Kapitel 1
„Shona wird mich umbringen!“
„Warum sollte sie das tun?“
Siobhan erschrak und lenkte den Blick von den saftig grünen Weiden jenseits der kniehohen Bruchsteinmauer ab, hin zu ihrer blutjungen Fahrerin. Verlegen begriff sie, dass sie ihre Gedanken offenbar laut ausgesprochen oder zumindest so deutlich vor sich hingemurmelt hatte, dass Cybill sie hatte hören können.
Ein verkrampftes Lächeln huschte über die Lippen der jungen Frau. „Ich meine … klar … Mum kann manchmal echt aus der Haut fahren und wenn sie dieses irre Funkeln in den Augen kriegt, ist sie auch total furchteinflößend, aber …“
„Hey, dir ist schon klar, dass du gerade von meiner Ehefrau sprichst?“
Cybill grinste frech. „Sorry, du hast natürlich recht. Ich entschuldige mich. Dabei weiß ja jedes Kind, dass die Stiefmütter die Bösen sind.“
„Pass auf, dass dich deine böse Stiefmutter nicht gleich übers Knie legt!“ Siobhan fletschte die Zähne. „Oder dir etwas unters Essen mischt.“
Die junge Frau riss die Augen auf. „Das würdest du tun? Ich bin entsetzt!“ Cybill nahm eine Hand vom Lenkrad und legte sie sich auf die Brust. „Aber mal ehrlich, was ist denn schon dabei?“ Sie hob den Arm. „Schon klar, ich weiß, Mum fährt total auf diesen ganzen Verantwortungs-Kram ab. Von wegen auf eigenen Beinen stehen und so. Aber das tue ich doch. Ich …“
„Wovon zum Teufel sprichst du da eigentlich?“
Cybill blinzelte irritiert. Ihr Blick huschte zwischen der Straße und Siobhan hin und her. „Äh … davon, dass ich aus dem Studentenwohnheim aus- und bei dir einziehe?“
Siobhan lachte. „Echt? Deshalb machst du dir Sorgen?“
„Du nicht?“
„Wieso sollte ich? Du hast es deiner doch Mutter gesagt. Oder nicht?“
„Was? Na ja, also … ich meine … irgendwie schon … so halb, jedenfalls.“
„Warte!“ Siobhan setzt sich auf. „Was heißt denn hier so halb? Hast du oder hast du nicht?“
„Ich habe ihr gesagt, dass ich aus dem Wohnheim ausziehe.“
„Aber nicht wohin.“
„Ich dachte, das würdest du tun. Irgendwie.“
„Irgendwie? So war das aber nicht abgesprochen, junge Dame.“
„Aber ihr seid verheiratet. Sprecht ihr nicht miteinander?“
„Natürlich.“ Siobhan grinste schief. „Nur nicht über dich.“
„Sehr witzig.“ Cybill schaute ihre Stiefmutter an und fügte hinzu: „Muuum!“
„Sieh auf die Straße, sonst bist du es, die uns umbringt.“
Das war nicht mal übertrieben. Es war Freitagnachmittag und auf der A702, die dicht an den Pentland Hills vorbeiführte, herrschte verhältnismäßig viel Betrieb. Pendler nutzten die Fernverkehrsstraße, um von Edinburgh zur A74 zu gelangen, einer der Hauptverkehrsadern zwischen Schottland und England, welche die Landesgrenze mit Glasgow verband.
Soweit brauchten Cybill und Siobhan zum Glück nicht zu fahren, ihr Ziel lag gerade mal zehn Meilen von Edinburgh entfernt, nahe des Städtchens Penicuik, wo Cybill auch zur Schule gegangen war.
Wahnsinn, dachte Siobhan, was seitdem alles passiert war. Aber an Aufregung hatte es ihrem Leben auch vorher schon nicht gemangelt. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie Shona Kincaid kennengelernt hatte: in ihrer Galerie in Edinburgh, über der sie eine kleine Wohnung besaß, in die Cybill nun einzuziehen gedachte.
Damals war das Mädchen gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen und hatte sich mitten in der Pubertät befunden. Die Wangen rund vom restlichen Babyspeck, im Mund eine Zahnspange und den Kopf voller Pferde.
Und jetzt saß neben ihr eine junge Frau, die Siobhan im wahrsten Sinn des Wortes über den Kopf gewachsen war. Das weizenblonde Haar war ein wenig dunkler geworden, die Zahnspange verschwunden und obwohl sie Pferde noch immer über alles liebte, besonders ihren Araberhengst Devil, so interessierte sie sich mittlerweile auch für andere Dinge ‒ wie zum Beispiel Kunst, Betriebswirtschaftslehre und natürlich Jungs.
Gott, Lady Morag tanzte vermutlich mit den Engeln auf den Tischen. Der Gedanke brachte Siobhan zum Schmunzeln. Sie hatte Shonas Mutter vor ihrem plötzlichen Tod noch kennengelernt und obwohl die alternde Lady sie augenscheinlich gemocht hatte, war sie über Shonas sexuelle Orientierung alles andere als glücklich gewesen.
Ihrer Liebe zu ihrer Tochter hatte das zwar keinen Abbruch getan, aber Siobhan war sich sicher, dass sie trotzdem erleichtert gewesen wäre, hätte sie gewusst, dass Cybill auf Jungs stand.
„Was?“ Der misstrauische Tonfall ihrer Stieftochter verriet Siobhan, dass Cybill ahnte, was ihr durch den Kopf ging.
„Nichts, ich musste nur gerade daran denken, wie erwachsen du bereits geworden bist.“
„Oha, jetzt geht das wieder los. Du bist eindeutig zu jung dafür.“
„Wofür bin ich zu jung?“ Siobhan lächelte.
Cybill wedelte mit der Hand. „Na ja, dafür eben. Für diesen ganzen Du-bist-aber-groß-geworden-Kram.“ Die nächsten Worte sprach sie mit verstellter Stimme. „Hast du schon einen Freund?“
Siobhan feixte. „Und? Hast du?“
„Du weißt, dass ich einen Freund habe. Er heißt Colin.“
„Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dass du Devil sagst.“
„Du hast mich ja nicht ausreden lassen.“ Cybill setzte den Blinker und verließ den Kreisel gen Süden auf die Mauricwood Road, die geradewegs nach Penicuik führte. Die Pentland Hills, über deren Gipfeln sich düstere Regenwolken ballten, blieben hinter ihnen zurück.
Siobhan seufzte. „Ich habe befürchtet, dass so was kommt. Aber immerhin haben wir ja jetzt etwas, worüber wir bei Tisch sprechen können.“
„Du willst mit Mum über Devil sprechen?“
„Du weißt genau, was ich meine, Fräulein. Du wirst ihr erzählen, was du ausgeheckt hast.“
„Moment mal, das war doch deine Idee!“
„Was du ausgeheckt hast“, wiederholte Siobhan. „Wag es ja nicht, das alles auf mich abzuwälzen.“
„Na schön. Früher oder später wird sie es ja ohnehin rauskriegen.“
„Eben.“
Sie schwiegen, bis Cybill den Wagen erneut abbremste, um in die Allee abzubiegen, an deren Ende das altehrwürdige Kincaid Hall ruhte.
„Wenn es nicht um meinen bevorstehenden Umzug geht, wovor fürchtest du dich denn dann?“, fragte Cybill unvermittelt.
Siobhan zuckte zusammen. „Ach, nichts. Das … passt jetzt nicht hierher.“
„Mit anderen Worten, du willst nicht darüber sprechen.“
„Du hast es erfasst.“
„So schlimm? Vielleicht sollte ich besser erst mal eine Runde mit Devil ausreiten.“
„Das tust du doch sowieso.“
„Ich meine, ich könnte auch bei Kendra …“
„Nix da, zum Abendessen bist du wieder zu Hause.“
Cybill stöhnte. „Boah, wann hast du eigentlich aufgehört, cool zu sein?“
Siobhan grinste. „Als ich zu deiner Stiefmutter wurde.“
Kincaid Hall erinnerte Siobhan bisweilen an die Kulisse eines Gruselschinkens der alten HAMMER-Studios. Beim Eintreten erwartete sie stets von dem jungen Christopher Lee, eingehüllt in einen schwarzen Umhang mit einem künstlichen Vampirgebiss im Mund, begrüßt zu werden.
„Auf solche Ideen können auch nur Schauspielerinnen oder Künstler kommen“, hatte Shona dazu gesagt und mit dem Kopf geschüttelt.
Tatsache war jedoch, dass die bleigraue Wolkendecke, die über dem Dach mit seinen spitzen Giebeln und Türmchen hing, perfekt zu der düsteren, efeubewachsenen Fassade passte, die sich hinter dem kiesumsäumten Rondell erhob.
Einzig die bronzene Nixe in der Mitte des Brunnens, die der Betrachterin ihre entblößten Brüste entgegenreckte, wirkte in Siobhans Augen ein wenig deplatziert. Ihrer Meinung nach hätte ein fischmäuliges Ungeheuer besser mit dem morbiden Charme des düsteren Gemäuers harmoniert. Vielleicht noch zwei bronzene Löwen beidseits der Freitreppe, die zum Eingang hinaufführte.
Trotz allem mochte Siobhan McLeary-Kincaid den alten Kasten.
„Ich hasse den alten Kasten“, knirschte Cybill und lenkte den Vauxhall am rechten Flügel vorbei auf den Hinterhof. Dort lagen die Garagen, wo sich früher die Stallungen befunden hatten.
„Und stell dir mal vor: Irgendwann wird das alles dir gehören.“
„Juhuu“, erwiderte das Mädchen lahm, während sie eine Faust in die Höhe reckte. „Ich kann es kaum erwarten …“, sie warf Siobhan einen schelmischen Seitenblick zu, „… den alten Kasten zu verhökern.“
„Das ist nicht dein Ernst!“
„Warum nicht?“
„Das ist ein Familienanwesen.“
„Du meinst, der Stammsitz meiner Väter?“
„Sehr komisch! Und ich nahm an, du wärst aus der Pubertät heraus.“
„Das würde Mum nicht verkraften.“
„Also das stimmt …“, Siobhan zögerte, ehe sie hinzufügte: „… vermutlich sogar.“
„Vielleicht überrascht uns Onkel Rowie ja mit der Nachricht, dass eine seiner Eroberungen schwanger ist.“
„Gott bewahre! Dann würde Shona ihn umbringen und im Gefängnis landen und dann würde alles an uns hängenbleiben. Willst du das?“
Cybill tat so, als müsste sie darüber nachdenken. „Ist das eine Fangfrage?“
Sie stoppte vor einem der vier Garagentore, öffnete es mit der Fernbedienung und fuhr wieder an. Die einzelnen Stellplätze waren nur äußerlich durch die Tore getrennt. Im Inneren parkten die Fahrzeuge alle dicht nebeneinander: Rowans Aston Martin stand direkt neben Shonas Mercedes, den sie vor vier Jahren erstanden hatte. Das Prunkstück des Fuhrparks war jedoch mit Abstand der betagte Rolls Royce von Lady Morag beziehungsweise ihrem Gatten Chester, der von Graham Johnston, dem Butler und Chauffeur des Hauses, liebevoll gehegt und gepflegt wurde.
Selbst jetzt stand er im Schein der Neonbeleuchtung vor der aufgeklappten Motorhaube und säuberte Zündkerzen, wechselte das Öl oder was auch immer an den alten Karossen zu tun war.
Siobhan verstand von Autos ungefähr so viel wie Graham seinerseits von der Malerei. Vielleicht sogar weniger.
Cybill hielt direkt neben dem Oldtimer und schaltete den Motor aus. Siobhan öffnete die Tür und atmete die nach Benzin und Öl riechende Luft ein, in die sich selbst hier drinnen ein Hauch von geschnittenem Gras mischte, den sie so sehr liebte. Um das parkähnliche Grundstück kümmerte sich eine externe Firma für Landschaftspflege aus Penicuik.
„Mylady Siobhan, welch ein Freude, Sie zu sehen!“, begrüßte Graham sie. Er hatte sich aufgerichtet und wischte sich die Hände an einem fleckigen Tuch ab. Er trug den gleichen grünen Overall wie die Arbeiter der Brennerei. Er zwinkerte ihr zu. Seit Jahren neckte er sie mit seiner gestelzten Ausdrucksweise.
Trotzdem wollte Siobhan ihn zum gefühlt tausendsten Mal darauf hinweisen, dass er sie nicht Mylady zu nennen brauchte, als ihr Cybill dazwischenfunkte.
„Grandpa!“, rief sie, und flog ihm förmlich um den Hals.
„Oh“, machte Graham. „Ich … äh … freue mich auch, dich zu sehen, Cybill.“
Unbeholfen legte er seine Arme um ihre Schultern. Nach fünf Jahren fiel es ihm immer noch schwer, die Fassade, die er all die Jahre über hatte aufrechterhalten müssen, fallen zu lassen und seine wahren Gefühle zu zeigen. Jedenfalls deutlich schwerer als Cybill.
Aber für sie waren die Bediensteten ohnehin Teil der Familie. Vielleicht hatte sie tief in ihrem Inneren gespürt, dass sie mehr mit diesem Mann verband, als nur das Verhältnis einer jungen Dienstherrin zu ihrem Untergebenen.
„Ich hatte euch nicht so früh erwartet. Du bist doch nicht etwa gerast?“
„Sie ist anständig gefahren“, sprang Siobhan ihr bei.
„Wie immer“, fügte Cybill hinzu. „Außerdem will ich vor dem Essen noch zu Kendra und eine kleine Runde mit Devil ausreiten.“
Graham hob eine Braue. „Dann musst du dich beeilen. Es sieht nach Regen aus.“
„Ach, das ist kein Problem. Ich bin ja nicht aus Zucker!“, rief Cybill. Sie machte ein flehendes Gesicht. „Bringst du bitte meine Sachen rein? Dann kann ich sofort los.“
„Warte mal kurz“, mischte sich Siobhan ein. „Hast du gerade deinen siebzigjährigen Großvater gefragt, ob er dein Gepäck ins Haus schleppt?“
Cybill lief rot an. „Wieso? Er ist doch fit wie ein Turnschuh. Und unser Butler. Und …“
„Du willst nicht mal deiner Mum Hallo sagen?“
„Pfff, die ist ohnehin beschäftigt. Zum Essen bin ich doch wieder da.“ Sie machte Anstalten, eines der Fahrräder, die neben der Werkbank an der Wand der geräumigen Garage standen, hinauszuschieben.
„Willst du nicht lieber das Auto nehmen?“ Siobhan legte die Stirn in Falten. „Ich mein’ ja nur … falls es anfängt zu regnen. Nicht dass du bei Kendra essen musst.“
„Oh ja, das wäre ja wirklich bedauerlich!“ Cybill grinste.
„Ich kann dich fahren, wenn du willst“, schlug Graham vor. Er schraubte die Zündkerze wieder in den Motor, wischte mit dem Tuch über den Motorblock und verschloss die Haube. „Ich bin sowieso gerade fertig.“
„Eine fabelhafte Idee“, sagte Siobhan.
„Ach ja, und wie komme ich dann wieder zurück?“
„Ich hole dich natürlich auch wieder ab.“
Cybill sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Das ist doch Blödsinn. Ich komm schon klar.“
„Papperlapapp!“, sagte Graham. „Es ist mir eine Freude.“ Er führte sie zur Beifahrertür und öffnete sogar den Wagenschlag für sie. „Mylady …“
Cybill rollte mit den Augen. „Gott, ich hasse diese Familie.“
Siobhan winkte dem Rolls nach, als er vom Hof fuhr.
Danach machte sie sich auf den Weg ins Haus. Im Gegensatz zu Cybill hatte sie kein Gepäck mit hineinzunehmen und ihre Stieftochter durfte ihre Klamotten ruhig selbst tragen.
Dabei konnte sie das Mädchen sogar irgendwie verstehen. Devil war Cybills ganzer Stolz und es hatte wirklich viel Zeit, Nerven und Überzeugungskraft gekostet, ihr auszureden, die Ausbildung und womöglich ihre Zukunft für das Tier aufs Spiel zu setzen.
Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass Devil vereinsamen könnte, wenn es niemanden gab, der sich um ihn kümmerte.
Zum Glück hatte die Lösung nähergelegen, als sie in ihrem pubertierenden Trotz hatte wahrhaben wollen. Den Eltern ihrer besten Freundin Kendra gehörte ein Gestüt, das ihre Tochter einst übernehmen sollte. Gab es Schöneres für ein Pferd, als mit Artgenossen auf der Weide zu stehen, regelmäßig gestriegelt und durchmassiert zu werden? Wohl kaum.
Shona und Rowan hatten ohnehin weder die Zeit noch die nötige Affinität für diese edlen Tiere. Und was Graham betraf: Die einzigen Pferdestärken, die ihn interessierten, schlummerten unter der Haube des Rolls.
Siobhan hätte sich möglicherweise noch für Devil erwärmen können. Als Kind hatte sie selbst davon geträumt, ein Pferd zu besitzen. Doch mit achtunddreißig Jahren und einer eigenen Kunstgalerie, die sie mitunter auch am Wochenende auf Trab hielt, fehlte ihr schlicht und ergreifend die Zeit, um sich um solch ein Tier zu kümmern.
Das Lächeln auf ihren Lippen gefror, als sie die Verbindungstür zum Familienanwesen der Kincaids öffnete und den düsteren Flur betrat, der die Garage mit dem Vestibül verband.
Sämtliche Lockerheit fiel mit einem Schlag von ihr ab, ihr Herz fing an zu klopfen.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich im Geiste. Shona liebt dich, sie wird dir nicht den Kopf abreißen. Und wer weiß, vielleicht findet sie den Gedanken ja sogar ganz reizvoll. Denk positiv. Du schaffst das. Du hast bisher alles geschafft, was du wolltest.
Du hast die Schauspielerei an den Nagel gehängt und dir eine eigene Galerie aufgebaut. Du hast nicht mal aufgegeben, nachdem Shonas Ex sie hatte anzünden lassen. Du hast sie einfach wieder aufgebaut. Und jetzt hast du Schiss vor einem Gespräch mit deiner dich liebenden Ehefrau?
Siobhan atmete tief durch und setzte ihren Weg fort, durch den Flur in die Eingangshalle, an der Treppe vorbei zum Büro, das rechts neben dem Portal lag.
Normalerweise hätte Shona ihre Ankunft bemerken müssen. Es sei denn, sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie mal wieder keine Zeit gehabt hatte, für ein paar Sekunden aus dem Fenster zu schauen. Daran hatte sich auch in den vergangenen fünf Jahren nichts geändert.
Im Gegenteil, sie war eher noch verbissener geworden.
Shona war ein Workaholic und das machte Siobhan am meisten zu schaffen. Obwohl ihr durchaus klar war, dass sie im Glashaus saß. Nur mit dem Unterschied, dass Shona nicht alleine war, sondern einen Bruder hatte, der sich nach dem Tod seiner Mutter tatsächlich am Riemen riss. Zumindest, was das Geschäftliche betraf.
Vor der Tür blieb Siobhan stehen und klopfte. Sie wartete die Aufforderung einzutreten gar nicht erst ab, sondern öffnete die Tür so leise wie möglich.
Shona telefonierte.
„… habe verstanden. Danke für die Information. Guten Abend.“
Anhand der Wortwahl wusste Siobhan bereits, dass dieser Anruf nicht privater Natur gewesen war, doch das waren die Telefonate ihrer Frau ohnehin nur selten. Allerdings schienen die Informationen, für die sich Shona eben noch bedankt hatte, alles andere als erfreulich gewesen zu sein. Siobhan brauchte ihr nur ins Gesicht zu schauen, um zu wissen, dass es nicht bloß um eine stornierte Bestellung oder eine verzögerte Weizenlieferung ging. In diesem Fall wäre die Miene unter dem schwarzen Kurzhaarschnitt eher gerötet gewesen, nicht bleich wie ein Laken.
Shonas Hand, die den Hörer zurück auf den Festnetzapparat legte, zitterte.
„Mein Gott, Shoni, was ist passiert?“
Siobhans Furcht vor einem möglichen Streit war mit einem Mal wie weggeblasen. Jetzt machte sie sich nur noch Sorgen um ihre Ehefrau, die mit leerem Blick vor sich auf den Bildschirm des aufgeklappten Notebooks starrte. Ihre Lippen hoben sich kaum von der übrigen Gesichtsfarbe ab.
Siobhan eilte um den Schreibtisch herum, beugte sich zu Shona hinunter und legte ihr den Arm um die Schultern, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war. Ganz gleich, was vorgefallen sein mochte.
Endlich wandte Shona ihr das Gesicht zu. Ihr Mund öffnete sich, die Unterlippe zitterte leicht. In den Augen ihrer Frau flackerte Angst und das erschreckte Siobhan am meisten.
Sie kannte Shona als furchtlose und starke Frau, die so schnell nichts aus der Fassung brachte. Das hatte sie in den sechs Jahren, die sie nun schon zusammen waren, wieder und wieder unter Beweis gestellt.
Siobhans Eingeweide verkrampften sich. Behutsam rüttelte sie an den Schultern ihrer Gattin. „Shona, bitte rede mit mir! Wer war das eben?“
„Das war Mister Borthwick!“
„Dein Anwalt? Was wollte er denn?“
„Es ging um Morgan.“
Eine eiskalte Hand schien über Siobhans Rückgrat zu gleiten. Anhand von Shonas Reaktion konnte sie nur Morgan Baxter, ihren Ex-Mann und Cybills Vater meinen, der nicht nur Siobhans Galerie auf dem Gewissen hatte, sondern darüber hinaus auch Rowans Ex-Freundin Annabelle dazu angestiftet hatte, Shona mit Schlaftabletten zu vergiften. Mit diesem fingierten Selbstmordversuch sollte sie entweder aus dem Weg geräumt oder aber für derart labil erklärt werden, um ihr das Sorgerecht für Cybill zu entziehen und dadurch an das Erbe von Kincaid Hall zu kommen.
Nun, Morgan Baxter war wegen mittelbarer Täterschaft und Anstiftung zu schwerer Körperverletzung in zwei Fällen sowie versuchten Totschlags verurteilt worden und ins Gefängnis gekommen.
„Was ist mit ihm?“, krächzte Siobhan. Sie ahnte bereits, was Shona ihr gleich sagen würde, noch ehe sie den Mund aufmachte.
„Er wurde heute Vormittag entlassen!“
Kapitel 2
Beim Essen herrschte eine Stimmung wie auf einer Beerdigung.
Zuerst hatte Cybill gedacht, es läge an ihrem Zuspätkommen oder daran, dass sie Mum nicht vorher begrüßt hatte, bevor sie zu Kendra gefahren war. Aber sie war nun mal keine vierzehn mehr. Und sie hatte auch nicht ungeduscht zum Essen erscheinen wollen.
Möglicherweise hatte sie dabei ein wenig getrödelt, na und?
Manche Dinge änderten sich eben nie, kein Grund wie die Trauerklöße am Tisch zu sitzen.
„Entschuldigung“, murmelte sie automatisch auf dem Weg zu ihrem Platz neben Siobhan, die rechts von Graham saß, der wie ein Häuflein Elend am Kopfende kauerte. Was auch geschehen sein mochte, es musste passiert sein, während sie auf ihrem Zimmer gewesen war, um zu duschen und sich umzuziehen.
Auf der Rückfahrt vom Gestüt der Lachlans nach Kincaid Hall hatte sich ihr Großvater jedenfalls nichts anmerken lassen.
Selbst Onkel Rowan, der Cybill gegenübersaß, machte ein Gesicht, als wäre ihm eine hundert Jahre alte Flasche Scotch runtergefallen. Nein, korrigierte sie sich in Gedanken. Vielmehr so, als wäre die gesamte Brennerei in Flammen aufgegangen.
Cybill erschrak.
Sie war zwar nicht so vernarrt in die Destillerie wie ihre Mutter oder Grandma es gewesen war, aber sie war nun mal Teil ihrer Familie und Grundlage ihres Vermögens. Eine solche Nachricht wäre der Stimmung bei Tisch auf jeden Fall angemessen gewesen.
Da sämtliche Familienmitglieder anwesend waren, war zumindest niemand gestorben. Immerhin etwas.
„Ähm … hab ich was verpasst?“
Ihre Mum atmete tief durch und wechselte einen knappen Blick mit Graham und Siobhan, ehe sie ihre Tochter fixierte. „Morgan ist entlassen worden!“
Die Nachricht traf Cybill vollkommen unvorbereitet, wie ein Fausthieb in den Magen. Ihr wurde speiübel. Der Appetit verflog von einer Sekunde auf die andere. Und mit einem Mal wünschte sie sich, es wäre tatsächlich „nur“ ein Feuer in der Brennerei gewesen. Der ohnehin schon düstere Speisesaal mit den hohen holzvertäfelten Wänden, die jegliches Licht aufsaugten wie ein Schwamm, kam ihr plötzlich vor wie ein Sarg.
„Was?“, schnappte sie. „Wie … wie konnte das passieren?“
Ihr Blick streifte ihren Onkel Rowan, der den Kopf senkte und auf seinen Teller starrte, in dem die Suppe längst kalt geworden sein musste. Nein, von ihm hatte sie keine Antwort zu erwarten. Es war auch nicht seine Aufgabe, sondern die ihrer Mutter.
„Nun, wie es aussieht, hat Morgan einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung gestellt …“
„Und dem wurde stattgegeben? Das Urteil lautete zehn Jahre!“
„Das ist richtig“, erklärte Shona. „Aber unter bestimmten Voraussetzungen kann die Strafe nach der Hälfte der veranschlagten Zeit erlassen werden.“
„Wegen guter Führung, oder was?“ Cybill war fassungslos.
Shona legte ihre Serviette auf den Tisch und strich sie glatt. Auch sie hatte die Vorsuppe nicht einmal angerührt und den Teller zurückgeschoben.
„Das ist die Grundvoraussetzung, mein Schatz. Hinzu kommt, dass dein …“, sie biss sich auf die Unterlippe, „… dass Morgan als Ersttäter verurteilt wurde und eine günstige Sozialprognose hat.“
Cybill klappte der Unterkiefer herab. Sie wandte den Kopf, um Siobhan anzuschauen, doch selbst diese hielt den Blick unverwandt auf den Teller gerichtet. Kein Wunder, auch ihr hatte Cybills Erzeuger übel mitgespielt. So wie jedem hier am Tisch. Der Einzige, der noch einigermaßen glimpflich davongekommen war, war Graham.
„Ihr verarscht mich!“ Cybill lehnte sich zurück.
Rowan schnaubte. „Ich wünschte, es wäre so.“
„Ist es aber nicht!“, erwiderte Shona scharf. „Morgan ist frei, das ist eine Tatsache, mit der wir uns abfinden müssen.“
„Aber er wollte dich umbringen!“, rief Cybill. „Er hat Siobhan krankenhausreif prügeln lassen und ihre Galerie angezündet.“
„Genau das ist der springende Punkt“, fuhr Shona fort. „Auch wenn Morgan der mittelbaren Täterschaft angeklagt wurde, indem er Annabelle manipulierte, so hat er nicht selbst Hand angelegt. Laut seines Geständnisses, war es seine Absicht, mir einen Selbstmordversuch anzuhängen. Die Betonung liegt auf Versuch.“
„Wobei er deinen Tod billigend in Kauf genommen hätte“, mischte sich nun auch Siobhan ein.
Shona zuckte mit den Achseln. „Dafür wurde er aber nicht verurteilt. Genauso wenig wie für Siobhans Verletzungen. Die Schläger sollten lediglich die Galerie verwüsten und in Brand stecken. Davon, Siobhan zu verletzen, war nie die Rede gewesen.“
„Das ist doch Bullshit!“ Cybill klopfte das Herz bis zum Hals.
„Mag sein, aber so ist es nun mal.“
„Können wir nichts dagegen unternehmen?“
„Nicht, solange Morgan die Bewährungsauflagen einhält und sich vom Anwesen, der Brennerei und der Galerie fernhält.“
Cybill knirschte mit den Zähnen. Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, doch sie konnte keinen davon fassen, geschweige denn aussprechen. Ihre Augen brannten.
Eine Hand legte sich auf ihren Unterarm. Es war Siobhan. Natürlich war sie es. Sie hatte ein Gespür für Menschen, besonders für ihre Stieftochter. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden. Für Cybill war Siobhan mehr wie eine große Schwester gewesen, nicht die Freundin ihrer Mutter oder deren spätere Ehefrau. Daran hatte sich bis heute nichts geändert, den zahllosen Stiefmutter-Witzen zum Trotz.
Durch die Berührung gelang es Cybill, Ordnung in das Chaos ihrer aufgewühlten Gedanken zu bringen. Die Gefühlskaskade löste sich auf. Die Angst wurde zu einem dumpfen Druck im Magen, was blieb, war die Wut, die ihr Herz mit hämmerndem Bass antrieb. Oder war es nicht viel eher die Scham darüber, was er ihr angetan hatte?
„Er hat mich vergiftet“, murmelte sie mit monotoner Stimme. „Er hat mich abfüllen lassen, um dir das Sorgerecht zu entziehen.“ Sie zog die Nase hoch. „Es ist … es ist nicht fair.“
Betretenes Schweigen legte sich über den Tisch. Cybill hielt den Kopf gesenkt. Sie lauerte geradezu auf irgendeine Plattitüde. So nach dem Motto: Das Leben ist niemals fair. Doch niemand sprach ein Wort und das empfand Cybill beinahe als noch bedrückender.
„Entschuldigt mich!“ Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, sie war schließlich kein Kind mehr, das um Erlaubnis bitten musste. Sie entzog sich Siobhans Griff, stand auf und verließ den Raum. Niemand hielt sie auf.
Shona seufzte. Sie betrachtete ihre Hand, die sich fest um die Serviette gekrampft hatte. Heiße Wut brodelte in ihr, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
Cybill war fort, Siobhan sah aus wie ein Häuflein Elend und die Suppe war kalt. Rowan und Dad starrten dumpf vor sich hin. Ihrem Vater war nicht ein Wort über die Lippen gekommen.
Komm runter, Shona. Es ist nicht Graham, auf den du sauer bist.
Trotzdem brachte sie es zur Weißglut, als er in aller Seelenruhe damit fortfuhr, seine Suppe zu löffeln.
„Wie kannst du jetzt ans Essen denken?“, blaffte sie ihn an.
Er hob den Kopf, aus seinem Blick sprach ehrliche Verblüffung. „Ich habe Hunger. Und es ändert nun mal nichts an den Begebenheiten. Ich lasse mir von Morgan nicht auch noch den Appetit verderben.“
„Also ich brauche jetzt einen Whisky!“, sagte Rowan und erhob sich. Neben dem Stuhl blieb er stehen. „Noch jemand?“
Siobhan hob die Hand.
„Shona?“, fragte ihr Bruder.
„Wollt ihr euch jetzt besaufen, oder was?“
„Vor allem wollen wir wieder runterkommen“, sagte Siobhan. „Also?“
„Von mir aus …“
Rowan ging in den Hintergrund des Speiseraums, der saalartige Ausmaße besaß. Natürlich stand auch hier eine kleine Bar, wenngleich nicht annähernd so pompös wie der Globus in Mutters ehemaligem Arbeitszimmer.
Shona hörte ihn mit den Flaschen und Gläsern klimpern. Unvermittelt meldete sich ihr schlechtes Gewissen.
„Ich sollte mit Cybill sprechen.“
„Später“, sagte Siobhan. „Deine Tochter ist kein Kind mehr. Sie ist neunzehn. Wahrscheinlich hat sie gerade Facetime mit Colin. Willst du sie dabei stören?“
„Warum hat sie den Jungen nicht mitgebracht?“, fragte Graham in dem unbeholfenen Versuch, das Thema zu wechseln.
Siobhan hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ist wohl mit ein paar Freunden zum Fußball. Und Cybill ist froh, Zeit mit Kendra und Devil zu verbringen.“
„Ich glaube, meine Nichte und ihr Freund sind die einzigen Menschen auf dem Planeten, die eine Werktagsbeziehung statt einer Wochenendbeziehung führen“, witzelte Rowan.
Er ging um den Tisch herum und stellte jedem ein Glas Whisky vor die Nase. Graham hatte er gar nicht erst zu fragen brauchen. Der hatte die Suppe mittlerweile restlos ausgelöffelt.
Nachdem alle versorgt waren, hob Rowan sein Glas.
„Auf die Familie! Möge sie auch in Zukunft von sämtlichem Ungemach verschont bleiben.“
„Hört, hört“, sagte Graham und trank den Whisky zur Hälfte aus.
Shona nippte, während sie ihre Frau über den Rand hinweg musterte. Siobhan saß wie zu Stein erstarrt auf ihrem Stuhl.
„Was ist los?“
„Nichts, ich habe nur auf Blitz und Donner gewartet.“
„Du guckst eindeutig zu viele Horrorfilme.“
Siobhan zuckte mit den Achseln und trank nun ebenfalls. Shona warf einen Blick über ihre Schulter zum Fenster hinaus. Siobhans Bemerkung mochte ein Witz gewesen sein, vielleicht auch ein Unkenruf, trotzdem konnte sie sich des unguten Gefühls beim Anblick der dichten Wolkendecke nicht erwehren, aus der der Regen jetzt in dicken Fäden hinab zur Erde prasselte.
„Single Malt? Zwölf Jahre? Bourbon-Barrel?“, fragte Siobhan.
Rowan grinste. „Fast, Schwägerin. Zwanzig Jahre.“
„Viel zu gut für diesen Sausack“, murmelte Shona und beobachtete versonnen die goldbraune Flüssigkeit in ihrem Glas.
„Den trinken wir ja auch nicht auf Morgan, sondern auf uns“, erinnerte sie ihr Bruder.
Graham sah aus, als wollte er etwas sagen. Shona hob die Hand. „Wenn du jetzt wieder hört hört sagst, schmeiß ich das Glas auf den Boden.“
„Äh, eigentlich wollte ich fragen, ob ich den Hauptgang servieren soll.“
Siobhan erhob sich und klopfte ihm auf die Schulter. „Lass gut sein, ich kümmere mich darum.“ Sie verließ den Raum.
„Trink aus, Schwesterherz“, sagte Rowan, der neben Shona Platz genommen hatte. „Den Whisky nicht zu trinken, wäre eine Verschwendung.“
Shona leerte ihr Glas. Wo er recht hatte …
Verdammt sollte sie sein, wenn es Morgan gelang, ihr auch noch die letzten Freuden des Lebens zu vergällen.
„Dein Dad ist aus dem Knast entlassen worden?“
„Ja, ist das zu fassen? Angeblich wegen guter Führung und mildernder Umstände oder so was. Keine Ahnung. Ich sollte Jura studieren. Dann wüsste ich vielleicht, was man dagegen unternehmen kann.“
Colin Mar schwieg. Selbst über das Display ihres Smartphones konnte Cybill sehen, wie er nach Worten rang. Er sah süß aus mit seinen grünen Augen und den braunen Locken, die sein schmales Gesicht umrahmten. So gar nicht wie Keith, der sie im Auftrag ihres Erzeugers mit Alkohol abgefüllt hatte. „Willst du dir wirklich von deinem Vater vorschreiben lassen, was du studierst?“
„Er ist nicht mein Vater!“, zischte Cybill. „Und niemand schreibt mir etwas vor!“
„Aber wenn du nur wegen deines …“ Er zögerte. „Ich meine, wenn du nur wegen Du-weißt-schon-wem das Studienfach wechselst, dann klingt das auch nicht gerade nach freier Entscheidung.“
Cybill schmunzelte. „Sprichst du von Lord Voldemort?“
„Du weißt genau, von wem ich spreche. Du hasst Jura!“
„Ich hasse auch BWL.“
Colin riss die Augen auf. „Warum studierst du es dann?“
Sie seufzte. „Weil ich es brauche. Ich werde diese Brennerei nun mal irgendwann am Hacken haben. Und selbst wenn nicht, auch für eine Kunstgalerie kann man es gut gebrauchen.“
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Also … ich mag Whisky.“
Cybill verspürte einen Stich in der Brust. „Können wir vielleicht über etwas anderes sprechen? Was hast du heute noch vor?“
Er schaute zur Seite und hob die Schultern. „Ich gehe mit den Jungs nur was trinken und danach noch ins The Hive. Und du?“
„Kendra und ich fahren später noch nach Penicuik. Ein paar Freunde treffen, quatschen.“
„Wollt ihr nicht mitkommen?“
Sie überlegte kurz. „Nee, wir wollen nicht so lange machen. Wir müssen morgen früh raus. Kendra hat am Wochenende immer viel zu tun und ich will ihr ein wenig unter die Arme greifen. Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann, wenn sie sich schon um Devil kümmert.“
„Hm, okay. Das verstehe ich.“
Da war sich Cybill nicht so sicher. Colin wirkte bedrückt und sie konnte sich auch denken, woran das lag. Viele seiner Freunde waren Singles und die, die es nicht waren, verbrachten ihre freien Wochenenden mit ihren Partnerinnen. Sie wusste, er würde sofort kommen, wenn sie ihn darum bat, doch genau das brachte sie nicht übers Herz. Noch nicht.
Es klopfte und Cybill erschrak. Früher oder später hatte sie damit rechnen müssen.
„Sorry, Colin. Mein Typ wird verlangt. Mach dir einen schönen Abend.“ Sie überlegte kurz. „Aber nicht zu schön, hörst du?“
„Ich werde mich schrecklich langweilen.“
„Du bist ein schlechter Lügner, aber ich schätze deine Bemühungen. Lieb dich.“
„Ich dich auch.“
Das Display wurde dunkel und Cybill deaktivierte das Smartphone, just als es erneut klopfte.
„Cybill, bist du da drin?“, fragte ihre Mum.
„Jaaa!“, leierte sie. „Wo sollte ich denn sonst sein?“
Ihre Mutter öffnete die Tür. „Zum Beispiel in deinem Zimmer?“
„Wo mich alle zuerst suchen?“
„Das hättest du wohl gerne, wie?“
„Nicht unbedingt, deshalb bin ich ja hier. Aber anscheinend hast du mich ja trotzdem gefunden. Was gibt’s denn?“
„Ich wollte nach dir sehen, ist das verboten?“
„Nein, aber ungewöhnlich.“
„Du bist meine Tochter. Ich mache mir Sorgen. Außerdem … was machst du hier eigentlich?“ Shona breitete die Arme aus.
„Ich wollte alleine sein.“
„Ausgerechnet hier?“
„Ja, ausgerechnet hier. Seit Grandma tot ist, behandelt ihr diesen Raum wie einen Schrein. Ich war mir relativ sicher, dass ihr mich hier zuletzt … Moment, hat Siobhan gepetzt?“
Shona lächelte schmal. „Sie sagte bloß, dass ich hier zuletzt suchen soll.“
„Also ja.“
„Sie macht sich ebenfalls Sorgen um dich.“
„Das ist wirklich rührend, aber ich bin nun wirklich kein Kind mehr, Mum.“
„Aber immer noch meine Tochter.“ Sie setzte sich in den zweiten Lehnsessel. „Was du wegen Morgan durchmachen musstest, war schlimm. Das hätte jede mitgenommen, egal wie alt sie ist. Er ist dein Vater und das hat er schändlich ausgenutzt. Es ist okay, wenn du traurig oder frustriert bist.“
„Das ist nicht unbedingt das, was ich fühle. Ich bin einfach nur … wütend.“ Ihre Kehle schnürte sich zu.
„Gut so.“
Sie schwiegen. Schließlich gelang es Cybill, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. „Hast du Angst?“
Ihre Mum wandte den Kopf. „Vor Morgan?“
Sie nickte.
„Vielleicht … ein wenig. Aber was er auch vorhaben mag, er wird es nicht leicht haben. Nicht nur wegen der einstweiligen Verfügungen. Das, was damals geschehen ist, war für uns alle hart. Und damit meine ich nicht nur das, was dein Vater Siobhan und uns beiden angetan hat, sondern auch Grandmas Tod. Aber es hat uns auch stärker gemacht.“
Shona beugte sich zu Seite und griff nach Cybills Unterarm, so, wie Siobhan es vorhin getan hatte. „Was auch passiert, wir halten zusammen.“
Cybill senkte den Kopf. „Mum, es … gibt da noch was, das ich dir sagen wollte.“
Ihre Mutter richtete sich auf. „Schieß los.“
„Es ist wegen des Studiums. Ich meine, wegen des Wohnheims. Ich habe mit Siobhan gesprochen. Sie wohnt ja sowieso die meiste Zeit hier und die Wohnung über der Galerie steht leer.“
„Fabelhafte Idee!“
„Ich weiß, dass du … warte mal … was?“
„Ich sagte, ich finde, das ist eine fabelhafte Idee.“
Cybill verengte die Augen. „Du hast nichts dagegen, dass ich dort wohne?“
„Nein, warum sollte ich?“
„Na ja, weil du sonst immer so viel Wert darauf gelegt hast, dass ich Verantwortung übernehme und auf eigenen Beinen stehen soll.“
„Graham und Emily bleiben hier, du wirst also den Haushalt alleine schmeißen müssen. Außerdem wirst du Siobhan Miete zahlen.“
„Das haben wir schon geklärt, ich werde ihr in der Galerie helfen und …“ Sie verstummte abrupt. „Ups.“
Shona winkte ab. „War mir klar, dass Siobhan von dem Komplott wusste. Du brauchst sie nicht in Schutz zu nehmen.“
Cybill sprang auf und umarmte ihre Mutter. „Danke, Mum!“
„Ich habe doch gar nichts getan.“
„Trotzdem.“ Sie wich zurück. „He, warte mal … deine schnelle Zustimmung hat zufälligerweise nichts mit Morgans Entlassung zu tun?“
Mum lächelte schmal. „Sagen wir einfach, ich bin nicht unglücklich darüber. Immerhin darf er sich der Galerie genauso wenig nähern, wie der Brennerei oder Kincaid Hall.“
Cybill verzog den Mund und löst sich gänzlich aus der Umarmung. „Dann habe ich es also ihm zu verdanken, dass du nichts dagegen hast?“
Darüber schien ihre Mutter tatsächlich nachzudenken. „Schwer zu sagen. Aber es hat mir die Entscheidung auf jeden Fall leichter gemacht. Kannst du damit leben?“
„Glaub schon.“
„Es ist natürlich eine ziemlich große Wohnung …“
„Was willst du damit sagen?“
„Keine Ahnung, hast du vor, mit Colin zusammenzuziehen?“
Cybills riss die Augen auf. „Was? Auf keinen Fall!“
„Okay, das klingt jetzt nicht besonders verliebt. Wann stellst du ihn uns vor?“
Der Türgong erlöste Cybill aus dem Dilemma. „Ein andermal“, rief sie und eilte zur Tür.
„He, wo willst du hin?“
„Das ist Kendra. Wir fahren nach Penicuik. Hab dich lieb, Mum.“
Plötzlich hatte sie es eilig.
Shona blieb allein in der Bibliothek zurück, die Lady Morag bis zu ihrem Tod als Arbeitszimmer gedient hatte. Der alte Sekretär, von dem aus sie einen herrlichen Blick hinaus in den Garten gehabt hatte, stand unverändert vor dem einzigen Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, damit kein Licht hineinfiel.
Shonas Blick wanderte zu einer Stelle vor dem Schreibtisch. Dorthin, wo ihre Mutter zusammengebrochen war. Graham war bei ihr gewesen, als es passierte. Und obwohl der Rettungshubschrauber rasch hier gewesen war, hatte Lady Morag es nicht geschafft. Sie war nicht mal mehr aufgewacht und im Krankenhaus verstorben.
Ein Aneurysma war geplatzt und hatte ihr einen schnellen Tod beschert. Zum Glück, konnte Shona rückblickend nur sagen, denn ihre Mutter hatte außerdem an einem Hirntumor, einem sogenannten Glioblastom gelitten, das sie über kurz oder lang ohnehin umgebracht hätte.
Wer wusste schon, was ihr dadurch erspart geblieben war.
Es war nur ein schwacher Trost, aber zumindest war es einer. Trotzdem betrat sie dieses Zimmer höchst selten. Fast nie. Genauso wenig wie Rowan und Graham.
Cybill hat recht, dachte Shona. Das hier ist ein Schrein. Vielleicht …
Ein zaghaftes Klopfen an den Türrahmen unterbrach ihre Gedankenkette.
„Störe ich?“, fragte Siobhan und betrat die Bibliothek.
Shona lächelte und schüttelte den Kopf. „Du störst doch nie. Wie kommst du darauf?“
„Ich habe Cybill aus dem Zimmer stürmen sehen und dachte, ihr hättet euch gestritten.“
„Oh nein, ganz im Gegenteil. Wir hatten sogar ein ziemlich gutes Gespräch.“ Sie trat an Siobhan heran, legte ihr den Arm um die Hüfte und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Aber wir beide werden uns mal in Ruhe unterhalten müssen.“
Sie grinste schief. „Hat Cybill es dir also erzählt?“
„Was soll sie mir erzählt haben?“, fragte Shona unschuldig. Sie beschloss, Siobhan ein wenig zappeln zu lassen.
„Komm schon, du weißt genau, was ich meine. Sie hat dir erzählt, dass sie in meine alte Wohnung ziehen möchte, nicht wahr?“
„So ist es.“
Siobhan runzelte die Stirn. „Und?“
„Was, und? Ich habe gesagt, dass ich das für eine fabelhafte Idee halte.“
„Tatsächlich?“
Shona löste sich von ihrer Frau und stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Ja, tatsächlich. Sagt mal, was ist eigentlich mit euch allen los? Ihr tut ja gerade so, als wäre ich eine Despotin, die nur Zeter und Mordio schreit.“
„So drastisch würde ich das nicht unbedingt formulieren. Du bist eben konservativ. Das ist ja nichts Schlechtes.“
Shona nickte. „Ganz genau. Irgendwer muss ja schließlich für Ordnung sorgen.“
„Verstehe“, erwiderte Siobhan leise. „Du hast nur so schnell eingelenkt, weil Morgan aus dem Knast raus ist und du dich besser fühlst, wenn Cybill in Sicherheit ist.“
„Wundert dich das?“
Siobhan schmunzelte. „Auf keinen Fall. Und da sag noch einer, der Kerl wäre zu gar nichts zu gebrauchen.“
„Ja, nur dass es den Ärger, den wir mit ihm hatten, nicht wert ist.“
„Immerhin hast du ihm Cybill zu verdanken. Mehr oder weniger.“
„Das hätte auch jeder andere hinbekommen.“ Shona verließ das Arbeitszimmer ihrer Mutter. Siobhan folgte ihr.
„Was hältst du eigentlich davon, wenn wir morgen wegfahren? Nur wir zwei? Du und ich?“
Shona grinste. „Dass du Rowan und Graham nicht gemeint hast, war mir klar. Was genau schwebt dir denn vor?“
„Ach, nichts Besonderes. Nur ein wenig Seeluft um die Nase wehen lassen. Auf andere Gedanken kommen, den Alltag abstreifen. Zeit miteinander verbringen.“
„Hm, klingt gut.“
„Aber?“
„Nichts aber.“ Shona blieb stehen. „Ich denke einfach, Graham hat recht.“
„Womit?“
„Dass wir uns von Morgan nicht den Appetit verderben lassen sollten.“ Sie küsste Siobhan auf die Lippen. „Egal worauf.“
Kapitel 3
Vor dem Frühstück schob Cybill das Fahrrad aus der Garage und schwang sich in den Sattel. Die Sonne kroch gerade über die Wipfel der Bäume am Rand des weitläufigen, parkähnlichen Grundstücks von Kincaid Hall. Auf den Spitzen der Gräser funkelte der Raureif und Bodennebel waberte zwischen den Stämmen.
Die Luft schmeckte kühl und frisch, nach Regen, Weizen und Abenteuer.
Cybill kicherte bei dem Gedanken, dass in Zukunft vielleicht sie die Werbung für den Whisky der Familienbrennerei übernehmen könnte.
Allerdings müsste sie dann mit Mum zusammenarbeiten und ob ihre Nerven dem gewachsen waren, bezweifelte Cybill ernsthaft. Mit Onkel Rowie käme sie schon irgendwie klar, aber Mum war viel zu sehr wie Grandma, als dass sie Geschäft und Familie trennen könnte. Dass sie und Rowan sich bislang noch nicht gegenseitig an die Kehle gegangen waren, lag daran, dass sie ihre Arbeitsbereiche genau abgesteckt hatten, sodass niemand dem anderen ins Gehege kam.
Cybill trat kräftig in die Pedale. Obwohl es tagsüber weiterhin sommerlich warm war, sofern es nicht wieder einmal regnete, herrschte morgens bereits eine empfindliche Kälte. Die ersten Vorboten des nahenden Herbstes. Sie liebte den September. Wenn nicht mehr diese Bullenhitze herrschte, es aber trotzdem Spaß machte, sich im Freien aufzuhalten, bevor die Natur sich auf den Winterschlaf vorbereitete. Beziehungsweise auf das, was vom Winter übrig geblieben war.
Cybill konnte die Jahre, in denen genug Schnee zum Schlittenfahren gelegen hatte, an einer Hand abzählen. Und selbst dann waren es höchstens ein paar Tage gewesen, bevor sich die weiße Pracht in unansehnlichen Matsch verwandelt hatte.
Aber heute hatte sie keine Lust, sich über den Klimawandel Sorgen zu machen. Heute wollte sie nur einen schönen Tag mit Kendra und Devil verbringen.
Das Gestüt der Lachlans war in den letzten Jahren gewachsen.
Die Ställe waren renoviert und ausgebaut worden, das Geschäft florierte. Immer mehr Touristen wollten die Pentland Hills auf den Rücken von Pferden oder von einer Kutsche aus bewundern.
Das Haus der Lachlans mitsamt des Hofes hatte sich dagegen kaum verändert. Nur der Hofhund Whiskey war in die Jahre gekommen und nicht mehr so verspielt wie früher.
Zwar wedelte er erfreut mit der Rute, als Cybill auf den Hof rollte, doch er hatte es nicht mehr so eilig, zu ihr zu kommen, um sich seine Streicheleinheiten abzuholen. Gemächlich trottete er aus der Hütte neben dem Haus.
Cybill bremste und stieg aus dem Sattel. Sie stellte das Fahrrad am offenen Tor ab und ging in die Hocke. „Heeey, Whiskey, alter Junge.“
Er blieb stehen, schaute sie an und legte sich auf halber Strecke auf den Boden. Cybill runzelte die Stirn und richtete sich auf. „Was ist denn mit dir los? Wirst du alt?“
Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu, woraufhin er den Kopf hob und die Rute wieder wie ein Metronom von einer Seite zur anderen schlug.
„Nee, er ist nur klüger geworden“, erklang in diesem Augenblick eine Stimme von der Eingangstür her. Kendra stand in der Öffnung und zog sich die Reitstiefel an. „Er weiß genau, dass du zu ihm kommst.“
„Das stimmt.“ Cybill ging vor ihm in die Hocke und kraulte ihn hinter den Ohren. Erst danach begrüßte sie ihre Freundin. Sie umarmten sich und gaben sich einen Kuss.
„Guten Morgen, Kenny.“
„Morgen, Billie“, erwiderte Kendra und reichte ihr die Reitstiefel. „Gut geschlafen?“
„Geht so“, murmelte Cybill, die ihrer besten Freundin noch am gestrigen Abend die „frohe“ Botschaft von Morgans Entlassung mitgeteilt hatte. Um das Thema nicht erneut anzuschneiden, sprach sie schnell weiter, während sie mit dem Kinn auf Whiskey deutete. „Aber so schlapp war er doch gestern Abend noch nicht gewesen.“
„Die Arthrose“, erklärte Kendra. „Morgens nach dem Aufstehen geht’s ihm immer etwas schlechter. Aber vielleicht hat sich das ja schon bald erledigt.“
Cybill erschrak. „So schlimm?“
„Wie?“ Kendra wirkte verwirrt, bis sie begriff, wie ihre Worte angekommen sein mussten. „Quatsch, der überlebt uns wahrscheinlich alle noch. Nein, es gibt da ein neues Medikament. Irgendwas mit monoklonalen Antikörpern. Kommt aus der Schweiz. Soll wohl entzündungshemmend wirken und die Schmerzweiterleitung unterbrechen.“
„Aha, und wie wird es verabreicht?“
„Einmal im Monat als Spritze. Dadurch belastet es auch nicht den Magen-Darm-Trakt oder die Nieren.“
„Dann hoffen wir mal, dass es wirkt.“ Cybill tätschelte Whiskey den Kopf. Der Hund hatte offenbar mitbekommen, dass es um ihn ging und ließ sich dazu herab, den Mädchen hinterherzutrotten. Nachdem auch Cybill ihre Schuhe gegen die Reitstiefel getauscht hatte, holten sie die Pferde aus dem Stall. Eine Viertelstunde später ritten sie hinaus in die Pentland Hills.
Whiskey folgte ihnen die ersten fünfzig Yards, bis ihn die Lust verließ und er merkte, dass er mit den Pferden nicht Schritt halten konnte. Er schaute ihnen noch eine Weile hinterher, bis er sich umdrehte und zurück zum Hof trottete.
„Manchmal glaube ich, er sollte mal ’ne Katze werden“, kommentierte Kendra sein Verhalten. Sie war in den letzten Jahren noch hübscher geworden, fand Cybill.
Ihr kräftiges braunes Haar fiel in Wellen auf den Rücken hinab. Die engen Reithosen schmiegten sich wie eine zweite Haut an Beine und Gesäß, sodass man deutlich erkennen konnte, wie trainiert ihre Oberschenkelmuskulatur war. Cybill hatte Kendra schon früher für ihre natürliche Schönheit bewundert und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Im Gegensatz zu ihr konnte Kendra auf jegliches Make-up verzichten. Sie selbst behauptete, das läge an der vielen frischen Luft, die Haut und Haar geschmeidig hielte. Hinzu kamen ein gesundes Selbstvertrauen und ein toller Sinn für Humor. Kein Wunder, dass ihr die Kerle zu Füßen lagen.
Sie hatten eben den Wald erreicht, als Kendra unvermittelt ihre Stute Swiftwind zügelte, benannt nach dem gleichnamigen Pferd aus der Serie SHE-RA.
„Verrätst du mir, was mit dir los ist, oder soll ich raten?“
Cybill war ehrlich überrascht. „Was meinst du?“
„Komm schon, Billie. Wir kennen uns lange genug. Ich weiß doch, dass dich irgendetwas beschäftigt. Ist es wegen deines Vaters?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
Kendra trabte neben sie. „Was denn dann? Streit mit Colin?“
„Auch nicht.“
„Hm, dann weiß ich auch nicht weiter.“
„Es sind irgendwie alle beide, verstehst du?“
Kendra hob die Brauen. „Um ehrlich zu sein: nein. Das verstehe ich überhaupt nicht. Das musst du mir schon erklären.“
„Das ist es ja. Ich kann auch nicht genau sagen, was es ist.“ Sie überlegte kurz, während sie über den Forstweg tiefer in den Wald hineinritten. Durch die dicht belaubten Kronen fiel nur wenig Sonnenlicht. Der Atem der Pferde kondensierte zu kleinen Wolken.
„Erinnerst du dich an Keith?“, erkundigte sich Cybill schließlich.
Kendra schnaubte verächtlich. „Wie könnte ich das Arschloch vergessen?“
Keith Grant war Stallbursche bei den Lachlans gewesen und maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, dass Cybill mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet war, nachdem er sie dazu angestiftet hatte, Whisky aus der Hausbar zu stehlen. Alles im Auftrag ihres Erzeugers Morgan, wie sich herausgestellt hatte.
„Stopp!“, rief Kendra plötzlich. „Willst du etwa behaupten, dass Colin von deinem Vater auf dich angesetzt wurde?“
„Was? Nein, Unsinn. Aber wir haben gestern kurz über Morgan gequatscht und da habe ich gesagt, dass ich Jura studieren sollte, damit solche Drecksäcke nicht vorzeitig entlassen werden.“
„Ja und?“
„Colin war der Meinung, dass ich es bereuen würde, wenn ich das nur aus dem Grund täte, weil mein Erzeuger so ein Arschloch ist.“
„Damit hat er ja nicht ganz unrecht.“
„Ja, kann sein. Aber er sagte auch, dass ich Jura hasse, woraufhin ich sagte, dass ich BWL genauso hasse, es aber nun mal bräuchte. Egal ob ich eine Brennerei oder eine Galerie betreiben wolle. Und dann meinte Colin noch ‒ und jetzt halt dich fest ‒ dass er Whisky mag.“
Kendra verengte die Augen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann.“
Cybill drehte sich im Sattel. „Begreifst du nicht? Was, wenn er nur mit mir zusammen ist, weil er an die Brennerei herankommen will?“
Für mehrere Herzschläge lang war das Stampfen der Hufe und das Gezwitscher der Vögel das einzige Geräusch, das die morgendliche Stille durchbrach.
Dann blies Kendra die Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. „Puh, weißt du was, Billie?“
„Komm, gib’s mir. Ich kann es vertragen.“
Kendra grinste. „Das wirst du auch müssen. Es tut mir sehr leid, dir das sagen zu müssen, aber als deine beste Freundin erachte ich es als meine heilige Pflicht: Cybill Kincaid, du hast gehörig einen an der Klatsche.“
Sie lachte grunzend. „Sag mir was, das ich noch nicht weiß.“
„Und? Hab ich zu viel versprochen?“
Shonas Schnurren machte jeder Katze Konkurrenz und sagte mehr als tausend Worte. Siobhan richtete sich auf und küsste ihre Frau in den Nacken, ehe sie sich wieder an ihren Rücken schmiegte und die Augen schloss.
Kurz nach Sonnenaufgang hatten sie sich mit Siobhans Vauxhall auf den Weg gemacht. Zunächst über die 702 Richtung Edinburgh, dann weiter über die Umgehungsstraße gen Osten, wo sie auf die A1 fuhren. Knapp eine Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht: ein idyllisches Fleckchen namens North Berwick.
Dort begann ihr Ausflug zum vier Meilen entfernten Seacliff.
Zunächst waren sie zur Ruine von Tantallon Castle gewandert, dann weiter zu dem herrlichen Sandstrand, von wo aus sie einen ungehinderten Blick hinaus aufs Meer hatten, bis hin zum Bass Rock, der wie der Buckel einer urzeitlichen Riesenschildkröte aus dem Wasser ragte.
Glücklicherweise hatte auch das Wetter ein Einsehen mit ihnen. Es war zwar bewölkt, doch es fiel kein Tropfen Regen. Lediglich ein scharfer Wind wehte von Osten über die Nordsee. Er spielte mit Siobhans Haaren, weshalb sie sie im Nacken zusammenband. Shona hatte es da mit ihrem Pagenschnitt deutlich leichter.
Barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen wateten sie hinaus in die Brandung. Die Füße versanken im weichen Sand. Winzige Steine, Kiesel und Muschelschalen wurden von ihrem Gewicht zur Seite gedrückt. Kalte Wellen umspülten die Waden, stiegen bis zu den Knien und tränkten die Hosensäume, ehe sie sich gurgelnd ins Meer zurückzogen, wo sie wieder zu einem Teil des Ozeans wurden.
Die Blutgefäße zogen sich in der Kälte schmerzhaft zusammen. Erst als sie es kaum noch aushielten, marschierten sie zurück auf den Strand und genossen die Entspannung und den Wind, der sich mit einem Mal gar nicht mehr so kühl anfühlte, sondern angenehm mild, ja beinahe warm. Die Luft schmeckte nach Salz und Algen.
Später tranken sie Kaffee aus der Thermoskanne, aßen Sandwiches und beobachteten die Wellen. Das Rauschen der Brandung und das Kreischen der Möwen waren die einzigen Geräusche um sie herum. Zumindest die einzigen, die sie bewusst wahrnahmen.
Seacliff mochte zwar nicht zu den großen Sehenswürdigkeiten Schottlands gehören, war aber auch kein Geheimtipp. Trotzdem gab es genug abgeschiedene Ecken, wo sie unter sich sein konnten. Zumal die Hauptsaison längst vorüber war.
Nachdem sie den Kaffee ausgetrunken und ihre Sandwiches verspeist hatten, machten sie sich langsam, Hand in Hand, auf den Rückweg.
Es tat gut, die Seele baumeln zu lassen. Auch Siobhan musste sich das immer wieder bewusst machen. Eine Kunstgalerie zu leiten, war nicht weniger kräftezehrend als das Betreiben einer Whisky-Brennerei. Unter den Künstlerinnen und Künstlern gab es immer wieder schwarze Schafe, die der Meinung waren, als Galeristin wäre es ihre Pflicht, rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche Gewehr bei Fuß zu stehen. Und bei einigen Exemplaren dauerte der Lernprozess mitunter ziemlich lange. Doch um ihrer geistigen Gesundheit willen hatte Siobhan schon früh gelernt, wenigstens an einem Tag in der Woche Kopf und Handy komplett auszuschalten, so schwer es manches Mal auch fallen mochte.
Trotzdem gab es etwas, das seit geraumer Zeit ihre Gedanken beherrschte und auf ihrer Seele lastete. Zunächst war es nicht mehr als ein Flüstern gewesen, ein vages Verlangen, das nur in den seltenen Phasen der Ruhe und Erholung aufflackerte. Doch im Laufe der Jahre war die Stimme in ihrem Herzen lauter geworden. So laut, dass sie sich ihr nicht länger hatte verschließen können. Und es auch gar nicht wollte. Aber sie würde diesen Weg nicht ohne Shona gehen.
Bislang hatte sie das Gespräch mit ihr vermieden, was ihr nicht besonders schwergefallen war. Ihre Berufe waren enorm kräfte- und zeitraubend. Und genau das war einer der Aspekte, der Siobhan immer wieder geholfen hatte, ihren Wunsch zurückzustellen und sich einzureden, dass dies nur eine Phase sei. Doch irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, wo sie ihre Bedürfnisse selbst während der Arbeit in der Galerie nicht länger ignorieren konnte.
Es führte kein Weg daran vorbei, sie würde mit Shona darüber sprechen müssen, ehe das Verlangen sie auffraß. Die Ironie daran war, dass sie insgeheim dieselben Befürchtungen gehegt hatte wie Cybill in Bezug auf die Wohnung über der Galerie. Sie glaubte, bereits im Vorfeld zu wissen, wie Shona darüber dachte und was sie erwidern würde.
Das war wohl auch der Grund, weshalb sie immer wieder Ausreden gefunden hatte, um das Gespräch zu vermeiden. Gleichzeitig war ihr jedoch klar gewesen, dass sie es bereuen würde, wenn sie es nicht tat. Und so war der Plan des gemeinsamen Ausflugs in ihr gereift. Lange vor der Nachricht, dass Morgan Baxter entlassen worden war.
Sie war von der Botschaft mindestens ebenso aus der Bahn geworfen worden wie der Rest der Familie, Graham ausgenommen. Und im ersten Affekt hatte sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen wollen, um den Ausflug und das Gespräch irgendwann nachzuholen, sobald sich die Aufregung gelegt hatte. So in ein oder zwei Monaten.
Erst nachdem sie erfahren hatte, dass Shona die Idee von Cybills Umzug befürwortete, hatte sie sich den entscheidenden Ruck geben können. Der Wunsch nach der eigenen Katharsis mochte dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Auch Siobhan wollte sich ihr Leben nicht von der latenten Bedrohung durch Morgan Baxter beeinträchtigen lassen. Und bislang war dieser Plan ganz gut aufgegangen. Ein wenig zu gut, wenn sie bedachte, dass sie wieder drauf und dran war, zu vermeiden.
Warum den Tag nicht einfach genauso schön ausklingen lassen, wie er begonnen hatte? Es würden sich bestimmt noch zahllose weitere Gelegenheiten ergeben, um über die ernsten Dinge des Lebens zu sprechen. Immerhin hatte auch Shona bislang kein Wort über ihren Ex-Mann oder die Brennerei verloren und Siobhan wollte ungern die Spielverderberin mimen.
„Was bedrückt dich, Siobhan?“
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Seit sie sich kannten, sprach Shona sie mit ihrem vollen Namen an. Sie hielt nicht viel von Kosenamen oder Verniedlichungen.
Siobhan tauchte aus der Tiefe ihres Gedankenmeeres an die Oberfläche und erblickte Shona, die sie besorgt anlächelte. Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen zu Wort.
„Ach, es ist nichts. Ich … war nur in Gedanken.“
„Du bist eine miserable Lügnerin, Siobhan. Warst du schon immer. Also, heraus damit. Machst du dir Sorgen wegen Morgan?“
Die Versuchung die goldene Brücke, die ihr Shona unbeabsichtigt gebaut hatte, zu betreten, war verlockend. Im letzten Moment biss sich Siobhan auf die Unterlippe.
Nein, es reichte. Sie durfte die Angelegenheit nicht weiter auf die lange Bank schieben.
„Das ist es nicht. Ich meine … klar mache ich mir Sorgen, aber ich werde nicht zulassen, dass uns dein Ex den Tag versaut.“
„Was ist es dann?“
Da war er. Der Moment der Wahrheit. Jetzt oder nie, dachte sie sich. Gab es denn einen besseren Ort, um darüber zu reden, als hier, am Strand von Seacliff? Mit dem von lärmenden Möwen umschwärmten Bass Rock im Hintergrund?
Ein Blick in Shonas graue Augen genügte, um sich daran zu erinnern, was sie ihr vor fünf Jahren geschworen hatte. Nein, sie durfte sich ihr nicht länger verschließen. Und dennoch fiel es ihr so unsagbar schwer. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, ihre Hand fühlte sich kalt und klamm an. Unwillkürlich verstärkte sie den Druck um Shonas Finger. Dann stellte sie den Picknickkorb in den Sand, ergriff auch die andere Hand und sah ihrer Frau fest in die Augen.
„Ich möchte ein Baby!“
Shona antwortete nicht. Stumm erwiderte sie ihren Blick, während Siobhan verzweifelt nach einer Reaktion in ihrer Miene suchte. Verdammt, rede mit mir, schoss es ihr durch den Kopf.
„Warum sagst du nichts?“ Es klang beinahe flehend.
Endlich kam Bewegung in Shonas Miene. Ihr Mund öffnete sich, die Lider zuckten. Siobhan konnte förmlich dabei zusehen, wie sie die Information verarbeitete und gleichzeitig versuchte, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Nur war sie im Gegensatz zu Siobhan keine ausgebildete Schauspielerin.
Die Ablehnung stand ihr offen ins Gesicht geschrieben und traf Siobhan wie ein Stich ins Herz.
„Ein Kind? Du willst ein Baby?“
„Ja, das sagte ich gerade.“
Shona zuckte zurück. Für einen Augenblick schien sie sich ihrer Frau entziehen zu wollen. Im letzten Moment besann sie sich eines Besseren. Stattdessen senkte sie das Haupt und schaute auf Siobhans Hände.
„Warum?“ Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich meine … warum jetzt?“
Siobhan hob die Schultern. „Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich spüre den Wunsch schon seit längerem, aber erst in den letzten Wochen wurde er immer konkreter.“
Ärger funkelte in Shonas Augen. „Wochen? Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Aber das tue ich doch gerade.“
„Nachdem du diese Gedanken wochenlang mit dir herumgeschleppt hast?“
„Ja“, erwiderte Siobhan heftig. „Weil ich mir nicht sicher war, ob es eine Phase ist. Eine Reaktion auf die viele Arbeit. Aber das ist es nicht. Und als es mir bewusst wurde, hatte ich einfach Angst, kannst du das nicht begreifen?“
„Angst? Wovor?“
„Vor dir. Vor deiner Reaktion.“
„Jetzt geht das schon wieder los! Ich bin doch kein Monster.“
„Nein, aber dominant. Und mitunter ein wenig harsch.“
Shonas Kiefer mahlten. Sie presste die Lippen aufeinander, sodass sie einen dünnen Strich bildeten.
„Habe ich denn so unrecht?“
Shona schloss die Augen. „Woran … ich meine … wie kommst du darauf?“
„Wie gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich habe nur gemerkt, wie mich der Anblick junger Mütter oder schwangerer Frauen in der Stadt oder auch in der Galerie berührt hat. Ich spürte plötzlich … ich weiß nicht … so eine Leere. Nein, vielmehr eine Sehnsucht. Ich wurde sogar regelrecht neidisch, wenn ich andere Frauen mit dicken Babybäuchen sah. Wie gesagt, zunächst hielt ich es bloß für eine Phase, eine fixe Idee, aber der Wunsch blieb.“
Shona atmete schnaufend aus. „Du hast doch schon ein Kind adoptiert.“
„Cybill ist neunzehn. Sie mag ja offiziell meine Stieftochter sein, aber sie ist mehr wie eine kleine Schwester. Und das weißt du auch. Als wir uns kennenlernten, war sie dreizehn.“ Siobhan trat dicht an Shona heran. „Ich bin jetzt achtunddreißig und die letzten fünf Jahre waren die schönsten meines Lebens, Shona. Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein. Wahrscheinlich war das der Auslöser.“
„Soll das heißen, dass du schon immer Kinder wolltest?“
„Shona, darum geht es doch gar nicht. Ich möchte von dir eigentlich nur wissen, ob du diesen Weg mit mir zusammen gehen möchtest. Denn ich will das nicht ohne dich tun.“
„Aber wie hast du dir das denn vorgestellt? Ich meine, wir sind beide selbstständig.“ Sie zog ihre Hand aus Siobhans Griff und strich sich über die Stirn. „Weißt du, wie viel Stress so ein Kind bedeutet? Ich bin froh, dass Cybill gerade aus dem Gröbsten raus ist.“
„Genau der richtige Zeitpunkt, findest du nicht?“
Shona starrte sie an, als wüsste sie nicht, ob Siobhan einen Scherz gemacht hatte.
„Ich bin siebenundvierzig. Sobald das Kind auf die Welt gekommen ist, werde ich achtundvierzig sein. Vielleicht sogar älter. Es ist ja nicht so, als könnten wir einfach loslegen und in ein paar Tagen wärst du schwanger. Hast du dir eigentlich Gedanken darüber gemacht, wie das funktionieren soll?“
Siobhan spürte, wie sie wütend wurde. „Selbstverständlich! Stell dir vor, ich weiß sogar, dass Kinder nicht in Kohlköpfen heranwachsen.“
„Da bin ich beruhigt, aber das meine ich nicht.“
„Ist mir klar. Ich weiß auch, dass wir vermutlich jede Menge Formulare ausfüllen müssen.“
„Ja, und es wird Zeit kosten. Und selbst wenn es wider Erwarten schnell gehen sollte … wenn das Kind in die Pubertät kommt, werde ich so alt sein wie Mum, als sie starb.“
„Moment, glaubst du wirklich, dass dir dasselbe widerfahren könnte?“
„Ist das so abwegig?“
Siobhan musterte ihre Frau bedrückt. Sie wurde von ihren Gefühlen förmlich überrollt. Sie hatte damit gerechnet, dass es nicht einfach werden würde, mit Shona über das Thema Kinder zu sprechen, aber das hier hatte sie nicht erwartet.
Shonas Argumente mochten nachvollziehbar sein, trotzdem kam sie sich überrumpelt vor. Die Erwähnung von Lady Morag klang fast so, als hätte Shona sie nur vorgeschoben, um die Diskussion abzukürzen. Und das verletzte sie nur noch mehr. Was sollte sie dazu schon sagen?
„Lass uns nach Hause fahren“, schlug Shona vor.
„Gute Idee.“