Leseprobe Das Geheimnis des Toten

Kapitel 1

Ein Zweidecker schoss so grazil wie ein Vogel über den Pier von Brighton hinweg und erschreckte mehrere Schaulustige, die voller Bewunderung keuchten.

„Poesie in Bewegung“, murmelte Tommy Fitzgerald, der in seinem Rollstuhl saß und die Flugschau genoss. „Könnte ich die hier noch benutzen“, er tippte auf seine gelähmten Beine, „würde ich mich sofort in eine dieser Maschinen setzen.“

„Und damit Ihrer armen Schwester Alpträume bescheren.“ Annie, das etwas unkonventionelle Dienstmädchen der Fitzgeralds, erschauderte bei dem Gedanken daran, in einem Flugzeug zu sitzen.

Clara Fitzgerald stand währenddessen einige Schritte entfernt und blickte mit einem alten Fernglas gen Himmel. Sie hatte zum ersten Mal ein Flugzeug in der Luft erlebt. Zwar hatte sie in der Zeitung schon eine Menge über die Maschinen gelesen und im Krieg hatte es viele aeronautische Heldengeschichten gegeben, doch das war etwas ganz anderes, als das Erlebnis direkt vor Augen zu haben.

Sie hörte einen lauten Knall neben sich und drehte sich ruckartig um.

„Oliver Bankes!“

Oliver Bankes, seines Zeichens Polizeifotograf und Besitzer von Bankes’ Fotostudio, kam mit einem entschuldigenden Blick unter dem schwarzen Stoff hervor, der die Rückseite seiner Kamera abdeckte.

„Ich habe noch nie ein Flugzeug fotografiert. Das ist unglaublich herausfordernd“, murmelte er unter Claras Blick. „Ich glaube, ich habe es schon wieder verpasst. Es ist wirklich nicht einfach, vorherzusagen, wann das Flugzeug am Himmel zu sehen ist, und außerdem glaube ich, dass die Kamera nicht schnell genug auslöst.“

„Warum genießen Sie dann nicht einfach den Anblick, statt so viel Radau und Licht zu produzieren?“

„Aber darum geht es doch nicht“, sagte Oliver traurig. „Es ist der Künstler in mir; wie ein Maler, der eine Landschaft sieht und sie auf Leinwand festhalten will, sehe ich dieses Flugzeug und will es unbedingt auf eine Fotoplatte bannen.“

„Aber das lässt sich niemals einfangen.“ Clara deutete auf das Flugzeug, das gerade eine rasante Kurve vollführte und dann erneut über das Meer hinwegflog; so tief, dass es beinahe die Wellen zu berühren schien. „Das könnte man nicht einmal im Lichtspiel wiedergeben. Man muss hier gewesen sein, es mit eigenen Augen gesehen haben, die begeisterte Atmosphäre gespürt und den widerlichen Treibstoff sowie den Gestank der See gerochen haben.“

„Ich wusste nicht, dass die Luftfahrt Sie derart begeistert, Miss Fitzgerald.“

„Sie würden mich niemals in ein Flugzeug bekommen, aber neugierig macht mich diese neue Technologie.“

„Es heißt, bald würde man in diesen Teilen überall hinfliegen können.“ Oliver ließ von seiner Kamera ab, um das Flugzeug bei einem eindrucksvollen Rotationsmanöver zu beobachten. „Im vergangenen Jahr gelang Alcock und Brown dieser transatlantische Flug ohne Zwischenstopp.“

„Ja, doch dem Luftschiff Seiner Majestät R34 gelang die erste Atlantiküberquerung: von Schottland nach New York und zurück nach England. Wenn eine Luftreise unabdingbar wäre, würde ich ein Luftschiff definitiv diesen kleinen Zweideckern vorziehen. Das kommt mir deutlich sicherer vor.“

„Er wird landen!“ Oliver schnappte sich seine Kamera samt des hölzernen Stativs und eilte mit dem Rest der Menge zum Rand des Piers, um einen besseren Blick zu erhaschen.

Der kleine Zweidecker beschrieb eine letzte Kurve und tauchte dann steil zu einer ebenen Sandfläche hinab, die am Morgen, unter dem prüfenden Blick des Piloten, geharkt worden war. Clara kam es so vor, als müsste das Flugzeug eine Bruchlandung hinlegen, doch als es den Boden erreichte, berührten die kleinen Räder den Sand so sanft wie ein Streicheln, und kurz darauf kam es in einer gelblichen Staubwolke zum Stehen.

Jubelrufe stiegen vom Pier auf und Applaus breitete sich durch die Menge aus, als der Pilot ausstieg und winkte.

„Das ist Captain O’Harris“, erklärte Oliver. „Ich hörte, er strebt seine eigene Atlantiküberquerung an, in der Hälfte der Zeit, die Alcock und Brown gebraucht haben!“

„Ist das überhaupt möglich?“

„Ich weiß es nicht, aber wenn ich eine Fotografie von ihm vor seinem Flugzeug mache und ihm dann dieser Flug gelingt, kann ich das Bild an sämtliche Zeitungen verkaufen.“ Oliver schnappte sich wieder seine Kamera und eilte zur Treppe am Pier.

Mehrere Personen taten es ihm gleich und Rufe nach Captain O’Harris hallten über den Sand.

„Die Leute machen eine Menge Wirbel um einen Mann, der nicht einmal einer vernünftigen Arbeit nachgeht“, tadelte Annie laut, während sie Tommy zu Clara schob.

„Er ist ein Vorreiter der Luftfahrt, Annie, stellen Sie sich bloß einmal die Möglichkeiten vor!“, warf Tommy ein.

„Ich sehe nur einen jungen Angeber“, sagte Annie mit Nachdruck. „Ehrlich gesagt, wäre ich lieber zu Hause geblieben und hätte den Obstkuchen gebacken, für den ich die Johannisbeeren aufgehoben habe.“

Clara lächelte.

„Möchtest du den berühmten O’Harris kennenlernen?“, fragte sie ihren Bruder.

Tommy warf einen Blick über den Rand des Piers und wirkte unsicher.

„Du bist doch nicht nervös, oder?“, fragte Clara, als sie sein Zögern spürte.

„Ich fühle mich nur ein wenig wie eine lahme Ente neben einem anmutigen Schwan“, entgegnete ihr Bruder.

„Unsinn!“ Clara schüttelte den Kopf. „Schäme dich nicht, Tommy. Du hast für dieses Land gekämpft, damit Männer wie Mr. O’Harris in ihren Flugzeugen über ein freies England fliegen können. Du hast dein Bein für ihn geopfert, das ist keine Schande.“

Tommy wirkte grimmig.

„So fühlt es sich aber nicht an.“

„Nun, ich möchte ihn gerne kennenlernen“, verkündete Clara. „Man hat nicht jeden Tag die Gelegenheit, sich mit einem Piloten zu unterhalten.“

Sie schlenderte den Pier entlang und hielt auf die Menge zu. Das Publikum fraß Captain O’Harris förmlich aus der Hand, während er Geschichten von seinen Abenteuern im Flugzeug zum Besten gab.

„… da waren wir, mitten in der Wüste, wo wir die Geschwindigkeit meines Mädchens austesten sollten. Doch der verflixte Motor hatte sich mit Sand zugesetzt und wir saßen fest, ohne Wasser, etliche Kilometer vom Basislager entfernt! Zum Glück haben unsere Führer uns gefunden.“

„Captain O’Harris, eine Fotografie?“, rief Oliver.

O’Harris blickte mit bescheidener Verlegenheit in die Menge, lief dann zu seinem Flugzeug hinüber und nahm eine etwas zu gut einstudierte Pose ein, als dass Clara hätte glauben können, er wäre solche Aufmerksamkeit tatsächlich nicht gewohnt. Sie schob sich durch die Menge und beobachtete O’Harris in seinem cremefarbenen Fliegeroverall und der ledernen Fliegermütze. Er hatte sich ein strahlendes Lächeln ins Gesicht geheftet und tätschelte stolz die White Buzzard, seinen persönlichen Zweidecker. Olivers Kamera produzierte einen Blitz und der Augenblick wurde eingefangen, so wie er es sich erhofft hatte.

„Captain O’Harris, ist es wahr, dass Sie nach New York fliegen wollen?“, rief jemand.

„Oh, ja.“ O’Harris strahlte. „Ich beabsichtige, den Rekord von Alcock und Brown zu brechen, nur mit der Unterstützung eines Copiloten.“

„Ist das nicht extrem gefährlich?“, meldete sich Clara zu Wort.

O’Harris wandte ihr seinen strahlenden Gesichtsausdruck zu und für einen Augenblick verwirrte sein Lächeln sie.

„Warum sagen Sie das?“, fragte er.

„Selbst unter der Annahme, dass Sie genug Treibstoff aufnehmen können, und Ihr Flugzeug wirkt deutlich kleiner als jenes, das Alcock und Brown verwendeten, müssen Sie auch mit technischen Problemen, schwierigem Wetter und menschlicher Erschöpfung rechnen. Ganz zu schweigen davon, dass Sie von Brighton aus starten wollen, wenn ich mich nicht irre. Alcock und Brown wählten den Flug von Neufundland nach Irland; eine kürzere Strecke.“

Ein Funkeln lag in O’Harris’ Augen.

„Sie sind gut informiert“, grinste er. „Sind Sie womöglich eine Verehrerin der Luftfahrt?“

„Das ist Clara Fitzgerald!“, verkündete eine Frau in der Nähe. „Sie ist Brightons erste weibliche Privatdetektivin, vielleicht sogar die erste in Großbritannien!“

Clara kam sich viel zu unbedeutend vor, um erkannt zu werden.

„Haben Sie etwa Nachforschungen über mich angestellt, Miss Fitzgerald?“, fragte O’Harris.

„Nicht direkt“, murmelte Clara und befürchtete, sie könnte erröten, „aber seit dem Krieg interessiere ich mich für die Luftfahrt.“

„Es gibt nicht viel, was Clara Fitzgerald nicht weiß“, sagte Claras inoffizielle Pressesprecherin theatralisch. „Sie hat den Verstand eines Mannes, aber die Instinkte einer Frau. Sie hat im Januar den Mord an Mrs. Greengage aufgeklärt, nachdem die Polizei in eine Sackgasse geraten war.“

Clara fiel auf, dass Captain O’Harris sich plötzlich noch mehr für sie zu interessieren schien. Sie hingegen wäre am liebsten in der Menge untergetaucht.

„Um Ihre Frage zu beantworten, Miss Fitzgerald: Ja, es wird gefährlich, doch wenn wir einen neuen Rekord aufstellen und die Grenzen der Luftfahrt ausdehnen können, wird sich das Risiko gelohnt haben. Ich glaube, dass das Flugzeug binnen weniger Jahre ein so übliches Transportmittel sein wird wie das Automobil.“

Nach dieser Aussage stiegen eine ganze Reihe weiterer Fragen aus der Menge auf und Clara war erleichtert, als sie verschwinden und wieder an den Pier und zu Tommy zurückkehren konnte.

„Und, wie war er?“, fragte ihr Bruder, als sie ankam.

„Etwas zu selbstsicher.“ Clara zuckte mit den Schultern. „Alcock und Brown hatten eine Menge Glück. Noch einen Monat vor ihrem Rekord hat die amerikanische Navy einen ähnlichen Flug mit Zwischenstopps geplant. Von den drei Wasserflugzeugen, die losgeschickt wurden, hat es nur eines geschafft, und die Piloten wurden noch von einer ganzen Reihe von Schiffen unterstützt, die als Navigationsmarken stationiert worden waren.“

„Du glaubst also, dass er es nicht schafft?“

„Das will ich nicht behaupten, aber ich halte seinen Flug für ein großes Risiko mit geringem Nutzen. Wir wissen doch, dass es möglich ist, warum sollte man es also noch einmal darauf ankommen lassen?“

„Ich würde es auch versuchen, wenn ich könnte“, räumte Tommy ein.

„Nun, dann kann ich wohl sehr froh sein, dass Sie nicht dazu in der Lage sind, Tommy Fitzgerald“, sagte Annie, während sie seine Schulter packte. „Diese Flugzeuge bereiten mir große Angst. Mir dreht sich jedes Mal der Magen um, wenn er eine seiner Kurven fliegt.“

„Es ist sicherer, als Sie denken, Annie“, versicherte Clara ihr.

„Würden Sie in einer dieser Maschinen aufsteigen, Miss Fitzgerald?“

Clara spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken rann.

„Gewiss nicht.“

„Diese Aussage wirst du vielleicht zurücknehmen müssen, Schwesterchen, denn der gute Captain ist auf dem Weg hierher“, merkte Tommy an. „Würdest du immer noch ablehnen, wenn er dich zu einem Flug einlädt?“

„Absolut“, sagte Clara unerschütterlich, während sie sich umdrehte und Captain O’Harris beobachtete, der den Pier entlang auf sie zulief.

„Ich konnte Sie nicht einfach so entfliehen lassen, Miss Fitzgerald.“ O’Harris grinste im Näherkommen. „Ich richte morgen für ausgewählte Bewohner und Bewohnerinnen Brightons ein Mittagessen aus und frage mich, ob Sie sich mir anschließen wollen. Natürlich gilt diese Einladung auch für Ihren Ehemann.“

Sein Blick glitt zu Tommy.

„Das ist mein älterer Bruder Thomas“, erklärte Clara eilig. „Und ich glaube, wir würden morgen nur zu gern mit Ihnen essen.“

„Ausgezeichnet!“ O’Harris’ Grinsen wurde sogar noch breiter. „Dann sehen wir uns zur Mittagsstunde.“

Er schlenderte davon, hielt aber immer wieder inne, um sich mit verschiedenen Bewunderern zu unterhalten.

„Was für ein Typ“, sagte Tommy, als O’Harris außer Sicht war.

„Ja“, pflichtete Annie bei. „Und er wirkte sehr zufrieden, als er herausfand, dass Sie Miss Fitzgeralds Bruder sind und nicht ihr Ehemann!“

Clara warf den beiden einen missbilligenden Blick zu.

Kapitel 2

„Und dies ist das Esszimmer.“ O’Harris führte seine Gäste in einen weitläufigen Saal mit hohen Glasfenstern an der gesamten gegenüberliegenden Wand, die einen schönen Blick auf den makellos gepflegten Garten und das Grundstück boten. Ohne ein substanzielles Einkommen brachte man es in der Luftfahrt nicht weit.

„Das ist definitiv beeindruckend.“ Tommy nickte, während er den Blick über die anderen Gäste dieses spontanen Mittagessens schweifen ließ. Einige erkannte er, inklusive des Bürgermeisters von Brighton, doch die meisten waren ihm völlig fremd.

„Lassen Sie sich nicht vom Schein trügen, alter Junge“, gluckste O’Harris. „Das Dach wird in alle Ewigkeiten undicht bleiben, ganz egal, wie oft man es reparieren lässt, und im Winter zieht es hier so stark, dass selbst ein Eisbär erfrieren würde! Das Haus ist für kein Geld der Welt warm zu bekommen, weshalb ich die Winter damit verbringe, in Spanien an den Motoren der Buzzard zu schrauben.“

„Es ist dennoch ein stattlicher Familiensitz“, meldete sich der Bürgermeister. Er war wieder einmal dabei, Geld für den Pavillon einzuwerben und erkannte eine Gelegenheit, wenn sie vor ihm stand. „Ich nehme an, Sie haben ein … nun … beachtliches Vermögen von der verstorbenen Mrs. O’Harris geerbt?“

„Arme Tante Flo“, seufzte O’Harris. „Ich vermisse die alte Schreckschraube. Ich war ihr einziger Neffe, müssen Sie wissen.“

„Ja“, sagte der Bürgermeister, der der Meinung war, sein Opfer am Haken zu haben. „Und sie war immer eine Freundin wohltätiger Bestrebungen …“

„Sieh an, ist das Doulton?“ O’Harris wurde von einem anderen Gast abgelenkt, der sein Geschirr begutachtete, und entfernte sich zur Enttäuschung des Bürgermeisters.

Clara schob ihren Bruder zum Fenster und starrte in den Garten hinaus. Sonnenschein drang durch den Dunst und machte den verregneten Morgen wett. In dem gelblichen Licht sah das Anwesen sehr einladend aus.

„Captain O’Harris kann sich glücklich schätzen“, sagte Tommy grüblerisch.

„Meiner Erfahrung nach kann das Glück unbeständig sein“, entgegnete Clara.

Um kurz nach eins wurde das Essen serviert. Trotz O’Harris’ Behauptung, es würde sich um einen leichten Lunch handeln, wurden den Gästen eine Reihe von Gängen vorgesetzt, die auch einem abendlichen Festessen gerecht geworden wären. Suppe, gefolgt von Fisch, danach ein Pie mit Wildfleisch, anschließend Käse und zum Abschluss eine Auswahl exquisiter Desserts. Jedem Gang wurde eine kleine Schale mit gekühltem Sorbet vorausgeschickt, um den vorherigen Geschmack zu neutralisieren.

Clara hatte solche Gerichte zuletzt vor dem Krieg erlebt, und sie bemerkte, dass es auch anderen so erging. Sie achtete bei jedem Gang darauf, nicht zu viel zu essen, doch nicht jeder war so vernünftig. Als die Desserts kamen, wirkten einige Menschen am Tisch bereits prall gefüllt. Die Versuchungen des Fischgerichtes und des Wildfleisch-Pies waren einfach zu groß gewesen.

O’Harris beherrschte die Situation am Esstisch wie jede andere.

„Stellen Sie sich ein Flugzeug vor, das groß genug ist, um zwanzig Passagiere aufzunehmen, wie ein Luftschiff, oder vielleicht sogar mehr; vielleicht einhundert!“, sagte er zu der Dame, die neben ihm saß.

„Oh, werter Captain, ich glaube, Sie treiben diese Vorstellungen zu weit“, entgegnete der männliche Begleiter der Dame.

„Unsinn, das ist durchaus plausibel.“

„Aber was ist mit der Größe? Sie wollen doch gewiss nicht einhundert Menschen in kleine Cockpits setzen, so wie das bei Ihnen und Ihrem Copiloten funktioniert.“

„Es wäre eher wie ein Waggon mit Flügeln. Das ist gar nicht so außergewöhnlich; alles eine Frage der Aerodynamik. Genug Schub, die richtigen Proportionen und zack, schon hat man es! Ist es nicht so, Miss Fitzgerald?“

Clara hob den Blick, als ihr Name gerufen wurde. Sie hatte zwar nah genug gesessen, um den Großteil der Unterhaltung mitzuhören, doch es wäre unhöflich gewesen, zu zeigen, dass sie gelauscht hatte.

„Was denn, Mr. O’Harris?“

„Dass es in der Zukunft Flugzeuge geben wird, die einhundert Passagiere transportieren können, vielleicht sogar mehr.“

„Das ist völlig absurd!“, gluckste der nicht überzeugte Gast, doch Clara ließ die Frage für einen Moment sacken.

„Ich schätze, das könnte möglich sein, mit ausreichend Ressourcen und Zeit. Aber ein so großes Flugzeug bräuchte auch eine Art Landebahn. Felder oder Strände würden dann nicht mehr ausreichen“, antwortete sie.

„In der Tat. Es würde einen Luftbahnhof brauchen, wie sie das Militär im Krieg schon angelegt hat. Ein Hafen für Flugzeuge, wenn Sie so wollen.“

„Das ist doch reine Fantasie.“ Der männliche Gast schüttelte amüsiert den Kopf. „Ihre Vorstellungskraft ist beeindruckend, doch es steckt nichts Rationales in Ihren Worten.“

O’Harris wirkte leicht verstört, stimmte aber dennoch in das Lachen seines Gastes ein.

***

Später wurde Tee serviert, während die Gäste im Speisezimmer umherliefen, den Ausblick genossen und das Mittagessen verdauten. Clara stand an einem der hohen Fenster und blickte auf die ersten Frühlingsblumen, die sich im Garten zeigten. Sie bemerkte erst, dass O’Harris sich zu ihr gesellt hatte, als er das Wort ergriff.

„Ein fantasieloser Haufen, nicht wahr?“

Sie schaute ihn an.

„Verstehen Sie mich nicht falsch“, fuhr O’Harris fort. „Das sind alles gute Menschen, aber sie schaffen es nicht, über ihren Tellerrand hinauszublicken. Sie erkennen das Potenzial nicht. Ehrlich gesagt, Miss Fitzgerald, glaube ich, ich wäre hier durchgedreht, hätte ich nicht das Glück gehabt, Sie und Mr. Fitzgerald einladen zu können.“

Clara lächelte.

„Wollen Sie andeuten, dass ich es schaffe, den Kopf über den Tellerrand zu heben?“

„Heben? Sie, meine Liebe, Sie fliegen förmlich darüber hinweg!“

Clara spürte, dass sie erneut errötete; sehr untypisch für sie.

„Ich glaube, Sie überschätzen mich.“

„Unsinn! Eine Detektivin aus Brighton! Sie sind einzigartig, wage ich zu behaupten … innovativ, etwas ganz Besonderes.“

„Sie schmeicheln mir.“

„Aber ist es denn nicht die Wahrheit?“

Clara blickte aus dem Fenster und wusste nicht, was sie antworten sollte.

„Ich vermute, dass wir binnen weniger Jahre auch weibliche Piloten auf transatlantischen Flügen sehen werden“, fuhr O’Harris fort, um das Thema zu wechseln.

„Das wäre ein erstaunliches Ereignis“, sagte Clara grüblerisch.

„Im Moment ist es natürlich ein ziemlicher Männerclub. Es geht vor allem darum, wen man kennt und wie viel Geld man hat. Zu viele Menschen glauben nicht, dass das Flugzeug eine Zukunft hat. Und diejenigen, die daran glauben, nun ja … sagen wir, sie denken in allen Belangen außer der Luftfahrt recht altmodisch.“

„Sie würden es den Frauen schwer machen?“

„Davon gehe ich aus! Einige der besten Ausbilder würden sich weigern, eine Frau zu unterrichten, aber es wird geschehen, lassen Sie sich das gesagt sein. Ich hoffe nur, dass nicht erst ein weiterer Krieg kommen muss, damit diese Leute begreifen, wie wertvoll Pilotinnen wären. Es musste erst der Weltkrieg kommen, damit der Wert von Flugzeugen erkannt wird!“

Clara nickte nachdenklich.

„Ich könnte Sie mit in die Luft nehmen, wenn Sie wollen.“

Clara hätte bei diesem Vorschlag beinahe ihren Tee verschüttet.

„In einem Flugzeug?“

„In der alten Buzzard.“

„Ich fürchte, die Antwort lautet nein, Mr. O’Harris“, sagte Clara, während sie versuchte, so zu tun, als wäre sie gerade nicht völlig blass geworden. „Ich bin geneigt, auf festem Boden zu bleiben.“

„Sie ist wirklich sicher.“

„Dennoch.“

O’Harris lachte.

„Ich schätze, sie wirkt im Vergleich zu einem Automobil oder einem Zug wie ein Schulprojekt. Doch sie muss leicht sein, verstehen Sie?“

„Durchaus, aber Sie müssen mir vergeben, wenn ich meine Sicherheit lieber dem Pflaster anvertraue, als einem Fluggerät aus Papier und Holz.“

„Bezeichnen Sie sie nicht als Gerät“, schnurrte O’Harris und gab sich verletzt. „Sie ist ein Geschöpf von Grazie und Schönheit; ein Flugzeug – sie hat so wenig mit diesen schwerfälligen Automobilen gemein wie ein Vogel mit einem Pferd! Sie ist die Verkörperung von Freiheit, sie ist …“

O’Harris versagten kurz die Worte.

„Sie ist alles, was ich mir als Junge erträumt habe. Als ich in diesem trostlosen Internat festsaß und mir den Tag herbeisehnte, an dem ich meine Ketten abschütteln könnte, konnte ich mir nicht ansatzweise ausmalen, welche Abenteuer ich noch erleben würde. Im Krieg zu fliegen, im Luftkampf mit dem Hunnen, oder um für die Jungs unten in den Gräben das Schlachtfeld auszukundschaften … Wir haben jeden Augenblick gelebt und stets damit gerechnet, von einer Kugel getroffen zu werden und im Niemandsland abzustürzen. Doch kaum dass ich landete, wollte ich wieder aufsteigen. Seither bin ich süchtig nach dem Fliegen.“

„Das klingt, als wären Sie kein Mann für ein ruhiges Leben“, schloss Clara.

„Nein, vermutlich nicht.“ O’Harris grinste.

Die Uhr im Flur schlug zur vollen Stunde.

„Ich habe eine Handvoll der Gäste eingeladen, noch auf einen Drink im Salon zu bleiben, vielleicht mit einer Runde Bridge am Feuer, ich würde mich über eine zusätzliche Dame auf der Feier freuen.“ O’Harris Charme war ansteckend.

„Das klingt herrlich.“

„Wollen Sie dann meine Bridge-Partnerin sein?“

„Ich spiele nicht.“

„Aber werte Dame, ich vermute, mit Ihrem Verstand werden Sie das Spiel im Handumdrehen lernen.“

Clara war amüsiert.

„Kein Wunder, dass die Buzzard in Ihren Händen so gut funktioniert, wenn Sie ihr nur halb so viel Charme zeigen wie mir.“

„Die Buzzard ist ihrem Herren gewogen.“ O’Harris zwinkerte ihr zu. „Doch wie die meisten anständigen Frauen, kann sie in ihrer Liebe wankelmütig sein.“

Er bot Clara seinen Arm an und sie hakte sich ein, ohne zu wissen, wie sie antworten sollte.

Kapitel 3

„War dies nicht das Studierzimmer des alten Herren?“, fragte Colonel Brandt, während er sich in dem kleineren Salon umsah, in den O’Harris seine Gäste geführt hatte. „Ich habe es nicht gleich erkannt, doch jetzt bin ich mir sicher. Dies war sein Studierzimmer. Ich habe ihn vor gut zwanzig Jahren hier aufgesucht.“

„Sie sprechen von meinem Onkel Goddard“, sagte O’Harris, während er ein Glas Brandy am Sessel des Colonels abstellte.

„In der Tat. Ein feiner Kerl der sich immer gut um seinen Besuch gekümmert hat. Ich kam üblicherweise her, wenn ich mit meinem Vater in dessen Praxis arbeitete. Ich habe Goddards Rheumatabletten immer persönlich überbracht. Er unterhielt mich stets mit Geschichten aus dem Burenkrieg und ich war so gefesselt, dass ich schließlich selbst in die Armee eintrat, sehr zum Missfallen meines Vaters.“

„Oh, ja, daran erinnere ich mich auch noch“, meldete sich Mrs. Rhone zu Wort, die als Begleitung ihres Ehemannes hier war, einem Reverend aus Margate. „Ich war ein Brighton-Mädchen und erinnere mich noch daran, dass Mr. Goddard O’Harris stets bei den Sommerfesten und Paraden aushalf. Er war ein recht guter Reiter, glaube ich, und ritt gerne an der Spitze jeglicher Art von Umzug.“

„Der arme Onkel Goddard“, seufzte Captain O’Harris, während er es sich mit einem Glas Portwein auf einem Sessel bequem machte. „Tante Flo hat ihn an den meisten Tagen in der Luft zerrissen. Ich weiß gar nicht, warum er sie geheiratet hat.“

„Aus Liebe, Captain“, erklärte Mrs. Rhone. „Ich war damals ein junges Mädchen, doch ich erinnere mich noch an den Tag der Hochzeit, und die war recht spektakulär. Florence war so aufgeregt und glücklich, dass sie auf der Vortreppe der Kirche geweint hat. Eine Schande, wie die Sache endete. Das muss Ihrer armen Tante das Herz gebrochen haben.“

„Ich glaube, dafür war meine Tante zu unbeugsam.“ O’Harris zwinkerte ihr zu.

„Fand man denn jemals heraus, was geschehen ist?“, fragte Colonel Brandt.

„Nein, es bleibt ein Mysterium.“ O’Harris zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass meine Tante sein Zimmer umdekoriert hat, noch ehe er unter der Erde war; metaphorisch gesprochen.“

„Das war der Schock“, sagte Mrs. Rhone mitfühlend.

„Wenn Sie das sagen.“ O’Harris trank von seinem Portwein. „Aber wir haben eine erstklassige Privatdetektivin aus Brighton unter uns und sie noch gar nicht nach ihrer Meinung gefragt!“

Clara blickte in die Gesichter der Gäste, die ihr neugierig entgegenblickten.

„Ich fürchte, da haben Sie mich in Verlegenheit gebracht“, sagte sie. „Ich weiß nicht, über welches Mysterium Sie da sprechen.“

„Aber jeder weiß doch von dem Rätsel um Goddard O’Harris!“ Mrs. Rhone war ganz fassungslos.

„Ich leider nicht.“

„Durchaus nachvollziehbar.“ Der Colonel nickte. „Das war noch vor Ihrer Zeit. Die Sache geriet in Vergessenheit und nur noch die alten Leute, die damals alles mitbekommen haben, reden noch darüber. Florence O’Harris hat sich über das Thema ausgeschwiegen.“

Allgemeine Enttäuschung breitete sich im Raum aus.

„Aber wenn Sie mir die Fakten berichten, wäre ich durchaus interessiert“, bot Clara an.

„Die Fakten sind recht simpel, Miss Fitzgerald.“ O’Harris leerte sein Glas und lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Mein Onkel Goddard starb eines Tages im Garten und dann ist er … einfach verschwunden.“

Es entstand eine Pause.

„Verschwunden?“, hakte Clara nach.

„Hat sich einfach in Luft aufgelöst, in der Zeit, die meine Tante Florence brauchte, um ins Haus zu eilen, einen Bediensteten damit zu beauftragen, einen Arzt zu holen, und dann in den Garten zurückzukehren.“

„Vielleicht war er gar nicht tot?“, mutmaßte Clara.

„Oh, doch“, warf der Colonel ein. „Ich habe ihn selbst gesehen. Mausetot. Sein Gesicht war verzerrt und er war aschgrau. Während die arme Florence O’Harris loseilte, um einen Bediensteten zu finden, rannte ich zur Polizei. Wenn ich je in meinem Leben einen ermordeten Mann sah, dann an diesem Tag.“

Clara stellte ihr Sherryglas ab. Ihre Neugier war geweckt.

„Ich denke, da sind noch einige Klarstellungen nötig. Ein Mann ist gestorben, wurde möglicherweise ermordet, und dann hat sich die Leiche in Luft aufgelöst? Hat die Polizei nach ihm gesucht?“

„Natürlich; sobald sie davon überzeugt waren, dass ich nicht lüge. Ich wage zu behaupten, sie unterstellten mir, ich hätte etwas zu viel Brandy genossen. Apropos.“ Colonel Brandt schwenkte sein Glas in O’Harris Richtung, der ihm gehorsam nachschenkte.

„Wie ich sehe, haben wir Ihre Aufmerksamkeit, Miss Fitzgerald. Soll ich etwas genauer ausführen?“

„Ich bin definitiv interessiert“, stimmte Clara zu. „Ein wirklich ungewöhnlicher Fall. Und das Rätsel wurde nie aufgeklärt?“

„Soweit ich weiß, hat sich neben der Polizei und vermutlich Tante Flo nie jemand daran versucht.“ O’Harris zuckte mit den Schultern. „Doch es ist immer noch eine gute Geschichte, um sie abends am Kamin zu erzählen.“

„Oh, bitte erzählen Sie.“ Mrs. Rhone klatschte begeistert in die Hände. „Ich würde liebend gern Miss Fitzgeralds Meinung zu diesem kleinen Mysterium hören, das mich all die Jahre nicht losgelassen hat.“

„Ich kann Ihnen keine Aufklärung versprechen“, protestierte Clara.

„Sagen Sie uns nur Ihre Meinung dazu“, warf Colonel Brandt ein. „Das kann nicht schaden. O’Harris, erzählen Sie.“

Captain O’Harris überschlug die Beine und schenkte sich noch etwas Portwein ein.

„Ich schätze, ich sollte es mit der alten Marotte der Geschichtenerzähler halten und sagen: Es begab sich so.“ Er grinste. „Goddard O’Harris heiratete 1868 Florence Highgrove. Eine typisch viktorianische Hochzeit, wie Mrs. Rhone Ihnen gewiss gerne erzählen wird.“

„Meine Liebe, die Feier war wundervoll!“, kommentierte Mrs. Rhone gehorsam. „Ich war noch ein junges Mädchen, doch Goddard war so schneidig und Florence die perfekte Braut mit geröteten Wangen. Ich erinnere mich noch daran, dass die Kutsche über und über mit Blumen verziert war und von mehreren Paaren rotbrauner Wallache gezogen wurde.“

„Wie Sie sehen, fing alles recht gut an.“ O’Harris übernahm das Gespräch wieder. „Und ich schätze, die Ehe lief so, wie es die meisten Ehen tun. Die beiden kamen gut miteinander aus, soweit ich das beurteilen kann, nicht dass ich sie vor den 1890er-Jahren überhaupt richtig kennengelernt hätte, und da kamen sie mir dann schon recht alt vor. Mein Vater, Goddards Bruder, war zehn Jahre jünger, müssen Sie wissen. Bis ich also auf die Welt gekommen und alt genug geworden war, um bewusst etwas mitzubekommen, waren die beiden über fünfzig. Ich wage zu behaupten, dass mein Vater ihnen einigen Ärger bereitet hat. Er war mir recht ähnlich und zu sehr dem Abenteuer verfallen, um vernünftig zu sein. Meine Mutter heiratete er aus einer Laune heraus, und der O’Harris-Clan betrachtete sie als völlig unangemessen.“

„Du liebe Güte. Sie zeichnen die Familie in einem bedauernswerten Licht.“ Mrs. Rhone schüttelte den Kopf.

„Das ist nichts als die Wahrheit, fürchte ich. Doch irgendwann haben sie sich für meine Mutter erwärmt, und so konnte ich, der ungezogene Spross von Oscar O’Harris, dem verlorenen Bruder, diesem Anwesen einen ersten Besuch abstatten. Ich glaube, das war 1898. Ich war sechs Jahre alt und fand alles ganz furchtbar; so altmodisch und bieder. Tante Flo konnte Kinder wirklich nicht ausstehen. Ich schätze, deshalb bekam sie selbst nie welche. Sie hat mir höllische Angst eingejagt. Was vermutlich nicht überraschend war, da sie mir persönlich Prügel verpasst hat, nachdem ich im großen Saal das Treppengeländer hinuntergerutscht war.“

Der Colonel lachte.

„Zu verführerisch, das polierte Holz!“

„In der Tat“, pflichtete O’Harris ihm bei. „Doch Tante Flo war ein Drachen, und ich habe mich nur das eine Mal getraut. Eigentlich befremdlich, dass ich sie am Ende so liebgewonnen habe, doch so war es.“

„Die Wirkung des Geldes, mein Junge!“ Der Colonel war etwas ausgelassener, als gut für ihn war, und schlug alle Vorsicht in den Wind.

O’Harris lachte mit ihm, doch Clara entgingen die Falten auf seiner Stirn nicht. Der Kommentar hatte ihn getroffen, doch lag das daran, dass er der Wahrheit entsprach, oder gerade nicht zutraf?

„Wie auch immer, Onkel Goddard war ein etwas fröhlicherer Mensch. Er half mir sogar, das Modell-Fort aufzubauen, mit dem er als Kind gespielt hatte. Er mochte alles, was mit dem Militär zu tun hatte, und konnte stundenlang von britischen Schlachten erzählen. Wenn wir Soldaten spielten, musste er immer England sein und immer gewinnen. Ich habe mir die Augen ausgeheult, bis mein Vater einwilligte, mitzuspielen. Dann konnten wir beide England sein und gegen ihn antreten.“ O’Harris lächelte vor sich hin. „Solche Dinge vergisst man leicht, nicht wahr? Doch der alte Goddard war ein guter Mensch. Natürlich musste er ständig Tante Flos Tiraden über sich ergehen lassen. An manchen Tagen dachte ich, der alte Kerl würde sich einfach wie eine Schildkröte in seinen Panzer zurückziehen und so tun, als wäre er gar nicht da. Er wirkte immer wie jemand, der einen solchen Panzer gut hätte gebrauchen können.“

„Florence war eine energische Frau, doch sie hatte ein gutes Herz“, entgegnete Mrs. Rhone milde. „Sie hat stets schöne Dinge für die Tombola der Kirche gespendet.“

„Ich erzähle nur, was ich erlebt habe, Mrs. Rhone“, wies O’Harris sie höflich in die Schranken. „Ich war erst sechs Jahre alt und vielleicht hatte sie eine schlechte Woche, als ich zu Besuch war. Danach kam ich fast jeden Sommer her, manchmal mit der Familie, manchmal allein. Es war eigenartig, wie sie bei jedem Besuch gealtert zu sein schienen, als hätte ihnen jeder Winter etwas mehr Lebenskraft ausgesaugt; insbesondere Goddard.“

„Mir erzählte mal jemand, dass er sehr krank gewesen sei“, merkte der Colonel an. „Vielleicht war das sogar mein alter Herr, bei einem meiner Heimaturlaube. Es war auf jeden Fall eine dieser schlimmen, zehrenden Krankheiten.“

„Unsinn!“, unterbrach Mrs. Rhone ihn. „Er war kerngesund!“

„Ihr Onkel und Ihre Tante scheinen Meister des Widerspruchs gewesen sein.“ Clara lächelte O’Harris an.

Er grinste zurück.

„Aber ich schweife ab, verzeihen Sie. Ich sollte zu dem Mysterium kommen. Sie müssen verstehen, dass ich Ihnen einen Eindruck von den beiden verschaffen wollte. Ich weiß, dass Charakter und Verhalten einer Person für eine Detektivin sehr wichtig sind.“

„Manchmal“, antwortete Clara unverbindlich. Sie hoffte, dass ihr gespanntes Publikum keine sofortige, klare Aufklärung von ihr erwartete.

„Gehen wir also ein oder zwei Jahrzehnte weiter. 1913 sah ich meinen Onkel Goddard das letzte Mal lebend. Ich war einundzwanzig Jahre alt und gerade von der Universität abgegangen, nachdem ich krachend an meinen Mathematikprüfungen gescheitert war. Ich zog mich in dieser Zeit gewissermaßen aus dem Leben zurück, da ich nicht wusste, was ich tun sollte, und recht deprimiert war. Erstaunlicherweise zeigten sich Goddard und Flo sehr mitfühlend. Ich weiß noch, dass Goddard all seine Zeit damit verbrachte, mit mir zu reden und meine Zukunft zurechtzurücken. Ich fühlte mich furchtbar, weil ich die Erwartungen an mich enttäuscht hatte. Ich fürchte, dass ich ihm gegenüber einige Male in die Luft gegangen bin, weil ich fest entschlossen war, mich zu hassen, und mir nicht sagen lassen wollte, dass ich mich zusammenreißen müsse. Heute bereue ich das natürlich. Eigentlich habe ich es schon damals bereut und wollte mich immer entschuldigen, doch ich bin nie dazu gekommen. Dann kam der Oktober und ich kehrte nach London zurück, um mich meiner scheinbar dem Untergang geweihten Zukunft zu stellen – auch wenn sie am Ende nicht so schlimm war wie befürchtet. Und eine gute Woche später erhielten wir die Nachricht von Goddards Tod.

Natürlich verschwieg man uns die Sache mit der verschwundenen Leiche. Es wurde sogar ein leerer Sarg beerdigt; wirklich unglaublich. Ich habe Tante Flo nach den Einzelheiten gefragt. Dabei war ich ziemlich unausstehlich, vermutlich, weil ich immer noch Schuldgefühle mit mir herumtrug, nachdem ich mich vor seinem Tod nicht mehr bei ihm entschuldigt hatte. Wie dem auch sei … sie erzählte mir, dass sie gerade wie üblich das Abendessen im Esszimmer beendet hatten. Colonel Brandt hier war ihr Gast gewesen.“

„In der Tat!“ Der Colonel hob zustimmend sein Glas in die Höhe.

„Und Goddard sagte, er würde nach draußen gehen, um eine Zigarre zu rauchen. Tante Flo ließ ihn nicht im Haus rauchen, weil sie meinte, das würde die Tapeten verfärben“, fuhr O’Harris fort. „Er ging hinaus, stieg die Terrassentreppe hinab, lief an den Rosen vorbei und es war kaum eine Minute vergangen, als … bumm! Sie hörten seinen Sturz und, nun, eigentlich sollte der Colonel diesen Teil erzählen.“

Der Colonel wirkte nervös, jetzt da man ihm so plötzlich die Zügel in die Hand gelegt hatte, doch er stellte sich tapfer der Herausforderung.

„Wie Captain O’Harris bereits erzählte, saß ich am Esstisch, hatte gerade einen köstlichen Pie mit Lamm und Zwiebeln verspeist und war angenehm voll. Die Köchin damals war außergewöhnlich, wenn ich das hinzufügen darf. Sie machte herrlich luftiges Gebäck, oh ja! Tatsächlich erinnere ich mich an diesen Pie beinahe genauso gut wie an die anschließenden Ereignisse. Ich tupfte mir gerade etwas Soße vom Jackett und hörte mir Florence’ Anmerkungen zum Zustand des Militärs an. Es sei nicht mehr auf dem Niveau der Zeit, in der Goddard Offizier war, und so weiter. Dann hörten wir den Sturz. Erst eine Art Klappern, dann ein dumpfer Aufprall. Als wäre jemand über etwas gestolpert und dann gefallen. Ich sah Florence an und sie mich, dann sprangen wir beide auf, rannten zum Fenster und da lag der alte Goddard, mit dem Gesicht nach unten auf dem Weg zwischen den Rosen.

Wir hasteten die Stufen hinunter und drehten ihn um. Seine Augen traten aus seinem Schädel hervor und sein Mund stand offen. Er war ohne Zweifel tot, und doch versuchte ich, nach einem Herzschlag zu horchen. Florence war erschüttert, aber stoisch wie immer. Die meisten Frauen hätten beim Anblick ihres toten Ehemannes geschrien, doch sie erhob sich und sagte, wie werde einen Arzt holen. Sie eilte zum Haus zurück, noch bevor ich ihr sagen konnte, dass das keinen Zweck mehr hat.

Je länger ich mir den armen Goddard anschaute, desto falscher fühlte sich das alles an. Ich weiß, man erzählte sich, dass er krank gewesen sei; man könnte behaupten, dass sein Herz versagt haben muss, doch dieser Gesichtsausdruck. Ich weiß nicht. Irgendetwas daran ließ mich frösteln. Es erinnerte mich an die alte Legende, man könnte kurz nach dem Tod noch die Spiegelung des Gesichts des Mörders in den Augen eines Mordopfers sehen. Ich wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ich habe in meinem Leben genug tote Männer gesehen, doch das war anders. Ich nahm die Beine in die Hand, um den nächstbesten Polizisten zu finden. Ich hätte Florence Bescheid geben sollen, doch ich war völlig durcheinander.“

Der Colonel schüttelte traurig den Kopf.

„Als ich mit dem Polizisten zurückkehrte, war die Leiche einfach … verschwunden. Es war wie bei einem Zaubertrick. Florence weinte und konnte gar nicht fassen, was geschehen war. Zu diesem Zeitpunkt traf auch der Arzt ein. Der Polizist war vom Anblick des Tatortes recht unbeeindruckt, und es brauchte reichlich Überzeugungsarbeit, bis er tatsächlich glaubte, dass es die Leiche gegeben hatte. Natürlich half es, dass er nicht in der Lage war, einen lebendigen Goddard ausfindig zu machen. Doch die Leiche war verschwunden. Einfach verschwunden. Sie suchten alles ab, sobald der Morgen anbrach. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Wirklich erstaunlich.“