1.
London 2019
Staunend sah Emma sich im Vorraum des Londoner Restaurants um, in das David sie eingeladen hatte. Sie hatte gewusst, dass er reich war. Aber dass er sich dieses Restaurant leisten konnte, hatte sie nicht geahnt. Überall brach sich das dezente Licht in glitzernden Kronleuchtern und den goldenen Kanten der Tische und Stühle. Der dicke Teppich im Vorraum verschluckte ihre Schritte.
Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild. In dem mit Blattgold geschmückten Rahmen kam ihr das dezente schwarze Abendkleid, das zu Hause in ihrer kleinen Wohnung noch so overdressed gewirkt hatte, zu schlicht vor, ihre roten Haare, auf die sie sonst so stolz war, zu grell. Aber ehe sie darüber ins Grübeln geraten konnte, kam ein Kellner in Livree diensteifrig auf sie zugeeilt, um ihr aus dem Mantel zu helfen.
„Danke“, sagte Emma geistesabwesend. Ihr Blick war von der fremden Umgebung immer noch gefangen.
„Die Dame hat eine Reservierung?“, fragte der Kellner.
„Oh … ja … nein, ich meine, mein äh … Mister Jackson hat für uns einen Tisch reserviert.“
„Mister Jackson wartet bereits auf Sie. Wenn ich Sie hinführen darf?“ Fragend sah der Kellner sie an.
„Ja. Ja, natürlich. Gerne“, beeilte Emma sich zu antworten.
Mit einem knappen Neigen des Kopfes wandte der Kellner sich um und ging voraus. Emma folgte ihm, während ihr Blick durch den riesigen Raum mit den kostbaren Tischen und Stühlen irrte. Das waren wundervolle Kopien von Louis Seize Möbeln. Ganz sicher waren sie nicht echt, denn dann wären sie ein Vermögen wert gewesen.
Vor einer Fensternische, von der aus man einen Blick auf den selbst im Dunkeln noch im Frühlingsgrün leuchtenden Garten mit Rabatten, Pergolen und Statuen hatte, blieb er vor einem Tisch für zwei stehen.
„Mister Jackson, Ihr Gast“, sagte der Kellner.
David war aufgestanden und griff nach Emmas Hand. Zu ihrem Erstaunen hob er sie an seine Lippen und drückte einen Kuss darauf.
„Setz dich doch, meine Liebe“, sagte er und rückte ihr einen Stuhl zurecht.
Überwältigt von der Fülle der fremden Eindrücke ließ Emma sich auf dem zierlichen Stuhl nieder. Gewohnheitsmäßig erkundeten ihre Finger das Samtpolster und die Schnitzereien der Stuhlkante. War er etwa doch echt?
„Darf ich den Herrschaften etwas zu trinken bringen?“, fragte der Kellner.
„Eine Flasche Champagner bitte und zwei Gläser.“
„Darf ich den Dom Pérignon empfehlen?“
„Selbstverständlich“, erwiderte David, während er sich gegenüber von Emma niederließ.
Immer noch ließ sie ihren Blick über die Einrichtung und die kunstvollen Stuckarbeiten an Decke und Wänden wandern. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an all diesen Kostbarkeiten. Selbstvergessen strich sie über die Tischkante, erkundete die Schnitzereien und kratzte leicht mit dem Fingernagel am Gold. War das etwa Blattgold? Die Schnitzerei jedenfalls war dem Louis Seize Stil perfekt nachempfunden. So perfekt, dass sie fast glaubte …
„Gefällt es dir?“, fragte David. Ein breites Lächeln lag auf seinem Gesicht.
Verwirrt richtete Emma den Blick auf ihn. „Es ist atemberaubend“, erwiderte sie.
„Du bist atemberaubend.“ Seine dunklen Augen strahlten in einem warmen Glanz.
Emma schluckte. „Ist das echt?“
„Die Einrichtung?“
Sie konnte nur nicken, so überwältigt war sie.
„Zumindest ein Teil. Ich weiß, dass der große Kronleuchter dort vorn eine echte Antiquität ist, ebenso ein Teil der Tische und Stühle. Der Rest sind sehr gute Kopien. Ich habe natürlich darauf bestanden, an einem der echten Stücke zu sitzen.“
Schuldbewusst zog Emma die Hand zurück. Und sie hatte am Blattgold gekratzt!
„Ich wusste, dass es dir gefallen würde. Aber ich habe noch eine Überraschung für dich. Christy‘s sucht eine Historikerin.“
Christy‘s war das renommierteste und älteste Antiquitätengeschäft Londons. Dort arbeiten zu dürfen, käme einem Sechser im Lotto gleich. Zumal sie frisch vom Studium kam. Emmas Kehle wurde trocken.
„Ich habe ihnen von dir erzählt und sie würden sich freuen, dich kennenzulernen. Allerdings würde die Stelle viele Reisen in fremde Länder beinhalten, da sie hauptsächlich die Expertise und Akquise neuer Stücke zum Inhalt hat.“
Kein Sechser im Lotto. Sie hatte sogar noch die richtige Zusatzzahl gezogen. Das war ein Traum. Das musste ein Traum sein.
„Und? Was sagst du?“, fragte David.
Edinburgh 1745
Kalter Regen schlug Sarah ins Gesicht. Fröstelnd zog sie ihr Schoßjäckchen enger um ihren Leib, während sie mit müden Beinen durch die dunklen, engen Gassen Edinburghs hastete. Das Jäckchen war zu dünn, um sie in der frühen Jahreszeit zu wärmen. Ihr Rocksaum hatte sich in den Pfützen, die sich auf Edinburghs Pflaster gebildet hatten, vollgesogen und klatschte bei jedem ihrer schnellen Schritte gegen ihre Knöchel. Auch ihre ledernen Schuhe waren völlig durchnässt, ihre Füße derweil so kalt, dass sie sie kaum noch spürte.
Ihr Blick richtete sich auf die große und breite Silhouette des älteren Bruders, der vorausstürmte wie ein wütender Stier.
„Wo willst du denn hin?“, fragte Sarah keuchend. Sie hatte Mühe, mit den langen Schritten ihres Bruders mitzuhalten. Zudem war sie erschöpft, nachdem sie den ganzen Tag neben dem Wagen des Händlers hergelaufen war, den sie um Lohn nach Edinburgh begleitet hatten.
„Zum Gericht. Mich beschweren.“
„Aber …“
„Dieser Hundsfott schuldet uns noch Geld. Glaub nicht, dass ich das so einfach hinnehme.“
Mit dem Hundsfott meinte er wohl den Händler, mit dem sie nach Edinburgh gekommen waren.
„Aber …“
„Aber was?“, fragte Samuel und fuhr zu ihr herum. In seinen dunklen Augen glitzerte dieser unbeherrschte Zorn, der ihn so unberechenbar machte. „Glaubst du etwa, ich lasse das einfach auf sich beruhen? Bin ich etwa schuld, dass dem Mistkerl die Fässer abgesoffen sind? Ich habe ihm gleich gesagt, er soll die Brücke nehmen und nicht die Furt. Aber nein, der Hundsfott wollte ja nicht auf mich hören und lieber den kürzeren Weg nehmen, damit er sich einen Tag Lohn sparen kann.“
„Aber … aber das meine ich doch nicht! Natürlich hast du recht! Es ist nur …“
„Was?“, knirschte Samuel und kam drohend und mit geballten Fäusten einen Schritt auf sie zu, so dass sie unwillkürlich zurückwich, bis die kalte, nasse Mauer eines Gebäudes sich in ihren Rücken drückte. Samuels Atem wehte als weiße Wolke in ihr Gesicht.
Sarahs Knie zitterten vor Müdigkeit und Angst. Sie kannte Samuel gut genug, um zu wissen, dass er sich in einem Zustand befand, in dem er logischen Argumenten nicht mehr zugänglich war. Der Händler hatte mit ihm abgesprochen, dass er ihm den Lohn anteilmäßig kürzen würde, wenn seine Ware Edinburgh nicht in Gänze erreichte. Und Samuel war so undiplomatisch vorgegangen, als der Händler die Furt anstelle der Brücke nehmen wollte, dass der Händler gar nicht anders konnte, als ihrem Bruder zu widersprechen.
„Ach, Sammy! Es ist schon so spät und ich bin so müde“, wisperte Sarah. „Bestimmt sind die Gerichtsdiener schon alle nach Hause gegangen. Können wir uns nicht eine Unterkunft suchen und morgen zum Gericht gehen?“
Die Anspannung aus Samuels Körper wich ein wenig. „Und womit? Glaubst du etwa, mit den paar Pennys, die dieser Hundsfott uns gegönnt hat, können wir eine Unterkunft bezahlen?“
„Wir könnten doch unsere Dienste anbieten, im Tausch für ein trockenes, warmes Plätzchen. Mir ist so kalt, Sammy!“ Das Zittern musste Sarah nicht vortäuschen, denn sie fror wirklich erbärmlich.
Der gefährliche Glanz in Samuels Augen erlosch. Er streckte die eben noch zur Faust geballte große, schwere Hand aus und strich sacht über ihre Wange.
„Warum sagst du denn nichts?“
Sarah rang sich ein Lächeln ab. „Ich wollte dich nicht aufhalten, Sammy.“
Zärtlich fasste Samuel nach Sarahs Haube, richtete sie gerade und strich mit rauen Fingern ein paar nasse, rote Strähnen darunter, die hervorgequollen waren.
„Sag doch was, du dumme Gans!“ Mit einem Schnauben legte er ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. „Wenn dir kalt ist, suchen wir natürlich ein warmes Plätzchen für dich.“
London 2019
Die cremige, bittere Süße der Schokoladenmousse füllte noch Emmas Mund. Der Kellner räumte ihren Teller ab, ehe sie die letzten Reste abkratzen konnte. Aber vielleicht war das gut so, denn sicherlich schickte es sich nicht, in diesem Nobelschuppen den Löffel abzulecken, um sich auch ja kein Fitzelchen der Creme entgehen zu lassen. So verführerisch der Gedanke auch war.
David räusperte sich. „Du hast Schokolade am Mund.“
„Oh!“ Schuldbewusst griff Emma nach der Serviette, um sich die Lippen abzuwischen. Ein Kichern entschlüpfte ihr, als sie die Spuren auf dem glänzenden Stoff entdeckte. Ihre Großmutter hatte sie gerne damit geneckt, dass sie es nicht schaffte, Schokolade zu essen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Herrjeh! Sie war beschwipst. Hoffentlich nicht so sehr, dass man es ihr anmerkte.
Neben ihr gluckerte es, als der Kellner eine Champagnerschale füllte.
„Nein danke“, versuchte sie abzuwehren.
Aber der Kellner füllte unbeirrt ein frisches Glas aus einer neuen Flasche und stellte es vor ihr auf den Tisch. David hatte er bereits versorgt. Dezent zog er sich zurück. Erst jetzt entdeckte Emma, dass er auch die Kerzen ausgetauscht hatte. Als wollte er den Tisch für einen weiteren Gang vorbereiten. Seltsam. Dabei hatte er doch gerade das Dessert abgetragen.
David hob das Glas. In den feinen Perlen des Champagners brach sich das Kerzenlicht. Der Blick von Davids braunen Augen wurde intensiv. Er räusperte sich.
„Emma“, begann er. „Es gibt noch etwas Wichtiges, was ich dich fragen möchte. Aber zuvor lass uns auf diesen Abend anstoßen.“
Obwohl der Raum bereits bedenklich schwankte, griff Emma nach ihrem Glas. Es wäre unhöflich gewesen, darauf nicht einzugehen. Zudem genoss sie den leichten Nebel, der sie umhüllte und das Funkeln der Lichter zu verstärken schien.
„Auf diesen Abend“, sagte Emma. „Und auf Christy‘s.“
Davids Blick schien sich in ihren hineinbrennen zu wollen, als sie das Glas an ihre Lippen hob. Das sanfte Prickeln des Champagners füllte ihren Mund, verscheuchte die bittere Süße der Schokoladenmousse. Im Glas klimperte es leise.
Verdutzt setzte Emma es ab und sah hinein. Es konnte doch nicht sein, dass in diesem piekfeinen Laden etwas ins Glas gefallen war.
„Willst du meine Frau werden, Emma?“
Im Champagnerglas glitzerte ein schmaler Goldring mit einem Brillanten. Feine Perlen sammelten sich an seiner Oberfläche.
Emma starrte David über das Glas hinweg an.
„Willst du meine Frau werden, Emma?“
Ganz langsam stellte Emma das Glas ab. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie weder sprechen konnte noch einen Schluck hinunterbekam. Wie in Trance tunkte sie die Finger in den perlenden Sekt und fischte den Ring heraus. Glatt und kühl lag er auf ihrer Handfläche.
„David …“
David griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. Ehe sie sich wehren konnte, klaubte er den Ring aus ihrer Handfläche und schob ihn über ihren Ringfinger. Er passte perfekt.
„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll …“
Erst jetzt bemerkte Emma den Kellner, der das Geschehen wenige Schritte hinter ihr beobachtete. Er musste auf Davids Anweisung den Ring in ihrem Glas deponiert haben. Noch immer hielt David ihre Hand fest. Der Diamant am Ring funkelte im Kerzenlicht. Emma wurde heiß.
„Die Stelle … der … der Champagner … dieser ganze Abend … ich … oh bitte, versteh mich nicht falsch, David! Es … es ist alles zu viel. Ich muss das erst verarbeiten. Bitte gib mir etwas Zeit.“
„Natürlich“, sagte David und entließ ihre Hand. „Es war vermessen von mir zu glauben, dass ich gleich eine Antwort erhalte. Verzeih mir meine Unhöflichkeit.“
„So meinte ich es nicht. Es war nicht unhöflich. Es war perfekt. Alles war perfekt.“ Der Widerschein der Kerzen verlor an Glanz. Emma fühlte sich auf einmal schrecklich deplatziert. „Vielleicht bin ich nicht perfekt. Gib mir einfach etwas Zeit, damit ich es begreifen kann.“ Ihre Finger streichelten dabei den Ring, ehe sie ihn vor David auf den Tisch legte.
David bemühte sich um ein Lächeln. „Jede Zeit der Welt, Emma. Denn du bist es wert.“
Edinburgh 1745
Es war heiß und stickig in der Taverne. Der Lärm, der Sarah entgegenschlug, als sie Samuel hineinfolgte, betäubte ihre Ohren. Ein Mann rempelte sie an.
„Was machst du hier, Püppchen?“ Alkoholdunst schlug ihr ins Gesicht.
„Nichts“, beeilte sie sich zu antworten und drängte sich an dem sichtlich Angetrunkenen vorbei.
Sie wagte erst aufzuatmen, als sie Samuel eingeholt hatte. Dieser stierte von seinem Platz vor der Theke ans andere Ende, wo der Wirt gerade mehrere Humpen mit Ale füllte. Das Bier schäumte über, als er sie mit Schwung auf die Theke hievte.
„Keine Frauen“, rief er ihnen zu, während er seine Finger an seiner dreckigen Schürze abwischte.
Sarah zupfte an Samuels Ärmel. „Komm“, flüsterte sie. „Das ist keine gute Idee.“
Sie hätte selbst daran denken sollen, dass Frauen in den Tavernen nicht geduldet wurden. Aber davor hatte sie wegen der Gäste, die aufgrund ihrer Trunkenheit etwas in ihr vermuten konnten, was sie nicht war, auch nicht alleine warten wollen.
„Und wie soll ich ihn dann fragen?“
„Wir können ihn am Hintereingang abpassen. Bestimmt muss er bald ein neues Fass holen.“
Der Wirt füllte schon wieder ein paar Humpen. Aber Sarah konnte die missmutigen Blicke fühlen, die er ihr immer wieder zuwarf.
„Willst du etwa draußen in der Kälte warten?“
„Das ist nicht schlimm. Es hat ja aufgehört zu regnen.“ Hoffentlich bemerkte Samuel nicht, dass sie trotz der stickigen Wärme immer noch zitterte.
Zornig presste Samuel die Lippen aufeinander.
„Nun komm schon. Hier kann er doch gar nicht richtig mit uns reden. Draußen ist es besser.“
Am anderen Ende des Tresens wischte der Wirt die Theke mit einem Lappen ab. Nach einem finsteren Blick in ihre Richtung kam er auf sie zu.
„Samuel!“ Sarah zupfte noch einmal an seinem Ärmel.
In wenigen Schritten würde der Wirt sie erreichen.
„Bitte“, flehte Sarah leise.
Aber Samuel trat einen Schritt vor.
„Ich sagte keine Frauen“, schnauzte der Wirt, während er sich schwer auf die Theke stützte. „Schaff dich fort mit deinem Flittchen! Hier gibt es kein Ale für euch.“
„Wag es nicht, meine Schwester ein Flittchen zu nennen!“
Der Wirt musterte Samuel mit einem Schnauben. „Was zerrst du deine Schwester in eine Kneipe, wenn du nicht willst, dass man sie mit einer Nutte verwechselt?“
Ein Mann, der mit einem Humpen Ale neben ihnen an der Theke stand, lachte. „Wer würde sich denn an diesem dürren Gerippe vergreifen? Da weiß man ja nicht, wo vorne und wo hinten ist.“
Sarah wurde schlagartig heiß und kalt zugleich. „Komm, Samuel! Bitte komm doch!“ Flehentlich zog sie an seinem Ärmel.
Aber Samuel wischte ihre Hand fort wie eine lästige Fliege. „Wir sind ehrbare Leute. Nur weil Dreckskerle wie ihr uns das Haus und das Geld genommen haben, heißt das noch lange nicht, dass ihr etwas Besseres seid.“
„Hört, hört“, sagte der Mann an der Theke und hob seinen Humpen. Schaum klebte an seiner Oberlippe, nachdem er einen tiefen Schluck genommen hatte.
Der Wirt richtete sich auf. „Ich sag es ein letztes Mal im Guten. Verschwindet aus meiner Schänke! Ob das armselige Ding neben dir nun deine Schwester ist oder deine Hure – Frauen haben hier nichts verloren. Entweder ihr geht nun beide oder du schickst sie nach draußen und bestellst dir ein Bier.“
„Samuel …“
Aber der schien sie nicht zu hören. Mit geballten Fäusten baute er sich vor der Theke auf. „Sie ist keine Hure, du Hundsfott. Und sie ist auch nicht armselig. Du …“
„Schafft euch fort, Hurenpack! Sofort! Oder ich rufe die Soldaten.“
„Sammy, bitte …“
Aber Samuels Faust schoss vor und packte den Wirt am Kragen. Die andere schwebte vor dessen Gesicht.
„Bei Gott“, keuchte Samuel. „Entschuldige dich bei ihr oder …“
Einer der Männer, Sarah wusste nicht, war es der Gleiche, der sie dürres Gerippe genannt hatte oder ein anderer, griff nach Samuels Arm. Mit einem Ruck riss dieser sich los.
„Sammy!“
Aber Samuels Faust war schon unterwegs und krachte in das Gesicht des Mannes, der versucht hatte, ihn aufzuhalten.
„Raus! Gesindel! Packt euch“, schrie der Wirt.
Ein zweiter Mann griff ein und packte Samuel von hinten. Der erste drosch ihm mit blutiger Grimasse die Faust in den Magen.
Sarah schluchzte auf. Ihr war, als würde der Schlag ihren Leib treffen. Zitternd taumelte sie rückwärts, prallte gegen einen Körper, während zwei weitere Männer sich dazu gesellten und auf Samuel eindroschen, der mit einem Keuchen auf die Knie sackte.
Eine Hand griff nach ihr. Mit einem Ruck riss sie sich los und floh. Sie hörte Samuel brüllen wie einen verwundeten Stier. Doch Sarah blickte nicht zurück. Blindlings schlüpfte sie zwischen den schweren Leibern hindurch, die ihr den Weg nach draußen versperrten. Erst als sie die kühle Nachtluft auf ihrem Gesicht spürte, wagte sie aufzuatmen.
Ihr war, als würde eine Faust ihr Herz zusammenquetschen, als sie sich zur Schänke umsah. Dann floh sie um die nächste Häuserecke. Wieder einmal.
2.
London 2019
Die Bedienung stellte den Milchkaffee und den rosa Milchshake auf den wackligen Tisch. Ehe Emma sich bedanken konnte, war das Mädchen bereits auf ihren Turnschuhen davongeeilt. In den Jeans und dem gestreiften T-Shirt war sie kaum von den Gästen zu unterscheiden, die das kleine Café am Samstagvormittag füllten.
Ranari zog den Milchshake zu sich heran und stahl die Amarena-Kirsche aus der Sahnehaube. Mit einem Seufzen lehnte sie sich in dem kleinen Bistrostuhl zurück. Ein zu kurzes Bustier in schrillem, leuchtendem Pink mit Glitzerrand und ein Sammelsurium aus bunten Glasperlenketten betonten ihre exotische Herkunft. Ranaris rabenschwarze, lange Haare waren mit bunten Spangen in Blumenform hochgesteckt.
Neben ihr kam sich Emma in Jeans und weißer Bluse hausbacken und altmodisch vor. Daran konnte auch ihre mühsam zurechtgezupfte rote Lockenpracht nichts ändern.
„Also …“, fragte Ranari, „… was ist so wichtig? Und red jetzt nicht um den heißen Brei herum. Mich kannst du nicht täuschen. Dafür kennen wir uns schon zu lange.“
Da hatte ihre Freundin wahrscheinlich recht. Immerhin kannten sie sich bereits seit der höheren Schule und hatten gemeinsam an der gleichen Universität Geschichte studiert – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
„Ich habe es dir doch bereits am Telefon erzählt. Christy‘s hat mir eine Stelle angeboten. Eigentlich ist es genau die Stelle, die ich mir immer gewünscht habe.“
Ferne Länder bereisen, auf Kosten einer reichen Firma wie Christy‘s, und dabei Kunstschätze suchen. Was konnte es Schöneres geben?
„Und weshalb zögerst du dann?“ Ranari löffelte die Sahne von ihrem rosa Milchshake.
Nach einem langen Schluck von ihrem Milchkaffee antwortete Emma: „Wer sagt denn, dass ich zögere?“
Schelmisch drohte Ranari ihr mit dem Löffel. „Erinnerst du dich? Du kannst mich nicht hinters Licht führen. Du wärst nicht hier, wenn es kein Haar in der Suppe gäbe.“
Emma seufzte und sah hinaus auf den Platz, wo erste Blumen in den Rabatten blühten. Das Bild des kleinen Ortes in den Highlands, in dem sie bei der Großmutter aufgewachsen war, legte sich darüber. Dort würden sicherlich noch keine Blumen blühen. Weshalb musste sie immer an dieses Kaff denken, seit …
„Hallo! Ich bin hier. Und wo bist du gerade?“
„In den Highlands.“
Ranari lächelte. „Wolltest du nicht deine Großmutter besuchen?“
„Wollte ich. Aber es kam so viel dazwischen. Das Examen, David.“ Sie hätte die Großmutter schon vor Monaten besuchen sollen, erkannte Emma schuldbewusst.
„Womit wir beim anderen Thema wären. Was ist denn nun mit David? Wirst du seinen Antrag annehmen?“ Ranari zog an ihrem Strohhalm, während sie Emma neugierig musterte. Ehe diese antworten konnte, fuhr sie fort: „Also wenn er mich gefragt hätte, wären wir schon verlobt. David Jackson ist ein Sechser im Lotto. Er ist reich, gut aussehend, wohlerzogen, hat eine fantastische Karriere in Aussicht, eine wunderschöne Stadtwohnung und kann dich in die High Society von London einführen. Nebenbei hat er dir noch diese tolle Stelle verschafft. Ich verstehe nicht, weshalb irgendjemand da Nein sagen könnte. Aber nun ja, meine Ambitionen sind auch andere als deine. Ich wollte mir immer nur einen reichen Mann angeln. Aber ich frage mich: Was willst du?“ Ranari zog eine Schnute.
Das war eine gute Frage. Was wollte sie eigentlich?
Wieder dachte Emma an die kahlen, abweisenden Gipfel der Highlands. An die Wolken, die sich dort am hohen, klaren Himmel jagten. An die kleinen Häuser, die sich vor dem Wind duckten. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen. Zu lange. Fast fühlte es sich an, als wäre sie davongelaufen. Sie musste die Großmutter anrufen – gleich, wenn sie zu Hause war.
Während Emma sich etwas Zeit stahl, indem sie an ihrem Milchkaffee nippte, wanderte ihr Blick nach draußen zu dem belebten Platz, wo die Londoner durch die Blumenrabatten eilten, ohne diese wahrzunehmen. War es das, was sie wollte? Oder vielleicht doch etwas anderes? Wie gut es Ranari hatte, die so genau wusste, wo ihr Weg hinführen sollte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Emma schließlich.
Ranari lächelte. „Dann finde es heraus. Schnell. Das Leben ist zu kurz, um es mit Warten zu vergeuden.“
Edinburgh 1745
Wie von tausend Furien gehetzt, rannte Sarah hinaus aus der Schänke. Fort, nur fort. Ehe irgendjemand sie festhalten und einsperren konnte oder Schlimmeres mit ihr machte. Sie bemerkte die Rufe und die roten Röcke von englischen Soldaten und rannte nur umso schneller durch die engen Gassen Edinburghs. Fort, weit fort.
Sie hielt nicht inne, auch als ihre Beine lahm wurden und ihr Atem keuchend ging. Wohin, wusste sie selbst nicht. Denn es gab keinen Ort, wo sie hätte Zuflucht finden können. Nirgendwo. Nicht seit die Eltern gestorben waren und sie damit ihr Zuhause verloren hatten. Seitdem war Samuel ihr Zuhause.
Samuel. Wo war Samuel?
Sie stolperte, fing sich wieder und drehte sich nach Atem ringend um. Sie hatte ihn direkt hinter sich gewähnt. Hatte gar nicht in Erwägung gezogen, dass er ihr nicht gefolgt war. Aber da war niemand. Sie war allein.
„Samuel?“ Ihre Stimme zitterte.
„Samuel. Sammy!“
Sarah presste die Hand gegen ihren Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Sie durfte ihn nicht verlieren. Nicht hier, in dieser fremden Stadt. Sie musste ihre Angst zügeln und ihn finden. Er war alles, was ihr geblieben war. Er war derjenige, der sie beschützte, sie versorgte.
Immer noch zitternd sah sie sich um. Keine Soldaten. Nur eine Ratte huschte über das nasse Kopfsteinpflaster. Von wo war sie gekommen? Dort! Diese Gasse sah vertraut aus. Langsam kehrte sie um.
Nach einer Weile fand sie die breite Straße wieder, an der die vielen Schänken lagen. Von dort war sie gekommen. Sie musste ihr nur folgen, um die Schänke zu finden, wo sie Samuel verloren hatte.
Was, wenn die Soldaten ihn bereits festgenommen hatten? Daran durfte sie nicht denken. Nicht, ehe es eintraf.
Mit hämmerndem Herzen eilte Sarah weiter, bis sie die Schänke entdeckte, aus der sie geflohen war. Erleichtert atmete sie aus, bis sie begriff, dass sie nicht einfach hineinspazieren konnte. Nach kurzem Zögern steuerte sie die Häuserecke neben der Schänke an, von der aus sie den Eingang gut im Blick behalten konnte, ohne dass man sie von dort sah.
Angestrengt lauschte sie. Aber sie konnte nur das übliche Stimmengewirr vernehmen, das aus den Fenstern der Schänke drang. Von fern drang das dumpfe Klappern von Pferdehufen an ihre Ohren. Frierend drückte sie sich an die kalte Wand. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Brust.
Samuel musste die Schänke doch längst verlassen haben. Oder hatten sie ihn so zusammengeschlagen, dass er nicht mehr fliehen konnte? Aber Samuel war stark wie ein Ochse. Bisher war er immer auf beiden Beinen aus jeder Schlägerei herausgekommen.
Und was wäre, wenn er von den Soldaten gefangen genommen – oder noch schlimmer – getötet worden war? Dann wäre sie allein auf der Welt. Mutterseelenallein.
Bill fiel ihr ein, der gute, liebe Bill, der seine Frau aus ihr machen wollte. Wie sie sich danach gesehnt hatte, endlich eine feste Bleibe zu haben und noch dazu mit einem Mann, der immer freundlich und höflich war. Bis Samuel es kaputtgemacht hatte. Der Gedanke glich einem schwärenden Stachel im Fleisch. Es war besser, nicht daran zu rühren.
Das Hufgetrappel näherte sich und verstummte.
„Wen haben wir denn da?“, fragte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken fuhr Sarah herum. Ihr Blick erfasste den roten Rock eines englischen Soldaten, der von seinem Pferd herunterglitt. Aufgrund der vielen Tressen, die seinen Rock schmückten, musste sein Träger ein Offizier sein. Ehe sie reagieren konnte, umfasste er sie und drückte sie an sich. Seine Alkoholfahne schlug ihr ins Gesicht, als er versuchte, einen Kuss auf ihre Wange zu drücken. Stattdessen erwischte er ihren Hals und hinterließ dort einen feucht-heißen Abdruck.
„Lasst mich los!“
„Nun zier dich nicht so! Wenn es dir hier zu kalt ist, können wir auch in meine Stube gehen. Es ist nicht weit.“
Seine rechte Hand glitt ungefragt in ihren Ausschnitt und fand ihre linke Brust. Keuchend drückte er sie gegen die Wand, während er mit der anderen Hand ihren Rock hochraffte.
„Mein Herr! Bitte! Ich bin keine Hure …“
„Hör auf mit dem Gerede! Nenn mir einfach deinen Preis. Herrgott, du machst mich so geil. Deine Zitze ist schon ganz spitz, also erzähl mir nicht, dass du es nicht willst.“
Bei diesen Worten quetschte er mit der einen Hand ihre Brustwarze, sodass Sarah nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte. Seine andere Hand fand derweil endlich ihren Schoß und bohrte sich zwischen ihre Beine.
„Ein Goldstück. Deine Fotze ist so saftig und eng wie die einer Jungfrau.“
Sarahs Kehle war zu eng, um zu schreien. Tränen rannen über ihre Wangen. Halbherzig versuchte sie, sich loszureißen. Aber wenn sie sich zur sehr wehrte, würde er sie sicher schlagen. Vielleicht war es besser, ihn gewähren zu lassen. So schlimm würde es nicht werden, wenn sie sein Spiel mitspielte.
„Hör auf zu heulen und halt endlich still!“
Keuchend drückte er sie gegen die kalte Wand. Mit bebenden Knien hörte sie Kleider rascheln. Die kalte, regengeschwängerte Nachtluft fuhr zwischen ihre Beine, als er ihren Rock hob und sein Becken von hinten gegen das ihre presste. Tränen strömten heiß über ihre Wangen. Das Pferd schnaubte irgendwo hinter ihr.
Hoffentlich war es schnell vorbei.
Und hoffentlich fand Samuel sie nicht vorher.
London 2019
Verstohlen sah Emma sich um. David hatte darauf bestanden, dass er einen Tisch für sie im Café Royal reservierte. Aber die kühle Ästhetik der renovierten alten Villa sprach sie nicht an. Das Gebäude stand zwar unter Denkmalschutz und die Eigentümer des Cafés hatten sich Mühe gegeben, die alten Strukturen zu erhalten und zur Schau zu stellen. Wahrscheinlich hatte David das Café eigens deshalb ausgesucht, damit sie die Architektur des alten Gebäudes bewundern konnte. Dennoch fand sie die schlichte Inneneinrichtung aus Chrom und Leder zu kühl.
Im Vergleich dazu war das kleine Bistro, das sie vorgeschlagen hatte – ihr Lieblingscafé, das sie gemeinsam mit Ranari entdeckt hatte – Stückwerk. Der Raum dort war winzig, die Tische und Stühle wacklig. Die Toilette nur über fünf Stufen erreichbar, die Decke darin zu niedrig. Doch die selbst gebackenen Kuchen und der Kaffee dort waren unschlagbar und das Ambiente unglaublich gemütlich.
Ob ihre Verabredungen wohl künftig immer so verlaufen würden? Dass David die nobelsten und teuersten Lokalitäten der Stadt suchte, weil er glaubte, ihr damit einen Gefallen zu tun, während sie sich nicht traute, ihm ihre geheimen Plätze zu zeigen, weil sie fürchtete, sie könnten ihm zu schäbig sein?
„Was möchtest du bestellen?“, riss Davids sanfte Stimme sie aus ihren Gedanken.
Emma bemerkte den Kellner, der in schwarzer Hose, weißem Hemd und schwarzer Fliege geduldig wartete.
„Entschuldige.“ Pflichtschuldig wandte Emma sich der Speisekarte zu. Dabei fiel ihr ein, dass sie die Großmutter immer noch nicht angerufen hatte. Aber die würde wissen wollen, wie sie sich entschieden hatte. Also musste der Anruf warten, bis sie eine Antwort gefunden hatte.
Emma fand opulente Frühstücksmenus mit Bohnen, Tomaten und Speck sowie Toastvariationen mit Steak vom Weideochsen oder Lende vom Duroc-Schwein unter der Rubrik „Kleinigkeiten“. Was daran klein war, verstand sie nicht. Gab es hier überhaupt Croissants oder Kuchen?
Sie blätterte weiter und fand auf den vorletzten Seiten endlich den Hinweis: Unser täglich wechselndes Angebot an Kuchen und Tartes erfragen Sie bitte bei unserer Bedienung.
„Möchtest du auch einen Salat?“, fragte David.
„Nein, danke.“ Zum Kellner gewandt fügte Emma hinzu: „Bringen Sie mir bitte einen Milchkaffee. Haben Sie eine Tarte oder etwas Ähnliches?“
„Wir haben Kürbistarte mit Pinienkernen und Damaszenerpflaumen, Ziegenkäsetarte mit Honig-Barbarie-Ente, Lachstarte mit …“
„Eine Tarte mit Früchten? Oder Kuchen?“
„Sicherlich, die Dame. Heidelbeertarte mit Mohn-Marzipan-Creme, Mirabellentarte mit Pistazien-Marzipan-Boden, Brombeer-Himbeer…“
„Ein Stück Mirabellentarte, bitte“, unterbrach Emma ihn, ehe er noch weitere seltsame Variationen aufzählen konnte.
„Milchkaffee und Mirabellentarte mit Pistazien-Marzipan-Boden für die Dame und Caesar Salad mit gegrillter Putenbrust und Earl Grey Tee für den Herrn. Sehr wohl, die Herrschaften.“
Mit diesen Worten schritt er davon.
Emma sah sich ein weiteres Mal um. In Anbetracht dessen, dass es Tea Time war, war das Café bemerkenswert leer.
„Gefällt es dir?“, fragte David lächelnd und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand.
Einem ersten Impuls folgend wollte sie die Hand wegziehen. Doch sie erinnerte sich rechtzeitig daran, weshalb sie hier war und ließ ihn gewähren. Davids Hand fühlte sich glatt und kühl an.
Emma zwinkerte. Wenn sie ehrlich war, würde es schwer werden, zu ihrem eigentlichen Anliegen zu kommen.
„Ich … ich wollte dir meine Antwort geben“, sagte sie stattdessen.
Davids Lächeln versteinerte. Er räusperte sich und wechselte die Sitzposition.
Genau zur rechten Zeit kam der Kellner zurück und brachte David seinen Tee und für Emma den Milchkaffee. „Das Essen kommt sofort“, setzte er hinzu, ehe er wieder ging.
Mit einem Seufzen sah Emma ihm nach, ehe sie sich wieder an David wandte. Sie hatte sich das Ganze romantischer vorgestellt – mit Kerzen, im Halbdunkel, auf den wackligen Stühlen des kleinen Bistros, bei einem Latte Macchiato und einem Croissant mit Butter, das es hier nicht gab. Stattdessen musste sie sich entweder beeilen, ehe der Kellner mit der Mirabellentarte zurückkehrte, oder David so lange schmoren lassen, bis sie beide versorgt waren.
„Wir können warten, bis …“
„Die Mirabellentarte, die Dame“, unterbrach der Kellner David. Es klirrte leise, als er den Teller vor sie auf den Tisch stellte.
„Ja“, sagte Emma.
Verdutzt starrte David sie an.
„Ja“, sagte Emma noch mal. Dann lachte sie: „Ich meinte dich, David. Nicht die Tarte.“
Edinburgh 1745
Sarahs tränennasse Wange wurde gegen die kalte Häuserwand gedrückt. Der nach Alkohol stinkende Atem des Soldaten schlug in ihr Gesicht. Stoff riss, als er an ihrer Unterhose zerrte und ihren Unterleib der Kälte aussetzte.
„Bück dich!“ Ein Schlag auf ihren Rücken verlieh den Worten Nachdruck.
Starr vor Angst gehorchte Sarah. Sie suchte nach Halt, um nicht vornüber zu fallen. Da fanden ihre klammen Finger das schmale Messer, das Samuel ihr aufgedrängt und das sie seitdem mit einem Band an ihrem Unterschenkel befestigt hatte.
Der Mann keuchte und griff nach ihren Hüften. Mit einem Ruck riss er sie zu sich heran, so dass sie die Hitze seines Körpers spüren konnte. Eine seiner Hände legte sich auf ihren unteren Rücken, die andere umklammerte ihre Hüfte.
„Tiefer!“
Sarah wusste, was gleich folgen würde. Sie wartete auf den Schmerz und die Gewalt, die er ihr antun würde. Etwas Heißes, Hartes drängte sich gegen die nackte Haut ihrer Oberschenkel. Plötzlich hielt sie das Messer in der Hand.
„Halt still!“
Mit Tränen in den Augen stach sie zu. Das schmale Messer drang überraschend leicht in den Unterschenkel des Mannes ein. Blut pulste hervor und tränkte binnen kurzer Zeit den weißen Strumpf. Der Mann schrie auf wie ein Stück Vieh.
Ehe Sarah reagieren konnte, traf sie ein Schlag im Rücken, der sie zu Boden warf. Sie fiel auf Hände und Knie in eine Pfütze aus kaltem, schlammigem Wasser. Zitternd versuchte sie, sich aufzurichten, während sie nach dem Messer suchte, das ihr aus der Hand gefallen war.
Da packte der Mann sie im Genick an den Haaren und zerrte sie daran hoch. Ein Schlag mit der flachen Hand warf ihren Kopf herum. Er schlug noch einmal zu, stieß sie zurück in die Pfütze. Im nächsten Moment war er über ihr, drückte ihr schmerzendes Gesicht in die Pfütze und spreizte mit den Knien ihre Oberschenkel.
„Wenn du dich wehrst, dann wird es eben hart für dich, Schlampe!“
„Bitte“, schluchzte sie, „bitte …“
Ihre Hände wühlten auf der Suche nach dem Messer im Schlamm. Wasser drang in ihre Nase und ihren Mund. Verzweifelt rang sie nach Atem, da stießen ihre Finger endlich auf das Messer. Sie griff zu und stach blind zu. Ohne zu wissen, ob sie nun den Arm oder den Leib des Mannes getroffen hatte, stach sie erneut zu. Sie hörte den Mann brüllen. Ein Schlag traf ihren Kopf.
Im nächsten Augenblick wurde er plötzlich von ihr heruntergerissen. Als sie sich, am ganzen Leib zitternd, auf alle Viere erhob, entdeckte sie Samuel. Er hielt den Soldaten am Kragen gepackt und drosch ihm mit vor Wut zur Grimasse verzerrtem Gesicht die Faust ins Gesicht. Die einst so weißen Hosen des Offiziers hingen ihm in den Kniekehlen und entblößten seine Oberschenkel und sein Gemächt.
Wieder und wieder drosch Samuel auf den Mann ein. Der Offizier zeigte kaum Gegenwehr. Vielleicht hatte Samuel ihn gleich so hart getroffen, dass sein Bewusstsein getrübt war. Vielleicht war er auch nur zu überrascht von dem plötzlichen, rohen Angriff. Blut rann aus seiner Nase und seinem Mund. Aus seinem Keuchen wurde ein Stöhnen.
Das Pferd tänzelte ein paar Schritte weiter nervös auf der Stelle.
„Hör auf, Sammy“, schluchzte Sarah. „Bitte, hör auf! Du bringst ihn noch um.“
Taumelnd stand sie auf, das blutbesudelte Messer immer noch in der Hand. Ihre nassen und mit Schlamm bedeckten Kleider sogen den letzten Rest Wärme aus ihrem Körper.
„Hör auf“, wisperte sie noch einmal. Obwohl sie wusste, dass Samuel sie in seiner Raserei nicht hörte.
Der Mann lag derweil am Boden im Dreck. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Er regte sich nicht mehr.
Da ließ Samuel endlich von ihm ab.
3.
London 2019
„Willst du, David Arthur Jackson, diese Frau zu deiner angetrauten Ehefrau nehmen, um mit ihr nach Gottes Gesetz im heiligen Stand der Ehe zusammenzuleben? Willst du sie lieben, trösten, ehren und behüten, in Krankheit und Gesundheit, und allen anderen entsagend ihr die Treue halten, solange ihr beide lebt?“
Die Worte des Pfarrers ließen Emmas Herz erbeben. Sie sah auf, in Davids Gesicht, der sie mit ernsten braunen Augen anblickte.
„Ja, ich will“, sagte er mit fester Stimme.
Emma wurde heiß und kalt zugleich. Sie schwitzte auf einmal. Es kam ihr vor, als liefe sie sehenden Auges in einen Abgrund. Was würde die Großmutter zu dieser Hochzeit sagen?
„Willst du, Emma Sarah Stewart, diesen Mann zu deinem angetrauten Ehemann nehmen, um mit ihm nach Gottes Gesetz im heiligen Stand der Ehe zusammenzuleben? Willst du ihm gehorchen und dienen, ihn lieben, ehren und behüten, in Krankheit und Gesundheit, und allen anderen entsagend ihm die Treue halten, solange ihr beide lebt?“
Emmas Kehle wurde eng. „Ich will“, quetschte sie mit Mühe hervor. Wenn sie doch nur die Großmutter um Rat bitten könnte.
Ein sanftes Lächeln von David belohnte sie.
„Wer übergibt diese Frau diesem Mann zur Ehefrau?“, fragte der Pfarrer.
Ein verwittert wirkender Mann im Gehrock mit grauen Haaren und grauem Bart, der einen Gehstock benutzte, trat vor. Nach einem verwirrten Augenblick erkannte Emma in ihm William MacDonald, den Bruder ihrer Großmutter. Wortlos nahm dieser Emmas rechte Hand und legte sie in die des Pfarrers.
Der nahm sie, übergab sie an David und legte seine Rechte auf die Hände von David und Emma. An David gewandt deklamierte er: „Ich, David Arthur Jackson, nehme dich, Emma Sarah Stewart, zu meiner angetrauten Frau, um dich zu besitzen und zu behüten von diesem Tage an, in guten und in schlechten Zeiten, in Reichtum und in Armut, in Krankheit und Gesundheit, um dich zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod uns scheidet, nach Gottes heiligem Gesetz. Das verspreche ich dir.“
Getreu wiederholte David die Worte des Pfarrers, sobald dieser eine Pause anlegte.
Danach wandte der Pfarrer sich an Emma und sprach auch ihr das Eheversprechen vor. Ein Schauer rann über Emmas Rücken, als sie die Worte wiederholte. Sie wartete darauf, dass irgendjemand Einspruch erhob. Hatte sie die Stelle in der Zeremonie verpasst, in der dies möglich war?
Wenn Großmutters Bruder hier war, wo war sie dann nur? Sie würde doch niemals ohne ihre Großmutter heiraten – die Frau, die ihr Mutter und Vater ersetzt hatte, nachdem diese vor fünfzehn Jahren bei dem Autounfall in den Highlands gestorben waren.
Ein scharfes Räuspern des Pfarrers ließ sie aufmerken. Er bot David einen goldenen Ring auf einem silbernen Tablett an. Dieser griff mit spitzen Fingern danach und steckte ihn auf Emmas Ringfinger.
Wieder begann der Pfarrer ihm vorzusprechen: „Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau, mit meinem Körper ehre ich dich und all meine weltlichen Güter teile ich mit dir. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
Ein törichtes Lächeln lag auf Davids Zügen, während er die Worte nachsprach.
„Kraft meines von Gott gegebenen Amtes erkläre ich euch hiermit zu Mann und Frau“, sagte der Pfarrer. „Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“
David beugte sich vor. Seine Lippen berührten Emmas, kalt und leblos. Als küsste sie einen Fisch.
Sie erwachte schweißfeucht und frierend. Ein Traum. Sie hatte die Hochzeit nur geträumt. Weshalb nur fühlte es sich wie ein Albtraum an? Sollte sie nicht von Freude erfüllt sein? Wieso hatte sie das Bedürfnis, sich die Lippen abzuwischen, um den Abdruck des Kusses loszuwerden?
Ihr Smartphone klingelte. Müde setzte sie sich im Bett auf, um im Halbdunkel ihres Schlafzimmers nach dem Gerät zu greifen, das auf ihrem Nachttisch lag. Die Nummer, die auf dem Display leuchtete, war ihr fremd.
„Hallo“, sagte sie. „Emma Stewart am Apparat.“
„Hier spricht William MacDonald“, meldete sich eine krächzende Stimme. „Es tut mir leid. Aber ich rufe dich an, um dir mitzuteilen, dass deine Großmutter gestorben ist.“
Edinburgh 1745
„Was hast du getan?“, wisperte Sarah.
Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Der Rock klebte nass und schwer an ihren Beinen. Ihre Augen brannten, aber die Tränen wollten nicht kommen.
Sie hatte einen Offizier mit dem Messer angegriffen. Weshalb hatte sie nicht einfach stillgehalten? Dann wäre es nie so weit gekommen. Wenn die Soldaten sie jetzt erwischten, würden sie hängen. Alle beide.
„Steh nicht so nutzlos herum!“, herrschte Samuel sie an. „Los! Pack mit an und hilf mir!“
Bei den Worten griff er den Toten unter den Achseln und zerrte ihn von der Häuserecke weg weiter in die Gasse hinein. Das Pferd wich schnaubend vor ihm zurück.
Von weitem drangen Stimmen an Sarahs Ohren. Sie schrak zusammen, wirbelte herum und lugte vorsichtig um die Häuserecke. Zwei Soldaten liefen mehrere hundert Schritt von ihnen entfernt die breite Straße hinab Richtung Burg.
„Kommst du jetzt endlich?“
Samuels scharfe Worte ließen Sarah erneut zusammenzucken. „Ich komme“, sagte sie schnell und eilte dem Bruder hinterher.
Als sie ihn erreichte, bückte sie sich, um nach den Knöcheln des Soldaten zu greifen. Der Tote war schwerer als sie gedacht hatte. Keuchend umrundeten sie das Pferd und kämpften sich Schritt für Schritt mit dem Gewicht der Leiche die Gasse hinab. Bis Samuel so plötzlich stehen blieb, dass sie stolperte und stürzte.
„Hierher“, kommandierte er.
Willenlos packte sie wieder mit an und half Samuel dabei, die Leiche vor einem Kohlenloch zu deponieren.
„Los! Geh vor zur Häuserecke und pass auf, dass niemand kommt.“
„Was … was hast du vor?“
„Nun geh schon, dumme Gans!“
Müde und verwirrt gehorchte Sarah. Ihr war so kalt, dass sie ihre Zehen kaum noch spürte. Der nasse, schmutzige Rock schien Tonnen zu wiegen.
An der Häuserecke blieb sie stehen und schielte um die Ecke. Die beiden Soldaten waren verschwunden. Es drängte sie danach, sich umzudrehen, um zu erfahren, was Samuel vorhatte. Aber sie kannte sein ungezügeltes Temperament schon zu lange. Er schlug auch sie, wenn sie ihm im falschen Moment widersprach. Das hatte sie schon zur Genüge erfahren müssen.
Zudem hatte er recht. Egal was er tat, die Soldaten durften sie nicht erwischen. Die Leiche musste verschwinden.
Das Pferd schnaubte und pustete ihr seinen warmen Atem in den Nacken. Wenn es ohne Reiter die breite Straße hinablief, würde das am Ende noch die Soldaten aufmerksam machen. Weshalb hatte sie nicht früher daran gedacht? Dem Himmel sei Dank, dass es noch nicht weggelaufen war.
Mit einem Kloß im Hals wandte Sarah sich dem Tier zu. „Shh“, machte sie leise, während sie versuchte, nach den Zügeln zu greifen. Das Pferd wich mit nervös rollenden Augen einen Schritt von ihr zurück.
„Shh! Alles ist gut“, flüsterte Sarah so freundlich wie möglich. „Ich bin eine Freundin. Ich besorg dir etwas zu fressen. Halt schön still, ja?“
Die dunklen Augen des Tiers waren unverwandt auf sie gerichtet, als verstehe es, was sie sagte. Wahrscheinlicher war, dass es einfach nur auf ihre Stimme lauschte.
Es war so gebannt, dass Sarah nach den Zügeln greifen konnte.
„Ja, so ist es gut.“
Vorsichtig strich sie dem Tier mit der freien Hand über die Nüstern. Die Soldaten fielen ihr wieder ein. Wenn sie jetzt erwischt wurden, war sie zudem eine Pferdediebin.
London 2019
Großmutter war tot.
Wie betäubt saß Emma auf der Kante ihres Bettes. Ihre Füße wurden kalt. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dort gesessen hatte. Von weit entfernt drang der Lärm der pulsierenden Stadt an ihre Ohren. Das Smartphone in ihren Händen fühlte sich glatt und kühl an. Leblos. Sie entdeckte einen Fleck an der Wand, den sie nie zuvor bemerkt hatte. Wie lange der wohl schon existierte?
Langsam stand sie auf, das Smartphone immer noch in der Hand. Im Halbdunkel tappte sie in die winzige Küche, machte das Licht an und aktivierte die Kaffeemaschine. Sie röhrte, als sie sich selbst reinigte. Wie ein Automat holte Emma eine Tasse aus dem Schrank und ließ sie sich befüllen. Die Milch stand griffbereit daneben. Sie nahm einen Schluck vom Milchkaffee. Aber mit dessen Duft kamen die Erinnerungen. Sie sah die Großmutter in ihrer geräumigen, gemütlichen Küche, wie sie Kaffee in einer Espressokanne brühte. Das Aroma befeuerte all ihre Sinne. Kein anderer Kaffee konnte es damit aufnehmen.
Auf einmal rannen Tränen über ihre Wangen. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen und ließ sich auf den Stuhl sinken. Weitere Tränen kamen. Mannhaft versuchte sie, sie hinterzuschlucken.
Nie wieder würde sie die warme Umarmung der Großmutter fühlen. Nie wieder ihren Duft nach Rosmarin, Tee und Thymian riechen. Nie wieder mit ihr über Gott und die Welt plaudern. Nie wieder.
Weshalb nur hatte sie die Großmutter nicht besucht? Die alte Frau hatte so oft angerufen und sie gefragt, wann sie denn mal wieder vorbeikäme. Jedes Mal hatte sie eine andere Ausrede gefunden. Als ob sie Angst davor gehabt hatte, sich ihren kritischen Augen zu stellen. Aber aus welchem Grund?
Sie sah das kleine weiße Haus der Großmutter mit den schroffen, hohen Bergen im Hintergrund in ihrer Erinnerung. Der winzige Vorgarten wurde von einem mit Blumen umrankten Staketenzaun eingerahmt.
Der Schmerz in ihrer Brust war so heiß und heftig, dass sie hemmungslos zu schluchzen begann. Die Tränen rannen in einem steten Strom über ihre Wangen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, als wäre ein Damm gebrochen, der nun all ihren Kummer entließ.
Erst nach einer Weile versiegte der Strom. Mit unsicherer Hand griff sie nach der Tasse und nahm einen Schluck vom erkalteten Milchkaffee. Dank des Kaffeegeschmacks schaffte sie es, ihre Gedanken zu ordnen.
Der Großonkel hatte irgendeinen Termin genannt. Die Beerdigung. Natürlich! Sie musste an der Beerdigung teilnehmen. Er hatte auch von einem Notartermin gesprochen, den sie am Freitagvormittag, dem Tag vor der Beerdigung, unbedingt wahrnehmen musste.
Herrje! Es würde um das Erbe gehen, das die Großmutter ihr hinterlassen hatte. Vielleicht hatte sie ihr das Haus vermacht. Das kleine weiße Haus in den Highlands mit dem pittoresken Vorgarten. Dabei brauchte sie doch gar kein Haus in den Highlands. Ihr Leben fand hier in London statt. Andererseits konnte sie es auch verkaufen oder vermieten.
Wieder sah sie das Haus. Dieses Mal stand die Großmutter in der Haustür und winkte, als wollte sie sich verabschieden. Niemals würde sie dieses Haus jemand anderem überlassen.
Die Beerdigung! Sie musste David informieren, das Treffen absagen, bei dem sie die Verlobungsfeier besprechen wollten. Sie waren zwar schon verlobt, aber David wollte unbedingt eine große Feier veranstalten, um sie seinen Freunden zu zeigen. In die Gesellschaft einführen, nannte er es. Er hatte sogar schon einen Termin angesetzt.
Emmas Finger zitterten, als sie Davids Namen in ihrem Smartphone suchte und die Kurzwahltaste drückte.
„Hallo Liebes, wie geht es dir?“
Davids freundliche Stimme aktivierte den Schmerz. Mühsam beherrscht wischte Emma ein paar neue Tränen weg.
„Es … es tut mir leid, aber … aber ich kann morgen nicht kommen. Ich …“ Sie musste innehalten, um nicht erneut loszuheulen.
„Emma, mein Schatz, was ist denn los? Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich vorbeikommen?“
„Nein, nein. Es ist nur … meine Großmutter ist gestorben. Ich muss am Samstag auf die Beerdigung und …“
„Mein armer Engel! Mach dir keine Gedanken. Ich werde die Feier auch ohne dich planen. Alles wird gut.“
Seltsamerweise trösteten die Worte sie kein bisschen.
Edinburgh 1745
„Was tust du da?“
Das Pferd warf bei den scharfen Worten den Kopf und hätte Sarah fast die Zügel aus der Hand gerissen. Schuldbewusst drehte sie sich zu ihrem Bruder um.
Aber hinter ihr stand nicht Samuel, sondern ein englischer Offizier in der Uniform der Rotröcke.
„Was glotzt du mich so an?“
„Sammy … du hast … du kannst doch nicht …“
„… die Uniform des Toten anziehen? Das ist die beste Art und Weise, hier heil herauszukommen. Niemand wird einen englischen Offizier aufhalten. Oder hast du eine bessere Idee?“
„Aber … das ist …“
„Diebstahl?“ Samuel lachte rau. „Schwesterherz, ich habe den Kerl umgebracht. Glaubst du, darauf kommt es noch an?“
Um dem Bruder nicht in die Augen blicken zu müssen, wandte Sarah sich dem Pferd zu und streichelte ihm die Nüstern. Samuel hatte ja recht. Aber falls irgendwelche mildernden Umstände gegolten hatten, dann waren diese mit der Aneignung der Uniform hinfällig. Dessen war sie sicher.
„Hier!“ Samuel hielt ihr ein zerknittertes Schriftstück vor die Nase. „Was ist das? Lies es mir vor!“
Mit den Zügeln in den Händen faltete Sarah das Papier auseinander. Ein dickes Siegel mit der englischen Krone prangte darauf. Ein paar wenige Zeilen waren mit krakeliger Handschrift darauf zu sehen. Marschbefehl entzifferte sie endlich. Das Datum war verwaschen, die Unterschrift nicht lesbar. Nur den Namen des Offiziers, dem der Befehl galt, und den Ort, wohin er befohlen wurde, konnte sie erkennen.
„Das ist ein Marschbefehl für Lieutenant Gordon Llewitt-Brown – nach Fort William. Aber wer ihn unterschrieben hat, kann ich nicht lesen.“
„Nutzloses Weib!“ Samuel riss ihr das Papier wieder aus der Hand und steckte es in den roten Rock von Gordon Llewitt-Brown, den er trug. Dann griff er nach den Zügeln des Pferdes, die Sarah hielt. „Wenigstens hast du das Pferd festgehalten.“
„Wo … wo ist die … der …“ Die Worte Leiche oder Toter wollten Sarah nicht über die Lippen kommen.
„Der Mistkerl liegt im Kohlenkeller, wo er hingehört.“
„Aber …“
„Hast du vielleicht eine bessere Idee? Wären wir in London, dann würde er jetzt in der Themse schwimmen. Aber in diesem verfluchten Kaff gibt es ja nicht einmal einen Fluss, um eine Leiche verschwinden zu lassen.“ Samuel fasste die Zügel kürzer. Das Pferd tänzelte nervös.
„Aber wenn ihn jemand findet, dann …“
Mit einem Ruck an den Zügeln brachte Samuel das Pferd zum Wiehern. „Hör auf zu jammern! Du bist schuld, dass wir in dieser Lage sind.“
Tränen sammelten sich in Sarahs Augen. Schnell wischte sie sie weg, damit Samuel sie nicht sehen konnte. Das würde ihn nur noch mehr verärgern.
„Und … und was machen wir jetzt?“
„Was wohl?“ Mit Schwung saß Samuel auf. „Deine Fehler ausbügeln und so schnell wie möglich von hier verschwinden, ehe den Kotzbrocken jemand findet.“
Sarahs Kehle wurde eng.
Mit grimmiger Miene bot Samuel ihr seine Hand. „Worauf wartest du?“
Zitternd griff sie danach und ließ sich hochziehen. Ungemütlich kam sie hinter ihm zum Sitzen. „Wo … wo willst du denn hin?“
„Als Erstes raus aus dieser verfluchten Stadt, in der wir deinetwegen ja nicht bleiben können.“
Auf ein Schnalzen von Samuel setzte sich das Pferd mit einem unwilligen Schnauben in Bewegung. Sarah musste sich an Samuel festhalten, um nicht vom Pferderücken zu fallen. Die Hufe klackerten viel zu laut auf dem nassen Kopfsteinpflaster, als Samuel die breite Straße hinabritt – fort von der Burg. Sie passierten eine Handvoll Soldaten, aber diese sahen nur kurz auf und salutierten. Nichts geschah.
Weiter ging es durch die dunklen, verwinkelten Gassen, die umso verlassener wirkten, je weiter sie sich von der Burg entfernten. Sarahs Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie wagte kaum zu atmen, aus Furcht, den Bruder noch mehr zu erzürnen. Als sie sich in den fahlen Strahlen der Morgensonne dem Stadttor näherten, nahm Sarah all ihren Mut zusammen.
„Wohin reiten wir?“, flüsterte sie.
Die Soldaten öffneten derweil die Tore, als sei dies völlig selbstverständlich. Sarahs Hände wurden feucht. Aber niemand fragte nach ihrem Begehr.
Im Morgenrot breitete sich die hügelige Landschaft vor ihren Augen aus. Vögel zwitscherten, als sei nichts geschehen.
„Nach Fort William“, antwortete Samuel endlich. „Meinen Dienst antreten, du Schaf!“