln zu vertreiben. „Mit mir ist alles in Ordnung, bin nur etwas erschöpft. Ich war den ganzen Vormittag in der Bod. Jay sitzt mir im Nacken. Mit meinem Essay bin ich längst nicht so weit, wie ich sein sollte.“

„Ach.“ Romy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Komm schon, du bist doch eine dieser Kandidatinnen, die felsenfest davon überzeugt sind, durchgefallen zu sein, bis das A++ vor ihnen auf dem Tisch landet.“

Amelia lächelte matt. Romy lag mit ihren Worten vielleicht nicht ganz daneben, aber kam man zu guten Noten, wenn man sich seiner Sache immer sicher war?

„Um die Arbeit bis zur letzten Sekunde aufzuschieben, fehlt mir einfach dein Nervenkostüm.“

„Diamonds are made under pressure, darling“, flötete Romy. „Anyway, ich sterbe vor Hunger und unten in der Dining Hall gibt es endlich Lunch. Du begleitest mich doch, oder? Sonst muss ich wieder bei den Muffeln vom Ruderclub sitzen.“

„Klar“, antwortete sie, denn Romy zu widersprechen, war meistens zwecklos. „Ich bring nur noch kurz meine Sachen aufs Zimmer.“

„Dann warte ich unten auf dich, ja? Bis gleich!“ Romy schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, ehe sie beschwingt den Weg zum Treppenhaus einschlug, aus dem Amelia gerade gekommen war. Sie sah ihr nach und fragte sich wieder einmal, wieso sich dieses unkonventionelle Energiebündel für einen derart altehrwürdigen Studienort entschieden hatte. Im Grunde war sie ganz dankbar dafür, denn sie war eine ihrer wenigen Freundinnen hier.

Sie schulterte ihre Tasche und ging eilig zum Ende des Ganges, wo sie die Tür zu ihrem Zimmer aufschloss. Ihr Heim in Oxford war ein kleiner, mittelmäßig komfortabler Raum. Weiß gestrichen, ausgestattet mit dem Nötigsten: einem Bett und einem rechteckigen Schreibtisch. Für alles andere gab es ein Gemeinschaftsbad. Sie warf ihre Tasche auf die rote Decke, die ihr Bett überspannte. Auf ihrem Schreibtisch, der unter zahllosen Büchern, Kaffeetassen und Vorlesungsnotizen begraben war, fand nicht einmal mehr ein Post-it Platz. Sie kramte ihren Geldbeutel aus der Umhängetasche heraus und durchwühlte angespannt das Münzfach. Ein paar Pfund blinkten ihr entgegen. Für ein Mittagessen ohne Nachtisch würde es reichen. Sie steckte ihr Geld ein und machte sich dann schleunigst auf den Weg zu Romy.

 

Die Dining Hall des Somerville College war ein langgezogener Saal mit Holzverkleidung und eine der schönsten College-Halls, die es in Oxford gab. Am auffälligsten war wohl die gewölbte Decke aus strahlend weißem Stuck, die im Kontrast zur dunklen Holzvertäfelung der Wände stand. Von dort blickten Amelia alte Ölporträts berühmter Oxford-Absolventen an. Vier langgezogene Bankreihen füllten den Saal und führten zum einzig quer stehenden Tisch am Ende des Raumes. Dieser war den Professoren vorbehalten und stand etwas erhöht, damit sie beim Essen ihre Schäfchen ‒ oder auch das Nachtisch-Buffet ‒ im Auge behalten konnten. Dass sie damals beim Somerville College untergekommen war, hatte ihrer Großmutter sehr gefallen. Es war das erste, das sich bei seiner Gründung vor allem um die Förderung von Frauen an Universitäten bemüht hatte. Darüber hinaus galt es als eines der progressivsten in Oxford. Hier war es den Studierenden sogar erlaubt, über den Rasen zu gehen, ein Privileg, das sonst nur Lehrenden und Promovierenden vorbehalten war. Und Traditionen waren in Oxford nahezu heilig.

„Amelia!“

Sie wurde von Romy aus ihren Gedanken gerissen. Ihre Freundin saß am linken Tisch auf der Fensterseite und winkte ihr mit ihrer Gabel fröhlich zu. Amelia erwiderte die Geste und machte sich dann schnell auf den Weg zum Buffet, das auf der rechten Seite der Halle aufgebaut war.

„Puh, du findest deinen Tag ja bisher anstrengend, aber du willst nicht wissen wie meiner war“, setzte Romy an, kaum dass sie mit ihrem Tablett ihr gegenüber Platz genommen hatte.

„Was war denn mit deinem Tag?“, fragte Amelia und schob Kartoffelbrei auf ihren Löffel.

„Lorraine“, knurrte Romy mit finsterem Blick. „Dass sie die Drama and Acting Society leitet, passt ja mal wie die Faust aufs Auge.“

„Aha.“ Amelia kannte Lorraine nur vom Sehen.

„Am Wochenende startet das Casting für Ein Sommernachtstraum der Drama and Acting Society. Um eine Rolle zu kriegen, muss man einen Monolog vortragen, erst ganz normal und dann in Zeichensprache! Wie kommt man nur auf so was? Ich hab Lorraine gefragt, ob das wirklich sein muss und ehrlich … du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Pah, die sitzt auf einem ganz schön hohen Ross! Ich sag‘s dir, wenn das so weitergeht, geh ich doch wieder zurück zur Art Society. Zeichnen ist zwar nicht so mein Ding, aber Partys haben die geschmissen …“

Romy verlor sich in Schilderungen der letzten Party der Art Society und Amelia musste sich ein Augenverdrehen verkneifen. Neben dem eigentlichen Leben als Studierende drehte sich hier alles um die Societys. Das waren so etwas wie Hobbyclubs und es gab Dutzende von ihnen in Oxford. Die vielen Studierenden teilten sich nicht nur auf verschiedene Colleges auf, sondern auch auf unterschiedliche Societys, denen sie ihre karge Freizeit widmeten. Das reichte von ganz normalen Aktivitäten wie Bowling bis hin zu einer Society, die Wein und Käse verkostete – oder eben Theaterstücke zur Aufführung brachte.

„… am Ende wusste jedenfalls keiner mehr, wer eigentlich die Erdbeeren mitgebracht hatte und darum haben wir sie alle gemeinsam vom Boden des Christchurch Colleges gewischt. Bis auf den Vorfall war es echt ein cooler Abend. Du solltest auch mal mitkommen, statt dich immer nur in Arbeit zu verkriechen! Wenn du erst mal die Jungs da siehst …“

Alarmiert tauchte Amelia aus ihren Tagträumen auf.

„Danke für das Angebot, aber ich muss passen. Außerdem bin ich schon in einer Society.“

„Ja.“ Romy rollte mit den Augen. „Im Buchclub.“

„Ich bin zufrieden damit“, erwiderte Amelia leicht beleidigt.

Romy zog lediglich die Augenbrauen hoch und wandte sich dann wieder ihrem Teller zu, den sie bisher kaum angerührt hatte.

„Ich habe das Gefühl, es gibt zurzeit jeden Tag Roastbeef. Zum Glück ist bald wieder ein Formal, da servieren sie auch mal was Anständiges zum Essen.“

Die exklusiven Dinner, die immer wieder in der Dining Hall stattfanden, hatte Amelia bisher kaum besucht. Zwar gab es dann statt Roastbeef ein exquisites Mehrgänge-Menü und Cocktails sowie jede Menge Gelegenheiten zu networken, aber sie waren auch teuer.

„Du warst schon ewig nicht mehr dabei“, stellte Romy fest, als hätte sie ihren Gedankengang mitverfolgt.

„Ich finde das Ganze etwas steif“, wich Amelia aus. „Nicht so mein Ding.“

„Komm doch nächstes Mal mit.“ Romy sah sie herausfordernd an. „Du kannst dich nicht jedes Semester hinter deinen Büchern verkriechen! Komm schon, ich lade dich ein, ich kann dir auch eins meiner Kleider …“

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich keine Lust auf das Dinner habe! Und noch weniger darauf, von dir bevormundet zu werden.“

Romy sah sie erst erschrocken an, dann verschloss sich ihre Miene. „Na dann … wie du meinst.“

Mit dieser Antwort wurde es still zwischen ihnen und Romy begann, das vorhin noch bemäkelte Roastbeef zügig in sich hineinzuschaufeln. In Amelia wuchs unterdessen das schlechte Gewissen. Sie wusste, dass ihre Freundin es mit ihrem Angebot nur gutgemeint hatte, trotzdem hatte sie damit einen empfindlichen Punkt bei ihr getroffen.

Viele Studierende hier waren wohlhabend aufgewachsen. Geld zu haben, war für sie kein Privileg. Es war eine Selbstverständlichkeit. Sie selbst hatte keine teure Privatschule besucht, bevor sie ihren Studienplatz erkämpft hatte, sondern eine ganz Gewöhnliche mit überfüllten Klassen und dauergestressten Lehrern. Man hatte sie deswegen noch nie unfreundlich behandelt, aber Unverständnis und herablassende Kommentare waren ihr immer wieder begegnet. Es fiel hier schnell auf, wenn man sich noch nie im Leben einen Trip nach Goa geleistet hatte und stattdessen vom Sommerurlaub an den Stränden von Brighton berichtete. Oder wenn ein kaputtes Paar Sneakers zu einem echten Problem wurde. Sie hatte lange mit diesem Zustand gehadert und wusste bis heute nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. Ihre Granny meinte es mit Ratschlägen wie Zeig es den Snobs oder Die wissen wahrscheinlich nicht mal, wie man einen Reifen wechselt zwar nur gut, eine besonders große Hilfe waren sie allerdings nicht. Zumal Amelia ebenfalls nicht so genau wusste, wie man Reifen wechselte … Jedenfalls war es nicht fair von ihr, Romy ihre Unsicherheiten spüren zu lassen.

„Hör mal, Romy“, setzte sie daher vorsichtig an. „Ich wollte vorhin wirklich nicht …“

„Schon okay!“, antwortete diese in einem Ton, der das komplette Gegenteil signalisierte. Mit einer ruckartigen Bewegung stand sie auf und griff nach ihrem halbleer gegessenen Essenstablett. „Ich hab keinen großen Hunger mehr.“

„Geh doch jetzt nicht meinetwegen! Ich wollte gerade …“

„Kannst du dir sparen.“ Energisch schob Romy ihren Stuhl zurück, griff nach ihrem Tablett und ließ sie alleine am Ende des Tisches sitzen.

Als Amelia dabei zusah, wie sie mit wippendem Bob zur anderen Seite der Halle schritt, musste sie gegen ihren Willen an Romys Vortrag über unnötiges Drama denken. Niedergeschlagen stützte sie ihr Kinn in die Hand. Sie hatte sich auch nicht viel besser verhalten. Auf ihrer To-Do-Liste standen jetzt zwei Dinge ganz oben: erstens, ihr Essay zu retten und zweitens die Sache mit Romy geradezubiegen. Denn eine Sache durfte man an diesem Ort nie vergessen: Mindestens genauso wichtig wie Noten waren hier Freunde, auf die man zählen konnte. Und sie brauchte diese dringender, als sie sich eingestehen wollte.

***

„Null Uhr zweiunddreißig …“

Amelia schluckte.

„Das ist eine halbe Stunde nach Abgabetermin“, stellte Jay fest und blickte in seinen Laptop, der auf dem Schreibtisch zwischen ihnen beiden stand.

„Tut mir leid, Sir“, erwiderte sie rasch.

Jay winkte ab. „Wie heißt es unter Studenten? Diamonds …“

„… are forever?“, antwortete sie hoffnungsvoll.

„So ähnlich“, sagte Jay. Wie immer mit einem Gesichtsausdruck, von dem sie nicht ablesen konnte, ob ihr Tutor nun amüsiert, wütend oder peinlich berührt war. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er war eine zaundünne, schlaksige Gestalt um die vierzig und hatte bereits eine steile Karriere in der Wissenschaft hingelegt. Sein bleiches Gesicht, das von schwarzen Haaren eingerahmt wurde (daher der Snape-Spitzname), deutete an, dass er den Großteil seiner Zeit vor dem Computer oder in den Kellern von Archiven verbrachte.

„Sie möchten also meine Meinung zu Ihrer Arbeit hören?“, fragte er mit nach wie vor unbewegter Miene.

„Ja …“, antwortete Amelia verunsichert. Warum sollte sie sonst am Freitagnachmittag zu ihm ins Büro kommen? Er war dieses Semester ihr akademischer Betreuer. Ihr schwante jetzt schon Übles.

„Ich fand es gut“, durchbrach Jay ihre Befürchtungen.

„Was?“, rutschte es ihr heraus.

„Ja, doch.“ Jay nickte nachdrücklich mit dem Kopf. „Ich fand es wirklich gut. An manchen Stellen vielleicht zu gefällig. Man merkt Ihren Essays an, dass Sie sich davor scheuen, gängige Meinungen offen zu kritisieren. Das ist schade, denn ich denke, Sie haben viel zu sagen.“

„Wow, ähm … oha“, stammelte Amelia. Konnte es wirklich sein, dass sie es geschafft hatte, Snape zu beeindrucken? Träumte sie gerade? Hatte sie statt des schlimmsten den besten Mentor Oxfords ergattert? Ihre wenig eloquenten Entgegnungen schienen ihn jedenfalls nicht abzuschrecken. Im Gegenteil, zum ersten Mal, seit sie sein Büro betreten hatte, entdeckte sie so etwas wie die Andeutung eines Lächelns in seinem Gesicht.

„Ich denke, was Sie brauchen, ist ein größeres Projekt, dem Sie sich ganz verschreiben. Sie sind doch bald mit dem Studium fertig, oder?“

„Ja, bin ich“, antwortete sie nervös.

„Nun, dann ist das Ihre Chance, mich zu beeindrucken. Ich leite ab nächstem Jahr ein größeres Forschungsprojekt und habe mich noch nicht entschieden, wen ich als Doktoranden ins Boot holen will“, erklärte Jay. Er beugte sich jetzt wieder vor und begann etwas in seinen Laptop zu tippen. „Würde Sie das denn interessieren? Das Gehalt ist natürlich überschaubar, aber …“

„Es wäre mir eine Ehre!“, antwortete Amelia mit Nachdruck. Der erste brauchbare Satz, den sie seit Beginn des Gesprächs herausgebracht hatte.

Er nickte. „Dann sind Sie dieses Semester von wöchentlichen Essays befreit. Ich möchte, dass Sie selbstständig ein kleines Forschungsprojekt durchführen und mir am Ende des Trinitys die Ergebnisse vorstellen. Dann kann ich auch beurteilen, ob Sie als Forscherin wirklich etwas taugen.“

„Haben Sie denn irgendwelche Vorschläge oder Anhaltspunkte, an denen ich mich orientieren soll?“, fragte Amelia vorsichtig.

Jay schüttelte den Kopf. „Sie können sich frei entfalten. Nehmen Sie ein Thema, das Sie wirklich interessiert und geben Sie sich Mühe. Verschwenden Sie nicht meine Zeit, das ist meine einzige Forderung.“

Amelia blinzelte. Das alles fühlte sich irgendwie unwirklich an und ging etwas zu schnell. Egal, grübeln konnte sie später. Jetzt galt es mitzuziehen.

„Okay“, antwortete sie entschlossen. „Danke für Ihr Vertrauen. Ich werde mein Bestes geben.“

„Wenn Sie weitere Fragen haben, können Sie mich natürlich ansprechen. Bevor Sie gehen, möchte ich außerdem noch ein paar Punkte Ihres Essays besprechen.“ Jay drehte seinen Laptop zu ihr um. „Es gibt da noch die eine oder andere Stelle, an der man feilen müsste.“

 

Als Amelia Jays Büro verließ, lief sie mit ernster Miene den Gang der Fakultät hinunter, vorbei an den Kork-Pinnwänden, die von Zeitungsartikeln, Konferenzankündigungen und Vortragsbildern verdeckt wurden. Einige der Bürotüren standen halb offen und der Duft von Kaffee stieg ihr in die Nase. Ab und zu hörte man das Summen eines Druckers. Sie erreichte kurz darauf das Treppenhaus, das vom dritten Stock wieder ins Erdgeschoss führte. Hier, weit genug von den Büros und Sekretariaten entfernt, tat sie, wonach ihr schon seit der letzten halben Stunde war: Sie stieß die geballte Faust in die Luft und führte einen wilden, aber stummen Freudentanz auf. Sie konnte es nicht glauben. Jays Angebot war mehr als gut, es war das Beste, das ihr in ihrer jetzigen Situation passieren konnte. Wenn sie wirklich eine Stelle als Doktorandin bekäme … Das war in der Regel der Anfang einer wissenschaftlichen Karriere. Wenn es sein musste, würde sie tatsächlich in den nächsten Monaten in den Bibliotheken von Oxford übernachten. Hauptsache, Jay war zufrieden! Schlaf wurde überschätzt. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen nahm sie die Treppe zurück auf den Campus.

Draußen angekommen, warf Amelia einen besorgten Blick auf ihre Armbanduhr und schlug dann den Weg Richtung Somerville College ein. Um die Sache mit Romy wieder geradezubiegen, hatte sie beschlossen, nach der Besprechung mit Jay das Theatercasting zu besuchen. Wenn Romy sah, wie sie ihr im Publikum die Daumen hielt und sich noch einmal bei ihr entschuldigte, würde sie ihr hoffentlich ihren schroffen Kommentar verzeihen. Da Jay sie relativ lange im Büro behalten hatte, um die Unzulänglichkeiten ihres Essays zu diskutieren (an dieser Stelle hatte sie kurz verstanden, wie er zu seinem Spitznamen kam), war sie ziemlich spät dran. Und ihr war klar, zu spät ins Casting reinzuplatzen, würde nicht gerade den erhofften Effekt auf ihre Reputation erzielen.

Im Gegensatz zum ungewöhnlich sommerlichen Anfang der Woche hatte sich jetzt kühles Wetter eingestellt. Die weißen und beigen Sandsteinmauern, die so typisch für Oxford waren, glänzten feucht von den Regengüssen, die seit heute Morgen auf die kleine Stadt niedergingen. Amelia hatte weder Mütze noch Schirm bei sich, aber es machte ihr nichts aus. Der erste Lichtblick seit Tagen hatte sich durch die grauen Wolken gestohlen. Sie zog ihr Handy aus ihrer Umhängetasche und tippte die Nummer ihrer Oma ein. Wenn es gute Neuigkeiten gab, dann wollte sie, dass sie als Erste davon erfuhr.

Sie ließ es durchklingeln, während sie die Woodstock Road überquerte. Aufgeregt presste sie die Lippen zusammen. Granny würde staunen! Doch das Tuten in ihrem Ohr hielt an und am anderen Ende der Leitung meldete sich nicht Clementines vertraute Stimme. Vielleicht war sie beim Einkaufen? Ihre Oma hatte lediglich ein uraltes Schnurtelefon mit Ringelkabel und Wählscheibe in ihrer Wohnung stehen. Frustriert steckte sie ihr Smartphone wieder weg.

Ein anderer Gedanke vertrieb allerdings ihre Enttäuschung. Viel schöner würde es doch sein, Granny die guten Nachrichten am Sonntag persönlich zu erzählen. Sie konnte schon ihre dunkelgrünen Augen vor sich sehen, umgeben von unzähligen Runzeln, die stolz aufleuchteten und fast schon eine ihrer schelmischen Bemerkungen hören, die sie zu jeder Gelegenheit auf Lager hatte. Beflügelt von diesem Gedanken beschleunigte Amelia noch mal ihren Schritt, bis sie das Somerville College erreichte.

 

Sie wusste, dass das Casting der Drama and Acting Society in einem der Keller unter dem College stattfand. Dort gab es einen Saal mit einer alten Stereoanlage und einer Übungsbühne. Zu ihrem Pech war sie nur selten in den kalten Gängen unter dem College unterwegs. Sie fand es dort etwas unheimlich. Während der überirdische Teil des Gebäudes eine Art mondäne Eleganz ausstrahlte, erinnerten die Kellerwände an einen Sozialbau. In zahllosen Glaskästen an den Wänden stapelten sich historische Artefakte, von denen niemand so genau wusste, wo man sie aufbewahren sollte. Also marschierte Amelia eiligen Schrittes erst an einer Vitrine voller ausgestopfter Uhus vorbei, gefolgt von einem Regal mit angestaubten Sportpokalen. Nervös warf sie einen weiteren Blick auf ihre Uhr, als sie um die Ecke bog. Das Casting hatte bereits angefangen und sie hatte keinen blassen Schimmer, ob sie sich auf dem richtigen Weg befand.

„Hey!“

Amelia blickte gerade noch rechtzeitig auf, um die Umrisse eines jungen Mannes auszumachen. Dann prallte sie hart gegen seine Schulter, sodass der Riemen ihrer Umhängetasche abrutschte. Mit einem dumpfen Geräusch landete die Tasche auf dem Boden, wo sie natürlich sofort umkippte und jede Menge ungesicherter Kleinkram über den Boden kullerte.

„Mist!“, fluchte sie und kniete sich hin, um ihre Habseligkeiten einzusammeln.

„Sorry!“ Ihr unerwartetes Hindernis ging in die Knie und half ihr dabei, ein paar Kulis aufzuheben. Sie schätzte ihn ungefähr auf ihr Alter. Er hatte schwarzes Haar, das ihm ungebändigt vom Kopf abstand und das er noch mehr in Unordnung brachte, als er sich beschämt durchs Haar fuhr.

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass du hier auf der Überholspur unterwegs bist.“

„Was soll‘s.“ Amelia lächelte schief. „Ich bin ohnehin zu spät. Man sollte Faltkarten an den Kellereingängen verteilen.“

„Wohin willst du denn?“, antwortete ihr Gegenüber, während sie ein paar verloren gegangene Fünf-Pence-Stücke in ihre Tasche zurückstopfte.

„Zu den Auditions der Drama and Acting Society, die hier irgendwo angeblich stattfinden.“

„Oh, dahin bin ich auch unterwegs“, erklärte ihre Zufallsbekanntschaft.

„Wirklich?“, rief sie erfreut. Sie schulterte ihre Tasche und stand auf. Ebenso wie der andere hoffnungsvolle Castingbesucher. Amelia blickte in ein Gesicht mit recht eigenwilligen Zügen. Von seinem rechten Auge führte eine kleine Narbe weg. Doch am meisten gefiel ihr seine hellblaue Augenfarbe.

„Ich bin übrigens Paul“, stellte sich ihre Zufallsbekanntschaft vor.

„Amelia, sehr erfreut“, antwortete sie. „Tut mir leid, dass ich keine Zeit für mehr Smalltalk habe, aber … du weißt, wo es zum Casting geht?“

Paul lachte. „Ich habe zumindest eine Vermutung.“

„Das reicht mir schon“, antwortete sie entschlossen. Sie wies den Gang hinunter. „Nach dir.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Sie schlugen den Weg in die entgegengesetzte Richtung ein, bogen diesmal an einer anderen Abzweigung ab, bis Amelia endlich ein Blatt Papier an einer Wand entdeckte: Auditions hatte jemand darauf gekritzelt.

„Hier scheinen wir richtig zu sein“, stellte sie erleichtert fest. „Gott sei Dank! Ich dachte schon, dass ich den ganzen Nachmittag hier im Kreis laufe.“

„Das konnte ich zum Glück verhindern“, antwortete Paul und lächelte sie an. „Es wäre eine Schande, wenn eine wie du im College verloren geht.“

Sie runzelte überrascht die Stirn. Flirtete der Kerl gerade mit ihr? Warum das denn? Gegen ihren Willen musste sie an Romy denken, die ihr vorgeworfen hatte, das Studentenleben nicht richtig auszukosten. In einem Anflug von Trotz und Größenwahn beschloss sie, auch einmal in die Flirtoffensive zu gehen.

„Was studierst du eigentlich?“, fragte Amelia, als sie eine schwarze Doppeltür am Ende des Ganges ansteuerten. Eine Großoffensive sah wahrscheinlich anders aus.

„Mathematik“, erwiderte Paul. „Hab gerade erst angefangen, bin also noch ziemlich neu am College. Ich komme aus eher bescheidenen Verhältnissen und ehrlich gesagt fühlt sich dieser riesige Kasten noch fremd für mich an.“

Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch. Sie wollte etwas erwidern, doch sie waren an ihrem Ziel angekommen. Paul legte den Finger auf die Lippen und schob die Doppeltür vorsichtig auf.

„Wie kann ein Glück so wunderlich doch schalten! Ich werde für so schön als sie gehalten …“

Amelia schob sich hinter Paul in den halbdunklen Theatersaal. Im hinteren Teil befanden sich breite, aufsteigende Stufen, auf denen Zuschauer Platz nehmen konnten, im vorderen spielte sich das Hauptgeschehen ab. Im Moment stand dort eine junge Frau mit einem rosa Bob, die dramatisch eine Hand gegen ihre Brust drückte. Sie war also gerade noch rechtzeitig gekommen. So leise wie möglich schlich sie Paul hinterher. Auf den breiten Stufen saßen ein Dutzend Studierende in kleinen Gruppen beisammen. Amelia entdeckte in der vordersten Reihe die Leiterin der Drama and Acting Society, Lorraine, die mit verschränkten Armen die Performance beobachtete. Paul und sie nahmen direkt am Rand der zweiten Reihe hinter ihr Platz. Dass es keine Stühle gab, die ein wenig Abstand zwischen ihnen geschaffen hätten, machte sie in diesem Moment ziemlich nervös. Also blickte sie lieber nach vorne, wo Romy taumelnd auf die Knie sank.

„Was hilft es mir, solang Demetrius nicht wissen will, was jeder wissen muss!“, rief sie.

Jetzt erkannte Amelia auch, was sie spielte. Helena, eine der Hauptrollen im Sommernachtstraum. Romy wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel und warf zum ersten Mal seit ihrer Ankunft einen Blick ins Publikum. Ihre Blicke kreuzten sich und Amelia zeigte ihr beide Daumen nach oben. Romys Augen leuchteten auf (zu lächeln hätte schließlich das Drama ruiniert). Dafür konnte sie das ja im Publikum übernehmen. Ein erleichtertes Grinsen glitt über Amelias Lippen. Romy schien ihr Friedensangebot anzunehmen.

„Wie Wahn ihn zwingt, an Hermias Blick zu hängen!“, deklamierte sie mit ‒ so schien es ihr ‒ neuer Energie.

„Sie ist toll, oder?“, flüsterte Amelia ihrer neuen Bekanntschaft zu. „Die steckt die anderen locker in die Tasche.“

„Stört dich das gar nicht?“, wisperte er zurück.

„Ich bin nicht als Schauspielerin hier, sondern um was gutzumachen.“

„Ja, sie legt wirklich ordentlich vor“, raunte Paul zurück. „Würde mich sehr wundern, wenn sie keine …“

Im ersten Moment konnte Amelia das schrille Geräusch, das ihre geflüsterte Unterhaltung durchbrach, nicht zuordnen. Doch als das langgezogene Klingeln zum zweiten Mal aus ihrer Umhängetasche kam, sackte ihr das Herz irgendwo in Richtung Magengegend.

Im Saal war es still geworden. Romy kniete mit erstarrter Geste vorne und blickte ihre Freundin entgeistert an.

„Was soll das denn?“ Jetzt hatte sich auch noch Lorraine umgedreht.

Amelia griff nach ihrer Tasche, um ihr Handy so schnell wie möglich zum Schweigen zu bringen.

„Sorry, aber geht‘s noch? Raus mit dir!“, fuhr Lorraine sie an.

Sie warf Romy einen entschuldigenden Blick zu, packte den Schulterriemen ihrer Tasche und sah zu, dass sie die Flucht ergriff, während ihr Handy penetrant weiterklingelte.

„Nur damit das klar ist, wer die Auditions stört, bekommt in meinem Stück nicht mal eine Rolle als Baum“, hörte Amelia Lorraines Stimme in ihrem Rücken, dann stürzte sie aus dem Theatersaal.

„Damn it!“, fluchte sie, gerade leise genug, dass es vom Zufallen der Tür übertönt wurde. Mit einem Schnauben zog sie ihr Smartphone heraus. Jetzt machte es auch keinen Unterschied mehr, dass sie den Anruf entgegennahm.

„Ja?“, schnauzte sie ins Telefon.

„Spreche ich mit Miss Baker?“, fragte eine tiefe Stimme, die ihr völlig unbekannt war.

„Wer ist da?“ Amelia lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Wand.

„P.C. Cole Turner. Spreche ich mit Amelia Baker? Der Enkelin von Clementine Baker?“

P.C.? Ein Police Constable? Das alles konnte doch nur ein Scherz sein.

„Ja, das bin ich“, antwortete sie ungeduldig. „Ich bin Amelia Baker.“

Einen kurzen Moment blieb es am anderen Ende der Leitung still, als müsste sich ihr mysteriöser Gesprächspartner für seine nächsten Worte erst wappnen.

„Was ist denn los?“, rief Amelia. „Wissen Sie, ich war hier gerade mitten in einer …“

„Es tut mir sehr leid, Miss Baker …“, unterbrach sie P.C. Turner mit fester Stimme, „… ich muss Sie bitten, sofort nach Witney zu kommen. Ihre Großmutter ist tot.“

2

London 1937

Sonnenschein war das beste Wetter, um eine Falle zu stellen. Bei Sonnenschein wurden die Leute nachlässiger, lächelten häufiger und hielten die Welt für einen besseren Ort, als sie es tatsächlich war. Davon war Clementine überzeugt und den Beweis dafür würde sie heute wieder erbringen. Sie reckte das Kinn und schnipste eine Locke ihres flammend roten Haares über die Schulter.

„Ich hoffe, er ist pünktlich“, seufzte sie.

„Hat dich jemals einer warten lassen?“, erwiderte ihre Begleiterin.

„Es sind verrückte Zeiten“, murmelte Clementine und strich über ihr dunkelgrünes Kleid. Es war ein außergewöhnlich heißer Septembertag und in Chiswick Park waren nur wenige Menschen unterwegs, die sich im Schatten der Platanen aufhielten. Sie steuerte den Weg zu den Anlagen der Orangerie an. Das Fensterglas in den weißen Holzrahmen reflektierte das gleißende Licht der Nachmittagssonne.

„Da kommt irgendwas Übles auf uns zu“, stimmte ihre Begleitung zu. „Lange können wir nicht mehr weitermachen wie bisher.“

„Wollen wir doch auch gar nicht, Grace“, antwortete Clementine. „Mit Fellon haben wir außerdem einen derart guten Fang an der Angel, dass wir uns eine ganze Weile keine Gedanken mehr machen müssen. Dein Fotoapparat ist bereit?“

„Auf eine Leica ist immer Verlass“, erwiderte Grace und klopfte auf die Ausbuchtung ihrer Handtasche.

„Gut und such‘ dir eine ordentliche Position, ja? So eine Katastrophe wie damals bei Woodborough will ich nie wieder erleben.“ Clementine schüttelte sich. „Der Mann war einfach nur grässlich …“

„Können wir nicht doch wieder zurückgehen?“, fragte Grace unvermittelt. „Nach Irland?“

Clementine blieb stehen und warf einen forschenden Blick über die Schulter, dann zog sie Grace in den Halbschatten einer grauen Löwenstatue. Beschwichtigend legte sie die Hände auf Graces schmale Schultern. Deren braune Augen waren sorgenumwölkt und schienen noch größer als sonst in ihrem schmalen, herzförmigen Gesicht zu sitzen.

„Du weißt, dass wir nicht mehr zurück können. Und du weißt auch warum. Mir ist bewusst, dass die letzten Monate schwierig waren. Aber gib jetzt nicht auf. Nicht lange und wir haben unser Ticket nach Amerika. Das Wichtigste ist doch, dass wir immer zusammenbleiben und solange wir das schaffen, ist mir alles andere gleich.“

Grace verzog schuldbewusst den Mund. „Verzeih mir, ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist. Ich hasse es, wenn wir zu diesen Treffen gehen.“

Clementine warf einen weiteren Blick über die Schulter, dann nahm sie kurzentschlossen Graces Gesicht in ihre Hände und küsste sie. Grace schloss die Augen und legte ihre Hände auf Clementines. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, blieben sie stehen, Stirn an Stirn, und sahen sich an.

„Sei einfach vorsichtig, Clem“, flüsterte Grace.

„Das hier ist unser Ticket in ein besseres Leben, schon vergessen?“, erwiderte diese. „Ich werde vorsichtig sein. Ich bin immer vorsichtig.“

„Bist du nicht“, entgegnete Grace und trat einen Schritt zurück.

„Liebe kennt keine Vorsicht“, antwortete Clem mit einem schiefen Lächeln. „Komm, ich probiere noch ein letztes Mal die Kamera aus … nur um sicherzugehen.“

„Muss das sein? Du weißt, dass ich nicht gerne fotografiert werde.“

Sir Thomas Fellon strebte eine Karriere in der Politik als Konservativer an, war seit dreizehn Jahren verheiratet und ließ sich trotz allem davon überzeugen, alleine in Chiswick Park eine alleinstehende junge Frau zu treffen. Bei den meisten Männern reichen ein paar gezielte Anreize, stellte Clementine verächtlich fest, und sie tun, was du willst.

Die weiße Holzbank hinter dem Glashaus der Orangerie hatte sie schon öfter ausgewählt, denn für ihr Vorhaben war sie einfach perfekt. In einem eher abgeschiedenen Park wie dem von Chiswick stand sie etwas versteckt abseits der Spazierwege, aber trotzdem nicht ganz im Schatten. Thomas Fellon, ein Mann um die vierzig mit Halbglatze und leichtem Doppelkinn saß nervös auf der äußersten Kante der Bank. Clementine kniff sich kurz in die Wangen, dann setzte sie ein schüchternes Lächeln auf und näherte sich mit großen Augen ihrem Ziel.

„Ich bin so dankbar, dass Sie gekommen sind“, sagte sie. Der Kies knirschte unter ihren flachen Pumps, als sie sich neben Fellon setzte. Ganz zufällig berührten sich ihre Knie. Er warf ihr einen hastigen Blick zu. Clementine spürte, wie ihre Haut zu prickeln begann. Männer waren meist schnell dabei, ihre helle, ebenmäßige Haut zu mustern, die langen roten Locken, die nachlässig über ihre Schulter fielen oder ihre wohlgeformten Brüste, die sich deutlich unter dem Kleid abzeichneten.

„Verzeihen Sie mir, wenn mein Verhalten unangebracht war, aber ich konnte einfach nicht anders, ich musste Ihnen schreiben“, sagte Clementine. Sie senkte die Stimme so weit, dass Fellon sich sehr nah zu ihr herabbeugen musste, um die nächsten Worte zu verstehen. „Bestimmt halten Sie mich für schrecklich töricht …“ Sie warf einen kurzen Blick auf das dichte Heckenwerk ihr gegenüber, wo sich Grace irgendwo platziert haben musste. Als sie das matte Glänzen der Kameralinse erspähte, wandte sie sich wieder mit unschuldigem Augenaufschlag an Fellon. Diesem stand bereits der Schweiß auf der Stirn.

„Meine liebe Miss Bell“, haspelte er und schien von Minute zu Minute nervöser zu werden.

„Oh bitte, nennen Sie mich Caroline …“

„Caroline, ich verstehe nicht, wieso …“

„Wirklich nicht?“, hauchte Clementine und legte nun ihre Hand auf Fellons. „Sie sind ein beeindruckender Mann, Thomas. Schon als wir uns das erste Mal auf Ihrer Wahlkampfveranstaltung begegnet sind, war ich von Ihnen fasziniert.“

„In Ihrem Brief schrieben Sie, dass Sie sich in einer Notlage befinden …“, antwortete Fellon nervös.

„Aber sehen Sie meine Not denn nicht?“, wisperte Clementine, ihr Gesicht jetzt nur noch eine Handbreit von seinem entfernt. „Könnte Sie nicht …“ Sie legte eine Hand an seine Wange, „… offensichtlicher sein?“

Wie oft hatte sie es schon in den letzten Monaten getan? Und trotzdem schlug Clementines Herz dabei immer noch wie wild in ihrer Brust. Ihr Hals schnürte sich zu, als sie sich nach vorne beugte.

„Ich würde sagen, das ist genug.“

Eine schwere Hand landete auf ihrer Schulter und Clementine und Fellon fuhren auseinander. Ehe sie reagieren konnte, wurde Clementine von einem breitschultrigen Mann hochgerissen.

„Was …“ Mit aller Kraft versuchte sie sich loszureißen, doch im nächsten Moment schloss sich schon kaltes Metall um ihr Handgelenk.

„Wenn Sie stillhalten, muss es nicht wehtun.“

„Zur Hölle mit Ihnen!“, fauchte Clementine und zerrte heftig an ihrem gefesselten Handgelenk.

„Wie Sie wollen …“

Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie, als ihr im nächsten Moment die Arme hinter dem Rücken verdreht wurden. Dann ein zweites Klicken. Es war vorbei. Ein Kloß bildete sich in Clementines Hals. Es konnte nicht sein, es konnte einfach nicht wahr sein!

Ein spitzer Schrei ließ sie zusammenfahren.

„Grace!“, rief sie und versuchte verzweifelt, sich umzudrehen. „Grace!“

„Bringen Sie sie her, Troy!“, befahl ihr Bewacher. Endlich drückte er nicht länger ihre Arme gegen den Rücken. Stattdessen hielt er mit eisernem Griff ihren Oberarm fest, als Clem sich langsam umdrehte.

Hinter der Hecke stolperte Grace hervor. Ein junger Polizist in dunkelblauer Uniform hatte ihr ebenfalls Handschellen angelegt. In Graces Gesicht stand die Angst geschrieben, als sie zur Bank geschubst wurde.

„Inspector Bennett, Sir.“ Der junge Polizist hielt eine silbergraue Leica-Kamera hoch. „Das hier habe ich der Dame abgenommen.“

„Gut gemacht, Troy“, antwortete der Inspector unüberhörbar zufrieden.

Clementine warf ihm einen finsteren Blick zu. Ihr fiel der lange Trenchcoat auf, den der Inspector trotz des außergewöhnlich warmen Septembertags trug. Sie schätzte den Mann auf Mitte fünfzig, der gepflegte Schnauzbart in seinem Gesicht ergraute bereits und um seine Augen kräuselten sich unzählige Fältchen. Nun wandte er sich Mr Fellon zu, der in den letzten zwei Minuten wie versteinert auf der Bank sitzen geblieben war.

„Besten Dank für deine Hilfe, Thomas. Ab jetzt übernehmen wir.“

„Du liebe Güte, John“, antwortete Fellon und lachte nervös. „So schnell muss ich hoffentlich nicht wieder für dich den Lockvogel spielen.“

„Mit Sicherheit nicht“, erwiderte Bennett gelassen. „Zumindest nicht für diese beiden hier.“

In Clementines Kopf hämmerte es. Was mit ihr passierte, war ihr egal, aber Grace …

„Lassen Sie sie gehen“, forderte sie und nickte mit dem Kinn in Graces Richtung. „Ich habe sie überredet. Sie wollte mit all dem nichts zu tun haben. Ich bin die Drahtzieherin. Es reicht doch, wenn Sie mich haben.“

„Was redest du da?“, fuhr Grace auf und die Angst in ihrem Gesicht wich einem Ausdruck von Überraschung. „Glauben Sie ihr kein Wort. Ich wurde zu gar nichts überredet!“

„Das reicht!“, fuhr Bennett dazwischen. „Über die Frage, wer wen zu was überredet hat, können wir uns in aller Ruhe an einem anderen Ort unterhalten. Troy! Gehen wir!“

Clementine wollte etwas entgegnen, doch Inspector Bennett machte eindeutig klar, dass er keinen Wert auf weitere Diskussionen legte. Unbarmherzig schubste er sie nach vorne. Sie legten denselben Weg zurück, den sie vor einer Viertelstunde mit Grace entlanggegangen war. Sie passierten dieselbe Statue, in dessen Schatten sie sich geküsst hatten ‒ zum letzten Mal? Clementines Hals schnürte sich bei diesem Gedanken zu. Wie konnte sich nur in so kurzer Zeit so vieles verändern? Die Welt um sie herum war noch dieselbe: der Park, die Gewächshäuser, die Steinstatuen, doch sie war nun eine andere, sie wurde als Gefangene daran vorbeigeschleift.

Draußen auf der Straße parkte ein schwarzer Polizeiwagen am Bordsteinrand. Bennett schob sie zielstrebig darauf zu. „Troy, Sie setzen sich mit den beiden nach hinten“, kommandierte er.

Kurze Zeit später fand sich Clementine im Rückteil des Wagens wieder. Es war eng und roch unangenehm nach Schweiß und Zigarettenrauch. An den Innentüren befanden sich ebenfalls dünne Metallstangen, an denen Bennets Assistent einen Teil ihrer Handschellen befestigte. So hatte sie wenigstens wieder eine Hand frei, stellte Clementine erleichtert fest. Während Bennett den Motor anließ, warf sie einen Blick auf seinen Assistenten Troy. Er war höchstens halb so alt wie sein Vorgesetzter und obwohl er sich alle Mühe gab, eine völlig unberührte Miene zu wahren, erkannte sie, dass er nervös war. An sein Mitgefühl kann man vielleicht noch appellieren, notierte sie innerlich.

„Wo bringen Sie uns hin?“, fragte Clementine, als Bennett den Motor startete.

„Können Sie sich das nicht denken?“

Clementine warf Grace einen beunruhigten Seitenblick zu. Der zutiefst verstörte Ausdruck in deren Gesicht machte ihr mehr Sorgen als alles andere. Sie konnte nicht anders. Kurzentschlossen streckte sie ihren freien Arm über Troys Beine hinweg und griff nach Graces Hand. Trotz der stickigen Wärme im Auto waren ihre Finger eisig kalt.

„Hey!“, rief Troy überrascht. „Lassen Sie das!“ Etwas ungeschickt versuchte er, Clementines Arm wegzuschieben. Doch Graces Hand hatte sich fest um die ihrige geschlossen. Sie sahen einander an, im stummen Einverständnis, für diese wenigen Momente nicht loszulassen.

„Also wirklich!“, schimpfte Troy. „Sie können doch nicht …“

„Von mir aus lassen Sie die zwei gewähren“, schaltete sich Bennett ein, der die Szene mit zusammengezogenen Brauen im Rückspiegel verfolgt hatte. „Es scheint ihnen ja ein wichtiges Anliegen zu sein.“

Daraufhin gab Troy den Versuch auf, Clementines Griff zu lösen. Während sie Graces Hand im rumpelnden Wagen umklammert hielt, realisierte Clementine zwei Dinge: dass Inspector Bennett vielleicht doch nicht bar jeden Mitgefühls war und wie verletzlich sie sich durch ihre Geste gemacht hatten.

Clementine hatte bereits geahnt, dass man sie in Einzelzellen sperren würde. Trotzdem schnürte es ihr die Kehle zu, als sie sich alleine in der klaustrophobisch engen Zelle wiederfand. Licht fiel lediglich durch ein winzig kleines Gitterfenster am oberen Rand. Direkt darunter befand sich eine abgeschabte Holzpritsche, auf die sie sich erschöpft sinken ließ. Sie vergrub den Kopf in ihren Händen. Man hatte sie in das Hauptquartier von Scotland Yard in die Downing Street gebracht. Clementine hatte die orange-roten Mauern sofort aus der Ferne erkannt ebenso wie die markanten Rundtürme, die aus den Ecken des Gebäudes herausragten. Als sie das hohe Gittertor in den Innenhof passiert hatten, hatte sich das bereits angefühlt, wie in eine Gefängniszelle gestoßen zu werden. Es war die erste von vielen Türen, die sich noch hinter ihr schließen würden – und nichts hasste Clementine so sehr, wie eingesperrt zu sein. Viel schlimmer aber, sie hatte keine Ahnung, wo Grace war und wie es ihr gerade erging. Als Troy sie aus dem Wagen gezerrt hatte, hatte Bennett ihm irgendetwas zugemurmelt. Der junge Assistent hatte Grace daraufhin an der Schulter gepackt und zum rechten Gebäudeteil gezogen, während sie selbst von Bennett in die entgegengesetzte Richtung manövriert wurde.

Sie wollen uns doch nur mürbe machen, dachte Clementine bitter. Wahrscheinlich ist sie in einer Zelle direkt neben mir. Das Einzige, das sie bei alldem erstaunte und das ihr durch ihre erzwungene Ruhepause erst jetzt auffiel, waren die Umstände, die man um sie machte. Natürlich, sie hatten über mehrere Monate hinweg die bessere Gesellschaft des Landes geschröpft und wurden dementsprechend gesucht, aber trotzdem … so behandelte man doch nicht zwei Kleinkriminelle. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie: Das hier war keine gewöhnliche Verhaftung. Eine Erkenntnis, die sie nicht unbedingt beruhigte …

Draußen klirrte es und Clementine schreckte hoch. Jemand machte sich an der Tür ihrer Zelle zu schaffen. Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, wurde unerträglich und sie rutschte auf ihrer Pritsche in die äußerste Ecke ihres Gefängnisses. Ihr Herz pochte. Dann schwang die Tür auf.

„Stehen Sie auf, Miss.“ Es war Bennetts Untergebener Troy.

„Wo ist Grace?“, rief Clementine. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“ Sie sprang von der Pritsche auf und baute sich vor Troy auf, wobei sie sich mutiger verhielt, als sie sich fühlte.

„Muss man Ihnen wieder Handschellen anlegen oder können Sie sich einigermaßen zivilisiert benehmen?“, gab dieser zurück. Clementine wollte etwas erwidern, doch er packte sie einfach an den Schultern und schob sie aus der Zelle.

„Lassen Sie das!“

Doch Troy hielt sie einfach weiter am Arm fest und schob sie vor sich her. Sie befanden sich in einem engen Gang. Durch hohe, rechteckige Fenster fielen schmale Lichtstreifen hinein und ließen die vielen Staubkörnchen in der Luft aufblinken.

Im Treppenhaus kamen ihnen weitere Polizisten entgegen. Einige standen ans Geländer gelehnt und plauderten miteinander, ihre Helme unter den Arm geklemmt. Keiner beachtete sie groß. Sie bogen schließlich in einen anderen Gang ein und Troy bugsierte sie zu einer dunklen Tür, neben dem ein schmales Metallschild befestigt war.

„Können Sie mir wirklich nicht sagen …“, setzte Clementine gerade an, da schubste sie Troy schon hinein und die Tür fiel hinter ihr zu. Sie blinzelte überrascht. Sie hatte damit gerechnet, in einem dunklen Verhörzimmer zu landen. Stattdessen befand sie sich in einem hellen Raum mit Schreibtisch, einer Pinnwand und einem vollgestopften Bücherregal. Durch ein hohes Fenster auf der linken Seite fiel helles Tageslicht auf Bennett, der nachdenklich in die Downing Street hinabblickte. Den Trenchcoat hatte er mittlerweile abgelegt, darunter trug er einen schlichten Anzug mit Krawatte. Als die Tür ins Schloss fiel, drehte er sich zu Clementine um.

„Setzen Sie sich doch“, bot er mit seiner tiefen Stimme an und wies auf einen einfachen Holzstuhl, der vor seinem mahagonifarbenen Schreibtisch stand.

Sie zögerte kurz, dann tat sie wie ihr geheißen und strich ihr mittlerweile arg zerknittertes Kleid glatt. Bennett stellte sich hinter den Schreibtisch, nahm allerdings nicht auf dem rot gepolsterten Stuhl auf seiner Seite Platz. Er musterte Clementine, die seinen Blick trotzig erwiderte.

„Wo ist Grace?“

„Ihrer Komplizin geht es den Umständen entsprechend gut und sie ist nicht weit weg von hier“, antwortete er.

„Kann ich sie sehen?“

„Wissen Sie meine Gesellschaft so wenig zu schätzen?“

„Offen gestanden, ja“, antwortete sie.

„Das ist wirklich bedauerlich, denn ich fürchte, wir werden es noch eine ganze Weile miteinander aushalten müssen …“

„Tatsächlich?“, erwiderte Clementine. Auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, ihr wurde immer unwohler. Was hatte der Inspector mit ihr vor?

Bennett zog ein schwarzes Notizbuch aus der Innentasche seines Sakkos und begann darin zu blättern. „Wenn zwei junge Frauen über mehrere Monate hinweg die Oberschicht unseres Landes schamlos ausnehmen, ergibt das eine Menge Gesprächsstoff. Es war eine geradezu geniale Masche, das muss ich zugeben. Erst wickeln Sie auf Wahlkampfveranstaltungen, Abendgesellschaften und in Clubs einflussreiche Männer um den Finger, dann schicken Sie ihnen ein herzzerreißendes Brieflein, in dem Sie um ein privates Treffen bitten, um von einer angeblichen Notlage zu erzählen. Zufällig finden diese Treffen immer an abgeschiedenen Orten statt. Dann bringen Sie Ihr Opfer in eine höchst despektierliche Situation, während Ihre Komplizin auf den Kameraauslöser drückt. Und hinterher erpressen Sie die armen Trottel. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wie viele Personen Sie mit diesem Trick hereingelegt haben. Welcher Lord Oberrichter würde schon zugeben, dass er von einer jungen Frau derart vorgeführt wurde? Das hat es nicht unbedingt leichter gemacht, Sie und Ihre Komplizin aufzuspüren. Ihre Dreistigkeit hat schon früh mein Interesse geweckt.“ Bennett begann in seinem schwarzen Notizbuch zu blättern. Mit gemächlicher Stimme las er vor: „Charlotte Bletchley, Claire Broadbent und zuletzt Caroline Bell … Sie waren unter vielen Namen unterwegs. Immer dieselben Initialen zu wählen, zeugt von großer Arroganz oder von großer Dummheit, Miss Byrne. Das ist doch Ihr richtiger Name, oder? Clementine Byrne. Ihren Opfern haben Sie weisgemacht, Sie wären Amerikanerin. Sie sind Irin, nicht wahr?“

„Wenn ich Ja sage, sperren Sie mich nur noch ein paar Jahre länger ein.“

Bennetts Gesicht verfinsterte sich. „Dass Sie ausgerechnet in diesen schwierigen Zeiten auf die Idee kommen, anständige Leute auszunehmen. Uns droht ein …“

„Es sind immer schwere Zeiten“, unterbrach ihn Clementine barsch.

„Sie sind jung und gesund. Sie könnten …“

Ich will meine eigene Herrin sein und mir nichts von konservativen alten Tory-Männern vorschreiben lassen. Außerdem … wer weiß? Vielleicht hatten wir ja geplant, uns nach diesem Trick zur Ruhe zu setzen. Vielleicht wollten wir ein anständiges Leben beginnen, wie Sie es nennen würden.“ Clementine verschränkte die Arme. „Wir werden es nie erfahren.“

Bennett winkte ab. „Eines muss ich Ihnen lassen, Miss Byrne. Sie haben Chuzpe. Ich hatte ja schon mit vielen Kriminellen zu tun, aber keiner von ihnen hatte Ihre unverschämte Eloquenz.“

„Ich bin eine Frau mit vielen Talenten“, antwortete Clementine. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann streckte sie sich lasziv und platzierte ihre Ellenbogen auf Bennets Schreibtisch. Sie legte die Hände übereinander und schenkte ihm einen unschuldigen Augenaufschlag. Sie hasste Momente wie diese, aber auf ihre weiblichen Reize zu setzen, schlug selten fehl – und es war die letzte Waffe, die ihr noch blieb.

Bennett griff nach dem zweiten Stuhl und setzte sich zum ersten Mal ihr gegenüber, sodass sie sich direkt in die Augen sahen. Ihr fiel sofort das wettergegerbte Gesicht des Inspectors auf, das so gar nicht zu seinem feinen Akzent passen wollte. Bennett umfasste, ohne eine Miene zu verziehen, ihre schmalen Handgelenke und führte sie zurück auf die Tischfläche.

„Sie sind eine talentierte Lügnerin, das steht außer Frage. Aber sind Sie wirklich so unbeeindruckt, wie Sie tun? Ihnen beiden wird eine sehr lange Liste von Straftaten vorgeworfen und ich habe Sie völlig in der Hand. Ich könnte Sie und ihre Freundin noch heute vor den strengsten Richter Englands führen lassen oder noch ein paar Monate in Einzelzellen sperren. Genauso einfach könnte ich Sie in eins unserer heruntergekommenen Frauengefängnisse bringen, ganz ohne Richtspruch. Sie beide haben niemanden, der für Sie eintritt. Ihre Situation ist prekär, Ihre Möglichkeiten bestenfalls beschränkt und ich glaube, das wissen Sie. Ich habe allerdings auch gute Nachrichten, Miss Byrne. Sie brauchen mich nicht zu verführen, um sich aus Ihrer misslichen Lage zu befreien.“

Clementine zuckte zurück, beherrschte sich aber sofort wieder. Schützend verschränkte sie die Arme vor der Brust und warf Bennett einen misstrauischen Blick zu. „Was wollen Sie?“

Ein kleines Lächeln umspielte die Lippen des Inspectors. „Können Sie es sich nicht denken, Ms Byrne? Bei Ihrer Intelligenz hätte ich gedacht, Sie würden es wenigstens ahnen.“

„Wenn wir Zeit für Spielchen haben, scheint es jedenfalls keine besonders dringende Angelegenheit zu sein.“

Bennett ignorierte den spitzen Kommentar. Er schob den Stuhl zurück und ging wieder zurück zum Fenster des Büros. Mit nachdenklicher Miene spähte er hinunter auf den Straßenverkehr. Die Abenddämmerung brach langsam an und die Menschen kehrten von ihren Arbeitsplätzen nach Hause zurück. Tausende von abgehetzten, besorgten Gestalten, jeder für sich, vereint in der Angst vor dem, was bevorstand.

„Es ist meine feste Überzeugung, dass es Krieg geben wird“, stellte Bennett in einem sachlichen, fast schon kalten Tonfall fest. „Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wann dies der Fall sein wird. Aber es wird geschehen und Chamberlains Nachgiebigkeit wird es eher beschleunigen als herauszögern. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass wir vorbereitet sein sollten, vorbereitet sein müssen, um auf der Seite der Sieger zu stehen.“

„Ihre Überzeugung teilen sicher eine Menge Menschen da draußen“, antwortete Clementine, die Bennett während seiner Ausführungen nicht aus den Augen gelassen hatte. „Aber was hat das alles mit Grace und mir zu tun?“

„Es hat mehr mit Ihnen zu tun als mit Ihrer Partnerin“, korrigierte Bennett. „Ms Holloway ist lediglich unsere … Versicherung.“

„Sie meinen Ihr Druckmittel.“

„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Fest steht jedenfalls, dass ich mich in einer delikaten Situation befinde. Nicht alle hier verachten die Nationalsozialisten, wissen Sie? Damit meine ich allerdings nicht, dass ich mir um die Ansichten einfacher Arbeiter Sorgen mache. Nein, es sind die Lords unseres Landes, Männer mit echtem politischem Einfluss, die gefährlich werden könnten. Denken Sie an die Mitfords! Einige von ihnen würden den Schulterschluss mit Hitler sogar begrüßen, diese verdammten … Ich muss wissen, wem wir vertrauen können, wenn die Zeit gekommen ist. Aber solange kein Krieg herrscht und Chamberlain die Lage derart konsequent unterschätzt, sind mir die Hände gebunden. Auf keinen dieser Männer kann ich momentan ein Mitglied des Secret Service ansetzen – kein offizielles jedenfalls.“ Damit wandte Bennett sich zum ersten Mal um und sah Clementine direkt in die Augen.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein …“

„Es ist sogar mein voller Ernst.“ Er nickte entschlossen. „Ich will, dass Sie Ihr unbestreitbar großes Talent für Lügen und Täuschungen für den Dienst an unserem Land einsetzen. Unter meiner Anleitung.“

„Sie sind verrückt“, stellte Clementine fest.

„Mitnichten und darum sollten Sie jetzt sehr genau zuhören. Ich will Sie in den Haushalt von Lord Lyecroft einschleusen. Sie werden für mich dort jedes noch so kleine Detail über seine privaten und geschäftlichen Tätigkeiten herausfinden und vor allem, ob er mit den Nazis und ihren Sympathisanten kollaboriert.“

„Und lassen Sie mich raten … wenn ich mich weigere, zu Ihrer Marionette zu werden, werfen Sie Grace und mich in das finsterte Gefängnis des Landes und werfen die Zellenschlüssel weg.“

„Das würde ich nur sehr ungern, Ms Byrne. Aber seien Sie versichert, ich würde es tun.“

„Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass Sie nicht von mir verlangen, mich höchstpersönlich in den deutschen Reichstag einzuschleusen, um von dort zu berichten.“

„Soll das also heißen, dass Sie einwilligen?“, fragte Bennett.

„Ich bin keine verdammte Idiotin, Inspector“, erwiderte Clementine. „Wie Sie so freundlich bemerkt haben, liegt mir das Tricksen und Täuschen im Blut und wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, damit aus diesem Haufen Mist wieder rauszukommen, ergreife ich sie auch. Allerdings muss ich mich allein auf Ihr Wort verlassen, dass Sie uns nicht im Gefängnis verrotten lassen. Das gefällt mir überhaupt nicht.“

„Ich halte meine Versprechen.“

„Solange es Ihnen etwas nützt, vermute ich“, erwiderte Clementine und zog die Brauen hoch.

Bennett setzte sich wieder mit ernstem Gesicht hinter seinen Schreibtisch. „Es ist nicht meine Aufgabe, Sie von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen“, erwiderte er. „Tatsächlich ist das nun vielmehr Ihre. Sich meines Vertrauens als würdig zu erweisen, ist Ihre beste Chance, heil aus dieser Sache herauszukommen.“

Clementine biss die Zähne zusammen und wandte sich ab. Am liebsten hätte sie dem arroganten Inspector ins Gesicht gespuckt, aber er hatte leider recht. Momentan war sie die Unterlegene und wenn sie daran irgendwann etwas ändern wollte, war es ihre beste Chance, so zu tun, als würde sie kooperieren. Sie setzte ein Lächeln auf, das schon oft ihre ahnungslosen Ziele in die Irre geführt hatte und wandte sich wieder an Bennett. „Ich kann es zumindest versuchen.“