Kapitel eins
Ländliches Michigan, USA, im Frühjahr 2018
Von außen betrachtet sah Mason Hicks wie ein gesunder Mann Ende dreißig aus: breite Schultern, anständig gekämmtes braunes Haar mit einem akkuraten Seitenscheitel und tiefblaue Augen. Er saß, wie jeden Morgen, um sieben Uhr dreißig am Frühstückstisch. Mit seinen auffallend gepflegten Händen strich er die Stoffserviette auf dem Schoß glatt. Auf einmal wurde sein Blick starr. Manchmal stellte ihm seine Psyche ein Bein. Er war in sich selbst gefangen wie in einem Käfig. Er hoffte inständig, bald zu vergessen, woran er sich fieberhaft zu erinnern versuchte. Es war eine Belanglosigkeit, die er am Vorabend mit Edna ausgetauscht hatte. Der Versuch, sie wieder in sein Gedächtnis zu rufen, beherrschte ihn.
Diese Art von Erinnerungswahn gab es, er hatte es im Internet nachgelesen. Seit einigen Wochen plagte er ihn mehr denn je. Immer, wenn er nervös war, packte ihn der Zwang am Kragen. Doch er konnte es niemandem sagen, nicht einmal seiner Ehefrau Edna. Vielleicht am allerwenigsten ihr.
Er umklammerte den Griff des Marmeladenlöffels, hielt inne und betrachtete das Muster auf dem Platz-Set. In solchen Momenten schien jemand die Pause-Taste in seinem Leben zu drücken. Jemand, der über sein Wesen bestimmte. Eine Macht, die vermutlich ein Teil von ihm war.
Da war noch etwas anderes, das ihm entglitten war. Er bemühte sich vergeblich, das letzte Telefonat mit seiner Tante Karen zu rekapitulieren. Sie hatte etwas gesagt, dem er hatte nachgehen wollen, aber die Information hatte sich in den Windungen seines Gehirns verirrt und war nicht wiederzufinden. Die Gedanken an Vergangenes waren eine Folter. Alle Gesprächsfetzen, mochten sie noch so banal sein, wollte Mason in seinem Gedächtnis wiederfinden. Die Anspannung in seinem Körper stieg mit jeder Sekunde, in der es ihm nicht gelang. Natürlich hat jedes Gehirn nur eine gewisse Kapazität und filtert das Unwichtige heraus. So, wie beim Goldwaschen nur das Wertvolle übrigbleibt. Wieder gelang es Mason nicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es war, als verschwämme alles zu einer Flut von Eindrücken, die ihn zu ersticken drohte. Für ihn hatte jedes Detail Bedeutung.
Seine Fingerkuppen tanzten an der Tischkante entlang. Am liebsten hätte er die Erinnerungen ausgelöscht, vor allem die an seinen Vater.
Er rollte wie in Zeitlupe die Ecke der Serviette auf, entfernte mit dem Kaffeelöffel einen schwarzen Punkt aus der Konfitüre und faltete anschließend den Stoff neben dem Teller gewissenhaft zusammen.
Edna räumte gerade die Spülmaschine aus und summte eine Melodie vor sich hin. Sollte er sie wegen des Gesprächs gestern Abend fragen? Wahrscheinlich hatte sie die Feinheiten auch bereits vergessen. Wie dem auch sei, sie würde es ohnehin niemals verstehen. Mason meinte zu spüren, dass sie es auch nicht begreifen wollte. Sie war eine praktisch veranlagte Frau. Sie wusste, wo ihre Prioritäten lagen. Und Masons inneren Kämpfe missfielen ihr zunehmend. Probleme waren dazu da, um möglichst zeitnah gelöst zu werden, nicht aber, um sich in ihnen zu suhlen, wie er es tat. Sie lebten in einer Leistungsgesellschaft, in der es darauf ankam zu funktionieren. Leistung war Arbeit pro Zeit und die Stunden am Tag waren nun einmal gezählt.
Genau hier lag Masons Problem: Die Tage rannen ihm durch die Finger, weil er auch den Marienkäfer bemerkte, der an diesem Morgen an der Glasscheibe der Terrassentür emporkrabbelte. Das Tier war heller als gewöhnlich und hatte nur drei schwarze Flecken auf den Deckflügeln. Edna würdigte das Tier keines Blickes. Sie räumte weiterhin hektisch den Geschirrspüler aus, während Mason konzentriert Marmelade auf einer Vollkornbrotscheibe verteilte.
„Hast du heute nicht einen Termin bei Doktor Wise?“ Edna sah ihn besorgt an, doch schon im nächsten Moment löste sie den Blick von ihm und verstaute seine Lieblingstasse, auf der in goldenen Lettern Pause and Relax stand, in dem Hängeschrank über der Spüle. Mason betrachtete seine Frau eine Weile. Sie war elegant, zielstrebig und unkompliziert. Meistens wusste sie, was zu tun war. Ihre Meinung war für ihn der berühmte Fels in der Brandung. Doch was eine Therapie anging, blieb er stur. Er wollte ihr nicht sagen, dass er vorhatte, den Termin schon wieder zu verschieben. Zwar würde die Krankenkasse die Kosten zum Großteil übernehmen, aber etwas in ihm wehrte sich allein gegen die Vorstellung, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Selbst wenn dieser dem Namen nach fähig war.
„Ja, um fünf Uhr habe ich einen Termin.“ Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er wollte dort nicht hingehen, Punkt. Seine Strategie bestand darin, Edna im Unklaren zu lassen, auch wenn sie früher oder später sowieso dahinterkommen würde. Sie fand alles heraus, denn sie war eine kluge Frau.
„Ich muss los.“ Sie stellte sich neben Mason und musterte ihn auf die ihr eigene eindringliche Art. „Du willst dir nicht helfen lassen, nicht wahr?“
Adrett gekleidet war sie, dieser ultramarinblaue Hosenanzug stand ihr besonders gut. Wie wohlgeformt ihr Hintern war. Sie schien nicht zu altern. Vor wenigen Tagen hatte sie ihren vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Mit fünf guten Freundinnen und ohne Mason, weil er mit einer Erkältung im Bett gelegen hatte.
„Was meinst du damit?“ Mason nahm einen Schluck Kaffee. Er mochte es nicht, wenn er nicht seine liebste Tasse benutzen konnte. Doch die hatte am Morgen nicht an ihrem gewohnten Platz rechts über der Spüle gestanden.
„Du willst nicht zur Therapie.“ Edna stemmte die Hände in die Hüften. „Gib einfach zu, dass du dich querstellst.“ Ihre Augen wurden zu Schlitzen. „Dabei ist es die einzige Rettung. Für dich und für uns.“
Sie war hin und wieder streng, doch Mason mochte ihre selbstsichere Art ebenso sehr wie ihr Aussehen. Ihren herzförmigen Mund und dieses verführerische Funkeln in den Augen.
„Ich weiß nicht, ob mir eine Therapie helfen kann.“ Er blickte rasch zur Seite.
„Wenn du es nicht wenigstens versuchst, wirst du es nie wissen.“ Edna presste die Lippen aufeinander. Sie hatte die weichsten Lippen, die sich Mason vorstellen konnte. Ihr Mund war der einzige, den er jemals geküsst hatte.
Er schluckte schwer. Natürlich hatte Edna recht, sie hatte in vielem recht. In ihrem logisch denkenden Hirn fand jeder Gedanke einen Platz und jeder unnütze wurde rechtzeitig verbannt. In seinem Kopf hingegen tummelten sich beängstigende Gedanken. Diejenigen, die ihn zwangen, sich erinnern zu müssen. Diejenigen, die dafür sorgten, dass er für die Fahrt zur Arbeit doppelt so lange brauchte wie ein normaler Mensch. Weil er es nicht schaffte, seine Jacke schlampig auf den Rücksitz zu werfen, wie die meisten Menschen. Weil er, bevor er durch das Garderobenzimmer die Garage betrat, die Schuhe, die nicht parallel standen, ordentlich positionierte. Weil er viermal überprüfen musste, ob er die Haustür abgeschlossen hatte. Wenn Edna dabei war, riss sie ihn vom Schloss weg. „Lass das, Mason“, sagte sie dann und war wütend. Sie verstand rein gar nichts.
„Ich bin froh, dass du heute zur Therapie gehst“, sagte Edna schließlich nur und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor sie ihre Sachen zusammensuchte, ihre Handtasche schulterte und mit einem fröhlichen „Tschü-hüss, bis später“ verschwand.
Mason fuhr zur Arbeit, konzentrierte sich auf die kerzengerade Landstraße und versuchte, alle anderen Gedanken zu verscheuchen. Von denen gab es zurzeit zu viele. Er stellte seinen Wagen auf dem weitläufigen Parkplatz der Firma Top Paint ab und pfiff die Melodie, die Edna an diesem Morgen gesummt hatte. Was war es doch gleich? Irgendetwas aus einem Musical, er kam nicht drauf. Edna liebte Musicals.
Mason stieg aus, immer noch pfeifend. Auch der Zentralverriegelung im Auto traute er nicht. Er umkreiste den Wagen zweimal. Dann noch ein drittes Mal, weil keiner zusah. Erst, als er sich davon überzeugt hatte, dass das Auto wirklich abgeschlossen war, überquerte er den Parkplatz. Der Gestank nach Farbe, der ständig von einem der Gebäude herüberwehte, stach in seiner Nase. Er arbeitete seit zwei Jahren bei dieser Firma und hasste deren Produkte. Doch nach über einem Jahr Arbeitslosigkeit war es die beste Lösung gewesen. Ednas Bruder Timothy hatte ihm die Stelle vermittelt. Timothy kannte den Verkaufsleiter von Top Paint und der hatte ein gutes Wort für Mason eingelegt. Zwei Tage zuvor hatte Edna ihm mit der Scheidung gedroht, sollte er nicht zumindest einen Job an der Kasse im Supermarkt annehmen. „Die suchen ständig Hilfe“, hatte sie damals gesagt und sich vor Mason aufgebaut. Sie atmete geräuschvoller als sonst und ihr fester Blick verriet, dass sie nicht zu Scherzen aufgelegt war. Mason landete fast bei Target, obwohl ihm schon bei dem Gedanken an den ständigen Kontakt mit Menschen und Bakterien grauste. Als Timothy am Wochenende anrief, war Mason erleichtert. Er würde wieder in der Buchführung arbeiten können. Zu der Ausbildung in der Buchhaltung hatte ihm seine Tante Karen verholfen, denn sie kannte einflussreiche Menschen in Ann Arbor. Zwar saß er in einem Großraumbüro, aber immerhin allein an einem Schreibtisch, den er selbst in Ordnung hielt. Der Umgang mit Fremden war überschaubar, er konzentrierte sich auf Zahlen, die eine Zuflucht waren. Das Rechnen war keinen Änderungen unterworfen, die Mathematik eine zuverlässige Wissenschaft, in der er sich wohlfühlte. Diese Arbeit, die er nach dem abgebrochenen Studium gelernt hatte, war berechenbar. Im Gegensatz zu all den anderen Dingen, die im Leben geschahen. Die Tätigkeit bei Top Paint war eine kurze Auszeit von den Gedanken im Kopf.
An jenem Tag, an dem sich Mason erneut gegen eine Therapiestunde entschied, nahm er gedankenverloren die mit grauem Teppich bezogenen Stufen in den ersten Stock des Gebäudes, nichtsahnend, dass es sein letzter Arbeitstag bei Top Paint sein würde.
Während Mason im Büro saß, fuhr Edna in ihrem BMW zu einem Besichtigungstermin und hörte einen Podcast über Achtsamkeit. Das Haus, das sie heute verkaufen wollte, war eines der wertvollsten Objekte, mit denen sie in letzter Zeit zu tun gehabt hatte. Die Immobilienpreise in dieser Gegend von Michigan waren in die Höhe geschossen und sie wusste, dass der Besitzer mit einem guten Verkauf rechnete.
Edna bog nach dem prunkvoll gestalteten Schild mit der Aufschrift Pinewood Crest ab. In goldenen, geschwungenen Lettern prangte der Name der Nachbarschaft an einer Holztafel. Edna fand diese Namen oft amüsant, zumal sie weit und breit keinen Berg und bisher auch keine Kiefern ausmachen konnte.
Sie parkte an der breiten, verkehrsberuhigten Straße und zog vor dem Aussteigen den roséfarbenen Lippenstift nach, der bereits zum Großteil an dem Coffee-to-go-Becher in der Getränkehalterung haftete. Sie schwang sich aus dem Auto und setzte das Lächeln auf, das für Kunden reserviert war. In den neuen schwarzen Stöckelschuhen schritt sie die Einfahrt hinauf und ging in ihrem Kopf die Vorteile des Wohnhauses durch, versuchte, sich zu erinnern, was sie über die Schulen in der Gegend sagen könnte. Unter ihrem Arm klemmte eine lederne Mappe.
Sie hatte die Haare hochgesteckt und die noch laue Frühlingssonne wärmte ihren Nacken. Mason hätte die fünf Holzapfelbäume bewundert, die den großen Garten säumten und in zarter, weißer Blüte standen. Edna stattdessen suchte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel, als gerade der Interessent in einem silberglänzenden Mercedes heranfuhr. Den Schlüssel hatte sie doch am Morgen eingesteckt, oder? Plötzlich erinnerte sie sich an den Garagencode und ließ das Tor hochfahren. Der Schlüssel würde sicherlich irgendwo in den Untiefen ihrer Tasche auftauchen.
Der Bodenbelag in der Doppelgarage war gepflegt und in der linken hinteren Ecke führte eine dunkelblaue Tür mit gelben Sprenkeln, den Farben von Michigan, ins Hausinnere. Edna räusperte sich und drehte sich zu dem jungen Mann um, der zielstrebig auf sie zukam. Das Lächeln war in seinem Gesicht erstarrt, so lange, wie er es zu halten vermochte.
„Es freut mich, Sie kennenzulernen!“ Der Kunde mit dem kupferfarbenen Haar trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. Das helle Blau seiner Augen war umwerfend.
„Wie geht es Ihnen, Mister Chesterfield?“ Edna drückte fest seine Hand.
„Mir geht es gut, danke.“ Seine Gesichtszüge und auch Ednas entspannten sich, während sie sich ausgiebig die Hände schüttelten.
Edna sog die Wärme dieser fremden Männerhand in sich auf, ihre Augen scannten den potenziellen Kunden. Mister Chesterfield trug einen dunkelgrauen Anzug und einen hellbraunen Ledergürtel, der perfekt auf den Farbton seiner Lederschuhe abgestimmt war. Er war schlank und athletisch gebaut. An seiner Linken, die lässig neben dem Oberschenkel herabhing, blitzte ein Goldring. Edna strich sich eine ungehorsame Haarsträhne aus der Stirn. Ihr war auf einmal heiß. Eine Schweißperle rann an der Seite ihrer Brust hinunter. Das bemerkte Mister Chesterfield zum Glück nicht.
Edna schämte sich dafür, dass sie sich von diesem Mann sonderbar angezogen fühlte. Vor Mason hatte sie nur zwei feste Freunde und drei kleine Abenteuer gehabt, nichts Erwähnenswertes. Alles war schnell vorbei gewesen, nur an Mason war sie hängengeblieben. Die beiden waren seit fünf Jahren verheiratet und oft hatte Edna das Gefühl, sie wären schon ein altes Ehepaar. Damals hatte sie sich in die Ruhe verliebt, die Mason ausstrahlte. Dass er an der Zwangskrankheit litt, war ihr erst nach der Hochzeit bewusstgeworden. Zwar bemerkte sie, dass Mason langsam und oft umständlich war, doch die Diagnose stellte ihre beste Freundin Madeleine, die Psychotherapeutin war.
„Du musst ihn zum Arzt schicken“, hatte ihr Madeleine damals bei einem gemeinsamen Abendessen zugeflüstert. Edna hatte sich augenblicklich dafür geschämt, dass sie es nicht schon viel früher bemerkt hatte. Vielleicht will man es nicht wahrhaben, wenn der eigene Ehemann ein großes psychisches Problem hat.
„Wollen wir hineingehen?“ Mister Chesterfields Stimme riss sie aus den Gedanken.
„Selbstverständlich.“ Sie öffnete die Tür. In dem Haus roch es angenehm nach Rose und Vanille. Die Besitzer mochten Duftkerzen, das wusste Edna.
„Die Küche wurde vor einem Jahr modernisiert.“ Sie führte ihren Kunden über das Speisezimmer in die geräumige Küche mit weißen Fronten. In der Mitte befand sich eine Kochinsel mit einer Arbeitsplatte aus schwarzem Marmor. „Die Besitzer haben das Haus immer gut gepflegt.“ Edna streichelte mit der Hand über die exquisite Küchenplatte. Sie meinte zu bemerken, dass auch Mister Chesterfield einen raschen Blick auf ihren Ehering warf. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.
„Wie viele Schlafzimmer hat das Haus noch einmal?“, wollte er wissen.
Edna fuhr es bei dem Gedanken an Schlafzimmer kalt den Rücken hinunter. Immer diese Zeit vor dem Eisprung, da hatte sie Gedanken wie ein Teenager! Noch dazu lockte der verführerische Duft nach Frühling, der seit einigen Tagen in der Luft lag. Dabei war ihr die Lust an Sex mit Mason seit ihrer Fehlgeburt vor über einem Jahr vergangen. Davon abgesehen, dass der Verkehr mit ihrem Mann zunehmend eintönig war. Das Vertraute war der Feind des Reizes.
„Begehrst du mich nicht mehr?“, hatte sie ihren Mann einmal geradeheraus gefragt. Mason blieb damals der Mund offen stehen.
„Aber natürlich begehre ich dich, Edna“, sagte er bloß leise, während er die Hose, die er eben ausgezogen hatte, fein säuberlich auf dem Sessel neben dem Ehebett zusammenlegte. Er knöpfte das Hemd auf und entblößte den blassen, nur leicht behaarten Bauch. „Du bist die einzige Frau für mich, das weißt du doch.“ Er trat auf sie zu und legte die Arme um sie. Nicht auf die Art, wie sie es sich gewünscht hätte, sondern so, wie man einen guten Freund umarmt. „Hast du heute einen deiner fruchtbaren Tage?“ Für einen Moment ließ er von ihr ab, als wolle er sicherstellen, nicht unnötig Sex mit ihr zu haben.
„Ich denke schon“, hatte Edna geantwortet, obwohl sie am liebsten gar nichts erwidert hätte. Doch der Geschlechtsverkehr führte nie mehr zu einer Schwangerschaft. Der Frauenarzt konnte es sich nicht erklären.
„Wollen wir nach oben gehen?“, fragte Mister Chesterfield.
Edna bekam eine Gänsehaut. Es klang beinahe wie eine Aufforderung.
Beide zogen die Straßenschuhe aus. Sie ging vor ihm her und die Stufen hinauf, fragte sich, ob er auf ihren Hintern starrte, der bei jedem Schritt wackelte.
„Hier haben wir das erste Kinderzimmer.“ Edna betrat einen großen Raum, an dessen Fenster noch ein bunter Vorhang mit Luftballons hing. Sanfte Sonnenstrahlen streichelten die beigefarbenen Wände. „Und hier ist das dazugehörige Badezimmer.“ Sie schob die Tür auf, die in ein kleines Badezimmer führte.
Mister Chesterfield spähte hinein und lächelte anschließend in Ednas Richtung.
Edna zeigte ihm die beiden anderen Kinderzimmer und fragte sich, ob und wie viele Kinder ihr Kunde wohl hatte. Sollte sie sich erkundigen? Meistens stellte sie keine persönlichen Fragen bei ersten Besichtigungsterminen.
„Und nun kommen wir zum Elternschlafzimmer.“ Edna musste sich räuspern, die Worte wären ihr beinahe im Hals steckengeblieben. Woher kam diese Nervosität? Dieser Mann verkörperte alles, was Edna mit erotischer Anziehung in Verbindung brachte.
Die beiden betraten das Schlafgemach, dessen bodentiefe Fenster den Blick auf einen See und den dahinterliegenden Wald eröffneten, als hinge dort ein Landschaftsbild an der Wand. Der schneeweiße, weiche Teppichboden war so hochflorig, dass Ednas Füße, die in einer hauchdünnen Strumpfhose steckten, ungewöhnlich tief einsanken. Sie konnte sich nicht vorstellen, was an diesem Bodenbelag praktisch war. Er war auf jeden Fall nicht pflegeleicht.
Mister Chesterfield trat ans Fenster, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte hinaus. Erst jetzt fiel Edna sein wohlgeformtes Hinterteil auf, an dem die Stoffhose leicht spannte. Beschämt senkte sie den Blick. Bleib professionell, ermahnte sie sich.
Plötzlich trat er einige Schritte zur Seite und zog den seidenen Vorhang auf der rechten Seite zu. Er bewegte sich entschieden und wiederholte dasselbe auf der linken Seite.
„Das Badezimmer ist besonders geräumig“, erklärte Edna mit dünner Stimme. Sie zupfte den Kragen ihrer Bluse zurecht.
„Ich habe genug von dem Haus gesehen.“ Mister Chesterfield durchquerte den Raum. Er trug lila und grün geringelte Socken und seine Füße waren schmal und lang. Wie selbstverständlich betätigte er die elektrischen Schalter an der Wand. Die Rollläden fuhren lärmend herunter. Edna starrte angespannt vor sich hin. Ihr Atem ging immer schneller. Nur durch die Tür zum Schlafzimmer drang Licht herein.
„Dein Haar ist wunderschön“, flüsterte Mister Chesterfield und trat auf Edna zu. Mit der rechten Hand berührte er ihren Kopf an der linken Schläfe. „Darf ich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte er die Haarspange von ihrem Hinterkopf und ließ den Wasserfall aus kastanienrot getöntem Haar über ihre Schultern fließen.
Edna wollte etwas sagen, doch es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Sie war wie gelähmt, überrollt von dieser zärtlichen Geste.
Er trat noch ein wenig näher an sie heran. Sein Atem roch nach Minze. Edna sah ihm in die Augen. Auch er fixierte sie für einen Augenblick, bevor er sie an sich heranzog. In Ednas Unterleib wurde es warm. Alles in ihr sehnte sich nach diesem Mann, der seine Lippen ihrem Ohr näherte, um anschließend ihren Hals zu küssen. Edna schloss die Augen. Es schien keine Welt um sie herum zu geben. Sie ließ sich fallen. Alles in ihr konzentrierte sich auf seine leidenschaftlichen Berührungen. Er liebkoste ihren Körper. So, als wolle er keinen Quadratzentimeter auslassen. Bald lagen sie halb entkleidet auf dem flauschigen Teppichboden. Die weichen Stofffasern umspielten Ednas Rücken, während ihr Verführer sein Kunststück fortsetzte. Sie dachte an nichts und ließ alles geschehen. Schließlich lagen beide atemlos nebeneinander, nur ihre Finger berührten sich noch. Sie sprachen kein Wort, während sie sich wieder anzogen. Mister Chesterfield bedankte sich für die angenehme Besichtigung und verabschiedete sich. Edna folgte ihm wie in Trance nach unten.
Mit offenem Haar stand sie schließlich auf der Einfahrt und blickte dem sich rasch entfernenden Mercedes hinterher. Sie überlegte, ob sie die Hand heben und ihrem Kunden hinterherwinken sollte, entschied sich aber dagegen.
An diesem Tag standen fünf weitere Besichtigungstermine an. Verwirrt fuhr Edna nach Hause, übersah beinahe eine rote Ampel und bog zügig in ihre Nachbarschaft ab. Hier waren die Häuser nur halb so groß wie das eben besichtigte. Sie ließ den Wagen vor der Garage stehen und eilte ins Haus. In ihrem Hals bildete sich ein harter Knoten, sie konnte nicht fassen, was eben geschehen war. Welcher Teufel hatte sie bloß geritten? Würde sie ihren Job verlieren? Wie sollte sie das jemals Mason beibringen? Am besten gar nicht!
Sie zog die Kleider aus, an denen der Geruch ihres Verführers hing, warf alles in den Wäschekorb und stellte sich unter die Dusche. Ihre dunklen Nippel waren immer noch harte Knoten und sie benutzte doppelt so viel Duschgel wie normalerweise. Trotzdem würde es niemals ausreichen, um die bittere Schuld wegzuwaschen.
Den Rest des Tages erlebte Edna wie in eine Wolke aus Watte gehüllt. Ihr Kopf schmerzte und sie war nicht in der Lage, sich auf ihre Kunden zu konzentrieren. Zwischen zwei Terminen spülte sie hastig eine Schmerztablette auf der Gästetoilette hinunter. Es ging an diesem Tag um eine Wohnung in einem unansehnlichen Backstein-Komplex, ein kleines Haus am Ortsrand, ein Reihenhaus und zwei Standard-Einfamilienhäuser. Die Kunden waren allesamt Familien. Nur der letzte Termin war mit einer Einzelperson, die zum Glück weiblich war. Alles andere hätte Edna überfordert.
Während der Besichtigungen hatte sie das Handy auf stumm geschaltet, doch auf der Heimfahrt hörte sie ihre Nachrichten ab. Die erste war von Mister Chesterfield. Seine Nummer hatte sie unter ihren Kontakten abgespeichert.
„Ich habe mich für ein anderes Haus entschieden.“ Er war freundlich. Professionell. Niemand würde bei dieser Nachricht auch nur vermuten, was er heute getan hatte. „Trotzdem vielen Dank für die nette Zeit.“
Das war alles? Edna starrte fassungslos auf die Fahrbahn und wäre um ein Haar mit dem Vordermann kollidiert, der eben an einer Stoppschild-Kreuzung bremste.
Gedankenverloren hörte sie die nächste Nachricht ab. Ihr Kopf wollte platzen.
„Ich bin es, Mason“, erklang gedämpft die vertraute Stimme ihres Ehemannes. O Gott, Mason, wie konnte ich dir das nur antun, dröhnte es durch Ednas Schädel.
„Heute Abend werde ich etwas später nach Hause kommen.“ Masons Tonfall war traurig.
Edna wurde hellhörig. Der Termin beim Psychotherapeuten war für eine Stunde angesetzt gewesen. Mason war noch nie später als gewöhnlich nach Hause gekommen. Das Abendessen stand immer um achtzehn Uhr auf dem Tisch. Es gab in Masons Leben keine Ausnahmen.
„Warte bitte nicht mit dem Essen auf mich.“ Die Mitteilung war zu Ende.
Verwundert ließ Edna das Telefon in die Handtasche gleiten. Als sie zu Hause ankam, fühlte sie sich elend und einsamer denn je.
Kapitel zwei
Ländliches Pennsylvania, USA, im Jahr 1958
Es gibt Männer, die allein durch ihr Auftreten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie strahlen Charme und Selbstsicherheit zugleich aus, ohne aufdringlich oder arrogant zu wirken. Alistair Smith gehörte zu dieser Sorte von Mann. Das tiefschwarze Haar mit vereinzelten grauen Stellen an den Schläfen saß wie eine Mütze auf seinem Kopf. Sehr aufrecht stehend, mit breiten Schultern und einem festen Blick setzte er sich für seine Mandanten ein. Jeder Richter hielt ihn für den besten Anwalt im Großraum Philadelphia.
„Wann dürfen wir mit einer Schwiegertochter rechnen?“, fragte seine Mutter Cynthia beim Sonntagsbrunch. Sie stellte diese Frage seit Alistairs fünfunddreißigstem Geburtstag, der bereits fünf Monate zurücklag, jeden Sonntag mindestens einmal.
„Du weißt, dass ich für die Liebe keine Zeit habe.“ Alistair lächelte, obwohl es ihn nervte. Er bestrich ein Croissant mit Blaubeermarmelade und goss sich frisch gepressten Orangensaft ein.
Sie saßen auf der weißgetünchten Veranda des Hauses, in dem Alistair groß geworden war. Zu seiner Linken erstreckte sich saftig grünes Weideland, auf dem die schwarz-weiß gescheckten Kühe des benachbarten Farmers grasten. Hinter dem Holzzaun stand eine rot-weiße Scheune. Noch ein Stück weiter in Richtung Landstraße lag eines der vielen Felder von Chester County, die im Herbst golden leuchteten.
„Dann musst du dir die Zeit für die Liebe eben nehmen.“ Alistairs Mutter hob herausfordernd die Augenbrauen und erntete den vorwurfsvollen Blick ihres Ehemannes Cory, der bisher gedankenversunken in die Ferne gestarrt hatte.
Er lehnte in der ihm typischen Tweed-Jacke und einer Baskenmütze am Geländer. Seine Stirnrunzeln verrieten eine gewisse Anspannung, die nicht auf die Enkel-Thematik, sondern auf die Tatsache zurückzuführen war, dass er vor einer halben Stunde mit Freunden im Country Club verabredet war. Doch der Brunch zog sich oft in die Länge.
Alistair biss ein Stück von seinem Croissant ab. Er liebte seine Mutter, doch ihre ständigen Fragen empfand er zunehmend als störend. Für sie blieb er für immer der Vorzeigesohn, in dessen Leben sie Regie führen wollte.
„Lass ihn doch in Ruhe.“ Cory nahm die Mütze ab und legte sie in den Schoß. Sein Haupthaar war schütter, oben am Kopf erinnerte es an den weichen Flaum eines Babyelefanten.
„Ich möchte Enkel haben.“ Cynthia legte eine Hand mit leichtem Druck auf Alistairs Unterarm. Ihr Handrücken war von Altersflecken übersät.
„Du wirst deine Enkel schon noch bekommen“, versicherte Alistair so zuversichtlich, wie er nur konnte. Er erwähnte nicht, dass ihm bisher keine einzige Frau über den Weg gelaufen war, die ihm auch nur annähernd gefallen hätte. Die Schlauen waren unansehnlich oder affektiert, die Hübschen schon vergeben oder für seinen Geschmack zu einfach gestrickt. Darüber hinaus glaubte er an die Fügung des Schicksals. Bei allem, was im Leben geschah.
„Warte nicht zu lange.“ Seine Mutter tätschelte seinen Arm. In ihrem Blick brannte die mütterliche Liebe, die er so sehr schätzte. „Das Leben ist kurz und die Zeit eine Bestie.“
„Hör auf mit dem Gerede.“ Cory schüttelte den Kopf und zog seine Taschenuhr hervor.
„Streitet euch nicht meinetwegen“, bat Alistair und nahm einen Schluck Saft. Er schmeckte heute intensiver als sonst. Die Eiswürfel legten sich kalt gegen seine Schneidezähne.
„Wir finden auch andere Gründe zum Streiten“, flüsterte ihm seine Mutter ins Ohr. Gerade noch so laut, dass Cory es hören konnte, doch der reagierte nicht auf die Anspielung seiner Frau.
Manchmal war sich Alistair nicht sicher, ob er die Ehe für eine wünschenswerte Einrichtung hielt. Die Sticheleien zwischen seinen Eltern wurden immer unangenehmer. Aber wer sagte, dass es mit den Jahren so werden musste?
„Hast du Lust, in den Country Club zu gehen?”, fragte Cory unverhofft. Er wollte wohl so schnell wie möglich weg von zu Hause. Jedes Mal hatte sein Aufbruch etwas Fluchtartiges an sich.
Alistair zögerte einen Augenblick. Hätte er gewusst, dass ihm dort an genau diesem Tag die bezauberndste Frau, die er jemals getroffen hatte, über den Weg laufen würde, dann hätte er sofort zugesagt.
„Geh nur.“ Seine Mutter nahm die Hand von seinem Arm. „Ich werde mich in die Küche zurückziehen und in Ruhe backen. Vergnügt ihr euch ruhig.“
Es war zu früh für das Kartenspiel, aber niemals zu früh für einen Whiskey und eine Zigarre. Cory und Alistair nahmen an der Bar Platz, mit dem Blick auf den perfekten Rasen des Golfplatzes, wo bereits ihr Nachbar Jeremy den Schläger schwang. Er war gemäß den Vorschriften des Country Clubs schick gekleidet, in einer hellen Bundfaltenhose und einem dunkelblauen Poloshirt.
„Reich müsste man sein“, murmelte Cory, bevor er genüsslich einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit nahm.
„Wir sind auch nicht gerade arm.“ Alistair warf ihm einen amüsierten Blick zu.
„Aber ich muss zur Arbeit. Jeremy nicht.“
„Das ist ein Luxus, den nicht jeder haben kann.“ Alistair bestellte sich ein Bier.
Die Stunden im Country Club hatten es an sich zu verfliegen. Man plauderte mit dem Barkeeper oder anderen Anwesenden, trank mehr als gut für einen war und rauchte ausgiebig. Am frühen Nachmittag ließen sich Cory und Alistair zu Hause sehen, um Cynthias Kirschkuchen zu kosten. Anschließend fuhr Alistair in den Ort, um sich eine neue Weste zu kaufen, und Cory las die Zeitung, während seine Ehefrau darauf wartete, dass er mit ihr sprach. Sie fand immer etwas, worüber man reden konnte, aber Cory hüllte sich gern in Schweigen. Gegen fünf Uhr am Nachmittag nahm Cynthia, wie fast jeden Tag, im Wintergarten Platz und widmete sich ihrer Stickerei. Dass Cory und Alistair bald zum Kartenspiel gehen würden, war selbstverständlich. Zum gemeinsamen Abendessen, das sie jeden Sonntag im Restaurant des Clubs einnahmen, würde sich Cynthia dazugesellen.
Als Maria an diesem Abend den Raum betrat, drehten alle anwesenden Männer den Kopf in ihre Richtung, ob sie nun in ein Kartenspiel vertieft waren oder nicht. Erstens war Maria für eine Frau ungewöhnlich groß, zweitens trug sie keine explizite Sonntagskleidung und drittens war ihr Ausschnitt tiefer, als man es in diesen Kreisen gewohnt war. Ihr blondes Haar fiel ungebändigt über ihren Rücken. Sie blickte unsicher in die Runde. Es war klar, dass sie hier nur ein Gast war, und zwar in Begleitung der beliebten Lesley McMorris, die den Gemischtwarenhandel im Ort führte und jeden kannte. Nur Mitglieder des Country Clubs durften hier speisen, aber deren Gäste waren immer willkommen.
„Wer ist das denn?“, flüsterte Cory hinter vorgehaltener Hand.
Alistair zuckte unmerklich mit den Schultern und konnte den Blick nicht von der Fremden abwenden, die Lesley gerade einer Frauengruppe in der hintersten Ecke des Raumes vorstellte. Nie zuvor hatte die Optik einer Frau ihn derart gefesselt. Er hatte von solchen Vorkommnissen gehört, aber diesen Zauber noch nie am eigenen Leib erfahren dürfen – bis zu diesem Tag.
Lesley machte mit der Fremden an der Hand die Runde durch den geräumigen Speise- und Spielsaal. Im Kamin züngelten bereits hungrige Flammen und Alistair wurde auf einmal sehr heiß in der neuen Weste.
„Darf ich euch Maria Evans vorstellen.“ Lesley stellte sich mit ihrer Begleiterin dicht neben Alistair. „Sie ist die Cousine meiner besten Freundin und für eine Weile zu Besuch.“
Alistairs erster Eindruck von Maria wurde bestätigt, aus unmittelbarer Nähe war die Fremde sogar noch umwerfender als von Weitem. Ihre blauen Augen saßen ein wenig zu dicht über den hohen Wangenknochen, aber das machte sie umso interessanter. Alistair sah unwillkürlich auf ihre Hände, die sie unsicher vor ihrem Körper hielt, als wüsste sie nichts mit ihnen anzufangen. Ihre Fingernägel waren nicht lackiert und sie trug weder einen Ring noch sonst irgendeinen Schmuck. Ihr langer Rock, der einmal weiß gewesen sein musste, war schlicht und ihr weinrotes Oberteil enganliegend und so tief ausgeschnitten, dass sich Alistair Mühe geben musste, nicht ständig auf die sanften Hügel ihres Brustansatzes zu starren, zwischen denen sich ein reizvoller Spalt gebildet hatte.
„Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“ Die Worte kamen wie selbstverständlich über Alistairs Lippen.
Maria sah beschämt zu Boden, nickte dann aber kaum merklich.
„Habt eine schöne Zeit!“ Lesleys Stimme war ein aufgeregtes Zwitschern.
Alistair erhob sich und ignorierte die besorgen Blicke seiner Eltern, bot der unbekannten Frau den Arm an und begab sich mit ihr zur Bar.
Kapitel drei
Michigan, im Frühjahr 2018
Edna saß allein am Esstisch in der Küche und bekam keinen Bissen ihres Putenschnitzels hinunter. Das Handy lag neben ihr, zeigte sieben Uhr fünfundfünfzig und keine einzige neue Nachricht. Sie hatte Mason innerhalb der vergangenen halben Stunde fünfmal angerufen, aber nur seine monotone Stimme in der Mailbox-Aufnahme hatte geantwortet.
Verdammt, Mason, du machst mir Angst. Edna sprang auf. Ihre Finger wollten 911 wählen, doch ihr Verstand hielt sie davon ab. Er war eine höhere Instanz als das Bauchgefühl oder das Herz. Warum nur hatte sich ihr Kopf nicht auch bei Mister Chesterfields Berührungen eingeschaltet? Sie hätte sich ihm nicht einfach hingeben sollen. Neben der Sorge um Mason nagte das schlechte Gewissen an ihr.
Einatmen – ausatmen – ganz ruhig, sagte sie sich wiederholt vor und ging im Esszimmer auf und ab. Ihr Körper fühlte sich steif an und ihre Hände waren Eiszapfen. Auf dem Tisch lagen zwei geblümte Tischsets, hier hätte sie mit Mason zu Abend gegessen. Hier speisten sie immer zusammen. Sie hatte das Vertraute liebgewonnen, selbst wenn es sie manchmal aufregte. Jede Abweichung von den alltäglichen Regeln kam ihr auf einmal wie eine Sünde vor.
Sie zwang sich, wieder am Tisch Platz zu nehmen und sich zu sammeln. In solchen Situationen half nur, einen klaren Kopf zu bewahren. Es war nicht ihre Art, gleich in Panik zu verfallen.
Doch tun musste sie etwas, denn, nichts zu tun, war keine Lösung. Sie musste sich Hilfe holen. Jemanden befragen, der ihr eventuell weiterhelfen konnte. Außenstehende hatten oft einen klareren Blick. Doch wen sollte sie anrufen? Vielleicht war die Firma die beste Wahl, schließlich wäre es wichtig zu wissen, ob Mason heute bei der Arbeit gewesen war. Sie zückte das Handy.
„Hallo, hier Edna Hicks!“ Sie erschrak vor der eigenen nervösen Stimme und war gleichzeitig dankbar, dass um diese Uhrzeit noch jemand bei Top Paint ans Telefon ging. „Könnten Sie mir sagen, ob mein Ehemann Mason Hicks heute bei der Arbeit war?“
„Ich richte hier nur gerade ein IT-Problemchen“, sagte der Mann und Ednas Hoffnung sank mit einem Mal. „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Alle anderen Mitarbeiter sind schon weg.“
Edna bedankte sich und beendete mit einigen Höflichkeitsfloskeln das Gespräch. Sie rieb sich die Schläfen, schloss kurz die Augen und dachte angestrengt nach. Als Nächstes rief sie ihren Bruder Timothy an.
„Ist alles in Ordnung, Edna?“ Er klang aufrichtig besorgt.
Im Hintergrund kreischten gefühlt zwanzig Kinder, denen Timothys Ehefrau Betsy etwas zurief. Edna war kein Fan von Betsy. Nicht, weil sie seit zehn Jahren alle zwei Jahre ein Kind bekommen hatte, sondern weil sich ihr Leben ausschließlich um ihre Liebsten drehte. Die Frau war nur noch eine funktionierende Hülle.
„Nichts ist in Ordnung.“ Ednas Augen wurden feucht. Sie wollte kein Geheimnis daraus machen, dass Mason an diesem Abend nicht wie gewohnt nach Hause gekommen war. „Mason ist verschollen.“
„Was meinst du damit?“ Timothy musste sich in ein Zimmer gesperrt haben, denn der Lärmpegel wurde plötzlich erträglich. „Hast du im Badezimmer gesucht?“
Der Witz war im Grunde genommen nicht schlecht, denn Edna hatte sich schon oft bei ihrem Bruder beklagt, dass Mason mehr Zeit dort verbrachte als jede Frau, die sie kannte. Aber jetzt war er fehl am Platz.
„Mason ist heute nicht von der Arbeit zurückgekehrt.“
„Vielleicht ist er mit einem Kollegen ausgegangen.“ Timothy versuchte immer, eine einfache Erklärung zu finden, genau wie Edna. Aber heute hatte sie das ungute Gefühl, dass es für Masons Verschwinden keine plausible und vor allem keine beruhigende gab.
„Mason geht nie mit jemandem aus. Nicht einmal mit mir.“ Edna hörte sich wie ein beleidigtes Kleinkind an.
„Irgendwann ist es immer das erste Mal.“
„Hör auf, die Sache herunterzuspielen!“ Ednas Kopf glühte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihr älterer Bruder sie beruhigen wollte, als sei sie noch ein kleines Mädchen.
„Dann ruf die Polizei an, Edna.“
„Genau das will ich noch nicht tun.“ Sie schwang nervös den Fuß auf und ab. „Sagen wir, Mason hätte einen Unfall gehabt. Dann wäre ich doch darüber informiert worden, oder?“
Timothy seufzte am anderen Ende der Leitung. Natürlich wusste er, dass er Edna nichts vorschreiben konnte.
„Mason will nicht, dass ich ihn kontaktiere. Er geht nicht ans Telefon. Und genau das macht mir Sorgen.“
Timothy sagte eine Weile nichts. Edna stand auf, stellte sich mit dem Handy an die Terrassentür und blickte auf den künstlich wirkenden, giftgrünen Rasen hinaus. Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, Mason vorzuschlagen, am Wochenende eine Runde mit ihm zu golfen. Sogar Sex mit ihm schien verlockend, jetzt, da er weg war. Edna riss die brennenden Augen auf, damit die Tränen nicht überquollen.
„Hör zu, Edna, ich an deiner Stelle würde noch ein paar Stunden warten.“
„Genau das habe ich vor.“ Ihr Hals schnürte sich zu. „Aber könntest du mir bitte noch Adrians Nummer geben?“ Insgeheim hoffte Edna, dass dem Verkaufsleiter etwas an Mason aufgefallen war. Ihr Bruder schickte ihr Adrians Handynummer auf ihr Telefon.
„Ich würde aber erst einmal abwarten“, sagte er.
„Ich will wenigstens wissen, ob Mason bei der Arbeit war. Wie weit er weg sein könnte.“ Sie atmete geräuschvoll ein und wieder aus. „Falls er sich aus dem Staub gemacht hat.“
„Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen. Er wird schon wieder auftauchen.“
Wie sehr wollte sie seinen Worten Glauben schenken!
Edna verabschiedete sich von Timothy und starrte auf seine Nachricht. Warum sollte sie Adrian, einen Familienvater, um diese Uhrzeit stören, nur, weil ihr Mann abhandengekommen war? Mason war ein erwachsener Mann und würde sich bei Gelegenheit sicherlich melden. Vielleicht war ihre Reaktion übertrieben. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Mason stets wie ein Kind behandelte. So, als wäre er nicht fähig, sein Leben selbstbestimmt zu führen. Seine unsichere Art hatte es herausgefordert, dass sie ihn ständig bemutterte. Ihm Ratschläge gab. Ihm so gut wie nichts zutraute.
Sie zog ihre Haussocken mit den lilafarbenen Bommeln am Saum an und versuchte, sich auf ein Frauenmagazin zu konzentrieren. Schon nach wenigen Minuten merkte sie, dass es ihr niemals gelingen würde. Stattdessen holte sie eine Praline aus der Schachtel in der Speisekammer, die ihr Madeleine zum Geburtstag geschenkt hatte, neben einem Gutschein für ein Wellness-Wochenende in Chicago. Auf einmal verloren solche Dinge an Bedeutung, als hätte jemand das Bühnenlicht entschlossen auf Mason gerichtet. Damit sie endlich hinsah.
Immer, wenn etwas Unerhörtes geschah, wurde der Alltag zu einer Banalität. Heute waren zwei Dinge geschehen, die sich in Edna festgebissen hatten: Sie hatte ein Abenteuer mit einem Kunden gehabt und Mason war nicht nach Hause gekommen. Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass Mason sie nach all den Jahren mit solch einer Aktion überraschte. Wie war jemand, der ihr so nahestand, dazu in der Lage, sie derart zu überrumpeln? War es ein Zeichen, dass sie ihn nicht gut genug kannte?
Die Pralinenschachtel war fast leer, als es Edna einfiel: Madeleine war die Lösung! Warum nur war ihr das nicht schon früher eingefallen? Ihre beste Freundin war eine Weise, wenn es um die menschliche Psyche ging. Sie konnte die verworrensten Windungen der menschlichen Seele nachvollziehen. Edna wählte ihre Nummer, die sie auswendig kannte.
„Ist Madeleine zu Hause?“, fragte sie gehetzt, nachdem sie sich bei ihrem Ehemann Logan erkundigt hatte, wie es ihnen allen ginge. Madeleine war im sechsten Monat schwanger und es hatte allerlei Komplikationen gegeben.
„Madeleine ist bei der Schwangerschaftsgymnastik. Und bei uns ist alles im grünen Bereich.“ Logans Stimme war gelassen. Er war der Ruhepol der Familie.
Edna fragte sich, wer bei Mason und ihr diese Funktion innehaben würde, sollte es eines Tages mit dem Nachwuchs klappen. Sie hatte sich irgendwann auf das Planen des Kinderglücks eingelassen, weil sie Mitleid mit Mason hatte. Dabei war sie noch nicht bereit dafür. Madeleine betonte immer wieder, das sei der falsche Grund.
„Wann kommt sie wieder zurück“?“ Die Finger von Ednas freier Hand tippelten unruhig auf ihrem Oberschenkel.
„So gegen halb zehn“, sagte Logan.
Edna blickte auf die hohe Wanduhr, die ein Erbstück von Masons Vater Elliot Hicks war, den sie nie gekannt hatte. Das waren noch neunundsiebzig unerträgliche Minuten, die wie zäher Sirup dahinfließen würden!
Edna verabschiedete sich. Sie hörte Masons Nachricht noch einmal ab, um eventuelle Hintergrundgeräusche oder eine besondere Gemütsregung in seiner Stimme herauszuhören, aber da war nichts, was ihr weiterhalf. Also schaltete sie den Fernseher an. Kaum waren die ersten Minuten ihrer Lieblings-Soap verstrichen, begannen die Alarmglocken in ihrem Kopf erneut zu schrillen. Es lag ihr nicht, herumzusitzen und zu warten. Sie machte sich auf die Suche im ganzen Haus, vielleicht würde sie Spuren finden oder Mason hatte sogar eine Nachricht für sie hinterlassen. Am Anfang ihrer Ehe hatte er manchmal kleine Zettel neben ihrem Zahnputzbecher oder unter ihrem Kopfkissen platziert, auf denen stand Du bist mein Wunder oder Meine Schönheit. Niemals Ich liebe dich. Diesen Satz hatte Mason kein einziges Mal ausgesprochen, obwohl Edna das sichere Gefühl hatte, dass ihr Mann sie so liebte, wie ein Ehemann seine Frau lieben sollte: auf eine reife, verantwortungsvolle Art. Nicht kopflos wie die verliebten Pärchen, die Hand in Hand durch die Stadtparks Ann Arbors schlenderten. Oder hatte sie sich getäuscht? War Mason mit einer anderen Frau durchgebrannt? Hatte er Geheimnisse vor ihr? Gab es etwas, wovon sie nichts wusste? Weil sie sich zu sehr auf ihre Karriere als Immobilienmaklerin und all die Dinge, die im Leben nun einmal erledigt werden mussten, konzentriert hatte. War sie schuld an seinem Verschwinden? War er überhaupt verschwunden? Oder nur heimlich irgendwo unterwegs?
Edna durchwühlte das Bett, das Mason jeden Morgen machte. Auf seinem Nachttisch lagen ein Gedichtband von Lord Byron und eine ungeöffnete Packung Melatonin-Tabletten, die Edna für ihn besorgt hatte, weil er oft nur mit Mühe einschlafen konnte. Soweit sie wusste, hatte er nie eine genommen. Sie wünschte sich, mehr mit ihm gesprochen zu haben, obwohl ihr klar war, dass solche Reue im Nachhinein fehl am Platz war. Es war wichtig, im Augenblick das Richtige zu tun.
Im gemeinsamen Badezimmer war nichts Auffälliges zu entdecken. Es bot sich das übliche Bild: Neben ihrem eigenen Waschbecken lagen wild durcheinander Haarbänder, ein Kamm, verschiedene Cremes und Lotionen, ein zerknülltes Taschentuch, ein Massageschwamm, ein Lippenstift und einige Eyeliner, während Masons Waschtisch ein Beispiel für makellose Ordnung war. Er räumte jeden Tag hinter sich auf, als wäre es sein letzter. Warum nur war Mason so ein sonderbarer Mensch? Edna hatte eine Ahnung, aber nie ernsthaft mit Mason darüber gesprochen. Madeleine meinte, Menschen mit Zwangsleiden müssten eine äußere Ordnung bewahren, um ein Gegengewicht zu ihrer gequälten Psyche zu schaffen. War Mason ein innerlich gepeinigter Mensch und Edna hatte es nie ernst genug genommen? Weil sie davon ausging, dass man sich zusammenreißen konnte, wenn es nötig war.
Sie eilte die Treppe in den Hobbyraum hinunter, dort befand sich ihr gemeinsamer Tresor. Sie hatte in letzter Zeit bemerkt, dass Mason viele Abende im Untergeschoss verbracht hatte, ab und zu auf dem Heimtrainer gesessen, aber meistens bloß ruhig gewesen war. Jetzt tippte sie den Code zum Öffnen ein und sah die Sachen im Tresor durch. Es waren ihre Reisepässe, wichtige Dokumente aus der Zeit des Hauskaufs, ein kleines grünes Heft, in dem Mason Gedichte aufschrieb, die Edna nie gelesen hatte und auch jetzt nicht lesen wollte, und ein schlichter, gefalteter Zettel. Mit zitternden Händen entfaltete sie ihn.
Ich, Mason Hicks, hinterlasse alles, was ich an materiellen Gütern besitze, meiner Frau Edna Hicks und unseren gemeinsamen Kindern,
stand dort in seiner kindlichen Handschrift geschrieben. Die Buchstaben waren geschwungener als nötig, wie kleine Kunstwerke in sich. Das Datum war der Januar diesen Jahres. Edna hätte laut aufgelacht, wäre die Lage nicht so ernst gewesen. Was hatte Mason schon irgendjemandem zu vermachen? Alles, was sie besaßen, gehörte im Grunde genommen ihr! Sie war diejenige gewesen, die Geld in diese Ehe gebracht hatte, und von den erwähnten Kindern war weit und breit keine Spur. Plötzlich fühlte sie sich schwach. Es war, als drückte eine riesige Hand auf ihre Brust. Sie ließ sich auf das braune Sofa fallen und legte die rechte Hand auf den Unterleib, in dem es ein wenig zog. Vermutlich der Eisprung. Den Zettel ließ sie zu Boden gleiten und faltete die kalten Hände vor dem Gesicht, das sich unter warmen Tränen verzerrte.