Kapitel 1
Falken flink zu Ross
Ein Schlagloch rumpelte den Wagen ordentlich durch. Juliana stieß mit ihrer Stirn gegen die Seitenscheibe.
„Au! Himmel, war das nötig?“
Sie war zunehmend zermürbt; von der unbeständigen Straße, den vielen Kurven und der schon viel zu lang andauernden Fahrt.
„Habe ich nicht gesehen“, raunte Alexander kaum besser gelaunt auf dem Fahrersitz.
Juliana rollte die Augen. „Nicht gesehen? Das Loch muss so groß wie unser Konferenztisch gewesen sein.“
Alexander brummelte in sich hinein, so wie er es auch in der Redaktion immer tat, wenn er sich weitere Kritik verbat. „Kannst ja gern selbst das Steuer übernehmen.“
Juliana seufzte. „Danke, ich verzichte und verzeihe.“
Sie lehnte sich wieder zurück und schaute hinaus. Riesenhafte Bäume und meterhohes Gestrüpp zogen vorbei, unaufhörlich, immerfort. Seit bestimmt dreißig Minuten hatte sie nichts anderes mehr gesehen. Eine eigenartige Erfahrung für jemanden, den Job und Leben bislang nie allzu weit aus Städten hinausgeführt hatten. Doch Juliana wusste den Anblick auch zu schätzen. Die Farben von Gras, Blumen, Blättern und Nadeln wirkten hier viel satter als in Bukarest. Wahrscheinlich sorgte das allgegenwärtige Wechselspiel von Licht und Schatten für diese zauberhafte Illusion. Die hohen Baumkronen filterten den Sonnenschein vielfach und ließen ihn nur fein dosiert das Gespinst durchleuchten. Einige Bäume formten Zweige und Auswüchse wie Klauen, ihre Wurzeln von hohem Riedgras umgarnt und vom Sonnenschein sträflich vernachlässigt. Manchmal bewegten sie ihre Glieder, so als wollten sie wie Wachtposten nach jedem greifen, der ohne ihre Erlaubnis diese Straße entlangfuhr. Doch das war nur der Wind, der so weit oben zuweilen sehr heftig wehte.
„Da vorne“, knurrte Alexander. „Na endlich. Das muss das Dorf sein. Es sei denn, wir sind bei diesem Steilhang vorhin falsch abgebogen.“
Juliana folgte seinem Blick. Voraus tat sich der Wald auf und gab eine überschaubare Ansammlung von Häusern und Scheunen preis, umrahmt von einer märchenhaft wirkenden Landschaft aus steilen, von Moos überwucherten Felsen, gekrönt von spitzen Nadelhölzern. Darüber wölbte sich der wolkenlose Himmel. Die Straße hatte sie weit hinauf gelotst.
„Also gut, gehen wir alles noch mal durch“, sagte Alexander geschäftig und fischte in der Hosentasche nach seinem Smartphone. „Kein Netz, wie ich mir schon gedacht habe“, raunzte er nach einem prüfenden Blick. „Verflucht noch eins. Das macht die Sache komplizierter.“
Juliana kam zu derselben Schlussfolgerung, geriet deswegen aber nicht in Panik.
Alexander ging vom Gas, ließ den Wagen ausrollen und warf argwöhnische Blicke nach draußen. „Siehst du irgendwo ein Ortsschild? Egal. Das muss das Dorf sein. Der Karte nach ist es von hier nicht mehr weit bis zum Landsitz. Vierzig Minuten zu Fuß, schätze ich. Ich werde in der Nähe sein, aber glaub bloß nicht, dass ich für dich im Wald übernachte. Ruf in meinem Wirtshaus an, wenn du Probleme hast. Und zwar ohne zu zögern, verstanden? Die Nummer hast du dir notiert, hoffe ich.“
„Die wird mir wenig nützen, wenn die mich in ein dunkles Verlies stecken“, rieb ihm Juliana unter die Nase.
Alexander stoppte den Wagen und taxierte sie finster. Mit seinen buschigen Augenbrauen über den kleinen dunklen Äuglein und dem krausen Bartflaum, der weite Teile seines Gesichts vereinnahmte, sah er aus wie ein zu groß geratener Teddybär –ein äußerst griesgrämiger Teddybär im Moment. Er war von Anfang an gegen dieses Vorhaben gewesen, hielt es für eine Schnapsidee. Aber noch weniger hätte er es über sich gebracht, Juliana allein fahren zu lassen. Dazu war sein kollegialer Beschützerinstinkt zu ausgeprägt. In ihren Anfangsjahren als Journalistin war sie dafür sehr dankbar gewesen. Bei dieser Angelegenheit wäre sie hingegen lieber allein. Immerhin ging es um ihre eigene Familiengeschichte; noch dazu um ein sehr düsteres Kapitel davon.
„Ich deichsle das schon, keine Angst“, versuchte sie ihn mit einem Schmunzeln zu beschwichtigen und tätschelte ihm zutraulich den hervorstehenden Wanst unter seinem Hemd. „Ich meine, hey, was soll schon passieren? Ich kann auf mich aufpassen. Das weißt du.“
Alexander schien alles andere als überzeugt, was Juliana nun beinahe ärgerte. Er tat so, als wäre sie ein hilfloses Püppchen. Ohne einen weiteren Kommentar löste er den Sicherheitsgurt, stieg aus und brummte wieder miesepetrig in sich hinein. Erst jetzt sah Juliana das imposante Haus aus groben Bruchsteinen auf der anderen Straßenseite. Ein wettergegerbtes Mansarddach mit drei identischen Gauben hockte darauf. Die holzumrahmten Fenster reflektierten die Nachmittagssonne. Über der Eingangstür prangte kaum noch lesbar der Name des Wirtshauses. Hier also würde Alexander übernachten. Laut ihm war es die einzige Herberge weit und breit.
Juliana stieg ebenfalls aus und sog die würzige Luft ein. Die Duftnoten waren vertraut. Die kannte sie auch aus der Walachei. Doch wie die Farben der Natur hier intensiver wirkten, taten es auch die Gerüche. Da waren Moos, Torf und feuchte Erde. Und unverkennbar eine Menge Pferdemist.
„Du hast doch Pfefferspray dabei, oder?“, ließ sich Alexander von der anderen Wagenseite vernehmen.
Juliana atmete mit geschlossenen Augen und stellte sich dem warmen Wind, der ihr ins Haar blies und es davontragen wollte. „Hab ich“, antwortete sie geduldig. „Und ich bin mir sicher, dass ich es nicht brauchen werde.“
„Ich will’s hoffen.“ Alexander schnaubte, und Juliana hörte wie aus weiter Ferne, dass er den Kofferraum aufmachte.
Das Dorf schien ausgestorben. Juliana schaute sich um und entdeckte bis auf ein paar herumtollende Kinder keine Menschenseele. Wahrscheinlich waren die Leute arbeiten. Grob überschlagen zählte sie etwa dreißig verstreute Wohnhäuser aus Stein und noch mal so viele Scheunen und Ställe. Die bestanden überwiegend aus Holz, aber es gab auch Mischbauten, die wahrscheinlich beides in einem waren. Dazwischen spannten sich in angeratener Höhe Stromleitungen, vielfach von schlanken Holzmasten gestützt. Autos entdeckte Juliana nicht. Aber ein paar alte Lkw, die ihrem Aussehen nach für Viehtransporte benutzt wurden. Hinter dem Wirtshaus stieg ein bewaldetes Felsmassiv an, doch in die andere Richtung fiel das Land sacht ab. Ein steiniger Weg führte von der Straße fort und zu den bewirtschafteten Feldern weiter unten. Juliana erspähte vereinzelte Gestalten und Nutztiere.
„Einen Massagesalon gibt’s hier wahrscheinlich nicht“, meinte Alexander und stemmte verkrampft eine Hand in den Rücken. „Einen Starbucks wohl auch nicht. Elende Fahrerei, verflucht. Ich hätte zu Hause bleiben sollen.“
„Niemand hat dich gebeten, mitzukommen“, erinnerte ihn Juliana. „Aber wenn du nett fragst, verpasst dir vielleicht deine Hauswirtin eine Massage. Und einen Kaffee macht sie dir bestimmt auch. Schau mal.“
Juliana hatte bemerkt, dass sie nicht mehr allein waren. Am Eintritt des Wirtshauses stand eine junge Frau mit vollen schwarzen Haaren, lehnte am Türrahmen und beobachtete sie unverhohlen, geradezu provozierend.
„Heiliger Wodka und Wirsing, was sagt man dazu“, murmelte Alexander und glotzte zurück.
„Kommst du zurecht?“, horchte Juliana nach.
Alexander wirbelte zu ihr herum, Unverständnis im Blick.
Juliana verwies auf den offenen Kofferraum. „Falls ja, dann könntest du jetzt nämlich deine Tasche rausnehmen, damit ich weiterfahren kann.“
Alexanders Brummeln setzte wieder ein, aber jetzt klang es geradezu melodiös. Er hievte seine Reisetasche heraus, winkte der Wirtin und hielt auf die Gasthauspforte zu. Bevor er sie erreichte, fuhr er noch einmal herum. „Du rufst sofort hier an, sobald es geht, klar? Und du rufst noch schneller an, wenn da irgendetwas faul ist. Nein, dann rufst du nicht an, sondern kommst augenblicklich zurück. Verstanden?“
Juliana grinste amüsiert, stieg dann der Fahrerseite des Wagens zu und machte sich auf die finale Etappe dieser Reise. Der Landsitz der Falkensteins konnte nun nicht mehr weit sein.
Die mangelhaft beschaffene Straße entfernte sich von den Felsen und grub sich in engen Windungen in ein bewaldetes Tal hinein. Juliana wagte kaum schneller als Schritttempo zu fahren, auch um die beeindruckende Gegend auf sich wirken zu lassen. An manchen Stellen war der Ausblick Ehrfurcht gebietend. Wipfel nie gesehener majestätischer Nadelhölzer durchbohrten das Walddach. Wie Türme eines gewaltigen grünen Schlosses schossen sie empor, und Juliana kam sich plötzlich ziemlich klein vor.
Auf eine Art Schloss machte sie sich auch an ihrem Zielort gefasst. Es war nur ein Herrenhaus, aber die bauliche Beschreibung dieser Immobilie in der registratura conace sprach von mindestens einem Turm. Die Falkensteins waren eine wohlhabende Dynastie. Alter deutscher Adel, der vor zweihundertfünfzig Jahren aus dem Königreich Württemberg nach Transilvania ausgewandert war. Donauschwaben.
Als ein dick von Efeu umrankter Holzzaun am Straßenrand auftauchte, ahnte Juliana, dass sie angekommen war. Die brüchige Straße zwängte sich zwischen mannsgroße Rundpfeiler hindurch, wo sie in ein steingraues Pflaster überging. Das Tor stand offen. Vermutlich extra für Juliana. Es war kurz nach drei. Sie war pünktlich.
Beidseitig flankierten mächtige Bäume den Pflasterpfad, deren lange Arme und Fänge fast am Autodach kratzten. Sie versperrten auch die Sicht, sodass sich der stattliche Sitz der Falkensteins zunächst nur in Fragmenten abzeichnete. Erst als die Bäume sich lichteten und der grasbewachsene Hügel anstieg, auf dem er thronte, kam er in ganzer Pracht zur Geltung. Juliana fuhr langsamer und staunte. Sie hatte nicht zu viel erwartet. Wie eine Verlängerung der Auffahrt führten Stufen zu einer Empfangsterrasse hinauf, auf der sechs mächtige Säulen das nach vorn gesetzte Obergeschoss des Mittelhauses stützten. Die gesamte obere Etage bestand aus Fachwerk, inklusive dem spitzen Rundturm, der das Mittelhaus linksseitig begrenzte. Der untere Teil war aus weißer Mauer, anscheinend verziert mit blassgrauem Stuck. Die Turmrundung floss weich in einen sich zurücknehmenden Hausflügel über, den Juliana als Wirtschaftshaus kategorisierte. Dafür sprach die Pferdekoppel, die sich dem anschloss und bis zum fernen Begrenzungszaun am Waldrand reichte. Die Ställe befanden sich vermutlich an der Rückseite.
Der rechte Hausflügel wurde von einem prächtigen Giebel im Satteldach gekrönt. Dies war vermutlich das Wohnhaus. Dem folgte eine Terrasse auf blankem Gestein, das grau und grob den Hügel durchstieß. Ein Souterrain gab es anscheinend auch. Zu beiden Seiten des Aufgangs und vom Fuß des Hügels aus nicht überall zu sehen, reihten sich Fenster knapp über dem Grund.
Juliana stellte ihr Fahrzeug an der Auffahrt neben einem dunklen Geländewagen ab und stieg aus. Die schon vertrauten Gerüche aus dem Dorf nahm sie auch hier wahr, wenngleich in unterschiedlicher Intensität. Weniger Torf und Pferdemist, dafür mehr Wald.
Wald. Ja, Wald war hier überall. Noch höher als der Turm stachen rundherum einige Nadelhölzer himmelwärts. Hinter sich sah Juliana wild verwucherte Hänge aufsteigen, zuoberst glänzte blanker Fels im nachmittäglichen Sonnenlicht. Irgendwo dort ließ sich Alexander wahrscheinlich gerade in seinem Wirtshaus von der attraktiven Gastwirtin den Rücken massieren. Juliana verscheuchte den Gedanken und schaute sich um. Im einsehbaren Teil der Koppel zählte sie drei Pferde. Zwei stattliche Dunkelhäuter und ein putziges pechschwarzes Pony, das den anderen treulich hinterherlief. Schließlich rückte auch eine Gestalt ins Blickfeld, die die Pferde zuvor verdeckt hatten. Eine Frau in waldgrüner Weste, grauer Hose und hohen Stiefeln. Juliana meinte, langes nussbraunes Haar zu erkennen, einen Tick dunkler als ihr eigenes. Sie winkte der Fremden. Die aber reagierte nicht, obwohl sie unzweifelhaft in ihre Richtung sah. Juliana wollte es nicht dabei bewenden lassen und machte sich schon zur Koppel auf, als oben auf der Empfangsterrasse die Eingangstür aufging und ein Mann in grauem Anzug beschwingt die Stufen herabtänzelte. Er winkte. Juliana hielt inne.
„Hallo! Wie schön, dass Sie da sind“, rief er auf halber Strecke. „Ich hatte schon Zweifel, ob Sie überhaupt kommen würden. Ihr Agent ist heute den ganzen Tag nicht zu erreichen gewesen.“
Dieser vermeintliche Agent war Alexander, und der Grund, warum er nicht an seinen Festnetzanschluss in Bukarest ging, war, dass er sich gerade nicht weit von hier von einer Wirtin massieren ließ.
„Oh, der ist übers Wochenende in Österreich, soweit ich weiß“, erwiderte Juliana. „Sind Sie Herr Falkenstein? Valentin Falkenstein?“
„Der bin ich“, wurde ihr bestätigt. „Und Sie sind demnach Frau Gaspar. Juliana Gaspar, richtig?“
Juliana bejahte, wenngleich nur der Vorname stimmte. Alexander hatte als Mittelsmann alles vorbildlich arrangiert, inklusive ihrem falschen Nachnamen. Valentin Falkenstein hielt sie für eine Schauspielerin, für die er an diesem Wochenende Verwendung hatte. Ihren wahren Familiennamen wollte sie erst mal für sich behalten. Das schien ihr dringlich angeraten.
Der Falkensteiner reichte ihr in einer weichen Bewegung die Hand, die sie gern entgegennahm. Einen so jungen und gutaussehenden Hausherrn hatte sie nicht erwartet. Ihrer Vorstellung nach war dieser Valentin Falkenstein ein spießiger Schnösel, bestimmt längst ergraut und faltig und womöglich auch noch furchtbar eingebildet. Valentin Falkenstein aber war höchstens ein paar Jahre älter als sie und konnte die dreißig noch nicht weit überschritten haben. Leicht gelocktes schwarzes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, die grauen Augen wirkten sanft und wach, und inmitten seines getrimmten Dreitagebarts brachte er sogar ein sympathisches Lächeln zuwege.
„War die Reise sehr beschwerlich?“, fragte er.
„Ich hatte schon angenehmere“, entgegnete Juliana. „Aber sie hat sich schon jetzt gelohnt. Die Gegend ist wundervoll.“
Valentin Falkenstein zog kurz die Augenbrauen hoch und gab sich erstaunt. „Tatsächlich? Die meisten Städter empfinden das anders. Nicht, dass wir hier oft welche hätten.“
„Dann bin ich wohl nicht wie die meisten“, gab Juliana zurück und entfloh seinem forschenden Blick zu den gewaltigen Nadelhölzern. „Sind das alles Ihre Ländereien, Herr Falkenstein?“
Valentin Falkenstein schüttelte sacht den Kopf. „Früher einmal. Aber weiter nördlich von hier gehört meiner Familie noch ein schönes Stück Wald. Sie werden es sehen. Wir reiten morgen hin.“
Juliana fand zu seinen Augen zurück. „Mit Familie meinen Sie sich und Ihre Frau?“
Nun war es der Falkensteiner, der ihrem Blick auswich. Sein Lächeln gefror für einen Augenblick, dann verflüchtigte es sich in Gänze. „Nein“, antwortete er, bevor er wieder aufsah und zu einer adretten Haltung zurückfand. „Ich bin nicht verheiratet.“
„Oh, entschuldigen Sie. Ich habe vorhin eine Frau dort bei den Pferden gesehen. Da dachte ich, nun ja …“ Juliana lenkte den Blick zur Koppel, aber sowohl die Frau als auch die Pferde waren verschwunden.
„Das war meine Schwester Valea“, erklärte Valentin kurz angebunden und klatschte in die Hände. „Nun denn, Frau Gaspar, lassen Sie uns Ihr Gepäck ausladen und es ins Haus schaffen.“
Mit den zwei Reisetaschen marschierten sie hinauf. Juliana wog ab, inwieweit sie ein paar Worte über das prächtige Anwesen verlieren sollte und entschied sich dagegen. Sie hatte schon die Gegend beweihräuchert. Zu viele Komplimente würden gezwungen und gekünstelt wirken. Auch die Fragen, die sie beschäftigten, wollte sie erst mal zurückstellen. Etwa wie viele Falkensteins es gab, wie viele hier wohnten und ob in der näheren Umgebung noch andere lebten. Der Falkenstein, für den sie sich insbesondere interessierte, hieß Constantin und müsste inzwischen ein alter Mann sein. Falls er überhaupt noch am Leben war.
Auf den Fersen ihres Auftraggebers betrat Juliana die Empfangsterrasse. Sie wandte sich um und ließ noch einmal die Eindrücke auf sich wirken. Dieses Grundstück hier war die einzige Oase in nicht zu überschauenden Wogen von Wald und Felsen. Die Sonne war bereits hinter einem Bergkamm verschwunden und tauchte das Tal in tiefe Schatten. Das Dorf da oben hingegen sollte noch im Sonnenschein baden. Juliana verspürte einen drängenden Impuls dorthin zurückzukehren.
Valentin Falkenstein gestikulierte sie durch die offene Haustür. „Unsere Gäste haben sich für acht Uhr angekündigt. Wir haben also noch ausreichend Zeit, alles zu besprechen und uns vorzubereiten. Und Sie können sich von der langen Fahrt noch etwas erholen.“
Juliana betrat eine Empfangshalle, die weitaus moderner wirkte, als das altehrwürdige Gebäude von außen erwarten ließ. Die Wände ringsherum waren bis zur Decke hoch holzvertäfelt. Ein helles Holz, das den Raum warm und freundlich gestaltete. Der Boden bestand aus blassgelbem Marmor mit unaufdringlichen Verzierungen, die keinem klaren Muster folgten. Voraus schmiegte sich eine gleichbeschaffene Treppe an die Wand und führte in die obere Etage. Rechts und links zweigten großzügige Korridore ab. Unter der Decke leuchtete ein bescheidener Lüster.
„Beeindruckend“, ließ sich Juliana nun doch vernehmen und hielt inne. Mit weiterem Schweigen hätte sie den Falkensteiner womöglich brüskiert.
Valentin Falkenstein fand zu dem dezenten Lächeln zurück, das er vorhin verloren hatte. „Beeindruckend ist vor allem der Aufwand, den alten Kasten instand zu halten. Kaum ist man mit der einen Sache fertig, fällt die nächste an. Und es hört nicht auf. Es gibt immer etwas zu reparieren oder zu renovieren. Zum Glück weiß ich ein paar gute Handwerker oben im Dorf.“
„Wie alt ist das Gebäude denn?“
„Dieser Trakt hier etwa zweihundertfünfzig Jahre“, antwortete Valentin Falkenstein. „Meine Vorfahren haben ihn gebaut, nachdem sie den Grund erworben hatten. Der heutige Westflügel hat damals schon gestanden und ist integriert worden.“
Damit war das linksseitige Wirtschaftshaus gemeint. Juliana spähte in den Korridor, der sich aber schon nach wenigen Schritten in Schatten verlor. Es schien ihr ein günstiger Moment, eine ihrer drängenden Fragen zu servieren, die sich an dieser Stelle geradezu aufdrängte: „Wie viele Menschen leben denn auf diesem Anwesen?“
„Drei“, antwortete Valentin Falkenstein nach kurzem Zögern. „Neben meiner Schwester und mir noch unsere Haushälterin Rosa.“
Juliana versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie seltsam sie das fand. Ein so riesiges Gutshaus, das lediglich von einem Geschwisterpaar und einer Haushälterin bewohnt wurde? Mit einem schaurigen Frösteln fühlte sie sich an Edgar Allan Poes Gruselmär Der Fall des Hauses Usher erinnert.
„Hier können Sie Ihre Jacke aufhängen“, meinte Valentin Falkenstein und verwies zu einer Garderobe, die neben einem prächtigen ockerfarbenen Steinofen an der rechten Wandseite beinahe unterging. Davor lag ein dunkelbrauner Rollteppich.
Juliana stellte ihr Gepäck ab und tat wie ihr empfohlen. „Was ist mit den Schuhen?“, fragte sie.
„Behalten Sie sie erst mal an“, sagte Falkenstein. „Nachher besorgen wir Ihnen bequeme Hausschuhe.“
Alte Gemäuer verströmten oft eigenwillige Duftnoten. Morsches Holz, Moder und vor Jahrzehnten eingetrocknetes Petroleum. Hier bemerkte Juliana nichts davon. Zweifellos war die Eingangshalle irgendwann gründlich entkernt und saniert worden. Nur das Kreuzgratgewölbe über dem Kronleuchter dürfte noch aus der Gründerzeit des Anwesens stammen.
Auf eine Geste hin folgte Juliana dem Hausherrn die Treppe hoch ins Obergeschoss. Sie gelangten in einen schummrigen Flur, der anscheinend das gesamte Mittelhaus durchmaß. Falkenstein machte Licht. Hier offenbarte sich schon deutlicher, dass das Haus viele Jahre auf dem Buckel hatte. Zwar war der Flur geräumig, doch hing die Decke so tief, dass man die Rundleuchten lieber in die Wände eingearbeitet hatte. Der Boden bestand aus antiken Holzdielen. Türen waren an zwei Händen abzuzählen.
„Im Dorf oben sind mir Stromleitungen aufgefallen“, sagte Juliana. „Wie ist es hier? Erzeugen Sie Ihren Strom selbst?“
„Wir haben einen Generator, aber nur für Notfälle“, antwortete Falkenstein und lotste sie in Richtung Wohnhaus. „Von Norden her führt eine Leitung vom Tal herauf. Mein Großvater hat sich dafür eingesetzt, dass wir sie bekommen.“
„Ihr Großvater“, wiederholte Juliana, scheute sich aber nachzuhaken, ob der vielleicht Constantin hieß. Es brauchte eine subtilere Herangehensweise, um an ihre gewünschten Informationen zu kommen. „Das muss demnach schon eine Weile her sein“, sagte sie.
„Es war vor meiner Zeit“, bestätigte Falkenstein knapp.
Juliana juckte es, weiterzubohren, doch sie mahnte sich zur Geduld. Zu viel Neugier war verdächtig, und dann würde der junge Falkensteiner womöglich schnell durchschauen, dass sie nicht die war, die sie vorgab zu sein.
Der Flur mündete an einer breiten Flügeltür aus dunklem Holz. Der Übertritt ins Wohnhaus, folgerte Juliana. Valentin Falkenstein trat hindurch und hielt ihr zuvorkommend einen Flügel auf.
„Danke“, sagte sie und schenkte ihm ein, wie sie hoffte, gewinnendes Lächeln, als sie ihn passierte.
„Ist mir ein Vergnügen“, entgegnete er mit einem gewogenen Nicken. „Ich halte es für angebracht, jetzt zum Du überzugehen. Unsere Gäste müssen wir schließlich davon überzeugen, dass wir uns schon lange kennen. Also nenn mich Valentin.“
„Ach ja, ich soll ein Familienmitglied spielen, nicht wahr?“
„So ungefähr“, sagte Valentin und nahm wieder Schritt auf. „Wir besprechen die Einzelheiten nachher, wenn meine Schwester dabei ist.“
Das Wohnhaus machte seiner Bezeichnung durchaus Ehre, wie Juliana befand. Kein niedriger Flur wie im Mittelhaus, sondern ein großzügiges Vestibül nahm sie in Empfang. Sie befanden sich hier direkt unter dem Giebel, wo ein raumhohes Fenster eine Menge Tageslicht hereinließ.
„Das ist die Nordseite“, erläuterte Valentin zum Fenster gestikulierend. „Die Sonne verirrt sich hier nicht herein. Aber die Aussicht ist was wert.“
Dem konnte Juliana nicht widersprechen. Zwar stachen auch an der Rückseite des Anwesens turmhohe Nadelhölzer empor, doch hier gewährte eine breite Schneise eine weite Sicht ins dahinter liegende Tal. Juliana entdeckte die erwähnte Stromleitung, die nahe des Felslaufs zur Rechten heraufführte. Ganz an die Glasscheibe herangerückt, sah sie auch den Pferdestall, den sie bislang nur vermutet hatte, einen flachen Anbau an der Rückseite des Wirtschaftshauses. Auch unmittelbar unter ihr fand sich ein Anbau. Vielleicht Garagen.
„Die Garage“, bestätigte Valentin, der neben sie getreten war. „Dort sollten wir nachher deinen Wagen unterbringen. Und wir müssen die Kennzeichen austauschen. Ich erledige das, wenn du nichts dagegen hast. Unsere Gäste würden sich sonst fragen, wieso ein Wagen aus Bukarest bei uns untersteht.“
Juliana widersprach nicht, wenngleich ihr die Angelegenheit zunehmend mysteriöser vorkam.
„Gibt es noch einen zweiten Weg hierher?“, fragte sie, während sich ihr Blick in der Ferne verlor.
„Nicht mit einem Wagen“, antwortete Valentin. „Aber zu Fuß oder auf einem Pferd hättest du eine Chance.“
„Wie viele Pferde habt ihr?“
Valentin entbehrte ihr ein Lächeln. „Fragst du, um deine Fluchtmöglichkeiten auszuloten? Elf sind es dieser Tage. Meine Schwester kümmert sich um sie. Es fällt ihr schwer, welche zu verkaufen, aber es kommt hin und wieder vor. Kannst du denn reiten?“
„Leider nein. Was machen Sie eigentlich von Beruf, Herr Falkenstein?“
Valentin schaute sie amüsiert von der Seite an. „Ich bin Forstwirt, könnte man sagen. Aber auch Verwalter. Sowie Leiter aller noch übrigen Familiengeschäfte. Und wollten wir uns nicht Duzen?“
„Natürlich“, entgegnete Juliana und entfernte sich vom Fenster. „Wohin jetzt?“
Valentin geleitete sie durch einen Bogen in einen freundlich gestalteten Flur. Der Boden war wie im Vestibül aus weichem Parkett. Auf einer Kommode stand ein Telefon, was Alexanders Bedenken ein wenig zerstreuen sollte. Juliana schmunzelte beim Gedanken an ihn. Vielleicht sollte sie ihn später spaßeshalber mal anrufen.
„Wo lernt man das alles?“, fragte sie. „Forstwirt zu sein, meine ich. Und dazu noch Verwalter und Leiter aller noch übrigen Familiengeschäfte.“
„Nur im Leben“, antwortete Valentin schmunzelnd. „Buchhaltung habe ich in Hermannstadt, Sibiu, erlernt. Mein Vater hat mich als Kind außerdem zu sämtlichen Handwerkern im Dorf oben zum Arbeiten geschickt.“
Ein paar Türen entlang des Flurs standen offen, und Juliana entdeckte ein gemütliches Wohnzimmer und ein weniger geräumiges Arbeitszimmer mit einem Bücherregal und gewaltigen Aktenschränken. In einem deutlich kleineren Zimmer stand neben einem Schemel eine einsame Harfe vor dem einzigen Fenster.
„Spielst du?“, fragte Juliana, was Valentin lakonisch verneinte und weiterging.
Sie folgte ihm bis zur letzten Tür des Flurs. Er wirkte etwas gehetzt, als er sie öffnete. „Hier sind wir.“
Juliana trat ein und fand sich in einem wohnlichen Schlafzimmer wieder. Eins mit Doppelbett, Nachttischen zu beiden Seiten, einer Kommode mit Spiegel und einem umfangreichen Kleiderschrank. So weit, so schön, doch dieses Zimmer war offensichtlich belegt. Auf der Kommode lag eine gefaltete Bluse bereit, daneben stand ein offenes Schmuckkästchen mit einer überschaubaren Auswahl an Kettchen und Ohrringen. Am Schrank hing eine waldfarbene Ansitzhose und unter dem Bett standen Pantoffeln.
„Das ist das Schlafzimmer meiner Schwester“, erklärte Valentin an der Tür.
Juliana drehte sich rätselnd zu ihm herum. „Nett. Und warum zeigst du mir das?“
„Nun, du wirst hier übernachten“, gab ihr Valentin mit einer amüsanten Schnute zu verstehen. „Wenn es sein muss, stellen wir ein zusätzliches Bett rein, aber du musst hier drin schlafen.“
Juliana musterte ihn eindringlich. „Nichts für ungut, Valentin, aber irgendwie hätte ich schon erwartet, dass in diesem riesigen Gebäude irgendwo ein freies Zimmer zu finden ist.“
„Freie Zimmer sind nicht Punkt“, sagte Valentin verhalten. „Stell deine Sachen erst mal ab und mach dich frisch. Danach reden wir über alles.“
Nicht weit vom Schlafzimmer gab es ein Badezimmer, doch das blieb Juliana verwehrt.
„Das wird gerade renoviert“, erläuterte Valentin. „Das nächste ist nicht weit. Komm, ich zeige es dir.“
„Wie viele Bäder gibt es hier denn?“
„Drei. Das des Gesindes im Souterrain nicht mitgezählt. Und außerdem zwei Gästetoiletten im Parterre.“
Das nächste Bad befand sich im Mittelhaus. Es war rudimentär eingerichtet, Dusche, Badewanne, Waschbecken und WC, eingefasst in weichgelbe Fliesen. Juliana machte sich frisch, während Valentin ihren Wagen in die Garage fahren und die Nummernschilder abschrauben wollte. Ein durchaus sympathischer aber auch seltsamer Vogel, dieser Valentin Falkenstein. Es fiel Juliana schwer, ihn einzuordnen. Der überhebliche Snob, den sie erwartet hatte, war er definitiv nicht. Nein, vielmehr wirkte er recht bodenständig. Ein Forstwirt mit einer Pferdezucht am Hof. Attraktiv war er obendrein. Noch dazu eine Art Aristokrat. In Bukarest läge ihm die Damenwelt zu Füßen. Doch er lebte hier draußen allein mit seiner Schwester und einer Haushälterin.
Juliana war schon gespannt, was es mit dieser Schwester auf sich hatte und warum in aller Welt sie in deren Zimmer übernachten sollte. Es war schon kurios genug, dass jemand eine Schauspielerin engagierte, die so tun sollte, als wäre sie ein weiteres Familienmitglied. Zwischenzeitlich war die Angelegenheit noch eine ganze Ecke kurioser geworden. Nun, eine Schauspielerin war sie zwar nicht, aber auch als Journalistin hatte sie schon einige Male schauspielern müssen. Juliana war sich sicher, ihrer Rolle gerecht zu werden. Und während sie das tat, würde sie in der Vergangenheit dieser Dynastie wühlen. Vielleicht könnte sie damit wenigstens eines der vielen Verbrechen entkräften, die ihrem exekutierten Großvater zur Last gelegt wurden.
Es war der Raum, den Juliana vorhin beim Vorbeigehen als Wohnzimmer klassifiziert hatte. Wie das Vestibül lag es unter dem großen Giebel, nur eben an der Vorderseite des Anwesens.
„Bitte nimm doch Platz“, lud Valentin ein und verwies auf eine Ansammlung von karmesinroten Polstern und Couchfragmenten um einen rustikalen Holztisch. Juliana aber zog es zunächst an die Fensterfront. Anders als im Vestibül gab es hier auch einen Balkon. Sie schaute zum Pflaster hinunter, wo der dunkle Geländewagen nun wieder einsam parkte. Ihr Auto hatte Valentin in die rückwärtige Garage gestellt, wie er sagte. Hinter den eindrucksvollen Bäumen entlang der Zufahrt stiegen die bewaldeten Hänge an. Von der kurvigen Straße war nichts zu sehen. Der zackige Bergkamm hoch zur Rechten badete noch in einem Rest von Sonnenschein.
„Ah, Rosa“, sprach Valentin hinter ihr. „Tee für drei, bitte. Valea wird gleich da sein.“
Juliana drehte sich herum und sah eine zierliche Frau, die gerade erst ins Zimmer geschlichen sein musste. Ihr Haar war so kohlenschwarz wie ihr bis zum Kragen hoch zugeknöpfter Kittel und zu einem strengen Dutt gesteckt. Möglicherweise gefärbt. Juliana wähnte sie weit jenseits der sechzig. Darin lag eine Chance. Falls sie schon länger in diesem Haus Dienst tat, könnte sie sich als eine wichtige Informationsquelle erweisen.
„Möchtest du uns nicht bekannt machen, Valentin?“, brachte sich Juliana ein und trat näher.
„Selbstverständlich, wo bleiben nur meine Manieren“, meinte Valentin schalkhaft. „Rosa, das ist Juliana. Sie wird übers Wochenende unser Gast sein und uns zur Seite stehen.“
So? Werde ich das?, fragte sich Juliana im Stillen, sagte aber nichts.
„Und das ist Rosa, die treue Seele, die dieses Haus seit langer Zeit zusammenhält.“
Seit langer Zeit also schon. Bestens, dachte Juliana.
„Freut mich sehr, Rosa.“
Die Haushälterin musterte sie mit einem durchdringenden Blick und nickte distinguiert. Dann wandte sie sich ab und schwebte grazil davon, um den gewünschten Tee aufzutragen.
„Sie redet wohl nicht so viel, wie?“
Valentin schmunzelte. „Du hast recht, sie spricht nicht mehr, als unbedingt nötig ist.“
Erst jetzt nahm Juliana den Raum ganzheitlich in Augenschein. Neben der Fensterfront war vor allem der offene Kamin aus dunkelgrünen Kacheln ein Hingucker. Im Moment brannte kein Feuer, unnötig im Sommer, doch in einem Tragekorb lagen Scheite und Anschürholz bereit. Ein massivhölzerner Wohnzimmerschrank mit Glastüren präsentierte Zierschmuck und Bücher. An der anderen Wandseite stand ein Sideboard mit einem Flachbildfernseher, flankiert von einem antiken Sekretär und einer leise tickenden Standuhr. An den freien Wänden hingen Landschaftsbilder. Der Boden bestand wie der Flur und das Vestibül aus Parkett. Vermutlich tat das die gesamte Etage des Wohnhauses. Äußerst wohnlich, wie Juliana befand, und mindestens dreimal so groß wie das Wohnzimmer, das ihr in ihrer Wohnung in Bukarest zur Verfügung stand.
„Hier kann man es aushalten“, merkte sie an, um die Stille zu durchbrechen. Dann sah sie etwas, das nicht ganz passen wollte: einen leeren Aschenbecher auf dem Tisch. Sie hatte bislang nirgendwo im Haus Zigarettenrauch gerochen, weder frischen noch abgestandenen. „Rauchen Sie oder Ihre Schwester?“
„Weder noch“, antwortete Valentin, wobei er den Blick abwandte, als wäre ihm das Thema unangenehm. „Der steht hier nur zur Dekoration.“
„Ach so.“
Juliana war bereit, das hinzunehmen, wenngleich sie sich auf einem Wohnzimmertisch eine schönere Zierde als einen ungenutzten Aschenbecher vorstellen konnte. Er war aus schwarzer Keramik, wie es schien, und hatte durchaus eine gewisse Ästhetik. Doch wenn er nicht gebraucht wurde, empfand ihn Juliana hier ziemlich deplatziert. Der Kaminsims über der Feuerstelle würde es für ihn auch tun.
Valentin lud sie noch einmal ein, Platz zu nehmen, und dieses Mal leistete sie Folge. Der weich gepolsterte Sessel schien sich regelrecht an sie zu schmiegen und schürte Lust, hier mal einen gemütlichen Lese- oder Fernsehabend zu verbringen.
„Ich soll dir und deiner Schwester also übers Wochenende zur Seite stehen“, sagte Juliana und rezitierte damit Valentins Worte zu seiner Haushälterin. „Darf ich jetzt endlich erfahren, worum es genau geht? Wen soll ich verkörpern? Und warum willst du mich bei deiner Schwester einquartieren? Muss das denn sein?“
Valentin musterte sie ein paar Augenblicke lang, dann nahm er ihr gegenüber Platz und faltete betulich die Hände auf seinem Schoß. „Hast du den Grund noch nicht erraten?“, fragte er, dieses Mal ohne jedwedes Lächeln auf den Lippen. „Du sollst Valeas Geliebte verkörpern. Deshalb schläfst du bei ihr im Zimmer. Das Angebot steht, ich kann euch eine zusätzliche Liege reinstellen, aber ich würde es lieber lassen. Unsere Gäste sind sehr neugierig. Nicht ausgeschlossen, dass sie auch in unseren Schlafzimmern herumschnüffeln. Wenn sie dann die Liege sehen, wäre das … nun ja, äußerst kontraproduktiv.“
Juliana verstand immer weniger. „Ihr ladet Gäste ein, die in euren Schlafzimmern herumschnüffeln?“
Nun fand Valentin zu einem Schmunzeln zurück. „Die liebe Verwandtschaft. Wir haben sie eine Weile nicht mehr gesehen, und es gibt eine Menge zu bereden.“
„Und weshalb braucht deine Schwester eine Geliebte?“
Wie aufs Stichwort betrat die Angesprochene in diesem Augenblick das Zimmer. Anstelle von Weste, Arbeitshose und Stiefeln trug sie nun Bluse, Jeans und Hausschuhe. Das lange Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Gemessen stolzierte sie näher und hatte Juliana bereits ins Auge gefasst. Ein geradezu bohrender Blick aus dunkelgrauen Augen. „Das ist sie also“, waren ihre einleitenden Worte. Eine Stimme so grabeskalt, dass Juliana beinahe fröstelte.
Dazu fügte sich auch der Gesichtsausdruck. Sie war eine hübsche Frau, wahrscheinlich jünger als Valentin, aber die abweisende Mimik verpasste ihr die Aura einer bedrohlichen Gewitterwolke.
„Valea, das ist Juliana“, sagte Valentin. Er erhob sich nicht, deshalb blieb auch Juliana sitzen. Des Weiteren bezweifelte sie, dass Valea Wert darauf legte, ihre Hand zu schütteln. „Juliana, das ist meine Schwester Valea. Deine Geliebte. Ihr seid schon seit Jahren zusammen. Und ihr seid sehr glücklich.“
„Wie könnte es auch anders sein“, rang sich Juliana mit einem gezwungenen Lächeln ab.
Valea sagte nichts und nahm auf der Couch Platz. Ihre Blicke waren nicht giftig, aber auch alles andere als herzlich. Es hätte kaum offensichtlicher sein können, dass sie mit dem Arrangement nicht zufrieden war. Juliana bezweifelte, dass das allein an ihr lag. Aber schon möglich, dass sie der hochwohlgeborenen Dame einfach nicht Sexbombe genug war.
„Wie viel hast du ihr gesagt?“
Die Frage galt ihrem Bruder, aber ihre Augen blieben bei Juliana.
Juliana ließ Valentin nicht zu Wort kommen. „So gut wie gar nichts hat er mir gesagt“, stellte sie klar. „Und wenn ihr zwei wollt, dass ich eine überzeugende Performance für eure Gäste abliefere, wird es nun allmählich Zeit, mir zu erklären, was hier vorgeht und was in aller Welt an diesem Wochenende passieren soll.“
„Dein Job ist simpel erklärt“, sagte Valentin. „Du musst unsere Gäste davon überzeugen, dass du meine Schwester liebst und sehr glücklich mit ihr bist.“
„Na, das fällt mir bestimmt leicht“, erwiderte Juliana spitz und warf der Gewitterwolke einen kurzen Seitenblick zu. Die musterte sie unverwandt kühl. „Aber es genügt mir nicht. Was soll das Theater? Erklärt es mir. Ich verstehe es nicht.“
„Das musst du auch gar nicht“, entgegnete Valentin im sachlich geschäftigen Tonfall eines Dozenten. „Du brauchst dich mit unseren Gästen nicht über Gebühr abzugeben. Es genügt vollauf, wenn du deiner Rolle als Valeas Geliebte gerecht wirst. Denkt euch eine lustige Kennenlerngeschichte aus, die ihr erzählen könnt, wenn ihr gefragt werdet.“
„Eine lustige Kennenlerngeschichte“, wiederholte Juliana und fragte sich allmählich, ob sie hier auf den Arm genommen wurde. Sie blickte zu Valea. Kurioserweise vermittelte sie einen ähnlichen Eindruck.
Rosa kam herein und servierte auf einem Tablett das Teegeschirr mit einer dampfenden Kanne.
„Die Zimmer sind alle hergerichtet“, verkündete sie mit stoischer Miene und gleichtöniger Stimme. „Ich mache mich jetzt ans Abendessen.“
„Danke, Rosa“, sagte Valentin und schwieg, bis die Haushälterin schattengleich wieder aus dem Raum geschwebt war.
„Du bist Schauspielerin“, fuhr er eindringlich an Juliana gewandt fort. „Also improvisiere, wenn nötig. Du hast darin freie Hand. Sprecht euch ab, ihr beiden. Du musst mir nur gewährleisten, dass dir unsere Gäste deine Rolle abnehmen. Es dürfen keine Zweifel aufkommen.“
„Und warum nicht?“, hielt Juliana dagegen.
„Weil du sonst kein Honorar bekommst.“
„So habe ich das nicht gemeint.“
„Ich weiß.“ Valentin wirkte nun ungewohnt streng und unnahbar. „Aber ich meine es so. Das ist deine Rolle. Es hängt eine Menge von ihr ab. Bist du dieser Aufgabe gewachsen?“
Juliana versuchte, in ihn hineinzusehen. Hinter die Fassade dieser sanften Augen zu blicken. Doch es gelang ihr nicht. Da war etwas, das sie zurückstieß.
„Ich denke, ich kann das“, antwortete sie.
„Gut.“ Valentin nahm seine Teetasse samt Untersetzer auf und erhob sich. „Dann lasse ich euch jetzt allein, damit ihr euch kennenlernen könnt.“
Mit einem vornehmen aber durchaus spöttisch zu verstehenden Nicken zog er sich zurück und ließ Juliana frustriert zurück. Wenigstens war sie nicht die einzige Frustrierte im Raum. Valea knetete sich mit geschlossenen Augen die Stirn.
„Deine Begeisterung ist wirklich kaum auszuhalten“, versuchte Juliana das Eis zu brechen.
Valea sah sie wieder an, mit Augen, die sofort neues Eis gefrieren ließen. „Das hier war nicht meine Idee“, stellte sie klar.
Juliana nickte gewogen. „Das ist nicht zu übersehen. Aber anscheinend müssen wir uns damit abfinden.“
„Mein Bruder ist ein Idiot, wenn er glaubt, dass die anderen dieses Schmierenstück nicht durchschauen würden.“
„Dann müssen wir uns eben anstrengen“, sagte Juliana, sprang aus ihrem Sessel auf und rückte zu Valea auf die Couch. Damit schien sie sie ein Stück weit überrumpelt zu haben. Juliana nutzte die Gelegenheit für einen weiteren Einfall auf unbekanntes Terrain: „Nun denn, möchtest du mir vielleicht erklären, was das alles soll und was dein Bruder damit bezwecken will? Wen müssen wir täuschen? Und weshalb?“
„Unsere Verwandten“, antwortete Valea nach kurzem Zögern. „Die Gründe gehen dich nichts an.“
„Mag sein, aber wenn ich sie nicht kenne, schätze ich vielleicht die Situation falsch ein. Das könnte alles zunichtemachen. Und, verdammt noch mal, ich muss doch verstehen, was hier vorgeht, um reagieren zu können. Ohne Hintergrundwissen wer –“
„Du brauchst nicht zu reagieren“, schnitt Valea sie ab. „Du sollst dich als meine Geliebte verkaufen, sonst nichts.“
„Na gut“, sagte Juliana, hob die Hand an Valeas Hals und küsste sie.
Valea stieß sie wuchtig zurück. „Bist du verrückt?“, zischte sie. Ihr Ausbruch hatte Juliana beinahe von der Couch befördert.
„Geliebte machen das so“, wies sie sie hin. „Willst du etwa, dass wir nur treuherzig Händchenhalten, sobald eure Verwandten da sind?“
Vorher war es Eis, nun schoss Valea feurige Blicke auf sie ab. „Du wirst das nie wieder tun.“
Juliana fand zu ihrer Haltung zurück. „Findest du mich denn so unattraktiv?“
„Ich küsse keine Frauen.“
„Also nicht gerade der zärtliche Typ, wie?“, entgegnete Juliana provokant. Erst dann ging ihr allmählich ein Licht auf. „Moment mal. Willst du damit andeuten, dass du gar nicht auf Frauen stehst?“
„Exakt das“, erwiderte Valea.
Nun verstand Juliana gar nichts mehr. „Und warum sollen das eure Verwandten glauben?“
Valeas Blicke schienen sie regelrecht aufzuspießen. „Weil –“ Doch sie unterbrach sich und verstummte.
„Ich bin ganz Ohr“, sagte Juliana.
Endlich wandte Valea ihren malträtierenden Blick ab. Sie presste die Lippen zusammen und atmete zügig durch. „Mein Bruder glaubt, mich damit zu beschützen“, gab sie zur Antwort.
Juliana runzelte die Stirn. Diese Angelegenheit wurde immer verfahrener. Aber auch interessanter. „Ich wage nicht zu hoffen, dass du mir das näher erklärst.“
Valea sah sie wieder an. „Hat er dir ein paar Antworten vorgegeben, falls gewisse Fragen fallen?“
Juliana schüttelte den Kopf. „Nein. Du hast ihn doch gehört. Ich soll improvisieren. Und wir beide sollen uns eine Geschichte ausdenken.“
Valeas Ausdruck blieb finster. „Unsere Geschichte interessiert niemanden. Das Haus interessiert sie. Was weißt du darüber?“
„Nun ja, es ist hübsch und wohnlich, und es hat einen Turm“, erwiderte Juliana ungehalten. Im Stillen aber war sie äußerst dankbar, wie sich die Lage entwickelte, denn hier wurde ihr ein wunderbarer Vorwand serviert, Fragen über die Vergangenheit der Falkensteins zu stellen.