Prolog
1797
Stoke Castle, Yorkshire
Henry eilte so schnell er konnte den eiskalten, düsteren Flur hinunter. So schnell zumindest, wie ein Mann mit einer beinahe schmerzhaften Erektion laufen konnte.
Ein Mann? Ha! Er knirschte mit den Zähnen und ignorierte das höhnische Gelächter seines Begleiters. Seines eingebildeten Begleiters.
Niemand sonst möchte dein Freund sein, also würde ich lieber meine Zunge hüten, mein Junge …
Henry war nicht verrückt; er wusste, dass die Stimme in seinem Kopf, die ihn täglich beschimpfte, nicht die eines Freundes war – ob nun eingebildet oder nicht. Und es kam noch schlimmer: Es war sein eigener Verstand, der ihm ständig Beschimpfungen an den Kopf warf und das bisschen Selbstvertrauen untergrub, das er aufzubringen vermochte. Wenn man schon einen imaginären Begleiter hatte, so sollte er doch wenigstens gesellig sein und einen unterstützen.
Bei diesem dummen Gedanken schnaubte er leise. Aufmerksam behielt er den Flur im Blick, während er sich seinen Weg durch die Dunkelheit bahnte. Dies war ein Teil von Stoke Castle, den er nur einmal zuvor besucht hatte, und da war er ein Junge von sieben Jahren gewesen und versehentlich in den Familienflügel gelaufen. Die Prügel, die er bezogen hatte, nachdem er entdeckt worden war, hatten dazu geführt, dass Henry diesen Teil des Gebäudes neun lange Jahre gemieden hatte.
Doch diesmal war alles anders. Diesmal ging er nicht an einen Ort, an dem er nicht willkommen war. Diesmal war er … eingeladen worden. Von Julia. Allein der Gedanke an ihren Namen ließ seinen bereits harten Schwanz zucken.
Du beruhigst dich besser oder dein aufregender Abend wird vorbei sein, ehe er begonnen hat.
Henry setzte eine finstere Miene auf, weigerte sich aber, sich in einen sinnlosen Streit verwickeln zu lassen. Nicht nur, dass er immer verlor – er war auch zu nahe an Julias Zimmer, um klar zu denken. Vor ihm lag die letzte Abzweigung auf seinem langen Weg von den Dienstbotenunterkünften zum Schlafzimmer des Mündels seines Onkels. Als Henry die Tür erreichte, deren Knauf mit einem rosafarbenen Band markiert war, hielt er inne. Sein Herz schlug so laut, dass es ein Wunder war, dass es nicht jeder im Haus hörte. Er musste sich beruhigen. Wenn er so zu ihr ging, würde er allein durch ihren Anblick kommen. Dies hier war seine Chance. Seine einzige Gelegenheit zu beweisen, dass er ihrer wert war. Lady Julia war nicht nur die Tochter eines Dukes, sondern auch das schönste Mädchen in der Geschichte Britanniens. Und sie wollte ihn, Henry Singleton, den Bastard eines in Ungnade gefallenen jüngeren Sohnes und eines Zimmermädchens. Er nahm mehrere tiefe Atemzüge und betrat dann das Zimmer, genau wie sie ihn angewiesen hatte. Auf der Türschwelle hielt er inne und spähte in den Raum, in dem es noch dunkler war als auf dem Flur.
„Komm rein und schließ die Tür – schnell.“
Henry schrak zusammen, als er das laute Flüstern vernahm. Er tat wie ihm geheißen, und als er die Tür hinter sich schloss, sperrte er auch das wenige Licht der Wandlampen im Flur aus.
„Ich kann nichts sehen“, flüsterte er, und auch das klang in dem stillen Zimmer unnatürlich laut.
„Geh zwei Schritte nach vorn, dreh dich dann nach rechts und geh weiter, bis du zu meinem B-bett kommst.“
Henry lächelte, als sie beim Wort Bett ins Stottern geriet. Bis dahin hatte er gedacht, er sei der Einzige, der angesichts ihres Vorhabens nervös war.
„Hast du auf deinem Weg hierher irgendwen gesehen?“, fragte sie, während er vorsichtig ihren Anweisungen folgte.
„Nein.“ Er stieß mit seinem Schienbein gegen etwas Hartes und unterdrückte einen Aufschrei.
„Scht.“
Henry verzog in der Dunkelheit sein Gesicht. „Ich habe mir nicht mit Absicht das Bein gestoßen.“
„Wo bist du?“, zischte sie.
„Am Fußende deines Betts, glaube ich.“
Er vernahm das Rascheln des Bettzeugs, bevor eine warme, zarte Hand die seine berührte. „Zieh dich aus.“
„W-was?“ Nun war er es, der stammelte.
„Wir können es wohl kaum tun, wenn du angezogen bist.“ Sie schwieg kurz und fügte dann hinzu: „Du hast das doch schon einmal gemacht, hoffe ich.“
Ihr spöttischer Ton trieb ihm die Hitze ins Gesicht. „Natürlich habe ich das.“
„Nun, dann zieh dich aus.“
„Komplett?“, fragte er zögernd. Er hatte nichts ausgezogen, als er es zuvor getan hatte. Und er hatte es oft getan. Allerdings mit Dienstmägden und nicht mit einer edlen Dame.
„Henry …“, säuselte sie. Beim Klang ihrer sanften Stimme richteten sich alle Haare an seinem Körper auf. „Möchtest du meine nackte Haut nicht an deiner spüren?“
„Mmph.“ Das unartikulierte Geräusch kam über seine Lippen, bevor er es aufhalten konnte. Er ergoss sich heftig in seine Hose. Henry stöhnte und umklammerte das Bettgestell, während sein Höhepunkt in ihm tobte.
„Scht!“
Er war nicht in der Verfassung, etwas zu erwidern.
„Was machst du denn, Henry?“
Irgendwie bezweifelte er, dass sie die Antwort auf diese Frage schätzen würde, also biss er die Zähne zusammen und schob das betäubende Vergnügen mit reiner Willenskraft beiseite, während er an den Haken und Knöpfen seines Hosenlatzes fummelte und seine Stiefel mit seinen bleiernen, unbeholfenen Füßen abstreifte. Es war beschämend und unglücklich, aber immerhin war es im Raum so dunkel, dass sie nie erfahren würde, was passiert war. Hoffentlich.
Als Henry sein Hemd auf den Boden warf, hatte er die Gewalt über seine Extremitäten beinahe zurückgewonnen. Sein stets williger Schwanz stand bereits wieder wie ein Mast.
„Henry, wenn du nicht sofort hierherkommst, wirst du …“
Er kletterte auf das Bett, und Julia quiekte erschreckt auf. Henry tastete auf dem Bettzeug umher. „Wo bist du? Ich kann …“ Ihr ohrenbetäubender Schrei klang in der bleiernen Stille, die die Dunkelheit erfüllte, umso lauter. Henry schrie seinerseits kurz auf und warf sich nach hinten wie ein Krebs, der vor einem Angreifer flieht. Er war der Bettkante so nahe, dass er hinüberkippte und flach auf seinem Rücken landete.
Julia schrie erneut, und diesmal hatte Henry keine Luft in seinen Lungen übrig, um zu fragen, was zur Hölle eigentlich los war. Die Tür flog auf, und das Licht aus dem Flur – das kaum vorhanden gewesen zu sein schien, als er hierhergekommen war – leuchtete nun wie die Mittagssonne.
„Was geht hier vor?“, bellte die Stimme seines Cousins.
Henry nahm verschwommen Julias weinende, in die Laken gewickelte Gestalt wahr, die vom Bett zur Tür huschte. „Ich bin aufgewacht, und er war über mir, Charles! Und er ist nackt!“
An diesem Punkt war Henry tatsächlich dankbar, dass er nicht zu sprechen vermochte.
Ich habe es dir gesagt, krähte die Stimme in seinem Kopf schadenfroh. Ich habe dir gesagt, dass es irgendeine Falle ist. Dagegen konnte Henry nichts sagen, selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre.
„Zieh dich an du … du … widerliches Schwein!“ Charles warf Henrys im Raum verstreute Kleidungsstücke auf ihn.
„Was ist hier los?“, verlangte eine neue Stimme zu wissen.
Ah ja, sein Cousin Edmund. Henry lachte, was wie ein ersticktes, gurgelndes Geräusch klang.
„Henry hat sich in Julias Zimmer geschlichen und … nun, du siehst ja selbst, was das verkommene Schwein vorhatte. Ich sagte, zieh dich an“, schrie Charles erneut.
Henry war endlich in der Lage, Luft zu holen und stemmte sich in eine sitzende Position. Die Schreierei und die Anschuldigungen, die von der Türschwelle hinter ihm kamen, ignorierte er. Er fischte sein Hemd aus dem verworrenen Haufen und zog es als Erstes an. Die Farce war beinahe beendet. Es fehlte nur noch ein Schauspieler, um Henrys Demütigung zu vervollkommnen. Wie gerufen trat sein Onkel Robert, der Earl of Rotherhithe, auf. „Was zum Teufel soll dieser Aufruhr?“, erklang seine Stimme aus dem Flur.
„Henry ist in Julias Zimmer geschlichen und wollte sich ihr aufzwingen.“ Charles’ Stimme war beinahe ebenso tief und befehlsgewohnt wie die seines Vaters, obwohl er nur ein Jahr älter war als Henry, dessen eigene Stimme immer noch gelegentlich brach und quietschte. Julia schluchzte lauter und kreischte kurz auf, als Henry sich erhob. Sein blanker Hintern zeigte in ihre Richtung, während er sich in seine Hosen kämpfte.
„Schaff sie hier raus, du Narr“, sagte Onkel Robert.
Julias Schluchzen und die beruhigenden Stimmen seiner Cousins entfernten sich mit ihren leiser werdenden Schritten.
„Beeil dich“, befahl sein Onkel. Henry schlüpfte in Weste und Mantel. Als er sich setzte, um seine Strümpfe und Stiefel anzuziehen, sagte sein Onkel: „Trag die in der Hand und komm mit.“
Draußen im Flur sah er das stahlgraue Haar seiner Großtante Millicent in einem Türrahmen. Ihre Schlafhaube saß schief, und sie blickte mit großen Augen auf die Szene vor ihr.
„Rotherhithe, was ist …“
„Geh wieder zu Bett, Millicent“, bellte der Earl.
Sofort schloss sich die Tür wieder ebenso wie die anderen, die sich geöffnet hatten. In allen Zimmern wohnten ältliche Verwandte des Earls, die von der Freigiebigkeit ihres Familienoberhauptes lebten. Es waren auch alles Henrys Verwandte, obwohl nicht einer von ihnen Henry in den letzten zwölf Jahren anerkannt hatte. Als sie vom Familienflügel in den Teil des Gebäudes gingen, in dem sich das Studierzimmer seines Onkels befand, erschienen weitere Köpfe in den Türrahmen – die Köpfe der Diener. Henrys Leute. Er knirschte mit den Zähnen, als er Mrs. Jenkins erblickte, die Haushälterin und auch die Frau, die ihn aufgezogen hatte, auch wenn er sie niemals Mutter genannt hatte.
„Mylord?“, fragte sie und zog einen wolligen grauen Schal um ihr Nachtgewand aus schwerem Flanell. „Stimmt etwas nicht?“
„Packen Sie die Sachen des Jungen“, sagte der Earl knapp, ohne sie anzusehen. „Cook soll ein Bündel mit Essen zusammenstellen, und Falkirk soll anspannen. Der Junge wird in einer Stunde ins Dorf gebracht.“
Mrs. Jenkins warf Henry einen verängstigten Blick zu, drehte sich jedoch auf dem Absatz um, um den Befehlen ihres Herrn zu gehorchen. Der Earl stieß die messingbeschlagene Tür zu seinem Studierzimmer auf und schritt zu seinem riesigen Schreibtisch. Henry ließ sich auf einen Stuhl sinken und zog seine Strümpfe und Stiefel an. Sein Körper bewegte sich mechanisch, sein Kopf war völlig leer. Er hörte das Klingeln von Schlüsseln und bekam mit, wie eine Schublade geöffnet wurde. Schließlich vernahm er das Quietschen des Stuhls seines Onkels, als dieser sich daraufsetzte. Dann klimperten Münzen.
„Das ist alles, was du je von mir bekommen wirst.“
Henry band seinen zweiten Stiefel zu, bevor er aufsah.
Der Earl blickte ihn finster an. „Du bist eine Schande. Ich wusste das, aber ich hätte nie gedacht, dass du ein angehender Vergewaltiger bist.“
Henry spürte, wie seine Lippen sich zu einem höhnischen Grinsen verzogen, konnte aber nichts dagegen tun.
„Du hältst das für lustig, ja?“
Henry sagte kein Wort.
„Du wirst das hier nehmen“, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken zu dem kleinen Lederbeutel auf seinem Tisch, „und du wirst mit der Kutsche ins Dorf fahren. Es ist genug Geld, um zu fahren, wohin du willst, und dich dort ein oder zwei Monate lang über Wasser zu halten. Was du tust, entscheidest du. Du kannst verhungern, wenn du möchtest. Aber du wirst niemals wieder an diese Küste zurückkehren. Tust du es, werde ich dich verhaften und in die dunkelste Zelle im schlimmsten Gefängnis werfen lassen, das ich finden kann. Ich werde dafür sorgen, dass du wegen Vergewaltigung verurteilt und gehängt wirst. Glaub nicht, dass ich zu viel Angst habe, den Namen Singleton zu beschmutzen, um das zu tun, Junge. Nun geh mir verdammt noch mal aus den Augen. Du machst mich krank.“
Henry stand auf, drehte sich um und ging zur Tür.
„Junge! Du hast dein Geld vergessen.“
Henry blieb stehen und wandte sich wieder seinem Onkel zu – einem Mann, der ihn nicht einmal als Verwandtschaft anerkannt oder ihm in zehn Jahren einen freundlichen Blick oder ein liebes Wort geschenkt hatte.
„Das könnt Ihr behalten, Onkel. So wie Ihr im vergangenen Jahr an den Spieltischen zugange wart, braucht Ihr es sicher dringender als ich.“
„Unverschämter Bastard einer Hure!“, donnerte der Earl und sprang auf. Henry schluckte den Schmerz und die Wut angesichts der vertrauten Beleidigung hinunter, die in der Vergangenheit eher von seinen Cousins und nicht von seinem Onkel gekommen war. Dann drehte er sich um und verließ das Studierzimmer seines Onkels. Er ging nicht wie befohlen in die Küche, er wartete nicht auf die Kutsche. Und er sagte keiner einzigen Seele Lebewohl. Er ging lediglich kurz in den kleinen Raum, den er seit mehr als zehn Jahren bewohnt hatte. Dort zog er seinen schweren Mantel an, hob die Matratze, um das Geld zu holen, das er in den letzten Jahren mit verschiedenen Arbeiten verdient hatte, und schob das alte Medaillon mit den Miniaturen seiner verstorbenen Eltern in die Tasche. Anstatt das Haus durch die Vordertür oder den Dienstboteneingang zu verlassen, benutzte er den hinter einer Rüstung versteckten Ausgang, damit er niemandem begegnete.
Noch immer war es stockdunkel, als er Stoke zehn Minuten später verließ. Henry war erfüllt von einem Gefühl der Misshandlung und der brennenden Entschlossenheit, niemals wieder an diesen Ort oder zu diesen Menschen zurückzukehren, die ihn immer nur abgewiesen und gedemütigt hatten. Er ging seiner unbekannten und furchteinflößenden Zukunft entgegen, ohne sich auch nur einmal umzusehen.
Kapitel 1
Zwanzig Jahre später im Dorf Cocklesham
Annis las den Brief von Mr. Pears, Großmutters Anwalt, immer und immer wieder durch, als würde wiederholtes Lesen auf magische Weise seinen Inhalt verändern.
„Annis, Liebling? Annis?“
Sie blickte auf. „Hm?“
„Was ist los, meine Liebe?“ Lady Cecily streckte eine knochige weiße Hand aus und tastete damit in der Luft umher.
„Ähm …“ Als eine Frau, die fünf Jahre lang an einer Akademie für junge Damen Sprachen unterrichtet hatte, konnte Annis nun noch nicht einmal zwei Wörter in ihrer Muttersprache aneinanderreihen. Die verschleierten Augen ihrer Großmutter, die einst vom selben lebhaften, ins Violette spielenden Blau gewesen waren wie ihre eigenen, blinzelten blind und in blindem Vertrauen zu ihr auf. Sie hatte Annis damit betraut, diesen Brief für sie zu lesen, so wie sie es ihr überlassen hatte, sich um all ihre Geschäfte zu kümmern, während sie selbst in den letzten acht Jahren ihr Augenlicht gänzlich verloren hatte. Annis hatte ihr Vertrauen vergütet, indem sie Richard Leech in ihr Leben gelassen und ihm Zugang zu ihrem Haus und all ihren Besitztümern inklusive ihres Körpers gewährt hatte.
„Geht es dir nicht gut, meine Liebe?“
Annis ließ sich wenig anmutig auf einen Polsterhocker sinken, da sie nicht länger zu stehen vermochte. „Es geht mir gut“, schwindelte sie. „Ich bin nur ein wenig müde.“
„Du klingst atemlos.“ Lady Cecily läutete die Glocke neben ihrem Sessel. Eine Glocke, die jetzt möglicherweise ebenfalls Eigentum der Gläubiger war, die im Brief erwähnt wurden, den Annis noch immer in der Hand hielt.
Die Tür öffnete sich so schnell, dass Mary, die Zofe ihrer Großmutter, auf der anderen Seite gelauscht haben musste.
Und warum nicht?, dachte Annis. Ihr Leben habe ich ebenfalls zerstört. Welche neue Anstellung konnte eine Zofe, die sich der Siebzig näherte, schon finden?
„Sie haben geläutet, Mylady?“, fragte Mary.
„Bitte holen Sie das Hirschhornsalz für meine Enkelin.“
Annis schüttelte ihre Trance ab. „Kein Hirschhornsalz, wirklich, Großmama.“ Sie lächelte Mary an. „Aber ein Tee wäre wunderbar.“
Lady Cecily sah Annis einen langen Moment aus ihren blinden Augen an und nickte dann. „Na schön. Es scheint, als würde Tee ausreichen, Mary.“
„Sehr wohl, Mylady.“
Die Tür fiel ins Schloss, und ihre Großmutter wandte sich ihr wieder zu. „Was hat Mr. Pears in seinem Brief zu sagen, meine Liebe?“
Annis öffnete ihren Mund, um ihrer Großmutter die Wahrheit zu sagen, aber wie so oft in ihrem Leben kam etwas gänzlich anderes dabei heraus.
„Offenbar hat es größere Verluste gegeben, als er erwartet hatte, aber er sagt, es besteht kein Grund zur Sorge, da solche Schwankungen normal sind, nun da der Krieg vorbei ist.“ Sie biss sich auf die Lippe, während sie sich ihre nächste Lüge zurechtlegte. „Er schlägt vor, dass ich bei nächster Gelegenheit nach London komme, um in deinem Namen einige Dokumente zu unterzeichnen.“ Und um auf die Knie zu fallen und um Gnade zu betteln.
Das Lächeln ihrer Großmutter erhellte ihre zarten Züge. „Oh, du bist so gut zu mir, Annis“, sagte sie, und ihre Worte schnitten wie Messer in Annis’ Seele. „Ich weiß, wie ermüdend eine Reise in die Stadt sein kann, aber du wirst auch deine Freundinnen wiedersehen – Lady Sedgwick, Honoria Keyes und diese gescheite Frau, die Steinarbeiten macht. Wie hieß sie noch gleich?“
„Serena Lombard“, antwortete Annis hölzern. „Aber sie lebt nicht mehr bei Freddie. Sie ist verheiratet und lebt bei ihrem Mann. Ebenso wie Honoria, die nun Lady Saybrook ist.“
„Ah ja! Stimmt. So viele schöne Hochzeiten in so kurzer Zeit.“
Annis konnte sich nur vorstellen, wie die Freundinnen, die ihre Großmutter erwähnt hatte, reagieren würden, wenn sie ihnen beichtete, wie sie von einem intriganten Dieb bezirzt worden war, der ihren Namen auf finanziellen Dokumenten gefälscht und die Freunde ihrer Großmutter bestohlen hatte. Wobei er Annis als unwissende Komplizin benutzt hatte. Annis schloss fest ihre Augen, beschämt darüber, wie grauenvoll und albtraumhaft alles klang, wenn sie es derart ausformulierte.
Vergiss nicht zu erwähnen, dass er dich auch um deine Jungfräulichkeit beraubt hat.
Als wenn sie das vergessen könnte.
„Annis? Annis?“
Sie blickte in das verwirrte Gesicht ihrer Großmutter. „Bitte entschuldige, Großmama, was sagtest du?“
„Ich sagte, du solltest meinen Sohn besuchen gehen, während du in London bist.“
Annis war dankbar, dass ihre Großmutter nicht sehen konnte, wie sie ihr Gesicht verzog. Das einzige noch lebende Kind Lady Cecilys war Thomas Bowman, ein Mann, der sich von Annis’ liebem verstorbenen Vater unterschied wie die Nacht vom Tage. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Redewendung: unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie kannte dieses Sprichwort. Annis’ Finger trommelten auf dem verblassten blauen Musselin, das sich über ihrem Knie spannte, während sie in ihrem Gedächtnis nach dem Ursprung des Ausdrucks kramte. Es war Mittelenglisch, dessen war sie sich sicher–
„Annis, Liebes? Bist du noch hier?“ Ihre Großmutter bewegte ihren Kopf hin und her, als könnte sie das kleine Wohnzimmer tatsächlich sehen.
„Es tut mir leid, Großmama, ich habe nur gerade über die Reise nachgedacht“, schwindelte sie schon wieder. „Ich fürchte, ich habe nicht gehört, was du zuletzt gesagt hast.“
„Ich sagte, du solltest das Angebot deines Onkels annehmen, dir in dieser Saison einen Ehemann zu suchen.“ Lady Cecily legte die Stirn in Furchen. Die Grübchen, die ihren Mund einrahmten, traten deutlich hervor. „Deine Tante ist nicht immer einfach, aber nun wird sie außer sich sein, weil sie die beiden Mädchen verheiraten möchte. Sie wird sie in dieser Saison von einer Einladung zur nächsten schleppen.“
Ein Grund mehr für Tante Agnes, keine verarmte Nichte um sich haben zu wollen. Aber Annis verkniff sich einen Hinweis darauf.
„Ich werde sie besuchen, Großmama.“ Sie erschauderte bei dem Gedanken an eine frostige halbe Stunde mit ihrer Tante und deren unverheirateten Töchtern Susanna und Miriam und dem grässlichen verwöhnten Erben Percy.
Lady Cecily seufzte. „Ich weiß, ich sollte es nicht erwähnen, aber ich hatte solche Hoffnungen in Mr. Leech gesetzt. Er war ein so netter junger Mann, und ich dachte, du wärst sehr von ihm angetan. Oh, nicht, dass ich dich loswerden möchte, meine Liebe. Es hätte mich zutiefst betrübt, wenn du nach deiner Hochzeit nach Yorkshire hättest gehen müssen, aber …“ Die alte Dame ließ den Gedanken im Raum stehen.
Ja, Annis hatte den freundlichen, gut aussehenden Mr. Leech ebenfalls gemocht. Sie hatte ihn so sehr gemocht, dass sie ihm alles anvertraut hatte, was sie besaßen. Sie war so eine Närrin! Sie konnte sich gerade so davon abhalten, sich ihrer Großmutter zu Füßen zu werfen und alles zu gestehen. Aber damit hätte sie ihr Elend mit einer Person geteilt, die nichts dazu beigetragen hatte, aber den größten Schaden davontragen würde.
Annis schluckte ihre Tränen, ihre Wut und ihre Scham hinunter. Was nützte es, sich zu wünschen, sie hätte sich anders verhalten? Das würde bedeuten, in Selbstmitleid zu baden. Doch sie musste die Dinge wieder in Ordnung bringen und nicht jammern. Und dafür brauchte sie Geld: 11.072 Pfund. Wenn sie nur an diese Summe dachte, biss sie sich so fest auf ihre Lippe, dass sie Blut schmeckte. Für eine Frau von hoher Geburt gab es nur einen Weg, schnell an so viel Geld zu kommen: Sie musste einen reichen Mann heiraten. Und zwar schnell. Es war der einzige Weg sicherzustellen, dass ihre Großmutter nicht in irgendeinem erbärmlichen Heim für Blinde oder Irre endete – wo ihre Tante die arme Lady Cecily sicher versuchen würde unterzubringen.
Wenn irgendwer einen Ehemann für Annis finden könnte, wäre es ihre Tante Agnes – eine Frau, die so pragmatisch und skrupellos war wie ein General der Armee. Die Art Mann, die ihre Tante für sie finden würde, stand nicht zur Debatte. Schließlich hatten Bettler keine Wahl. Beinahe lächelte sie über die Redewendung aus dem sechzehnten Jahrhundert.
„Ich habe beschlossen, das Angebot meines Onkels anzunehmen“, kündigte Annis an. Es hörte sich an, als hätte sie gründlich darüber nachgedacht und sich nicht erst dreißig Sekunden zuvor entschieden. Das Lächeln ihrer Großmutter erhellte den Raum. „Ich freue mich wirklich, das zu hören. Du bist eine schöne, wohlerzogene junge Frau mit einem liebevollen Wesen. Ich weiß, dass mein Sohn und seine Familie eine Herausforderung sein können, aber Agnes wird dir helfen, den Mann zu finden, den du verdienst, meine Liebe.“
Annis faltete den Brief, während die Worte ihrer Großmutter ihr in den Ohren klingelten: Du wirst den Mann finden, den du verdienst. Sie erschauderte beim Gedanken an die Art Mann, die sie verdiente. Sie – eine Frau, die so dumm war, den Notgroschen des Menschen, den sie auf der Welt am meisten liebte, einem abscheulichen, diebischen Hochstapler zu geben?
Nein, wenn es eines gab, was Annis sicher wusste, dann war es, dass sie den Mann, den sie verdiente, niemals treffen wollte.
Zwei Wochen später, London, The Clarendon Hotel
Henry Singleton, der siebte Earl of Rotherhithe, nippte an einem edlen Claret und überblickte dabei den opulenten Speisesaal des Hotels. Obwohl im Clarendon dieselben weißen Gesichter zu sehen waren wie auf jeder Firmenversammlung in Kalkutta oder Dhaka, erschienen ihm die Menschen hier unerprobt und schwächlich. Doch Henry wusste, dass das eine Illusion war. Auf der ganzen Welt gab es keine Kreatur, die unverwüstlicher und bedrohlicher war als ein Mitglied der englischen Upper Class, besonders wenn es darum ging diejenigen zu verfolgen, die es ihrer Meinung nach nicht verdienten, in ihren Reihen zu sitzen. Mit anderen Worten: solche wie Henry.
Colin Parker hob sein Glas, als würde er es Henry Schluck für Schluck gleichtun wollen. „Das klingt nach einem richtig guten Scherz, den Ihr Euch da ausgedacht habt“, sagte Colin. „Aber ich denke, Ihr könntet Euch glücklich schätzen, auch nur eine halbe Saison zu haben, bevor der Spaß vorbei ist, Mylord.“
Henry beugte sich vor. Durch die plötzliche Bewegung zuckte sein Dummkopf von einem Angestellten zusammen. „Ich werde auffliegen, bevor dieses verdammte Essen vorüber ist, wenn Ihr mich nicht Parker nennt, Mylord.“ Die erstaunlich blassen Wangen des echten Colin Parker färbten sich rot. Es war Henry ein Rätsel, wie der Mann von der brutalen indischen Sonne so unversehrt geblieben war, nachdem er vier Jahre in Dhaka gelebt hatte.
„Aber …“ Colin biss sich auf die Unterlippe und blickte Henry an wie ein Nager eine Kobra.
„Ja, Mylord?“, fragte Henry in einem Ton, der so sanft und geduldig war, wie er es nach sieben geschlagenen Stunden in der Gesellschaft des anderen zustande brachte.
„Äh, warum muss ich Sie mit Parker ansprechen, auch wenn wir allein sind, äh, Parker?“
„Weil man nie wissen kann, wer zuhört, Mylord“, sagte Henry. Ganz zu schweigen davon, dass du weniger Grips als ein Hammelbein hast und jedes bisschen Übung brauchst, das du kriegen kannst.
Der blauäugige Adonis mit den rabenschwarzen Haaren, der ihm gegenübersaß, grinste in plötzlichem Verstehen und zwinkerte Henry übertrieben zu. „Ah, natürlich, My– ähm, Parker. Ganz recht, ganz recht. Die Wände haben Ohren.“ Er drehte seinen Kopf und ließ seinen Blick durch zusammengekniffene Augen durch den Raum schweifen, bevor er sich wieder an Henry wandte und sich über den Tisch zu ihm hin beugte, wobei sein rechter Ärmel das Butterstück streifte. „Aber My– ähm, Parker, sorgen Sie sich nicht, dass jemand aus Indien Sie hier erkennen könnte?“
„In beinahe sieben Jahren habe ich außerhalb von Dhaka keine sozialen Kontakte geknüpft“, erinnerte Henry ihn so ruhig er konnte, was ihn einige Mühe kostete, da sie eben jenes Thema gerade erst am Tag zuvor erörtert hatten. Und am Tag davor. Er fuhr fort. „Und in den letzten zehn Jahren bin ich nur zwei Mal in Kalkutta gewesen. Auch das nur geschäftlich. Ich habe es so gut es ging vermieden, an Firmentreffen teilzunehmen. Niemand dort wusste, wer mein Vater war, und ich habe niemandem erzählt, dass ich möglicherweise eine Grafschaft erben würde. Tatsächlich habe ich meine Verwandtschaft zum Earl of Rotherhithe nie erwähnt. Also nein, ich glaube nicht, dass ich mir Sorgen machen müsste, Mylord.“
Colins Miene entspannte sich. „Äh, natürlich. Ganz recht.“ Er räusperte sich und fügte mit leiser Stimme hinzu: „Parker.“
Henry war wider Willen belustigt über den Versuch des Mannes, seine eigene tiefere und leicht kratzige Stimme zu imitieren; es erinnerte ihn an einen Welpen, der einen Wolf nachzumachen versucht. Dennoch versuchte Colin Parker es. Buchstäblich.
„Aber Mylo– ähm, Parker“, flüsterte Colin laut, „was, wenn jemand aus der Zeit, bevor Sie England verlassen haben, Sie erkennt? Sicher würde Ihre Familie Sie erkennen?“
„Nein.“
Colin zuckte bei der harschen einsilbigen Antwort zurück wie ein gescholtener Spaniel. Henry wurde weich. „Meine Familie“ – er sagte das Wort als schmeckte es faulig, weil es genau das tat – „lebt in Yorkshire. Selbst bevor ich nach Indien aufgebrochen bin, ist niemals jemand von ihnen nach London gekommen.“ Nicht weil sie nicht gewollt hätten, sondern weil sie alle zu knapp bei Kasse gewesen waren. Aber das brauchte Colin nicht zu wissen. Sein Kopf war bereits wirr genug. Henry bemerkte, dass Colin ihn noch immer anstarrte, wobei ihm die Verwirrung in sein perfektes Gesicht geschrieben stand.
„Außerdem“, ergänzte Henry, „ist es zwanzig Jahre her, dass ich zuletzt jemanden von ihnen gesehen habe. Natürlich wussten sie alle von mir, aber ich bezweifle, dass mehr als einer oder zwei von ihnen mich erkennen würden.“ Eine davon war Julia, die heuchlerische Schlampe, die seinen Cousin Charles geheiratet hatte – den verstorbenen Earl – und der andere war Edmund, Henrys schleimiger mutmaßlicher Erbe. Beim Gedanken an die beiden Menschen, die er auf der Welt am wenigsten mochte, verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, bei dem der arme Colin zurückwich. Julia war der Grund, warum Henry geschworen hatte, niemals zu heiraten, und Edmund – welche Ironie – ließ Henry seinen zwanzig Jahre alten Schwur vergessen und sich tatsächlich mit dem Gedanken tragen, sich eine Ehefrau zu nehmen. Weil er verdammt sein wollte, wenn er sterben und die Grafschaft – so verarmt sie auch sein mochte – dem verfluchten Edmund überlassen würde. Henry blickte aus seinen Rachegedanken auf und sah, dass Colin ihn nachdenklich musterte. „Es ist nicht nur zwanzig Jahre her, Mylord. Ihr müsst auch wissen, wie es für mich im Haushalt meines Onkels gewesen ist.“ Er beugte sich dicht zu Colin. „Ich möchte das nur ein einziges Mal erklären, Mylord. Hört Ihr zu?“
Colin machte große Augen, und sein Adamsapfel hüpfte.
„Ich war der verwaiste Sohn des in Ungnade gefallenen, verstorbenen jüngeren Bruders meines Onkels. Der Earl hatte meinen Vater aus dem Haus verbannt – aus der Familie – und ihm verboten, jemals wiederzukehren.“ Er lächelte freudlos. „Sicher könnt Ihr Euch vorstellen, wie erfreut seine Lordschaft war, mich fünf Jahre später auf seiner Türschwelle vorzufinden, nachdem mein Vater gestorben war. Könnt Ihr mir folgen, Mylord?“
„Ja, P-Parker.“
„Der Earl schickte mich nicht zur Schule wie seinen Sohn Charles oder meinen anderen Cousin Edmund. In der Tat habe ich vom Tag meiner Ankunft, als ich kaum fünf war, bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr keinen Fuß aus dem verdammten Yorkshire gesetzt. In den gesamten elf Jahren, acht Monaten, drei Wochen und zwei Tagen, die ich bei meinem Onkel gelebt habe, hat er mich niemals jemandem außerhalb der Familie vorgestellt.“ Wieder spuckte er das Wort aus. „Tatsächlich hat er mich niemals öffentlich als seinen Neffen anerkannt. Ich habe meine gesamte Kindheit im Dienstbotenquartier verbracht. Mrs. Jenkins, die Haushälterin, hat sich um mich gekümmert.“ Im Nachhinein war das vielleicht das einzig Nette, was sein Onkel jemals für ihn getan hatte. Mrs. Jenkins hatte ihn zwar nie geliebt, aber sie war auch nie grausam zu ihm gewesen. Sie hatte Henry eher wie eine weitere ihrer Pflichten behandelt als wie ein Kind, das Liebe und Zuneigung brauchte. Ihr Umgang mit ihm war wesentlich freundlicher gewesen als alles, was er je von seinen Onkeln und Tanten, seinen Cousins oder dem lieblichen Mündel seines Onkels, Lady Julia Tybald, erfahren hatte.
Lady Julia. Henry schnaubte. Er hatte Straßendiebe getroffen, die sich damenhafter verhalten hatten als die ehemalige Liebe seines Lebens. Der Gedanke an die Tochter eines Dukes, die einst sein Herz gebrochen, es unter ihrem anmutigen Fuß zerquetscht und dann einen Pfahl hindurchgestoßen hatte, bestärkte Henry mehr denn je in seinem Entschluss, sich einen kleinen Spaß mit der besseren Gesellschaft zu erlauben. Er fuhr mit seiner mitleiderregenden Geschichte fort.
„Ich bin im Dienstbotentrakt aufgewachsen, habe mit den Kindern der Angestellten gespielt und bis zu dem Tag, an dem ich gegangen bin, nur unter Dienern und Landarbeitern gelebt. Also, Mylord, wenn kein Stallbursche – oder vielleicht die Küchenmagd, die mich von meiner lästigen Jungfräulichkeit befreite, als ich vierzehn war – in einem Londoner Ballsaal auftaucht, bezweifle ich, dass ich jemandem begegne, den ich kenne.“
Colin sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, und Henry schalt sich, weil er den armen Mann geängstigt hatte, der sich in ein nervliches Wrack verwandeln würde, wenn Henry sich nicht zügelte, wenn er mit ihm sprach.
„Atmet tief durch, Mylord.“
Colin gehorchte. Dann öffnete er seinen Mund, schloss ihn jedoch wieder.
„Stellt mir Fragen, wenn Ihr müsst“, ermunterte Henry ihn. „Jetzt ist Zeit dafür.“
„Also tun Sie dies alles nur, um einen Scherz zu machen?“
„Ich verstricke mich nicht zu meinem reinen Vergnügen in diese kleine Täuschung.“ Obwohl diese Motivation einen großen Teil ausmachte, so kindisch sie auch sein mochte.
„Ach nein?“
Henry knirschte mit den Zähnen, weil er nur ungern zugab, was ihn noch antrieb. „Ich tue es auch, weil ich den Wunsch habe – nein“, korrigierte er, „weil ich heiraten muss.“
„Aber … äh, wären nicht mehr Frauen bereit, Sie zu heiraten, wenn sie wüssten, dass Sie ein schneidiger Lord sind?“ Zum ersten Mal ergaben die Worte des armen Colin Sinn.
„Das ist sicher wahr, aber ebenso würden viele mich nur heiraten wollen, eben weil ich ein reicher Adliger bin. Ich sehe mich gezwungen zu heiraten, aber zumindest möchte ich eine Frau, die nicht auf mein Geld aus ist.“
Colin nickte, doch Henry konnte sehen, dass er noch immer nicht verstand.
„Ich möchte diese Farce inszenieren, weil niemand auf Diener achtet oder darauf, was vor ihnen gesagt wird.“ Eine Wahrheit, die Henry gut aus persönlicher Erfahrung kannte. „Ich werde als Diener mehr über die Damen und Herren der besseren Gesellschaft erfahren – von anderen Dienern und indem ich ihren Herren zuhöre – als ich es als gefeierter und verwöhnter reicher Lord jemals täte.“ Er ließ kurz seine Zähne aufblitzen. „Ich habe keine großen Hoffnungen, in dieser aristokratischen Schlangengrube eine Frau zu finden, aber sollte sich eine anständige Frau in der besseren Gesellschaft verstecken, so ist diese Täuschung der beste Weg sie zu finden.“
Henry nahm einen großen Schluck Wein, stellte sein Glas ab und fuhr fort. „Hört auf, Euch darüber Gedanken zu machen, ob mich jemand erkennen könnte, Mylord. Merkt Euch, Ihr bekommt Euer Geld für die gesamte Zeit und eine Stellung in Leadenhall Street, ob ich nun auffliege oder nicht.“
Eine Stelle im Hauptsitz der Firma war etwas, wovon ein Mann wie Colin ohne die entsprechende Unterstützung nur träumen konnte – besonders, da er als Buchhalter in Indien entlassen worden war. Mit Henrys Geld und Namen im Rücken wäre es nicht von Bedeutung, dass Colin Parker den Verstand einer Rübe und die Sozialkompetenz eines Warzenschweins besaß: Henrys Einfluss würde ihm die Stelle sichern. Ob er in der Lage wäre, sie zu behalten, läge an ihm.
„Werden diese Leute Sie nicht hassen, wenn sie herausfinden sollten, dass Sie sie alle an der Nase herumgeführt haben?“, fragte Colin.
Henry lachte. „Das will ich verdammt noch mal hoffen.“
„Aber … aber warum möchten Sie das denn?“
Er machte sich nicht die Mühe, diese Frage zu beantworten, denn Colin würde es sowieso nicht verstehen. Stattdessen sagte er: „Ja, sie werden mich hassen. Aber mein immenser Reichtum wird ihnen helfen, schnell genug darüber hinwegzukommen oder es zumindest zu verbergen.“ Das Beste an der ganzen Maskerade wäre es, den exaltierten Adligen dabei zuzusehen, wie sie ihren Abscheu hinunterschlucken und ihn akzeptieren würden, nachdem er sie alle zum Narren gehalten hatte.
Henry sah in Colins verwirrtes Gesicht und wünschte sich erneut, es hätte irgendeinen anderen Mann gegeben, den er für diese ungewöhnliche Unternehmung hätte anstellen können. Doch seine Auswahl war sehr begrenzt gewesen. Colin war nicht nur verzweifelt auf der Suche nach einer Stellung gewesen, sondern ebenfalls gerade nach England zurückgekehrt und in Adelskreisen unbekannt. Er war dreiunddreißig Jahre alt – vier Jahre jünger als Henry, aber dicht genug dran –, ungebunden und außergewöhnlich gut aussehend. Letzteres war keine Notwendigkeit, aber das heldenhaft gute Aussehen des Mannes würde Die große Earl-Lotterie, wie Henry es insgeheim nannte, ein gutes Stück unterhaltsamer machen. Zuerst hatte der Gedanke Henry amüsiert, diesen schönen, aber plumpen Mann unter den Adel zu mischen und zuzusehen, wie die Reichen und Schönen um ihn herumscharwenzelten, um seine Gunst zu gewinnen. Doch seine Belustigung darüber schwand, als er die schiere Größe von Colin Parkers Unwissenheit erfasst hatte: Der Mann hatte vier Jahre in Indien verbracht und konnte Dhaka nicht auf einer Karte finden. Er war nicht nur dumm wie Brot, sondern auch absichtlich ignorant und gelegentlich borniert. Natürlich konnte man das von mindestens der Hälfte der Männer behaupten, die zurzeit für die Firma arbeiteten und in Indien lebten. Parker hatte sich auch als schlechtester Seemann der Menschheitsgeschichte herausgestellt. Anstatt sich also während ihrer Reise auf das bevorstehende Ränkespiel vorzubereiten, hatte Colin seine gesamte Zeit damit verbracht zu jammern und sich in einen Eimer zu übergeben. Henry war sich nicht sicher gewesen, dass der Mann überhaupt lebend in England ankommen würde. Während der langen Reise hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt und kannten einander kaum. Während das im Hinblick auf Henrys geistige Gesundheit ohne Zweifel ein Geschenk des Himmels gewesen war, bedeutete es doch, dass Colin beinahe nichts über den Mann wusste, den er darstellen sollte: Henry, den wahren Earl of Rotherhithe.
Henry seufzte und setzte für Colin ein Lächeln auf. „Üben wir ein wenig, bevor der nächste Gang aufgetragen wird, Mylord.“ Henry hing das Thema wahrscheinlich ebenso zum Halse heraus wie seinem Gegenüber, aber es ging um ein Minimum, das Colin vor dem Treffen, das sie später am Tag haben würden, wissen sollte.
„Wie seid Ihr nach Dhaka gekommen, Mylord?“, fragte Henry zum fünften oder sechsten Mal in dieser Woche.
„Ähm, ich bin mit dem Schiff gefahren.“
Es erforderte extreme Selbstbeherrschung, nicht handgreiflich zu werden. Was auch immer Colin auf Henrys Gesicht sah – irre Wut? Verzweiflung? – schien seine Erinnerung anzukurbeln.
„Oh, ich erinnere mich!“ Er schnippte mit den Fingern, und mehrere Restaurantgäste drehten sich stirnrunzelnd um. „Ich habe einen Brief vom Geschäftspartner meines Vaters aus Dhaka erhalten.“ Henry nickte. Colin erwärmte sich nun sichtbar für das Thema und fuhr fort. „Ich lebte in Yorkshire bei meinem Onkel, dem Earl of Rotherhithe, und seinen fünf Töchtern.“ Er grinste triumphierend. Henry kniff seine Augen zusammen.
„Äh … drei Töchter?“
„Ich dachte, Ihr Onkel hatte nur diesen einen Sohn, Charles …“
Colin hob seine Hand auf eine abstoßende, unsichere Art. Ein Ausdruck höchster Konzentration verzerrte seine schönen Züge. „Warten Sie, warten Sie – ich weiß das. Ja, mein Cousin Charles, der letzte Earl. Er, ähm, starb vor ungefähr zwei Jahren, so.“ Er warf Henry einen kurzen hoffnungsvollen Blick zu.
„Ich kann mich nicht recht erinnern, wie er starb. Ihr, Mylord?“
Colin schob seine Unterlippe vor. „Er hat während eines Cricketspiels einen Schlag auf den Schädel bekommen?“
„Nah dran, Mylord. Er starb, als er auf der Jagd mit seinem Pferd gegen eine Felswand krachte.“ Colin machte große Augen, als hätte er die Geschichte nie zuvor gehört. Dabei hörte er sie schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Glücklicherweise kam der Diener mit ihrem Essen, bevor Henry gewalttätig werden konnte.
„Oh! Yorkshire Pudding! Mein Lieblingsessen!“ Colin grinste von einem Ohr zum anderen, während er erwartungsvoll auf seinem Stuhl auf und ab hüpfte. Henry fühlte sich angesichts dieses unschuldigen Eifers schlecht, weil er so wenig Geduld mit Colin hatte. Während er beobachtete, wie dieser sein Mahl verzehrte, überlegte er, welche Arbeit dieser Mann eigentlich für die Firma gemacht hatte. Ausgehend von seiner Prahlerei hatte Colin nur auf zwei Gebieten Expertise: Billard und Herumhuren. Letzte Nacht war Henry in Rotherhithe House allerdings Zeuge für Colins wenig beeindruckende Fähigkeiten am Billardtisch geworden. Und die Hurerei? Nun, davon hatte Henry persönlich zum Glück nichts mitbekommen, obgleich er mehrere Gelegenheiten dazu gehabt hätte. Stattdessen hatte er Colins Vorschlag, ein Londoner Bordell aufzusuchen, das ein Typ aus Dhaka ihm empfohlen hatte, zweimal abgelehnt. Colin zufolge war besagtes Bordell ein Ort, an dem ein Mann jede Art von Vergnügen finden konnte. Henry erschauderte bei der Vorstellung.
„Schlagen Sie vor, dass wir uns heute dieses Wachsdings ansehen?“, fragte Colin. „Ich meine, wenn wir uns vollgestopft haben?“ Parker kaute mit offenem Mund. Weit offen und ziemlich voll. Henrys Halsschlagader pochte.
Du regst dich besser ab, Henry. Schließlich war diese Maskerade deine Idee. Ja, es war seine dumme Idee. Er biss die Zähne zusammen.
„Wissen Sie, was ich meine?“, hakte Parker unbeirrt von Henrys Schweigen nach. „Einer meiner Freunde aus Dhaka hat ihre Statuen im Lyceum gesehen.“
Wenn Henry die Worte ein Freund von mir noch ein einziges Mal hören müsste, würde er–
Colin wedelte mit seinem mit Soße beschmierten Messer in der Luft umher. „Der verdammte Name liegt mir auf der Zunge.“ Tatsächlich lagen ihm Roast Beef und Yorkshire Pudding auf der Zunge.
„Sie müssen wissen, wen ich meine, Mylo– äh, Parker. Diese französische Alte, die all diese Leute aus Wachs macht. Manche sind echt krass, habe ich gehört.“ Er schwieg, um sich eine weitere Ladung Pudding in den Mund zu schaufeln.
„Das ist dann wohl Madame Tussaud, Mylord. Sie befindet sich gerade auf einer Tournee durchs Land und nicht hier in London. Und sie oder irgendeine andere Frau als Alte zu bezeichnen, wird nicht gut ankommen.“
Parker gaffte, was dazu führte, dass ein zerkauter Klumpen aus seinem Mund in sein halbvolles Weinglas fiel. Henry seufzte und winkte den Kellner herbei. „Ein neues Glas für seine Lordschaft“, bestellte er und richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen unberührten Teller, bevor er ausrastete. Er hatte verdammt großen Hunger. Seit ihrer Ankunft in London logierten sie in Rotherhithe House, aber der Koch, den Henry auf dem Postweg angestellt hatte, hatte das Weite gesucht, als er den Zustand der Küche gesehen hatte. Also hatten sie in verschiedenen Restaurants gespeist. Er schnitt ein Stück Roast Beef ab, schob es sich in den Mund und kaute lächelnd. Dies war das erste englische Essen, das nicht wie Pappe schmeckte. Henry beschloss, dass sie die meisten ihrer Mahlzeiten von jetzt an im Hotel einnehmen würden. Er würde sogar in dem verdammten Hotel leben und Rotherhithe House verrotten lassen, wenn das nicht so–
Colin schnippte mit den Fingern. „Jetzt weiß ich’s! Die Fabrik meines Vaters und seines Partners stellt irgendwelche Stoffe her.“ Er lächelte Henry triumphierend und doch vorsichtig an.
Henry kaute zu Ende und schluckte sein Essen hinunter, bevor er sprach, und hoffte, ein gutes Beispiel abzugeben. „Interessant. Und warum habt Ihr Euren Anteil verkauft, Mylord?“
„Äh …“
„Weil die Textilindustrie in Indien in den letzten Jahren rückläufig ist?“
Colin schluckte mehrmals. Schweiß trat ihm auf die blasse Stirn. „Äh, ja, genau. Aber …“ Er schwieg. Ein panischer Ausdruck trat auf sein hübsches Gesicht. „Warten Sie, warten Sie, ich hab’s gleich.“ Wieder schnippte er mit den Fingern und vergaß dabei, dass er seine Gabel in der Hand hielt. Sie flog über den nächsten Tisch und verfehlte nur knapp das Ohr eines älteren Herrn, der mit dem Rücken zu ihnen saß, um schließlich auf einem unbesetzten Tisch zu landen.
„Oh, verdammt noch mal“, murmelte Colin. Sein Blick huschte zwischen dem leeren Tisch und den anderen Gästen hin und her, von denen einige aufgehört hatten zu essen und zu ihnen blickten. Schließlich richtete er seinen besorgten Blick auf Henry. „Glauben Sie, sie wissen, dass ich das war?“
Der Kellner legte wortlos eine neue Gabel neben Colins Teller. Henry seufzte und deutete auf die fast leere Flasche auf ihrem Tisch. „Wir brauchen noch eine hiervon.“
Als der Kellner gegangen war, wandte Henry sich an Colin. „Wir können diese Unterhaltung später fortsetzen, Mylord. Wenn Ihr mit Eurem Dessert fertig seid.“ Colin hatte Schwimmende Inseln bestellt, und Henry malte sich die Verwüstung aus, die Colin mit einem Löffel und Vanillecreme anrichten konnte.
Colin atmete erleichtert auf. „Oh, wie wunderbar! Mein Kopf ist ein bisschen wirr. Können wir heute im White’s vorbeischauen? Ein Freund von mir–“
„Dafür werden wir keine Zeit haben.“ Abgesehen davon, dass Henry nicht die Absicht hatte, seinen Namen für eine Mitgliedschaft in einer solchen Bastion des Konservativismus herzugeben.
„Warum nicht?“, fragte Colin.
„Erinnert Euch daran, dass Ihr heute Nachmittag eine Verabredung mit Lady Winifred Sedgwick vereinbart habt.“
„Habe ich das?“ Colin runzelte die Stirn. „Ähm, wer ist sie noch mal?“
„Die Countess of Sedgwick ist die Dame, die Ihr beauftragt habt, Euch zu helfen, Euch in den trügerischen Wassern der besseren Gesellschaft zurechtzufinden.“
„Ah ja, die Kupplerin.“
Henry ließ seinen Kopf in seine Hände sinken. Großer Gott. Als Colin lachte, blickte er wieder auf. Colin grinste. „Ich habe mir gerade einen kleinen Scherz mit Ihnen erlaubt, Parker. Ich weiß, dass man sie eigentlich Heiratsvermittler nennt, nicht wahr?“
Henry seufzte. „Ich bin sicher, dass sie davon abraten wird, die Dinge zu überstürzen“, versicherte er Colin. Oder wollte er es sich selbst versichern? „Wir können eine Woche warten, bevor wir uns ins Getümmel stürzen.“
„Ich würde lieber nicht warten, My– ähm, Parker. Ich lerne besser, wenn ich schon dabei bin. Aus Erfahrung, sozusagen. Aufs Lernen bin ich nicht scharf. Es gehört einfach nicht zu meinen Stärken.“
Ja, das weiß ich.
„Von mir aus können wir heute anfangen“, erklärte Colin mit einem erschreckend geistlosen Lächeln. „Ich bin fit wie ein Streitross und zu Späßen aufgelegt.“
Henry biss sich auf die Zunge. Fest.
„Tatsächlich“, fuhr Colin fort, „habe ich heute Morgen ein paar von den Einladungen gelesen, die sich in der Bibliothek stapeln …“
Henry verkniff sich den Hinweis, dass es seine Post war, die Colin geöffnet und gelesen hatte.
„… und ich habe eine für eine Wie-heißt-das-noch mal gefunden – eine Party, für die man sich verkleiden muss.“
„Ein Maskenball“, half Henry und spürte Entsetzen in sich aufsteigen.
„Genau! Wie auch immer, ich habe erst einmal ein Kostüm getragen. Beim Krippenspiel, wissen Sie. Ich war ein Esel, gemeinsam mit meinem älteren Bruder Tommy.“
„Ist das so?“, fragte Henry wider Willen amüsiert. Colin nickte begeistert. „Es war ein wirklich tückisches Kostüm. Bestand aus zwei Teilen. Aber, ähm, Tommy zwang mich, das hintere Ende zu sein, und deshalb habe ich den größten Teil des Abends nicht viel gesehen.“
„Ah.“
„Ich dachte, vielleicht können wir beide ein ähnliches Kostüm finden?“
Henry biss die Zähne zusammen. Nicht besonders wahrscheinlich.
Colin schloss nachdenklich die Augen. „Vielleicht lieber ein Pferd anstelle eines Esels? Und diesmal bin ich der vordere Teil, denn, Sie wissen schon, ich bin der Earl.“ Er grinste. Als Henry nicht antwortete, fügte Colin hinzu: „Klingt wie ein lustiger Streich, nicht wahr, Parker?“
Es klang wie eine ganz neue Ebene in Dantes Inferno.
„Was sagen Sie?“, hakte Colin nach. „Gehen wir hin? Bitte?“
„Ich glaube, Ihr meint den Maskenball bei den Palmers, der heute Abend stattfindet, Mylord. Ich bezweifle, dass wir das schaffen können, selbst wenn wir ein Pferdekostüm auftreiben“, erklärte Henry besänftigend.
Colin runzelte die Stirn und setzte eine störrische Miene auf. „Ich bin bereit und ich möchte gehen, Parker. Vielleicht kann diese Lady Sludgewit …“
„Lady Sedgwick, Mylord. Und wir werden heute Abend zu keinem Maskenball gehen.“ Und auch sonst nie. Colin zuckte zusammen, als Henry die Worte drohend zischte. Er schluckte ein paarmal und nickte dann. „Äh, ja, ganz recht. Schätze, sie wird mir sagen, dass ich ein bisschen Spucke und Politur brauche, was?“
„Schätze, ja.“
Colins Miene hellte sich auf. „Aber es wird noch andere Feste mit Kostümen geben – viele Bälle und Zusammenkünfte?“
Henry nickte. Beim Gedanken an derlei Zusammenkünfte begann sich ein Schmerz in seinem Kopf auszubreiten. Vielleicht war es noch nicht zu spät, seine Pläne bezüglich seiner eigenen kleinen Maskerade zu ändern und nach Dhaka zurück zu fliehen, so schnell ihn ein Schiff dorthin bringen konnte.