Kapitel 1
Camlet Moat, Trent Place, England
Sonntag, 02. August 1812
Tessa Sawyer summte nervös vor sich hin, als sie sich durch das verworrene Gebüsch und das Farngestrüpp schlug, die das schwarze Wasser des alten Wallgrabens säumten. Sie war noch sehr jung, stand kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Obwohl sie sich selbst immer wieder sagte, dass sie kühn sei, wusste sie, dass das nicht stimmte. Sie spürte, wie heftig ihr das Herz in der schmalen Brust schlug, und ihre Hände kribbelten, als hätte sie darauf gesessen. Sie hatte das Dorf bei sternenklarem Nachthimmel verlassen, aber hier, tief im Wald, war es dunkel und tiefschwarz. Von dem trüben, stehenden Gewässer neben ihr stieg unheimlicher, dichter und klammer Nebel auf.
Sie sollte den Nebel kühl auf den Wangen spüren. Stattdessen fühlte sie sich, als würde er ihr den Atem rauben, als würde sie an einer widernatürlichen Hitze und dem Schrecken des Verbotenen ersticken. Sie blieb stehen, rieb sich zitternd mit der Hand über das schweißnasse Gesicht, da hörte sie in der Ferne ein Geräusch; etwas traf mit einem Plumpsen auf das Wasser.
Sie unterdrückte ein Wimmern und wirbelte herum, bereit wegzulaufen. Aber es war doch Lammas, ein Tag, der den alten Göttern heilig war. Es hieß: Wenn ein Mädchen mitten in dieser Nacht ein Tuch in die heilige Quelle tauchte, die am nördlichen Rand der Insel von Camlet Moat lag, und es an dem verkrüppelten Baum aufhängte, dessen Ast über das Wasser reichte, würde ihr Gebet erhört. Und nicht nur das – vielleicht würde sogar die Weiße Dame erscheinen, um das Mädchen zu segnen und ihm die Weisheit und Führung anzubieten, nach der ein mutterloses Kind wie Tessa sich aus ganzer Seele sehnte.
Niemand wusste genau, wer die Weiße Dame war. Father Clark beharrte darauf, dass die Dame, wenn sie denn existierte – was er bezweifelte –, nur die Jungfrau Maria sein könne. Die Legende besagte aber, die Weiße Dame wäre eine der Gralshüterinnen aus der alten Zeit, eine keusche Jungfrau, die die heilige Quelle noch vor der Epoche von König Artus und Guinevere und den Rittern der Tafelrunde gehütet habe. Andere sagten mit Flüsterstimmen, die Dame wäre sogar Guinevere selbst, auf ewig jung, schön und glorreich.
Tessa umklammerte den Streifen aus weißem Stoff, den sie als Gabe mitgebracht hatte, und zwang sich weiterzugehen. Sie sah den Bug der kleinen Jolle, die Sir Stanley Winthrop, auf dessen Land sie sich befand, dort im Wasser liegen hatte. Das Boot aus altem, verwittertem Holz, dessen Farbe verblasst war, schaukelte leicht am Rand des Wassers, als ob eine unsichtbare Strömung es bewegte.
Es war nicht leer.
Tessa blieb abrupt stehen. Im Heck lag zusammengekauert eine Lady. Ihr dunkles Haar hob sich in einer Kaskade von Locken von ihrem bleichen, regungslosen Antlitz ab. Sie war noch jung und zierlich, in ein elegant fließendes Kleid aus hauchdünnem Musselin gekleidet, das in der Taille mit einer pfirsichfarbenen Satinschleife zusammengenommen war. Ihr Kopf war in den Nacken gelegt, der Hals durchgebogen, die Augen in der wächsernen Haut schauten blicklos.
Aus einem gezackten Riss quer über ihre blasse Brust verlief dort, wo ihr Lebenssaft ihrem Körper entströmt war, ein Rinnsal aus eingetrocknetem Blut.
Kapitel 2
London
Montag, 03. August
Sebastian St. Cyr, Viscount Devlin, stützte sich mit ausgestreckten Armen auf, seine Finger umgriffen die Bank des offenen Fensters im Schlafzimmer seiner Gattin. Beunruhigende Träume hinderten ihn am Schlaf. Schon vor langer Zeit hatte er die Gefahr kennengelernt, die in jenen zwielichtigen Augenblicken zwischen Dunkelheit und der ersten Morgendämmerung lag. Wenn die Welt noch zwischen Nacht und Tag schwebte, konnte ein Mann sich in den alten, quälenden Erinnerungen aus der Vergangenheit verlieren, wenn er nicht auf der Hut war.
Er nahm einen tiefen Atemzug, doch die Morgenluft war ungewöhnlich warm, zu trocken und staubig, um ihm Erleichterung zu bringen. Ein Schweißfilm lag auf seiner nackten Haut, und hinter seinen Schläfen dröhnte es wie in einem geschäftigen Bienenschwarm. Der Drang, ein kühles Glas Brandy in die Hand zu nehmen, war stark. Doch er widerstand.
Hinter ihm drehte sich die Frau, die erst vor vier Tagen seine Viscountess geworden war, im Bett um. Ihre Vermählung lag erst so kurz zurück – und die Gründe dafür waren so kompliziert –, dass Sebastian noch immer als »Miss Jarvis«, nicht als Hero Devlin an sie dachte. Sie war die formidable Tochter von Charles Lord Jarvis, dem brillanten, aber skrupellosen Vetter des Königs, der als anerkannte Macht hinter der zerbrechlichen Regentschaft des Prince of Wales stand. Einst hatte Jarvis geschworen, er werde Sebastian zerstören, ganz gleich, wie lang es dauern würde. Sebastian wusste, dass seine Eheschließung mit Jarvis’ Tochter daran nichts geändert hatte.
Er blickte über die Schulter und beobachtete, wie Hero langsam aufwachte. Sie blieb einen Augenblick regungslos liegen. Ihre Lider öffneten sich flatternd, und sie drehte den Kopf auf dem Kissen, um quer durch den abgedunkelten Raum, in dem blaue Seidentücher und vergoldete Spiegel hingen, zu ihm herüberzublicken. Der Duft von Lavendel lag in der Luft.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte er. »Das tut mir leid.«
»Mach dich nicht lächerlich.«
Sebastian lachte leise. Nichts an Hero war nachgiebig oder kokett.
Sie glitt vom Bett und zog das feine Leinentuch mit sich, um es um sich zu schlingen, als sie zu ihm kam. In der Dunkelheit der Nacht konnte sie ohne Zögern zu ihm kommen, eine willige und leidenschaftliche Geliebte. Am Tage hingegen …
Am Tage blieben sie einander in vielerlei Hinsicht im Grunde fremd, zwei Menschen, die im selben Haus wohnten, sich aber unbehaglich und ungeschickt fühlten, wenn sie sich per Zufall im Flur über den Weg liefen oder sich beim Frühstück trafen. Nur in der Nacht schienen sie das wachsame Misstrauen beiseite schieben zu können, das ihre Beziehung von Anfang an charakterisiert hatte. Nur in der Dunkelheit konnten sie den tiefen, gefährlichen Widerstreit vergessen, der zwischen seiner und ihrer Herkunft herrschte, und sie konnten als Mann und Frau zusammenkommen.
Er nahm das fahle Licht des Morgengrauens wahr, das in das Zimmer drang. Sie raffte das Betttuch fester um sich.
»Du schläfst nie«, sagte sie.
»Doch. Gelegentlich.«
Sie neigte den Kopf. Ihr normalerweise ordentliches, braunes Haar war von ihrer nächtlichen Liebe zerzaust. »Hast du immer schon solch beunruhigende Träume gehabt oder erst, seit du die Tochter deines schlimmsten Feindes geheiratet hast?«
Er lächelte leicht und zog sie an sich.
Sie versteifte sich, ihre Oberarme drückten an seine nackte Brust und schufen Distanz zwischen ihnen. Sie war fast so groß wie Sebastian selbst, hatte die Haltung ihres Vaters, seine Hakennase und ebenfalls seine berühmte, beunruhigende Intelligenz geerbt.
Er sagte: »Es heißt, Männer träumen oft vom Krieg, wenn sie nach Hause zurückgekehrt sind.«
Sie verengte die klugen, grauen Augen, und er konnte nur mutmaßen, was sie dachte. »Du träumst also vom Krieg?«
Er zögerte. »Überwiegend.«
Diese Nacht hatten ihn tatsächlich das dumpfe Dröhnen von Kanonenkugeln, die Schreie verletzter Pferde und das verzweifelte Stöhnen sterbender Männer aus dem Bett gejagt. Aber manchmal verfolgten ihn im Traum nicht die belastenden Dinge, die er gesehen oder die noch belastenderen Dinge, die er getan hatte, sondern nur eine blauäugige, dunkelhaarige Schauspielerin namens Kat Boleyn. Es war ein unbeabsichtigter, aber dennoch echter Betrug an der Frau, die er zu seiner Gattin genommen hatte, und das belastete ihn. Aber der einzige sichere Weg, seine Träume zu kontrollieren, war, den Schlaf zu meiden.
Das Tageslicht im Raum nahm zu.
Hero sagte: »In dieser Hitze ist es für alle schwer zu schlafen.«
Er hob die Hand, um ihr das verworrene Haar aus der verschwitzten Stirn zu streichen. »Möchtest du nicht mit mir nach Hampshire kommen? Es würde uns beiden guttun, ein paar Wochen dem Lärm und Dreck Londons zu entfliehen.« Er hatte schon den ganzen Sommer vorgehabt, auf sein Landgut zu reisen, doch die Geschehnisse der letzten Monate hatten es ihm unmöglich gemacht, London zu verlassen. Nun konnte er diese Verpflichtung nicht länger aufschieben.
Er sah ihr Zögern und wusste genau, was sie dachte: dass sie allein auf dem Lande einander beständig Gesellschaft leisten würden. Schließlich war das der Grund dafür, dass Jungvermählte traditionell in die Flitterwochen reisten – um einander besser kennenzulernen. Jedoch konnte man nichts an ihrer wenige Tage jungen Ehe traditionell nennen.
Er erwartete, dass sie ablehnen werde. Dann erschien ein merkwürdiges, schiefes Lächeln auf ihren Lippen, und sie überraschte ihn mit den Worten: »Warum nicht?«
Er ließ den Blick über die sanfte Wölbung ihrer Wangen, ihre ausgeprägte Kinnpartie und den Schwung ihrer gesenkten Wimpern gleiten, die ihre Augen nun vor seinem Blick verbargen. Sie war in vielerlei Hinsicht ein Geheimnis für ihn. Er kannte die formidable Stärke ihres Intellektes, ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und die unerwartete Leidenschaft, die seine Berührung in ihr anzufachen vermochte. Von dem Leben jedoch, das sie geführt hatte, bevor ihres und seines miteinander verwoben worden waren, wusste er wenig. Oder von dem Mädchen, das sie einst gewesen war, von den Kräften und Geschehnissen, die sie zu der Frau geformt hatten, die ohne zu zögern und ohne Hemmung einem Straßenräuber ins Gesicht schießen konnte.
Er sagte: »Wir können noch heute aufbrechen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich treffe mich heute Morgen mit Gabrielle Tennyson am Trent Place. Sie hat sich mit Sir Stanley über Ausgrabungen auf seinem Besitz unterhalten – einem Ort namens Camlet Moat. Sie versprach mir zu zeigen, worauf sie gestoßen sind.«
Sebastian musste lächeln. Heros beherrschende Leidenschaft würde immer darin liegen, mit klarem Kopf und ihrer Logik die ungerechten und grausamen Gesetze zu reformieren, die die britische Gesellschaft zugleich hemmten und befleckten. In letzter Zeit hatte sie allerdings ein ebenso starkes Interesse daran entwickelt, die rasch schwindenden Vermächtnisse aus Englands Vergangenheit zu bewahren.
»Wurde etwas Interessantes gefunden?«
»Wenn man bedenkt, dass ›Camlet‹ eine Abwandlung des alten Wortes ›Camelot‹ ist, ist alles faszinierend, was dort gefunden wird.«
Mit der Rückseite der Finger strich er über ihre Kinnlinie und lächelte, als er sah, wie sie in der Hitze erschauerte. »Wenn ich mich recht erinnere, hat Sir Thomas Malory in ›Morte d’Arthur‹ Camelot als das heutige Winchester identifiziert.«
Sie legte die Finger um sein Handgelenk und beendete damit die zärtliche Berührung. »Gabrielle glaubt, Malory hat sich geirrt.«
Von der Straße zog der Duft frischer Brötchen herauf, und das Glöckchen des Bäckerjungen bimmelte zu seinem Ruf »Warme Brötchen.«
Sebastian sagte: »Dann also morgen?«
Inzwischen war der Raum vom goldenen Morgenlicht erfüllt. Hero trat einen Schritt zurück, aus Sebastians Armen heraus, und hielt das Tuch noch fester um sich zusammen, so als bedaure sie schon ihr Zugeständnis. »Gut. Morgen.«
Doch kaum eine Stunde später traf ein Wachtmeister der Bow Street im Haus in der Brook Street ein. Seine Nachricht lautete, dass Miss Gabrielle Tennyson tot gefunden worden war.
Ermordet. In Camlet Moat.
Kapitel 3
Ein kleiner Mann mittleren Alters mit schwindendem Haupthaar und ernstgebietender Haltung stand am Fuß eines antiken Erddammes. Die Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt, und sein Kinn verschwand in den Falten seines bescheidenen Halstuchs. Neben ihm lag eine verwitterte Jolle, die man ans Ufer des Grabens gezogen hatte. Sie war jetzt leer, doch am Dollbord konnte man noch deutlich verschmiertes Blut erkennen.
Sir Henry Lovejoy, der zuletzt berufene Untersuchungsrichter der drei besoldeten Richter der Bow Street, starrte den verräterischen Streifen Blut an. Der örtliche Magistrat hatte ihn zu diesem Tatort zehn Meilen nördlich von London gerufen. Der Mann war nur zu bereit, seine Ermittlung an die Bow Street-Behörde zu übertragen.
Lovejoy stieß einen langen, besorgten Seufzer aus. In Londons Straßen waren die meisten Morde simple Vorfälle: Ein besoffener Matrose erwürgte seine unglückliche Frau, zwei Freunde verkrachten sich beim Würfelspiel oder beim Verkauf eines Pferdes, ein Straßenräuber überfiel einen unvorsichtigen Passanten aus einer übelriechenden Gosse heraus. An einer jungen, ermordeten Edelfrau, die in einem längst verlassenen Graben im Nirgendwo trieb, war hingegen rein gar nichts gewöhnlich.
Miss Gabrielle Tennyson war erst achtundzwanzig Jahre alt gewesen. Als Tochter eines berühmten Gelehrten hatte sie sich mit ihrem Antiquariat bereits einen Ruf erworben – was für ihr Geschlecht wahrlich eine außergewöhnliche Leistung war. Sie lebte mit ihrem Bruder, seinerseits ein wohlbekannter und angesehener Rechtsanwalt, in einem edlen Haus in den Adelphi-Gebäuden am Ufer der Themse zusammen. Ihre Ermordung würde in der Stadt eine nie gesehene Welle der Angst auslösen. Die Damen würden sich davor fürchten, ihr Heim zu verlassen, und die verärgerten Gatten und Väter würden fordern, dass die Bow Street etwas unternähme.
Leider hatte Lovejoy nicht den geringsten Hinweis, wo er beginnen sollte.
Er hob den Blick zu der Reihe der Constables, die sich am Ufer des Grabens vorwärts bewegten. Ihre klobigen Stiefel erzeugten im schlammigen Wasser saugende Geräusche, die in der unnatürlichen Stille geradezu widerhallten. Er hatte sich nie als Mann mit übersteigerter Fantasie betrachtet, ganz im Gegenteil. Und doch brachte etwas an diesem Ort die Haare in seinem Nacken dazu, sich aufzustellen. Vielleicht lag es daran, wie das Licht, das durch die dicht stehenden Buchen und Hainbuchen gefiltert wurde, die Szenerie in einen unheimlichen grünen Schein tauchte. Vielleicht war es aber auch die unvermeidliche Reaktion eines Vaters auf den Anblick einer schönen, toten jungen Frau – ein Anblick, der die Erinnerung an einen fast unerträglichen Schmerz in Lovejoys eigenem Leben zurückbrachte, der ihm das Herz gebrochen hatte.
Doch er verschloss seinen Geist.
Er hatte von diesem Ort, Camlet Moat, schon gehört. Es hieß, einst hätte hier ein mittelalterliches Schloss gestanden, dessen Ursprung zurück in die Zeiten der alten Römer und darüber hinaus reichte. Doch welche befestigten Bauten hier dereinst auch gestanden haben mochten, sie waren schon lange abgetragen und ihre Steine und Balken weggekarrt worden. Zurückgeblieben war nur eine verlassene, überwucherte, rechteckige Insel von ein paar hundert Metern Querschnitt und der alte, brackige Graben, der sie einst beschützt hatte.
Unter Lovejoys Augen trennte sich einer der Constables von der Gruppe der anderen und watete zu ihm.
»Wir haben den gesamten Graben abgesucht, Sir«, sagte er. »Überall, rundherum.«
»Und?«
»Wir haben nichts gefunden, Sir.«
Lovejoy stieß einen langen Atemzug aus. »Dann macht auf der Insel weiter.«
»Jawohl, Sir.«
Hufgetrappel und klapperndes Pferdegeschirr lenkten ihre Aufmerksamkeit auf den schmalen Weg, der sich durch den Wald zum Wallgraben schlängelte. Ein Zweispänner, den ein aristokratischer junger Mann in einem Reisemantel mit Cape und einem Kastorhut lenkte, hielt auf dem Scheitel des Erdwalles an. Der halbwüchsige und etwas zerrupft aussehende junge Bursche in gestreifter Weste, der sich auf dem hinteren Kutschbock festgehalten hatte, sprang sofort ab und lief zu den Köpfen der Braunen.
»Es ist Lord Devlin, Sir«, sagte der Wachtmeister und ließ den Mund offenstehen, während er beobachtete, wie der berüchtigte Sohn des Earls of Hendon sitzenblieb, um kurz mit seinem Tiger, dem Burschen, zu sprechen, und dann leichtfüßig auf den Boden sprang.
Lovejoy sagte: »Das wäre dann alles, Constable.«
Der Wachtmeister warf einen letzten, neugierigen Blick den Hang hinauf, bevor er den Kopf senkte. »Jawohl, Sir.«
Lovejoy wartete, während der Viscount seinen Mantel auf den Kutschbock warf und dann den alten Wall herunterglitt, wobei die Sohlen seiner Hessischen Stiefel Furchen im lockeren, laubbedeckten Boden hinterließen.
»Sir Henry«, sagte der Viscount. »Guten Morgen.«
Er war schlank, dunkelhaarig und so groß, dass er Lovejoy überragte. Aber es waren seine Augen, die die Aufmerksamkeit eines jeden Fremden auf sich zogen. Ihre Farbe wechselte von Bernstein zu einem katzenartigen Gelb, und sie besaßen die tierhaft anmutende Fähigkeit, im Dunkeln und ungewöhnlich weit zu sehen. Auch sein Gehör war außergewöhnlich scharf, was selbst diejenigen, die ihn gut kannten, aus dem Konzept bringen konnte.
Die ungewöhnliche Freundschaft der beiden Männer bestand seit etwa anderthalb Jahren. Damals war Devlin des Mordes angeklagt und Lovejoy war entschlossen gewesen, ihn dingfest zu machen. Aus diesen eigenartigen Anfängen hatten sich sowohl Respekt als auch Freundschaft entwickelt. In Devlin hatte Lovejoy einen Verbündeten mit seltenem Gerechtigkeitssinn und einem echten Genie für das Lösen von Mordfällen gewonnen. Überdies verfügte Devlin auch noch über eine Eigenschaft, die kein Magistrat der Bow Street je haben würde: leichten Zugang zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft und das angeborene Verstehen der Wohlhabenden und Hochwohlgeborenen, die in einem Mordfall dieser Natur unvermeidlich in Verdacht gerieten.
»Mylord.« Lovejoy verbeugte sich knapp, mit eckigen Bewegungen. »Ich bitte Vergebung, dass ich in eine Zeit eindringe, die für Euch und Eure Gattin der Freude und Zweisamkeit vorbehalten sein sollte. Aber als ich von der Verbindung des Opfers zu Lady Devlin erfuhr, dachte ich, Ihr wünschtet vielleicht informiert zu sein.«
»Sie haben das Richtige getan«, sagte Devlin. Er ließ den Blick über die Stätte wandern und nahm die üppig wuchernden Birken und Eichen sowie das grüne, schaumbesetzte Wasser des ehemaligen Grabens wahr. »Wo ist sie?«
Lovejoy räusperte sich unbehaglich. »Wir haben die Überreste vor etwa einer Stunde nach London geschickt.« Leichen hielten sich in der Augusthitze nicht gut.
»Zu Gibson?«
»Jawohl, Mylord.« Niemand verstand mehr von der menschlichen Anatomie oder konnte die Geheimnisse, die eine Leiche über ihren Mörder zu enthüllen vermochte, besser entschlüsseln als Paul Gibson. Lovejoy nickte zu dem kleinen Boot neben ihnen. »Sie wurde in der Jolle gefunden – sie dümpelte genau hier am Rand des Grabens.«
»Glauben Sie, dass sie hier ermordet wurde?« Devlin ging in die Hocke, um das blutverschmierte Dollbord zu betrachten.
»Ich halte es für wahrscheinlich, dass sie in der Jolle erstochen wurde, ja. Aber in der feuchten Erde der Böschung auf dieser Seite gab es keinerlei Fußabdrücke. Deshalb nehme ich an, dass das Boot von einer anderen Stelle hier angetrieben wurde – vielleicht von der Landbrücke, die auf der Ostseite der Insel über den Graben führt. Wir haben erfahren, dass sie normalerweise dort vertäut ist. Unglücklicherweise sind dort aber so viele Fußabdrücke, dass es unmöglich ist, mit einiger Sicherheit diejenigen festzustellen, die zu dem Mörder gehören könnten.«
Devlin schwieg einen Augenblick und betrachtete nachdenklich stirnrunzelnd den hässlichen Streifen Blut. Manchmal zögerte der Viscount, sich in eine Mordermittlung einbinden zu lassen. Diese Zurückhaltung konnte Lovejoy nur zu gut verstehen. Ihm selbst erschien es, als ob jeder Tod, den er untersuchte, jedes zerstörte Leben, mit dem er in Kontakt kam, ihm ein weiteres Stück seiner eigenen Menschlichkeit stehlen und einen unwiederbringlichen Teil seiner Lebensfreude davonschwemmen würde.
Aber sicherlich, sagte sich Lovejoy dann, würde die Verbindung dieses Opfers zur Gattin Seiner Lordschaft es dem Viscount unmöglich machen, sich zu weigern.
Lovejoy sagte: »Ein Mord wie dieser – eine junge Frau, die in einem Wald nördlich von London brutal erstochen wurde – wird in der Stadt unweigerlich Panik auslösen. Unglücklicherweise geschieht es in einer solchen Lage allzu oft, dass der Aufruhr in der Öffentlichkeit dadurch beruhigt wird, dass rasch ein Schuldiger gefunden wird – auf Kosten echter Gerechtigkeit.«
»Bitten Sie mich gerade um Hilfe?«
Lovejoy hielt dem seltsamen, katzenartigen Blick aus gelben Augen stand. »Jawohl, Mylord.«
Devlin richtete sich wieder zu voller Größe auf und blickte über das trübe Wasser hinweg zu der Stelle, an der die Wachtmeister um die frisch aufgeworfenen Erdhaufen herum stocherten, die die Ausgrabungen von Sir Stanley säumten. Im vom Nebel gestreuten Morgenlicht hatten die Erdhügel eine unangenehme Ähnlichkeit mit Reihen frisch ausgehobener Gräber. Lovejoy sah, wie Devlin die Lippen zu einem dünnen Strich verzog und seine Nasenflügel in einem schmerzhaft eingesogenen Atemzug bebten.
Der Viscount sagte nichts, doch Lovejoy kannte ihn gut genug, um geduldig zu sein.
Und Devlins Antwort abzuwarten.
Kapitel 4
Sebastian wandte sich um und ging den Kamm des alten Walles entlang, der sich neben dem Graben mit dem stehenden Wasser erhob. Die Schatten waren hier tief und schwer, die belaubten Äste des alten Baumbestands, die sich über Sebastians Kopf trafen, verdeckten den Himmel beinahe. Ein Gewirr aus Farn und Farnkraut säumte das ruhige Gewässer des Grabens. Es roch nach nasser Erde und Humus, und die Luft war von Insektengesumm erfüllt.
Er hatte gehört, dieser wilde Teil des Waldlandes nördlich Londons war einst als Enfield Chase bekannt, ein königliches Jagdrevier, in dem das Hufgeklapper edler Pferde, der durchdringende Klang der Jagdhörner und das Gebell der königlichen Hunde widergehallt hatten. König Henry VIII. und Königin Elizabeth waren mit einer Schar Höflingen in glitzernden Gewändern und Geschmeide durchgezogen. Ihre Samtmäntel hatten den Nebel aufgewirbelt, ihre Stimmen waren in herzlichen Rufen hier erklungen.
Das alles war längst vergangen. Wuchernde Dornbüsche und Unterholz hatten den Waldboden erstickt, während einfache Leute aus dem benachbarten Dorf die letzten verfallenden Steine des Anwesens oder Schlosses weggekarrt hatten, das einst hier gestanden haben musste. Eine verhuschte Stille hatte sich über den Ort gelegt, die so lange ungebrochen blieb, bis eine schöne, brillante, unabhängige junge Frau mit grenzenloser Neugier auf die Vergangenheit auf der Suche nach den Ursprüngen einer Legende hier aufgetaucht war – und den Tod gefunden hatte.
Er konnte sich nur an eine einzige Begegnung mit Miss Gabrielle Tennyson erinnern: bei einem Vortrag vor ungefähr einem Jahr über das römische London, den er in Gesellschaft des Earls of Hendon gehört hatte. Sebastian hatte sie als eine auffallende, selbstsichere junge Frau mit kastanienfarbenem Haar und einem offenen, freundlichen Lächeln in Erinnerung. Es hatte ihn überrascht zu hören, dass sie und Hero befreundet waren. Trotz ihrer offensichtlichen Unterschiede waren die beiden Frauen einander sehr ähnlich. Es fiel ihm schwer, sich eine so starke, lebendige Frau nun auf der Bahre eines Chirurgen vorzustellen, ihres Lebens und der verheißungsvollen Jahre, die noch vor ihr gelegen hatten, beraubt. Es fiel ihm auch schwer, sich den Schrecken und die Verzweiflung auszumalen, die ihre Augen erfüllt haben mussten, als sie an diesem ruhigen, abgeschiedenen Ort ihren letzten Blick getan hatte.
Er blieb stehen und sah abermals zu der kleinen Insel hinüber, auf der einst ein Schloss mit dem Namen Camelot gestanden hatte. Er bemerkte, dass Sir Henry Lovejoy neben ihn trat; seine schlichten Züge waren verkniffen und angestrengt, und die Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt.
Sebastian sah ihn an. »Sie sagten, sie wurde erstochen?«
Der Magistrat nickte. »In die Brust. Soweit ich es sehen konnte. Doch dazu wird uns Mr Gibson mehr sagen können, sobald er die Obduktion beendet hat.«
»Und die Mordwaffe?«
»Ist noch nicht gefunden worden.«
Sebastian betrachtete das trübe Wasser unter ihnen. Wenn Gabrielles Mörder die Waffe in den Graben geworfen hatte, würde sie vielleicht nie gefunden.
Er drehte sich um und betrachtete den schmalen Weg, auf dem sein Tiger Tom die Braunen auf und ab führte. »Wie ist sie denn bloß hierhergekommen? Haben Sie dazu eine Idee?«
Sir Henry schüttelte den Kopf. »Wir können nur annehmen, dass sie in Gesellschaft ihres Mörders angekommen sein muss.«
»Hat niemand aus der Nachbarschaft etwas beobachtet?«
»Nichts, das sie bereit wären, einzugestehen. Allerdings liegt das nächste Dorf mehrere Meilen entfernt, und in dieser Gegend gibt es nur wenige einzeln stehende Häuser. Tessa Sawyer – das Dorfmädchen, das sie gefunden hat – ist nur durch Zufall kurz vor Mitternacht auf den Leichnam gestoßen.«
»Und was hat Tessa nachts hier im Nirgendwo gemacht?«
»Ich fürchte, das ist noch nicht ganz klar, da das Mädchen ausweichend und unzusammenhängend auf unsere Fragen geantwortet hat. Soweit ich es verstehen konnte, war gestern irgendein alter, heidnischer Feiertag –«
»Lammas.«
»Richtig, das war es, Lammas. Man sagte mir, Camlet Moat gelte bei den Abergläubischen als Ort der Magie. Neben einer Weißen Dame, die die Insel heimsuchen soll, geht angeblich auch der Geist eines widerwärtigen Tempelritters um, wenn er beschworen wird.«
»Ich nehme an, Sie haben auch erfahren, dass manche sagen, hier wäre das alte Camelot von König Artus gewesen?«
Der Magistrat schniefte. »Sehr fantasievolle Vorstellung, zweifellos. Aber ja, soweit ich weiß, war Sir Stanley Winthrop ganz fasziniert von dieser Möglichkeit, nachdem er das Anwesen im vergangenen Jahr erworben und herausgefunden hat, dass Miss Tennyson über die Geschichte des Ortes nachforscht.«
»Denken Sie, ihre Ermordung könnte mit den Legenden über die Vergangenheit des Ortes zusammenhängen?«
Sir Henry stieß prustend die Luft aus. »Ich wünschte, ich wüsste irgendetwas. Wir wissen nicht einmal, wie lange Miss Tennysons Leichnam hier gelegen hat, bevor er entdeckt wurde. Ihr Bruder, Mr Hildeyard Tennyson, weilt seit bald vierzehn Tagen fern von London. Ich habe einen Wachtmeister geschickt, um ihre Dienerschaft zu befragen, aber ich fürchte, sie können uns nicht viel sagen. Schließlich war gestern Sonntag.«
»Zur Hölle«, sagte Sebastian leise. »Was sagt denn Sir Stanley Winthrop zu alledem?«
»Er sagt, er habe Miss Tennyson zum letzten Mal gesehen, als sie am Samstagnachmittag die Ausgrabungen verlassen hat.«
Etwas im Tonfall des Untersuchungsrichters weckte Sebastians Aufmerksamkeit. »Aber Sie glauben ihm nicht?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Er sagte, er könne sich nicht vorstellen, was sie gestern hier getan haben könnte. An Sonntagen arbeiten sie für gewöhnlich nicht an den Ausgrabungen.«
Sebastian sagte: »Vielleicht wollte sie sich ungestört umschauen?«
Lovejoy runzelte die Stirn. »Das ist möglich. Vielleicht hat sie einen Eindringling überrascht, der sie dann in Panik getötet hat.«
»Und ihre Kutsche gestohlen und ihren Kutscher entführt?«
Lovejoy zog eine Grimasse. »Das ist die eine Sache.«
Sebastian richtete den Sitz seines Kastorhuts. »Ist ihr Bruder immer noch außerhalb von London?«
Lovejoy nickte. »Wir haben eine Nachricht auf sein Landgut schicken lassen, aber ich bezweifle, dass er noch vor der Dämmerung in London sein kann. Frühestens.«
»Dann beginne ich wohl mit Sir Stanley Winthrop.« Sebastian wandte sich zu seinem Zweispänner um.
Lovejoy ging neben ihm her. »Heißt das, Ihr seid bereit, die Bow Street in diesem Fall zu unterstützen?«
»Dachten Sie ehrlich, das wäre ich nicht?«
Sir Henry deutete eines seiner seltenen Lächeln an, zog das Kinn zur Brust und schüttelte den Kopf.