KAPITEL 1
Zufällige Begegnungen
Seine Flucht musste seiner prekären Lage geschuldet gewesen sein und, wenn dies der Fall war, war er nicht die Art Mann, die der Aussicht auf eine Gefährtin widerstehen würde.
Jane Austen, Stolz und Vorurteil
Februar 1820
„Campbell!“, rief Asherton, der von hübschen jungen Gefährtinnen umgeben war. „Da sind Sie ja! Wir fürchteten schon, Sie würden nicht mehr kommen.“
Campbell lächelte und ging hinüber zu seinem Freund. Der kalte, graue Tag hatte alle dazu veranlasst, sich besonders warm anzuziehen und eng beieinanderzustehen. Deswegen sah die Gruppe, die Asherton vor dem Eingangstor des Grundstücks von Langford House versammelt hatte, wie ein aufgeplusterter Haufen aus. Asherton selbst trug seinen Wintermantel mit dem Kragen fast bis zu den Ohren hochgeschlagen und flankiert wurde er von zwei reizenden jungen Damen, die sich mit Schals und Handwärmern gegen die Kälte gewappnet hatten. Die Mädchen waren Cousinen. Emma und … und … Er konnte sich den Namen der Anderen einfach nicht merken. Campbells Aufmerksamkeit und Werben galt ganz und gar Emma. Oder genauer gesagt ihrem künftigen Vermögen. Laut ihrer Anstandsdame planten Emmas Vormunde, ihr gleich nach ihrer Hochzeit fünftausend Pfund im Jahr zukommen zu lassen. Natürlich hätte Campbell es vorgezogen, seinen Lebensunterhalt auf maskulinere Art und Weise zu verdienen, aber selbst die männlichsten aller Männer mussten essen, trinken und ihre Ehrenschulden begleichen.
Glücklicherweise war Emma hübsch genug, um aus dieser Verpflichtung ein Vergnügen zu machen. Sie hatte volles, hellblondes Haar, blasse Haut und große, blaue Augen. Campbells Erfahrung nach waren Brünetten in der Regel eigensinniger. Die hübschen und zarten Mädchen besaßen hingegen viel freundlichere und formbarere Gemüter.
„Es tut mir schrecklich leid!“ Campbell verbeugte sich tief vor Emma und vor Mrs Rutledge, der Anstandsdame der Mädchen. „Ich bin zufällig einem Mann über dem Weg gelaufen, mit dem ich noch Geschäftliches zu bereden hatte. Leider waren mir die Hände gebunden. Emma, meine Liebe, Sie werden mir doch verzeihen, oder?“
Tatsächlich hatte er noch ein weiteres Glas Brandy gebraucht, damit er das Lächeln, das an diesem langweiligen Abend oft und leicht von ihm erwartet würde, auch zuverlässig aufbringen konnte. Allerdings musste ja niemand in ihrer Gesellschaft von diesem Detail wissen.
„Ich vergebe Ihnen ganz sicher nicht.“ Emma reckte ihr spitzes, zartes Kinn empor. Sie sollte nicht so viel Aufmerksamkeit auf ihre niedlichen Züge lenken. Jeder Mann, der noch Blut in den Adern hatte, wäre versucht, sie zu kosten. „Jedenfalls noch nicht.“
Du kleine Verführerin. Campbells Grinsen wurde breiter. Wir werden ja sehen, wie schnell du mir vergibst.
„Wenn das dann endlich geklärt wäre“, meldete sich die Cousine an Ashertons Arm zu Wort, „würde ich gerne die Sammlung ansehen.“ Wie war noch gleich ihr Name?
„Natürlich, natürlich.“ Campbell schob seinen Arm bestimmt unter Emmas Ellbogen. „Wenn Sie erlauben.“
Emmas Kichern bezeugte ihre volle Zustimmung und gemeinsam gingen sie den Weg zum Haus hinauf, immer dicht gefolgt von der wachsamen Mrs Rutledge.
***
Lord Langford, der Besitzer von Langford House, war ein passionierter Kunstsammler. Er hatte seinen Londoner Familienwohnsitz um einen ganzen Flügel erweitern lassen, um all seine Stücke aufzubewahren. Von Zeit zu Zeit öffnete er seine Türen, um der Öffentlichkeit seine neuesten Trophäen zu präsentieren. Damit bot sich auch dem niederen Adel die Gelegenheit, zu sehen und gesehen zu werden. Und natürlich war es von Vorteil, dass alles vollkommen kostenlos war und Campbell es sich dementsprechend leisten konnte, obwohl er am Vorabend nur schlechte Karten auf der Hand hatte.
Selbstverständlich entsprach ein Abend in einer Galerie nicht gerade Campbells Vorstellung von Vergnügen, aber Emma hatte sich einen Besuch gewünscht und man musste den Damen schließlich etwas bieten.
Ihnen allen.
Campbell tätschelte Emmas Hand, zwinkerte ihr vielsagend zu und ließ sich dann zurück zu Mrs Rutledge fallen, die ganz in schwarz gekleidet wie eine fette alte Kuh hinter ihnen hertrottete. Schon bald nachdem Campbell sich auf Emma eingeschossen hatte, hatte er herausgefunden, dass Mrs Rutledge keineswegs immun gegen seinen Charme, ein wenig Bestechung oder die Wirkung von Gin war. Seitdem hatte er großen Wert darauf gelegt, die alte Dame regelmäßig mit alledem zu versorgen.
„Mrs Rutledge, wie geht es Ihrem schlechten Zeh heute?“
„Oh, ich kann mich nicht beschweren, Mr Campbell.“ Was übersetzt bedeutete, dass sie direkt bei der ersten Gelegenheit genau das tun würde.
„Nun, warum ruhen Sie sich nicht ein wenig aus, während wir uns in der Galerie umsehen? Schauen Sie mal, da steht extra ein hübsches Sofa, damit Menschen mit Leiden wie dem Ihren sich Erleichterung verschaffen können. Wenn Sie erlauben?“ Campbell nahm Mrs Rutledges Hand und führte sie zu dem Brokatmöbelstück, als wäre es die Tanzfläche und sie das glückliche Mädchen seiner Begierde.
„Ach, naja, ich denke, das sollte ich eigentlich nicht“, sagte sie und setzte sich dennoch hin. „Die Mädchen …“
„Werden in Gegenwart von Asherton und mir vollkommen sicher sein“, beendete Campbell den Satz für sie. „Was könnte ihnen schon an einem derart öffentlichen Ort zustoßen? Außerdem …“ Er zwinkerte ihr zu und setzte sein bestes Lächeln auf. „… wird schon niemand etwas davon erzählen.“
Hinter ihm kicherten die Mädchen. Campbell nahm Emmas Arm und führte sie in die versammelte Menschenmenge hinein. Die Wände waren geradezu übersäht mit Gemälden. Jeder der Gäste schien völlig beeindruckt zu sein von dem, was hier geboten wurde. Aber für Campbell war es nicht mehr als eine endlose Aneinanderreihung von kitschigen Landschaftsbildern, steifen Porträts sowie Ansichten normaler, langweiliger Leute in normalen, langweiligen Posen.
Er ignorierte geflissentlich Emmas Bitten um den Kauf eines Katalogs. Glücklicherweise kam Asherton schließlich dem Verlangen des anderen Mädchens – wie war nur ihr Name? – nach und kaufte für einen Schilling eines der Bücher, in dem Lord Langford als Gönner der schönen Künste lobgepreist wurde, die Werke aufgelistet sowie Details zu den Lebensläufen der Künstler festgehalten waren.
„Verzeihen Sie bitte, aber was ist so besonders an diesem Kerl hier?“ Campbell missglückte es, die Langeweile gänzlich aus seiner Stimme zu verbannen.
Emma keuchte auf und gab ihm einen spielerischen Klapps mit ihrer behandschuhten Hand, genau wie er es vorhergesehen hatte. „Oh, Campbell, Sie sind unverbesserlich! Ich habe Ihnen doch alles über das Gemälde erzählt und Sie haben eindeutig nicht zugehört.“
Was natürlich stimmte. Er gab sich zwar Mühe, aber man konnte von einem Mann mit so vielen Sorgen, wie er sie hatte, nicht erwarten, dass er sich an jedes Detail einer Konversation mit einem hübschen Dummchen erinnerte.
„Was soll ich nur mit ihm machen, Claire?“, sagte Emma mit einem dramatischen Seufzen zu ihrer Cousine.
Claire! Campbell schwor sich, sich den Namen diesmal wirklich einzuprägen.
„Du wirst ihn schon bald im Griff haben, Emma, da bin ich mir sicher“, erwiderte Claire neckisch.
Campbell sah Asherton mit hochgezogener Augenbraue an, die dieser mit einem knappen Lächeln erwiderte.
Emma fragte Claire nach dem Katalog und nahm sofort die Statur und das Gebaren einer strengen Gouvernante an. „Jacob Mayne“, las sie vor, „wurde in Hertfordshire geboren als Sohn eines respektablen Landbesitzers …“
„Vielleicht respektabel“, warf Claire mit erfreut leuchtenden Augen ein, „aber es heißt, dass sein Vater zu Gewalt und Trunkenheit neigte.“
„Seine Mutter nutzte ihr gesamtes Taschengeld, um ihn auf europäisches Festland und weg von seinem Vater zu kriegen“, fügte Emma hinzu. Dafür musste sie nicht einmal den Katalog zurate ziehen.
„Er verliebte sich in ein französisches Mädchen, dessen Familie unter Napoleon ihr Vermögen verloren hatte“, fuhr Claire fort. Das war das einzige Problem mit den beiden: Anstatt allein Konversation zu betreiben, flogen bei den beiden Cousinen die Sätze hin und her wie bei zwei besonders energischen Federballspielerinnen. Einem Mann wurde da beim Zuhören ganz schwindelig.
„Er hat versucht, sie mit zurück nach England zu nehmen, aber während der Überquerung des Ärmelkanals wurden sie von einem Sturm überrascht und sie ging über Bord und ertrank“, erklärte Emma mit verträumtem Blick. „Die anderen Passagiere mussten ihn davon abhalten, ihr hinterher zu springen.“
„Oh, schaut nur! Das muss sie sein!“ Claire zerrte Asherton mit zu einem Porträt, das ganz zentral an der Wand platziert war. Darauf sah man eine dunkelhaarige Frau mit zarten Gesichtszügen, die bäuerliche Kleidung trug. Ihre weite Bluse war ganz von einer ihrer blassen Schultern gerutscht.
„So wunderschön!“, seufzte Emma. „Kein Wunder, dass er sich das Leben nehmen wollte! Können Sie sich vorstellen, wie es sein Herz gebrochen haben muss, sie zu verlieren?“
Das waren nicht ganz die Gedanken, die Campbell beim Anblick der entblößten Schulter kamen.
„Wirklich reizend“, murmelte er. „Aber nicht so reizend wie manch andere.“ Er zog Emma kaum merklich näher zu sich. Das Mädchen lächelte und war sichtlich geschmeichelt.
„Also, was ist unserem jungen Helden nach diesem tragischen Verlust widerfahren?“, fragte Asherton.
„Er kehrte nach Hause zurück und war vollkommen am Boden zerstört“, verkündete Claire. „Als er ankam, erfuhr er, dass sein Vater in der Zwischenzeit verstorben war und seiner Familie nichts als einen Haufen Schulden hinterlassen hatte. Er versuchte, seine Mutter und seine Schwester mit dem Verkauf seiner Gemälde zu unterstützen, aber niemand schenkte seinen Werken große Beachtung. Er war gezwungen, einer Arbeit nachzugehen, aber er konnte mit dem Malen nicht aufhören. Seine Trauer entwickelte sich zu einem Wahn …“
„Es heißt, dass er tagelang wach blieb“, erzählte Emma weiter. „Er schlief nicht, er aß nicht, er tat nichts, als zu malen.“
„Und am Ende starb er an Erschöpfung und gebrochenem Herzen. Seine Familie sah sich gezwungen, seine Werke zu einem Spottpreis zu verkaufen.“ Claire schüttelte den Kopf. „Es ist so furchtbar!“
Campbell ertappte sich dabei, wie er dem französischen Bauernmädchen in die gemalten Augen starrte. Ein höchst eigentümliches Gefühl überkam ihn. Fast so, als würde er jemanden wiedererkennen, aber doch nicht ganz. Und da war noch etwas anderes. Viel näher und vertrauter. Er fühlte sich, als würde ihn jemand beobachten.
„Sie sind plötzlich so still, Campbell“, sagte Emma.
„Da ist ein Mann, der Sie anstarrt.“ Er nickte vage in Richtung der Menschenmenge. Er nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen, allerdings sah er nicht viel mehr als ein Gewusel aus Hüten, Hauben, Mänteln und bestickten Schals. Er entdeckte nichts, was das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, erklärt hätte.
„Niemand starrt mich an, Sie Dummerchen“, sagte Emma glucksend. „Wie könnte es auch jemand wagen, wo ich einen so starken Mann an meiner Seite habe, um mich vor jeglichen ungewollten Avancen zu schützen?“
„Ich habe es mir wohl nur eingebildet“, entgegnete Campbell mit Bedauern in der Stimme. „Es tut mir leid. Das liegt wohl an all dem hier …“ Er ließ den Arm in Richtung der Gemälde schweifen. „Solche Werke von einem so jungen Kerl zu sehen. Das weckt die Frage in mir, wie viel meines Lebens ich bereits verschwendet habe.“ Campbell setzte gekonnt eine melancholische Miene auf. Es fiel ihm nicht besonders schwer. Tatsächlich war ihm ein Großteil seines Lebens gestohlen oder verschwendet worden. Wie viel Pech konnte ein Mann ertragen, ohne daran zu zerbrechen?
„Oh, Campbell.“ Emma legte die Hand auf die seine, welche noch immer an ihrem Arm ruhte. „So dürfen Sie nicht denken. Es wird sich alles zum Guten wenden. Bald haben Sie Ihr Erbe und Sie werden dafür sorgen.“
Ihr Vertrauen in ihn berührte ihn tatsächlich. Solch ein Glaube an ihn, solch eine Liebe vermochte sicherlich das Schicksal eines jeden Mannes zu wenden.
„Oh, meine Liebe. Wenn ich doch nur zuerst Ihnen begegnet wäre.“ Sein Lächeln war erfüllt von den aufrichtigen Gefühlen, die ihn in diesem Moment überkamen. „Sie hätten mich von all den falschen Liebeleien bewahrt und auf dem rechten Weg gehalten.“
„Sie sprechen davon, als sei es dafür zu spät.“
„Für mich ist es das. Einst hatte ich Potenzial. Und auch Träume. Was bin ich denn jetzt schon? Alt und ruiniert.“
„Sie sind nicht besonders alt.“
„Dann eben jung und ruiniert – abhängig von einem Vermögen, das ich vielleicht nie erhalten werde.“
„Aber das werden Sie“, sagte Emma. „Ich weiß, dass Sie mit Ihrer Klage Erfolg haben werden! Ich habe volles Vertrauen in Sie!“ Emma schmiegte sich noch näher an ihn an. Sie hatte wirklich großes Glück, dass sie sich an einem öffentlichen Ort befanden.
Sie streiften weiter durch die Galerie und nickten im Vorbeigehen höflich den anderen Herren und Damen zu. Campbell hielt wachsam Aussicht nach bekannten Gesichtern, erspähte allerdings niemanden. Asherton führte seine kleine Claire brav zur anderen Seite des Saals, sodass Campbell die Gelegenheit erhielt, ein wenig Zeit allein mit diesem Leckerbissen zu verbringen.
Aber während Emma begeistert über dieses und jenes Gemälde sprach, fand Campbell es immer schwerer, konzentriert bei der Sache zu bleiben. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, war nicht schwächer geworden. Campbell war fast schon so weit, es den Blicken der Porträts zuzuschreiben, ganz besonders dem dieses französischen Mädchens.
„Campbell! Campbell!“, tönte plötzlich Ashertons Ruf über das höfliche Gemurmel der Besucher hinweg. „Das hier müssen Sie sehen!“
Campbell führte die kichernde Emma eiligen Schrittes zu der kleinen Nische, in der Claire und Asherton warteten.
„Warum die Aufregung?“, fragte Campbell.
„Da!“ Asherton deutete auf eines der Gemälde.
Das Werk war unvollendet. Die meisten der Figuren waren nur grobe Kohleskizzen. Das Bild zeigte einen Soldaten aus dem letzten Krieg, vornübergebeugt unter einer durchhängenden Zeltplane. Die zerlumpte Uniform hing von seinem ausgemergelten Körper. Selbst seine Stiefel waren zerrissen. Die Gestalt blickte dem Betrachter mit vollkommener Erschöpfung in die Augen.
„Meine Güte“, sagte Emma atemlos. „Campbell! Das sind ja Sie!“
„Guter Gott, so ist es“, murmelte Campbell, als endlich Verständnis in ihm aufkeimte. Er hätte längst erkennen müssen, wessen Hand diese Bilder gemalt hatte, die einem unbekannten Jungen aus Hertfordshire zugeschrieben waren. Schließlich hatte er diese Hand einst fast genauso gut gekannt, wie die eigene. „Ich frage mich, wie es dazu kommen konnte.“ Noch während er sprach, spürte Campbell zum ersten Mal an diesem Tag, wie sich ein vollkommen echtes Lächeln auf seinem Gesicht breit machte.
KAPITEL 2
Eine lebhafte Meinungsverschiedenheit
Es war einer jener wunderbaren Momente, in denen ein Ratschlag zu derartigen Dingen geschätzt wurde.
Jane Austen, Stolz und Vorurteil
Rosalind Thorne hätte nie gesagt, dass sie ihren Morgen mit einem Streit mit Alice Littlefield begonnen hatte. Sie hätte es vielmehr als lebhafte Meinungsverschiedenheit bezeichnet.
„Alice, wir können im Moment keinen Gedanken daran verschwenden, ein neues Haus zu mieten“, sagte Rosalind mit ruhiger Stimme. „Das wäre viel zu teuer.“
„Es wäre nicht zu teuer“, erwiderte Alice. „Wenn man bedenkt, was mein neuer Roman einbringen wird.“
„Einbringen könnte“, korrigierte Rosalind. „Bisher gibt es nicht ein gedrucktes Exemplar und dein Mr Colburn sagt, dass er nichts versprechen kann.“
„Aber es gibt schon zwei Dutzend Vorbestellungen“, konterte Alice. „Und dir selbst ergeht es auch nicht schlecht. Du hast mir selbst gesagt, dass du sieben Damen hast, die …“
„Sechs“, fiel Rosalind ihr ins Wort.
„Sechs“, wiederholte Alice. „Und zwar allesamt aus gutem Hause, die es sich leisten können – vergib mir bitte die Bemerkung – dich für deine Dienste zu bezahlen.“
Alice war abwechselnd belustigt und frustriert von Rosalinds zögerlicher Einstellung zu Geld. Sie beide waren Kinder von Gentlemen und dementsprechend mit der Erwartung aufgewachsen, dass sich ihre Zukunft ausschließlich um eine vorteilhafte Ehe drehen würde. Von eben jener Erwartung waren sie beide inzwischen sehr weit entfernt. Alice arbeitete als Klatschkolumnistin, Übersetzerin und seit Kurzem auch als Romanautorin. Sie hatte keinerlei Bedenken, sich für ihr Schreiben bezahlen zu lassen.
Rosalind wiederum hatte es geschafft, sich eine Lebensgrundlage auszuarbeiten, indem sie der Londoner Damenwelt bei der Bewältigung ihrer Probleme half. Diese reichten von der Organisation gesellschaftlicher Veranstaltungen bis hin zur Aufklärung von skandalösen Ereignissen wie Erpressung oder sogar Mord.
Das Problem war nur, dass es Rosalind als Dame aus gehobenen Kreisen aufgrund von althergebrachten Konventionen verboten war, direkt um Bezahlung zu bitten, egal, welche Dienste sie erbracht hatte. Bei einem Verstoß würde man sie augenblicklich als ein Mitglied der Arbeiterklasse betrachten. Jedweder Anspruch auf ihre adlige Herkunft wäre im Nu dahin und damit auch ihr gesellschaftlicher Stand, den sie sich über Jahre hart erarbeitet hatte.
„Ich war bisher so beschäftigt, dass ich mich nur mit drei von ihnen besprechen konnte“, rief ihr Rosalind in Erinnerung. „Und ich kann mir nicht einmal sicher sein, dass sie den neuen Bedingungen, die mein Anwalt vorgeschlagen hat, zustimmen werden.“
„Du bist gerade wirklich schwierig, Rosalind.“
„Ich bin lediglich pragmatisch, Alice“, konterte sie. „Wir müssen an unsere Zukunft denken.“
„Das tue ich ja. Gerade deswegen kann es nicht so bleiben.“ Alice breitete die Arme aus, um auf den kleinen und – wie Rosalind zugeben musste – recht engen Salon zu deuten.
Rosalind wohnte schon einige Jahre in dem Mietshaus auf der Little Russell Street. Die meiste Zeit hatte es seinen Zweck gut erfüllt. Jedenfalls bis Alice bei ihr eingezogen war. Jetzt standen neben Rosalinds Schreibtisch und der Sitzgruppe mit Sesseln und Kaffeetisch auch noch Alices Schreibtisch sowie Regale mit ihren Büchern und Magazinen im Salon. Inzwischen waren es so viele, dass sie sich damit in dem ebenso kleinen Speisesaal ausbreiten musste. Es war nicht abzustreiten, dass sich das Haus sehr voll anfühlte.
Als hätte sie Rosalinds Zweifel gespürt, setzte Alice nach: „Ich kann nicht schreiben, wenn ich den Salon jedes Mal verlassen muss, wenn eine deiner Damen zu Besuch kommt. Und du brauchst dir keine Hoffnungen machen, die Crème de la Crème des Ton zu empfangen, wenn du ihnen hier fast schon auf dem Schoß sitzt! Du weißt besser als ich, wie viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt wird. Und wir leben in ärmlichen Verhältnissen.“
„Als ärmlich kann man es nun wirklich nicht bezeichnen.“ Rosalind schämte sich dafür, wie gereizt ihre Antwort klang. Aber sie hatte über Jahre geknausert und sich durchgekämpft, um die Fassade ihrer adligen Herkunft aufrecht zu erhalten.
„Die Marlboroughs und die Jerseys dieser Welt sehen da keinen Unterschied“, konterte Alice. „Komm schon, Rosalind. Ich sage ja nicht, dass wir Kensington Palace mieten sollen. Aber besichtige doch bitte mit mir das Haus in der Orchard Street. Es ist perfekt, das verspreche ich, und die Miete ist gar nicht so viel höher …“
„Es geht nicht nur um die Miete“, erwiderte Rosalind. „Ein größeres Haus bedeutet, dass wir mehr Bedienstete brauchen. Ganz zu schweigen von neuen Haushaltstextilien, Vorhängen und anderen Möbelstücken.“
„Das Haus ist bereits möbliert und …“
Was auch immer Alice sagen wollte, wurde unterbrochen von einem sanften Klopfen an der Tür zum Salon.
Die beiden wandten sich gerade rechtzeitig zur Quelle der Störung, um zu sehen, wie die Tür geöffnet wurde und ein hochgewachsener, gutaussehender Mann hereintrat.
„Mr Harkness!“, rief Rosalind aus.
„Störe ich gerade?“, fragte Angesprochener. „Amelia sagte mir, ich solle einfach hereinkommen.“
„Und da haben wir einen weiteren Grund“, sagte Alice triumphierend. „Du kannst deine männlichen Gäste wohl kaum angemessen empfangen, wenn du kein Zimmer dafür hast.“
Adam Harkness kannte Alice gut und ihre Verärgerung bescherte den beiden Damen lediglich ein Lächeln seinerseits.
„Gäste?“, fragte er an Rosalind gerichtet. „Sie haben mehr als einen, Miss Thorne?“
Rosalind beschloss, auf gar keinen Fall zu erröten, aber unglücklicherweise verweigerten ihre Wangen den Gehorsam. „Bitte entschuldigen Sie uns, Mr Harkness“, sagte sie. „Alice und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit.“
„Rosalind und ich haben uns gestritten“, korrigierte Alice. „Mr Harkness, würden Sie ihr bitte erklären, dass es von höchster Wichtigkeit für uns ist, ein größeres Haus zu finden.“
Adam gab ein bedauerndes Seufzen von sich. „Wenn ich die Zeit hätte, würde ich mich an der Diskussion beteiligen, aber ich bin hier, um mich zu verabschieden.“
„Oh, ja. Mir war nicht klar, dass es schon so spät ist.“ Rosalind warf ihrer Mitbewohnerin einen Blick zu. „Vielleicht sollten wir einen Spaziergang machen?“, schlug sie vor. Alice war ihre allerbeste Freundin, unabhängig von ihrer kleinen Meinungsverschiedenheit. Allerdings gab es ein paar Angelegenheiten, für die Rosalind ein wenig Privatsphäre brauchte. Und dazu gehörte die Verabschiedung von Adam Harkness.
Alice seufzte theatralisch und ergänzte die Geste, indem sie zusätzlich ihre braunen Augen gut sichtbar verdrehte. „Nein, nein, es ist eiskalt draußen. Ihr würdet euch den Tod holen und dann würden meine Träume für den Rest meines Lebens von euren traurigen Geistern heimgesucht. Ich gehe auf mein Zimmer.“ Sie fegte hinaus – oder versuchte es zumindest. Ihr Rock verfing sich an der Ecke des Fußhockers, sodass sie stehenbleiben musste, um sich zu befreien. Nach dieser kleinen Unterbrechung setzte sie ihren Weg jedoch nicht minder entschlossen fort und funkelte Rosalind mit einem vielsagenden Blick über die Schulter an.
Rosalind schloss die Tür des Salons und wandte sich Adam zu. Er lächelte. Es war eben dieses Lächeln, das sie vom ersten Augenblick an gefesselt hatte. Mehr noch als sein ruhiges Gemüt oder sein markantes, wettergegerbtes Gesicht mit diesen scharfsinnigen blauen Augen. Am Ende war es vor allem sein leichtes, wissendes Lächeln, das ihr sonst so nüchternes und pragmatisches Herz erobert hatte und sich strikt weigerte, es wieder herzugeben. Den Wunsch danach hatte sie allerdings ohnehin schon lange aufgegeben.
„Nun, ich wünsche Ihnen viel Glück in Manchester“, sagte sie. Adam war einer der Principal Officers der berühmten Bow Street Polizeiwache. Ein Handelskonsortium aus Manchester hatte den Magistraten geschrieben und um die Entsendung eines Ermittlers gebeten, der sich um eine Serie von Einbrüchen kümmern sollte. „Ich werde Sie vermissen.“
„Es tut mir leid, dass ich Sie jetzt verlassen muss“, sagte Adam. „Falls irgendetwas passieren sollte, wobei Sie Hilfe benötigen, habe ich Sam Tauton gebeten, sich darum zu kümmern.“ Samuel Tauton war ebenfalls ein Bow-Street-Polizist. „Werden Sie mir schreiben?“
„Natürlich werde ich das“, erwiderte Rosalind.
„Bitte besonders dann, wenn sich Ihre Adresse ändert.“ Adams Lächeln war zu einem frechen Grinsen herangewachsen.
Rosalind ignorierte seine Neckerei geflissentlich. „Ich glaube, darüber müssen wir uns noch keine Gedanken machen.“
„Vielleicht schon“, sagte er. „Jedenfalls denke ich, dass Alice durchaus nicht unrecht hat. Das Haus ist zu klein für Sie beide.“
„Ich weiß“, gab sie mit einem Seufzen zu. „Es ist nur …“ Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Rosalind um die eigene Zukunft bangen und jeden Penny, der ihr in die Hand fiel, zweimal umdrehen müssen. Sie hatte immerzu versucht, sich auf den Tag vorzubereiten, an dem ihre fragile Lebensgrundlage schließlich krachend zusammenbrechen würde. Es war schwer zu glauben, dass es ihr vielleicht endlich gelungen war, finanziell unabhängig zu sein. Oder vielmehr abgesichert.
Adam verstand wie üblich viel von dem, was sie unausgesprochen ließ. „Die Welt wird nicht untergehen, nur weil Sie sich etwas gönnen, das Sie haben wollen.“
Rosalind spürte, wie ihr ein winziges Lächeln auf die Lippen stieg. „Ist das ein Versprechen?“
„Das ist es.“ In seiner Stimme lag tiefste Ernsthaftigkeit, aber in seinen tiefblauen Augen erkannte sie ein Leuchten. „Und Sie wissen, dass man mir in derlei Angelegenheiten vollkommen vertrauen kann.“
„Das weiß ich.“ Rosalind seufzte. Aus Gewohnheit blickte sie über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. „Es ist nur … Es fühlt sich an, als ob sich alles verändert. All die Briefe, das neue Haus, Alice als Romanautorin … ich kann mir nicht erlauben, all dem zu viel Vertrauen zu schenken.“
„Sie müssen nicht auf die Veränderung vertrauen“, erwiderte Adam. „Vertrauen Sie stattdessen sich selbst. Und Alice.“
„Und Ihnen?“, ergänzte Rosalind.
„Immer.“
Rosalind legte eine Hand an seine Wange. Sie genoss die raue Wärme seiner Haut in ihrer Handfläche und erfreute sich an dem liebevollen Leuchten in seinen Augen, hinter denen sich eindeutig zärtlicher Übermut regte.
Die Salontür wurde geöffnet und Rosalind zog eilig ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
„Entschuldigen Sie die Störung, Miss.“
Amelia McGowans Statur war ebenso rundlich wie ihr Gesicht, das von rotem Haar umringt und mit Sommersprossen besprenkelt war. Ein einziger Blick ihrer grünen Augen genügte, um jeden zu warnen, dass ihre Besitzerin keinerlei Unfug duldete.
„Da ist eine Dame im Foyer, Miss Thorne“, sagte Amelia. „Ich sagte ihr, dass Sie nicht zu Hause seien, aber sie bestand darauf, dass ich Ihnen ihre Karte bringe.“
Rosalind nahm sie entgegen und las. „Mrs Gerald Douglas.“
An der Qualität der Karte und der erhabenen Gravur erkannte Rosalind sofort, dass es sich um eine wohlhabende Dame mit Geschmack handeln musste. Und dann war da noch irgendetwas anders, das sich aus den Tiefen von Rosalinds Gedanken meldete – eine Erinnerung, die sie nicht ganz zuzuordnen wusste.
„Vielen Dank, Amelia. Würden Sie uns bitte etwas Tee zubereiten?“
„Bin schon dabei“, antwortete sie. „Ich dachte, dass Sie und Mr Harkness vielleicht eine Tasse zu schätzen wüssten.“
„Unglücklicherweise kann ich nicht länger bleiben“, sagte Adam mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme. „Sie können der Dame ausrichten, dass Miss Thorne in Kürze Zeit für sie haben wird.“
„Sehr wohl, Sir.“ Amelia machte einen Knicks und schloss die Tür.
„Sie geben also schon meinem Hausmädchen Befehle?“ Rosalind zog die Augenbrauen hoch. „Überschreiten Sie da nicht Ihre Befugnisse, Sir?“
Adam nahm als Antwort nur ihre Hand und verbeugte sich tief darüber. Rosalind spürte seinen warmen Atem an ihrem Handrücken. Das sanfte Kribbeln weckte in ihr sofort allerlei Fantasien, von denen sie dachte, sie schon vor Jahren hinter sich gelassen zu haben.
Er richtete sich wieder auf und lächelte erneut, was ihr Herz abermals höherschlagen ließ.
„Ich denke, ich werde nicht allzu lange fort sein“, sagte er. „Und keine Sorge, ich werde durch den Hintereingang hinausgehen, damit wir Ihre neue Klientin nicht verschrecken.“
Er setzte sich den Hut auf, berührte die Krempe zum Abschied und verschwand durch die Tür, die zum Esszimmer führte, von wo aus er durch die Küche weiter in die Spülküche und schließlich in den Garten gelangen würde.
Rosalind blieb, wo sie war. Auf Wiedersehen, dachte sie, während sie weiter auf den nun leeren Fleck starrte, an dem er eben noch gestanden hatte. Viel Glück! Komm wieder heim zu mir.
Dann drehte sie sich um und ging zur Tür, vor der die Dame und ihre noch unbekannten Probleme warteten.