1. Kapitel
Maidenhead, England, November 1761
Der Mond tauchte die kalte Eingangshalle in ein unheimliches Licht. Es muss am Mondschein liegen, dachte Portia St. Claire, dass der Eindringling wie der Fürst der Finsternis aussieht. Weiße, scharf geschnittene Gesichtszüge von übernatürlicher Schönheit, umgeben von dunklen, lederartigen Schwingen …
Mit einer raschen Handbewegung richtete sie die schwere Pistole auf die Brust der fremden Erscheinung. „Stehen bleiben!“ Die Gestalt hielt inne. Als zwei elegante Hände mit schmalen langen Fingern sichtbar wurden und eine beschwichtigende Geste andeuteten, stellte sich heraus, dass die vermeintlich schwarzen Schwingen nichts anderes als ein dunkler Umhang waren. Portia atmete ängstlich ein. Das bedeutete, dass die geisterhafte Erscheinung aus Fleisch und Blut war. Ein gewöhnlicher Einbrecher, sonst nichts. Aufgrund ihres beherzten Auftretens stand sie nun einem Verbrecher gegenüber. Eine klügere Frau hätte sich bei dem Geräusch von zersplitterndem Glas unter dem Bett verkrochen. Doch Portia hatte sogleich nach der Pistole ihres Bruders gegriffen, sich vergewissert, dass sie auch geladen war, und war dann nach unten geschlichen, um zu sehen, was vorgefallen war. Sie war dem Motto ‚Man muss der Gefahr ins Auge blicken‘ treu geblieben, aber jetzt fragte sie sich, ob diese Weisheit auch stimmte. Der düstere Eindringling wirkte nicht sonderlich eingeschüchtert, und nun, da sie ihn gestellt hatte, wusste sie nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Offenbar war der Fremde auch unter dem Umhang dunkel gekleidet, denn das Mondlicht ließ lediglich das wachsame Gesicht und die feingliedrigen Hände hell erscheinen. Sie schauten aus gekräuselten Manschetten heraus, die aus teurer Spitze waren. An der linken Hand trug der Mann einen Ring. Der große, eingefasste Stein war dunkel, aber die Art und Weise, wie er im schwachen Mondlicht schimmerte, verriet Portia, dass es sich um einen kostbaren Juwel handeln musste. Ein Glitzern neben seinem Gesicht deutete auf ein weiteres teures Schmuckstück hin, auf einen mit Juwelen besetzten Ohrring. Demnach hatte sie es nicht mit einem gewöhnlichen Straßenräuber zu tun. „Ich bin, wie Sie sicherlich bemerkt haben, stehen geblieben.“ Sein Tonfall war höflich, und seine Sprache verriet Wohlstand und eine treffliche Erziehung. Er sprach leise und mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme, die Portia jedoch keinesfalls die Aufregung nahm. „Ja, Sie sind stehen geblieben“, stieß Portia scharf hervor. „Und jetzt werden Sie das Haus verlassen.“
„Oder?“, entgegnete er kühn.
„Oder ich rufe die Wache, Bursche! Ich habe gehört, wie Glas zersplittert ist. Sie sind ohne Zweifel ein Einbrecher.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich nehme an, das bin ich. Aber wie beabsichtigen Sie, die Wache zu rufen, während Sie mich in Schach halten, mignonne.“
„Verschwinden Sie. Auf der Stelle!“
„Oder?“, fragte er erneut herausfordernd.
„Oder ich schieße!“
„Schon besser“, meinte er. „Dazu wären Sie allerdings in der Lage.“
Bryght Malloren lächelte in sich hinein. Er hatte nicht erwartet, dass dieser Auftrag ihm Vergnügen bereiten würde, aber jetzt, da er sich dieser tapferen Verteidigerin von Herd und Heim gegenübersah, musste er ein Lachen unterdrücken. Vermutlich würde sie wirklich auf ihn schießen, falls er sie auslachte. Doch sie war so viel kleiner als er. Sie maß nicht einmal fünf Fuß, im Gegensatz zu seiner Größe von sechs Fuß. Trotz der bauschigen Röcke und der üppigen, wollenen Schultertücher war er sich sicher, dass sie von schlanker Gestalt war. Die beiden Hände, die den Griff der Pistole so forsch umklammerten, waren klein und zierlich. Aber ‚zierlich‘ war nicht das Wort, das ihm sofort zu dieser Frau einfiel. ‚Resolut‘ passte besser zu ihr. Oder ‚glühender Eifer‘. Fürwahr, bei ihrem erhitzten Gemüt – teilweise hervorgerufen durch Mut, teilweise durch Zorn und Angst – musste er unweigerlich an den Funkenflug eines knisternden Holzfeuers denken. Er vermochte nicht zu sagen, welche Farbe ihr Haar hatte, das ihr über die Schultern fiel, doch er glaubte, es wäre rot. Sie würde wahrhaftig auf ihn schießen, und das allein genügte, um seine Neugierde zu wecken. Er durfte sich indes nicht ablenken lassen, denn es blieb ihm nicht viel Zeit, um seinen Auftrag zu erfüllen. Diese kleine Kriegerin aber schien fest entschlossen, ihn davon abzuhalten. Daher musste er die Sache mit Verstand angehen. „Ich bekenne, das Küchenfenster eingeschlagen zu haben, um mir Einlass zu verschaffen, Madam. Aber auf mein Klopfen hin hat mir niemand die Tür geöffnet.“
„Sie brechen also immer in Häuser ein, wenn Ihnen niemand die Tür aufmacht?“, fragte sie forsch. Er dachte einen Augenblick lang nach. „In der Regel haben die Häuser, an deren Türen ich klopfe, Bedienstete. Haben Sie keine Dienstboten?“
„Das geht Sie überhaupt nichts an!“, erwiderte sie aufgebracht. Offenbar hatte er einen wunden Punkt getroffen. Wer zum Teufel war diese Frau? Dieses Haus in Maidenhead hatte der Earl of Walgrave gemietet, um darin seine Tochter, Lady Chastity Ware, gefangen zu halten. Bryght war davon ausgegangen, dass es nun leer stand, nachdem Lady Chastity die Flucht gelungen war. Die junge Frau hob bedrohlich den Pistolenlauf. „Verschwinden Sie!“
„Nein.“ Bryght hörte, wie sie verärgert zischend die Luft einsog, und wartete gespannt ab. Nur eine wahrlich abgestumpfte Person wäre in der Lage, einen unbewaffneten Menschen kaltblütig zu erschießen, und wer auch immer diese Frau sein mochte, er konnte nicht glauben, dass die kleine Amazone gefühllos war. Er schien Recht zu behalten. Sie drückte nicht ab. „Wohlan“, begann er, „für meine Anwesenheit gibt es einen guten Grund.“
„Was für ein Grund kann einen Einbruch rechtfertigen?“
„Ich bin gekommen, um ein Schriftstück zu holen, das ein früherer Bewohner hier gelassen hat.“ Sie ließ sich nicht beirren. „Was für ein früherer Bewohner?“
„Sie stellen viele Fragen. Sagen wir, es handelt sich um eine Dame.“
„Um welche Dame?“
„Ich ziehe es vor, darauf nicht zu antworten.“ Da er mittlerweile des Spielchens überdrüssig war, trat er einen Schritt vor, um die Frau zu entwaffnen. Er sah, wie sie den Atem anhielt und die Waffe bedrohlich auf ihn richtete. Verflucht! Er warf sich in dem Moment auf sie, als sie den Abzug betätigte. Portia lag auf dem Rücken und glaubte, von einem Riesen erdrückt zu werden. Von dem Rückstoß der Feuerwaffe fühlte ihre Hand sich taub an, und ihr Kopf brummte von dem Aufprall auf dem harten Boden. Vielleicht rührte das Schädelbrummen auch nur von dem donnernden Widerhall des Pistolenschusses her. Noch nie hatte sie im Haus eine Pistole abgefeuert. Der Knall war ohrenbetäubend gewesen. Benommen schaute sie auf und stellte fest, dass der Einbrecher ziemlich besorgt wirkte. Er stützte sich auf einem Arm ab und holte hörbar Luft. „Wie können Sie es wagen!“, empörte sie sich.
„Ich konnte wohl kaum zulassen, dass Sie auf mich schießen“, entgegnete er gelassen.
„Sie hätten ja gehen können!“ Portia versuchte, den Mann abzuwerfen, begriff indes sogleich, dass diese Idee nicht besonders klug war. Er lag genau zwischen ihren Beinen, und ihr einfacher Rock bildete nur eine dürftige Barriere. Die Art, wie er angesichts ihrer misslichen Lage die geschwungenen, vollen Lippen zu einem Grinsen verzog, ließ in ihr den Wunsch aufkommen, ihm das allzu hübsche Gesicht zu zerkratzen. „Wer sind Sie?“, wollte sie wissen.
„Bryght Malloren, zu Ihren Diensten. Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Das, Sir, geht Sie nichts an.“ Verzweifelt wand sie sich unter ihm, doch er gab sie nicht frei. „Dann werde ich Sie Hippolyta, Königin der Amazonen, nennen.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, und die Zärtlichkeit dieser Geste brachte sie ganz durcheinander. Seine Stimme barg die gleiche Zärtlichkeit, als er sprach: „Kämpfen Sie immer, wenn es aussichtslos erscheint, Hippolyta?“ Sein dunkles Haar war zerzaust. Es hatte sich aus dem Haarband gelöst und fiel ihm ins Gesicht. Er sah betörend gut aus. „Ich hatte eine Pistole“, erwiderte sie.
„In der Tat.“ Er grinste. Portia ärgerte das. Der Kerl lachte über sie. „Gehen Sie von mir runter!“ Der Nachdruck in ihrer Stimme war unmissverständlich. „Nicht, bevor Sie mir ein Pfand gegeben haben.“
„Ein Pfand?“ Zum ersten Mal regte sich in ihr ein Gefühl großer Furcht. Das Geräusch von zerbrechendem Glas hatte sie beunruhigt. Und beinahe zu Tode erschreckt hatte sie den Atem angehalten, als ihr Blick auf die dunkle Gestalt gefallen war, die sich in dem Gang auf sie zu bewegt hatte. Doch während des gesamten Wortwechsels hatte sie keine wirkliche Angst vor diesem Mann verspürt. Jetzt wurde ihr bewusst, dass er sie in der Hand hatte. Von Natur aus war sie nicht prüde, und in jungen Jahren hatte sie als wahrer Wildfang gegolten, doch nie zuvor war sie einem fremden Mann schutzlos ausgeliefert gewesen. „Ein Pfand“, wiederholte er, aber auch der sanfte Ton in seiner Stimme vermochte nicht, ihr pochendes Herz zu beruhigen. Unversehens starrte sie auf seinen Ohrring – ein dezentes, aber offensichtlich teures, mit Juwelen besetztes Pferd. Nur die wildesten Herumtreiber trugen solch empörende Verzierungen, und nur ein wohlhabender Tunichtgut konnte sich so einen edlen Schmuck leisten. Kein Zweifel, sie war in der Gewalt eines wohlhabenden, zügellosen Wüstlings. Er lächelte, und es war ein durchtriebenes Lächeln. „Ich verlange stets ein Pfand von den Frauen, die mir nach dem Leben trachten.“ Portia begann sich zu wehren, aber ihre Hände verfingen sich in den drei Schultertüchern. Als sie die Hände endlich freibekommen hatte, ergriff er ihre Handgelenke. „Hören Sie nie auf zu kämpfen?“
„Was würde das bringen?“ Sie versuchte, sich dem Griff zu entwinden, doch der Mann drückte umso fester zu. „Sie tun mir weh!“
„Dann hören Sie auf, sich zu wehren.“
„Ich fange an zu weinen.“
„Können Sie das wirklich aus dem Stand? Das würde ich gerne erleben.“ Portia kochte vor Wut, und ihre Furcht ließ allmählich nach. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie vor diesem Mann keine Angst. Das war höchst sonderbar. Ihr wurde bewusst, dass sie das Gewicht seines Körpers beinahe als angenehm empfand – zumindest war ihr jetzt warm, denn zuvor hatte sie ein bisschen gefroren. Schwache Düfte umspielten ihre Sinne. Lavendel, dachte sie, von seinem Hemd, und ein Parfüm, das Männer trugen, aber dieses war nicht aufdringlich. Keiner dieser schweren Düfte, die Unsauberkeit und Krankheiten überdecken sollten …
„Könnten Sie sich nicht wenigstens eine Träne abringen?“, neckte er sie, und Portia zwang sich, einen klaren Kopf zu behalten. Erneut begehrte sie gegen seinen Griff auf, aber er hatte keine Mühe, die Oberhand zu behalten. „Sie glauben, ich hätte keinen Grund zum Weinen?“, giftete sie.
„Ich halte Sie nicht für jemanden, der nah am Wasser gebaut hat, meine Amazone, sofern Sie die Tränen nicht als Waffe ansehen.“ Und dann küsste er sie. In all ihren fünfundzwanzig Jahren war Portia nie zuvor auf diese Weise geküsst worden: Der harte Leib eines Mannes drückte sie zu Boden, während seine Hände jeglichen Widerstand brachen und den Ansturm seiner Lippen ermöglichten. Doch es war ein zärtlicher Ansturm. Da sie sich auf etwas viel Schlimmeres eingestellt hatte, schlug die Zärtlichkeit sie in ihren Bann. Gerade noch rechtzeitig rief sie sich in Erinnerung, dass er ihr Feind war, und daher verhielt sie sich still und teilnahmslos. Er zog den Kopf zurück, und sie nahm die Erheiterung in seiner Stimme wahr. „Ich staune, über was für eine Anzahl von Waffen Sie verfügen, meine junge Kriegerin. Werden Sie mir gestatten, das Schriftstück zu holen, wenn ich Ihnen den Sieg überlasse? Das Dokument dürfte Ihnen gleichgültig sein.“
„Nein.“ Lachend erhob er sich und half ihr wieder auf die Füße. Während sie noch damit beschäftigt war, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen und ihre Schultertücher in Ordnung zu bringen, ging er an ihr vorbei und lief behände die Stufen hinauf. „Stehen bleiben!“, rief sie. Portia entledigte sich der hinderlichen Tücher und rannte ihm nach; ihre Schuhe dröhnten auf den hölzernen Stufen. Er bewegte sich schnell und zielstrebig, als sei das Haus ihm vertraut, und eilte geradewegs zu dem hinteren Schlafgemach. Doch das zeigte ihr, dass er sich überhaupt nicht auskannte, denn der Raum war leer; man hatte jedes einzelne Möbelstück hinausgetragen. Vermutlich war er in das falsche Haus eingedrungen. Sie stürmte hinter ihm her und bekam seinen Umhang zu fassen. „Sehen Sie? Hier ist nichts!“ Unbekümmert löste er seinen Umhang, trat in den Raum und ließ sie verwirrt und mit einer Fülle schwerer Wolle auf der Türschwelle stehen. Rasch ließ sie den Umhang fallen und eilte dem Eindringling erneut nach. Er schritt gerade auf den Kamin zu, als sie sich an ihm vorbeidrängte und ihm mit ausgebreiteten Armen den Weg versperrte. „Keinen Schritt mehr“, keuchte sie. Er blieb unmittelbar vor ihr stehen. Erst jetzt ging ihr auf, wie töricht sie war. Der Raum besaß zwei Fenster ohne Vorhänge, und im hellen Mondlicht konnte sie den Unbekannten endlich eingehend betrachten. Unter seiner dunklen Weste und den Reithosen aus Leder zeichnete sich ein wohlgeformter, kraftvoller Leib ab, dem sie niemals gewachsen sein würde. Zudem verriet der Ausdruck auf seinem ansprechenden Gesicht einen Willen, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Nichts und niemand würde diesen Mann von einem einmal gefassten Vorhaben abbringen, und nun verlangte er Zutritt zu dem Kamin, den sie mit ihrem Leib abschirmte. Sie schluckte beklommen und hoffte, dass sie nicht so ängstlich aussah, wie sie sich fühlte. Portias Mutter hatte oft über das ungestüme Wesen ihrer Tochter geklagt und die Schuld bei ihrem Namen gesucht, den ihr idealistischer Vater nur ausgesucht hatte, weil ihn die kühne weibliche Hauptfigur in Shakespeares Kaufmann von Venedig faszinierte. Hannah Upcott hatte nichts für das Theater übrig und war der Ansicht, Portias Name fördere eine unziemliche Neigung, die Welt herauszufordern. Daher hatte sie darauf bestanden, dass ihre zweite Tochter den bezeichnenden Namen Prudence, die Besonnene, erhielt. Mrs. Upcott hatte immer wieder vorausgesagt, Portias Leichtsinn würde sie noch in Schwierigkeiten bringen, und des Öfteren das Sprichwort bemüht: ‚Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.‘ Portia befürchtete, dass ihre Mutter Recht behalten sollte, aber sie war dennoch nicht in der Lage, gefügig beiseite zu treten. Ihr Gegenüber machte keine Anstalten, sie grob anzufassen. „Wenn da nichts ist“, begann er ruhig, „warum dann so hitzig?“ Obgleich ihr Herz wie wild pochte, schaute sie ihm geradewegs in die Augen. „Sie haben sich gewaltsam Zutritt zu diesem Haus verschafft, Sir. Ich werde dieses Eindringen nicht dulden.“ „Zu einem anderen Zeitpunkt, Hippolyta, würde es mir Freude bereiten, nachzuprüfen, ob Sie wirklich in der Lage sind, etwas zu dulden oder zu verbieten, aber ich habe etwas Wichtiges zu tun. Darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie mich ganz einfach loswerden, indem Sie mir gestatten, das zu suchen, was mich in dieses Haus führte?“
„Da müssen Sie erst beweisen, ob Sie ein Anrecht auf dieses Schriftstück haben. Wem gehört es?“
„Das erwähnte ich bereits. Einer Dame.“ Inzwischen klang die sonst so angenehme Stimme leicht ungehalten.
„Und wie kommt es hierher?“
„Sagen wir, die Dame war hier zu Gast.“ Sie blickte sich in dem leeren Raum um. „Hier? Das möchte ich bezweifeln.“ „Vielleicht bevorzugt sie eine spärliche Einrichtung, wer weiß? Ich frage mich nur, warum Sie dieses Gemach mit einem Feuereifer bewachen. Verdient der Earl of Walgrave eine solche Ergebenheit?“ Bei dem Namen horchte Portia auf. Wenn dieser Malloren wusste, dass der Earl of Walgrave das Haus gemietet hatte, dann war er tatsächlich in das richtige Gebäude eingedrungen. Zum ersten Mal fragte Portia sich, ob der Mann nicht doch ein Recht hatte, hier einzudringen. Immerhin hatte er an die Tür geklopft. Sie hatte das laute Pochen gehört, sich aber nicht darum gekümmert. So spät am Abend hatte sie niemanden erwartet, und da sie allein im Haus war, wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, die Tür zu öffnen. „Wie jeder Hausbesitzer kann der Earl mit Recht davon ausgehen, dass sein Haus unversehrt bleibt“, erwiderte sie.
„Ich glaube nicht, dass der mächtige Earl diesen bescheidenen Ort als sein Zuhause bezeichnen würde. Er hat es nur zu einem bestimmten Zweck gemietet. Allerdings frage ich mich, was Sie hier eigentlich zu suchen haben. Sind Sie etwa die Haushälterin?“
„Wo denken Sie hin!“, empörte sie sich.
„Oder ein Eindringling, wie ich? Schließlich habe ich Sie in der Dunkelheit herumschleichen sehen, mit einer Pistole in der Hand.“
„Ich bin nicht geschlichen! Wir sind Gäste, Sir. Obendrein gute Bekannte des Earls, und er hat uns gestattet, hier zu wohnen.“ Natürlich verschwieg Portia ihm, dass sie und ihr Bruder verarmte Bittsteller waren und dass der Earl ihnen aufgetragen hatte, auf ihn zu warten, bis es ihm beliebte, ihnen Gehör zu schenken.
„Wir?“ Portia merkte, dass sie sich auf eine Unterhaltung einließ, und zu viele unbedachte Worte bargen Gefahr. „Wir?“, wiederholte er leise. „Meine Wenigkeit, zehn stämmige Brüder und drei Dienstboten“, entgegnete sie mit vorgeschobenem Kinn. „Sie sind alle ausgegangen.“
„Nur drei Bedienstete?“, spottete er. „Wie armselig. Ich benötige ja schon drei Diener beim morgendlichen Ankleiden!“ Sie war sich nicht sicher, ob er scherzte. „Ich werde Ihnen nicht einfach erlauben, Ihr Vorhaben auszuführen, Mr. Malloren.“
„Mylord“, verbesserte er sie freundlich und kam näher. „Lord Arcenbryght Malloren. Ein höchst sonderbarer Name, aber so heiße ich.“ Portia war kurz davor, staunend den Weg freizugeben, doch sie entgegnete kühn: „Ihr Stand entschuldigt nicht Ihre Dreistigkeit, Mylord.“
„Gewiss.“ Er stützte sich beiderseits ihres Kopfes an der Wand ab. „Aber bei meinem Titel ist es höchst unwahrscheinlich, dass ich wegen meiner Sünden vor ein Gericht gezerrt werde, nicht wahr?“ Seine Größe zwang sie, den Kopf in den Nacken zu legen, um ihm in die Augen schauen zu können. Mit pochendem Herzen sah sie, dass er sich zu ihr hinabbeugte. Ihr wurde ganz schwindelig. Verflucht sei er …
„So, mignonne“, wisperte er und strich mit den Lippen über ihren Mund, „warum gewähren Sie mir nicht meine Dreistigkeit?“ Portia musste sich eingestehen, dass sie nicht mehr weiterwusste. Er war ein Edelmann, ein Wüstling, und ein großer, rücksichtsloser Mann, der nur seine Interessen verfolgte. Rasch schlüpfte sie unter seinem Arm hindurch; er gab sie tatsächlich frei und grinste sie allzu unverschämt an. Die zehn Plagen der Ägypter sollten auf sein Haupt fallen! Sie sammelte sich und deutete verächtlich auf die leere Feuerstelle und die schlichte Holzverkleidung. „Fahren Sie ruhig fort, Mylord. Ich kann es kaum erwarten, wie Sie Papier aus dem Nichts hervorzaubern. Oder sind Sie gar ein Zauberer?“
„Vielleicht bin ich das.“ Er trat einen Schritt vor, und anstatt in den leeren Rost oder den rußigen Kamin zu schauen, untersuchte er die Stelle, wo die Holzverkleidung auf die Wand traf. Neugierig kam Portia näher und beobachtete ihn. Er machte sich an dem Spalt zwischen dem Holz und der Wand zu schaffen, doch plötzlich fluchte er und saugte an seinem Finger. „Oh weh“, rief sie mit vorgetäuschtem Mitgefühl aus. „Haben Sie sich an einem Nagel verletzt, Mylord?“ Der finstere Blick, den er ihr zuwarf, lehrte sie, ihre Zunge im Zaum zu halten. „Ist da wirklich etwas hinter dem Holz, Mylord?“, fragte sie vorsichtig. „Ja, Miss Neugierig, da ist etwas.“ Er griff in seine Tasche und holte ein Taschenmesser hervor. „Sie sind also hier Gast? Ich habe den Earl für einen besseren Gastgeber gehalten. Wie mir scheint, mangelt es an Dienstboten, Möbeln und Wärme.“
„Die anderen Räume sind ausreichend möbliert.“
„Und wie steht es um die Wärme und die Bediensteten? Ah, ich vergaß. Sie haben Ausgang, und die zehn stämmigen Brüder sind auch gerade nicht im Haus.“
„So ist es. Außerdem bevorzuge ich eine kühlere Raumtemperatur. Das ist gesünder.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sehnte sich indes im Stillen nach ihren Schultertüchern und versuchte, ein Zittern zu unterdrücken.
„Verzeihen Sie, aber ich glaube Ihnen kein Wort, Hippolyta. Allerdings geht mich das Ganze auch nichts an. Sollten Sie jedoch vorhaben, Walgrave zu bestehlen, so haben Sie meinen Segen.“ Portia wurde von heftigem Zorn ergriffen. „Wie können Sie es wagen …“ Doch er hörte gar nicht zu. „Ah“, sagte er schließlich, und in dem Spalt wurde ein Stück Papier sichtbar. Mit der Spitze seines Messers zog er daran, bis er es mit den Fingern zu fassen bekam. Dann erhob er sich und hielt ihr ein gefaltetes Papier hin. „Abrakadabra!“ Portia nahm die Gelegenheit wahr, entriss ihm das Schriftstück und wollte fortrennen. Doch er hielt sie fest, zog sie unerbittlich an sich und nahm ihr das Papier wieder ab. „Wie töricht“, meinte er schroff. Zu spät sah Portia ihren Fehler ein, denn jetzt klang seine Stimme hart und unnachgiebig. Er hatte einen Arm um sie geschlungen und hielt ihr das Schreiben mit der anderen Hand drohend vors Gesicht. Dem Papier entströmte ein aufdringlicher Duft, und sie drehte den Kopf weg, da sie den schweren Geruch des Parfüms nicht ertragen konnte. „Gefällt Ihnen der Duft ,Otto of Roses‘ nicht?“ Er sagte es fast beiläufig, aber sie war nicht davon überzeugt, dass er zu Späßen aufgelegt war.
„Der Duft ist ungewöhnlich schwer, Mylord.“
„Passt er zu einer tugendhaften und umsichtigen Dame?“
„Wohl kaum.“
„Aber dieser Brief könnte an eine Freundin gerichtet sein und von modischen Kleidern handeln.“
„Ist das der Inhalt?“
„Ich fürchte, nein.“ Obwohl sie in seinem eisernen Griff gefangen war, entspannte Portia sich. Erneut spürte sie, dass von diesem Mann keine unmittelbare Bedrohung ausging; sie empfand die merkwürdige Umarmung sogar als angenehm. Als kleine Frau war es schwer, für alles im Leben verantwortlich zu sein. Schon ertappte sie sich bei der Frage, wie es wohl wäre, einen starken Mann an ihrer Seite zu wissen. Was für törichte Gedanken! Was nutzte es, Männern zu vertrauen, wenn sie durch unüberlegte Investitionen das eigene Dach über dem Kopf verloren oder gar am Kartentisch verspielten? So war es ihrem Vater widerfahren, worauf er sich das Leben genommen hatte. Und so war es auch ihrem Halbbruder ergangen, der sie nun in diese missliche Lage gebrachte hatte. Sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. „Lassen Sie mich los, Mylord. Sie haben das, was Sie suchten, und ich kann Sie nicht davon abhalten, es zu nehmen.“
„Ich bin froh, dass Sie das endlich einsehen.“ Er ließ sie los, und sie wandte sich ihm zu. Ihre Vermutung stimmte. Der unbeschwerte, vergnügliche Tonfall, den sie von Beginn an bei ihm wahrgenommen hatte, war verflogen, und der grimmige Blick, den er auf das Schriftstück in seiner Hand warf, war beunruhigend. Sonderbarerweise verspürte sie Zuneigung zu dem fremden Mann und den Wunsch, einem Leidenden Trost zu spenden. Doch litt er wirklich? „Sind das nicht die Schriftstücke, die Sie gesucht haben?“, fragte sie. Ihre Blicke trafen sich.
„Glauben Sie, hinter der Kaminverkleidung befindet sich eine ganze Sammlung parfümierter Liebesbriefe? Was für eine entzückende Vorstellung! Ich sollte es gleich überprüfen …“ Er machte natürlich keine Anstalten, es zu tun, sondern drehte mit seinen langen Fingern die Papiere nachdenklich hin und her. „Es wäre jammerschade, das Haus nur mit einer Wäscheliste zu verlassen, die lediglich einen Spalt in der Holzverkleidung ausfüllen sollte.“ Portia verschränkte die Arme affektiert vor der Brust. „Das, Mylord, ist keine Wäscheliste.“
„Sie kennen sich aus, was? Na, na, Hippolyta. Ja, ich denke in der Tat, dass dies ein schmachtender Liebesbrief ist, einer, der eher von einer verbotenen als von einer heiligen Liebe handelt.“ Er sprach scheinbar unbekümmert, aber etwas Düsteres lastete auf ihm. Auch wenn sie keine unmittelbare Bedrohung in ihm sah, fröstelte Portia. Scheinbar endlos standen sie wie erstarrt und schweigend im silbernen Schein des Mondes, bis er das Papier auseinander faltete und in das Licht hielt. Sie bemerkte eine Veränderung in seinem Blick. Im Mondlicht wirkte sein Gesicht blass, doch nun spannte sich seine Miene an, als lese er schlechte Neuigkeiten. Portia schob jegliche Ablehnung beiseite und legte dem Fremden eine Hand auf den Arm. „Mylord, was steht dort?“ Er packte sie unvermittelt am Kragen ihres Kleids. „Zeit für Ihre Geheimnisse, Hippolyta. Wer sind Sie und was tun Sie hier?“
„Ich bin ein Gast des Earls.“ Ihre Stimme glich einem Piepsen und versagte ihr vor Schreck schließlich vollends. Er stieß sie unbarmherzig zurück und drückte sie mit dem Rücken gegen die Wand. „Keine Bediensteten. Kein Licht. Eine Pistole und ein merkwürdiges Interesse an diesen Schriftstücken. Überlegen Sie sich eine bessere Antwort!“
„Kein Licht?“, stammelte sie. „In meinem Schlafzimmer ist eine Kerze!“
„Und was hat es mit der Pistole auf sich?“, fragte er in einem scharfen Tonfall.
„Ich habe einen Einbrecher gehört!“
„Und da sind Sie gleich nach unten gekommen, um den Eindringling zu stellen? Welche wohlerzogene Dame würde sich so benehmen?“ Seine Augen funkelten, obgleich er seinen Zorn noch zurückzuhalten schien. „Wie lautet Ihr Name, Hippolyta?“ Sie würde alles preisgeben, wenn er sie nur losließe. „Portia St. Claire.“ Auch das half ihr nicht. Er starrte sie an, und seine Augen nahmen ein unheilvolles Glitzern an. „St. Claire?“, wiederholte er dann kaum wahrnehmbar. „Kein Wunder, dass Sie diesen Brief um jeden Preis haben wollen.“ Das unvermutete Lächeln, das nun seinen Mund umspielte, löste Unbehagen in ihr aus. „Was würden Sie mir für den Brief geben?“ Portia wünschte, sie wäre nie die Stufen hinuntergelaufen, denn sie konnte diese Gehässigkeit nicht ertragen. „Nichts. Gar nichts.“
„Ach nein? Der Inhalt ist aber äußerst pikant. Möchten Sie eine Kostprobe?“ Während er sie mit einer Hand festhielt, faltete er das Schreiben erneut auseinander. „Die Zeilen richtete eine gewisse Desirée an einen gewissen Herkules. Hören Sie, was sie ihm schreibt: Ich denke immerzu an deinen mächtigen Stab in meiner weichen Tasche, und der schlappe ,Mr. Tea‘ glaubt, ich verzehre mich nach ihm. Als wir uns das letzte Mal im Theater trafen, trug ich dein Taschentuch zwischen meinen Schenkeln …“ Sie stemmte sich gegen seinen Arm. „Hören Sie damit auf!“ Er hielt inne. „Ich vermute, Desirée würde von Ihnen mehr Einsatz erwarten, um mir diesen Brief zu entreißen, Portia St. Claire.“
„Ich kenne keine Desirée!“
„Kommen Sie, wir wissen, dass dies nicht ihr richtiger Name ist.“
„Richtig oder nicht, ich kenne diese Person nicht!“ Sie wehrte sich gegen seinen Griff. „Lassen Sie mich los, bitte!“ Portia hasste ihren flehentlichen Unterton, doch sie würde vor ihm kriechen, um endlich freizukommen. Die Angst raubte ihr schier den Atem, und ihr Herz raste unnatürlich schnell. Nie zuvor war ihr jemand begegnet, der so voller Zorn war. „Nehmen Sie Ihren Brief und gehen Sie“, flüsterte sie. Da er mit dem Rücken zur Fensterseite stand, lag sein Gesicht im Schatten. „Sie sind bereit, mich kampflos mit dem Brief gehen zu lassen?“
„Ja. Ja!“, rief sie.
„Warum haben Sie dann versucht, den Brief zu entwenden?“ Als sie nicht antwortete, schüttelte er sie heftig. „Warum?“
„Nur um Ihren Plan zu vereiteln“, keuchte sie. Mit einem Mal gab er sie frei. „Es erstaunt mich, dass Sie überhaupt so alt geworden sind, Miss St. Claire.“ Portia entfernte sich langsam von dem unberechenbaren Fremden. „Ich bin erst fünfundzwanzig.“
„Ich habe Sie für jünger gehalten, gemessen an Ihrem Aussehen und Ihrem überstürzten Verhalten.“ Der gefahrvolle Unterton in seiner Stimme war verflogen, und er schien seinen Spaß zu haben. „Richten Sie Desirée aus, dass Bryght Malloren ihren Brief hat und sich wegen der Bezahlung bei ihr melden wird.“ Portia straffte die Schultern und funkelte den Mann wütend an. „Ich sagte doch schon, dass ich keine Desirée kenne! Sie sind von Sinnen, Mylord!“ Er zog eine Braue hoch, wandte sich zum Gehen und hob seinen Umhang vom Boden auf. Portia hatte keine weiteren Einwände und betete im Stillen, dass er das Haus unverzüglich verlassen möge. Doch es kam etwas dazwischen. In diesem Augenblick betrat ihr jüngerer Bruder Oliver den Raum mit einer Kerze. Nach den Schatten und silbernen Mondstrahlen wirkte das unstete, goldene Licht grell. „Portia? Was machst du hier im Dunklen?“ Erschrocken blieb er stehen. „Und wer sind Sie, Sir?“
„Ein Einbrecher“, entgegnete Bryght Malloren schroff. Er drehte sich zu Portia um. „Wo sind Ihre anderen stämmigen Brüder und die drei Dienstboten?“
„So gehen Sie doch, Mylord“, antwortete Portia. Oliver war gerade einen halben Fuß größer als sie und diesem fremden Mann nicht gewachsen. Doch ihr Bruder schien sich der Gefahr nicht bewusst zu sein. „Mylord? Dienstboten? Was zum Teufel geht hier vor? Ich verlange eine Erklärung, Sir!“ Mit der freien Hand griff er nach dem Degen. Doch Bryght Malloren entriss ihm die Kerze und schlug ihn mit einem einzigen Schlag nieder. Portia schrie auf und rannte zu ihrem Bruder. Aber sie hielt erschrocken inne, als der Eindringling sich ihr zuwandte. Im flackernden Schein der Kerze sah sein Gesicht dämonisch aus. „Wenn das Fliegengewicht wieder zu sich kommt, teilen Sie ihm mit, wer ich bin. Als ein Malloren könnte ich ihn wie eine Schabe zerquetschen. Was den Degen anbelangt, so wäre es mir ein Leichtes, Ihren Bruder mit einer Hand auf dem Rücken zu töten. Und glauben Sie mir, ich hätte keine Gewissensbisse, einen St. Claire zu töten.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Verschwinden Sie, Sie aufgeblasener Schläger!“ Er machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen, sondern musterte sie mit einem kalten Blick. „Wollen Sie es wirklich auf einen weiteren Kampf ankommen lassen, Hippolyta?“
„Ich wünschte, ich hätte meine Pistole. Diesmal würde ich nicht zögern. Hinaus!“ Doch er kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen. „Amazonentränen“, sagte er leise. „Dieser Waffe dürfte jeder Mann erliegen.“ Mit einer übertriebenen Verbeugung kehrte er ihr den Rücken und eilte aus dem Raum. Erst jetzt bemerkte Portia, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Tränen des Zorns, redete sie sich ein und wischte sie mit beiden Händen fort. Himmel, sie meinte, was sie sagte! Hätte sie eine geladene Pistole zur Hand, würde sie diesen Schurken auf der Stelle erschießen. Besorgt betrachtete sie ihren Bruder, der sich wieder regte, und lief dann zum Treppenabsatz, um sich zu vergewissern, dass der Eindringling auch wirklich das Haus verlassen hatte. Sie hatte gerade das Geländer erreicht, als die Haustür zugeschlagen wurde. „Gott sei Dank“, murmelte sie und hoffte im Stillen, diesem Mann niemals wieder zu begegnen.