Leseprobe Das Glück liegt in Cornwall

Kapitel 1

Matthew Pommeroy.

Jahrelang verhielt es sich mit meinem leiblichen Vater, wie mit dem Weihnachtsmann. Mir wurde in meiner Kindheit erzählt, dass es ihn gibt und ich hielt daran fest, aber mit den Jahren, mit dem Älterwerden, verblasste meine Vorstellungskraft. Er war ein Mythos.

Bis heute. Bis zu diesem Brief.

Ich scanne seinen Namen ab, immer und immer wieder, um mir jeden einzelnen Buchstaben einzuprägen. Matthew. Meine Mutter hat immer nur Matt gesagt, wenn sie über ihn geredet hat, was zugegeben, nicht oft passierte.

Ich sehe von dem Brief auf und starre sie an. Ihre Lippen sind zu einer harten Linie geformt, die Stressader auf ihrer Stirn pulsiert.

»Also? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, frage ich.

»Ich weiß ja nicht mal, wofür ich mich verteidigen sollte.«

Entgeistert starre ich sie an. »Hallo? Hast du mir eben nicht zugehört?« Ich winke ihr mit dem Brief zu. »Ich sagte: Ich habe einen Brief von meinem Vater bekommen. Von meinem Vater, Mum. Von dem Mann, von dem du immer behauptet hast, er wüsste gar nichts von meiner Existenz.«

»Ja, und das habe ich auch so gemeint. Er war ein Urlaubsflirt, ich kannte ja nicht mal seinen Nachnamen. Dass ich schwanger bin, habe ich erst erfahren, als ich wieder zuhause war.«

»Und wieso konnte er mir dann diesen Brief schreiben?«

Meine Mutter schüttelt den Kopf und reibt sich über die Augen, während sie sich gegen die Sessellehne sinken lässt. »Ich weiß es nicht«, flüstert sie fast. Sie wirkt ein wenig blass um die Nase. Obwohl ich stinkwütend auf sie bin, habe ich Angst, dass sie gleich aus den Latschen kippt und gehe zu ihr.

»Mum«, sage ich etwas sanfter und reiche ihr das Glas Wasser, das auf dem Wohnzimmertisch steht. »Er muss doch von mir gewusst haben. Er hat mir dieses Café hinterlassen. Er will, dass ich es weiterführe. Er wusste, dass ich seine Tochter bin.« Ich sehe nochmal auf das Schreiben vor mir. »War«, flüstere ich und spüre einen Stich in meiner Brust. Der Kontakt mit dem Anwalt, der das Erbe meines Vaters verwaltet und der mir diesen Brief gegeben hat, zeigt eins deutlich: Matthew Pommeroy ist nicht mehr am Leben.

Tränen bahnen sich an, während das dumpfe Gefühl in meinem Bauch wächst. Jahrelang habe ich mich gefragt, wer er ist, habe mich danach gesehnt, ihn kennenzulernen … und nun ist er tot.

Es ist nicht fair.

»Ist dir klar, dass ich hier den Beweis dafür in den Händen halte, dass er von mir wusste? Jetzt kann ich ihn nicht mehr kennenlernen. Ich weiß nichts – absolut gar nichts – von ihm und jetzt ist es zu spät.« Ich schlucke die aufkommenden Tränen hinunter.

Mums Ausdruck wird sanfter und sie legt die Hand auf meinen Arm. »Riley, ich verstehe, dass du aufgewühlt bist. Glaub mir, dieses Schreiben wühlt auch bei mir einiges auf. Aber Matt ist dein Erzeuger, nicht dein Vater. Dein Vater ist und bleibt Jack. Er hat dich großgezogen. Er stand dir vierundzwanzig Jahre lang zur Seite, hat dir die Windpocken eingecremt und dich nachts ins Bett gebracht.«

Ja, Jack war immer eine Vaterfigur für mich. Ich brauchte ihn vor vierundzwanzig Jahren genauso wie ich ihn heute brauche. Aber er ist eben nicht mein leiblicher Vater. Er ist nicht meine Wurzel, nicht mein Blut. Dabei wollte ich immer wissen, wo ich herkomme. Ich wollte immer wissen, welcher Mann meine sonst so vernünftige Mutter dazu gebracht hat, einen Urlaub lang all ihre Prinzipien über Bord zu werfen und ein bisschen unvernünftig zu sein.

»Du verstehst es einfach nicht.« Das tut sie nie. Oft habe ich den Eindruck, sie versucht nicht einmal, meine Seite zu verstehen. Es geht immer nur um sie, nie um mich.

Ich starre erneut auf die verschnörkelte Handschrift meines Vaters. Der Anwalt hat ihn mir bei der Testamentsverlesung heute Morgen überreicht und mir gesagt, dass mein Vater ein Glioblastom hatte, laut Google ein Gehirntumor. Er wusste, dass er sterben würde, also hat er noch zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass ich alles von ihm erbe: Seine Wohnung, sein Café und alles darin.

»Seagulls. Wo genau liegt das?«, frage ich.

»In Cornwall, soweit ich weiß«, sagt meine Mutter und klingt von dem Thema immer genervter. Ich tue ihr aber nicht den Gefallen, es ruhen zu lassen. Ich kann nicht. In mir tobt ein Sturm, der seit vierundzwanzig Jahren gewachsen ist, und ich kann ihn nicht mehr aufhalten. Der Wunsch, mehr über meinen Vater herauszufinden, ist übermächtig.

»Gut, dann fahre ich da eben hin«, sage ich und freue mich insgeheim über den erstickten Laut, den meine Mutter von sich gibt. Ich war noch nie in Cornwall. Es ist an der Zeit das zu ändern, obwohl sich die Vorstellung, dort eine Wohnung und ein Café zu besitzen, ziemlich surreal anfühlt.

»Riley«, seufzt meine Mutter und fasst sich theatralisch an die Stirn. Sie neigt zu Kopfschmerzen, wenn sie gestresst ist, aber bei mir nutzt sie diese Geste auch gerne, um mir ihren Unmut nahezubringen. Als würde das ihre genervte Stimmlage nicht schon genug verdeutlichen. »Du kannst nicht einfach so nach Seagulls fahren.«

»Ach nein? Wieso nicht?«, fordere ich sie heraus.

»Matt ist tot. Was also willst du noch da? Dort gibt es nichts mehr für dich«, erwidert sie, als verstehe sie die Welt sehr viel besser, als ich es tue.

Dabei versteht sie nichts von dem Wunsch meinen Vater kennenzulernen – hat sie nie und wird sie nie. Sie versteht nicht, dass es beängstigend ist, einen Teil von sich nicht zu kennen, nichts über die eine Hälfte der eigenen Wurzeln zu wissen. Und sie kennt nicht die unerklärliche Sehnsucht nach diesem fremden Menschen, die ich gerade, in diesem Moment, mehr als jemals zuvor spüre und die mich dazu bringt, nach Cornwall reisen zu wollen. Ich recke das Kinn und sehe sie heraufordernd an. »Ich habe dort eine Wohnung und ein Café. Mein Vater hat sich gewünscht, dass ich es weiterleite.«

»Du kannst kein Café leiten.« Meine Mutter verdreht die Augen.

»Und wieso nicht?«, frage ich sie herausfordernd.

»Riley, du hast zwei linke Füße. Du stolperst doch schon, wenn du nur aus dem Haus gehst. Wie willst du Leute bedienen? Außerdem hast du weder Ahnung vom Kochen noch vom Backen, geschweige denn davon, einen Laden zu führen. Du kannst nicht einfach irgendeiner Schnapsidee von deinem Erzeuger hinterherlaufen.«

»Von meinem Vater«, berichtige ich sie.

»Was ist mit deiner Wohnung? Deiner Arbeit bei der Werbeagentur?«

»Für die Wohnung suche ich mir einen Untermieter. Und du sagst doch immer, dass ich mich bei der Agentur total unter Wert verkaufe. Herzlichen Glückwunsch. Du hast jetzt eine Tochter, die Cafébetreiberin ist.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Sei doch bitte vernünftig.«

»Nein.« Ich schnappe mir bereits meine Jacke. Mein ganzes Leben lang war ich vernünftig, vielleicht ist nun die Zeit gekommen, unvernünftig zu sein und zu sehen, wohin mich diese Entscheidung führt.

»Ich fahre nach Seagulls!«, brülle ich. Dann lasse ich die Wohnungstür meiner Mutter mit einem lauten Krach ins Schloss fallen.

 

Mein linker Fuß drückt die Bremse durch. Ein Karton, der auf dem Beifahrersitz stand, kippt um und stürzt das Wageninnerste noch mehr ins Chaos. Kleidung und Kosmetika landen neben den leeren Kaffee-to-go-Bechern und zerknüllten Fast-Food-Tüten, die längst im Fußraum des Beifahrersitzes lagen. Keuchend starre ich auf die dunkelgraue Ziege, mit der ich um Haaresbreite zusammengekracht wäre. Eine Kollision, die mein alter VW Beetle sicher nicht überstanden hätte – und die Ziege womöglich auch nicht. Ich wundere mich ohnehin schon, dass mein Auto bei der langen Strecke noch keinen Motorschaden davongetragen hat.

Ich versuche, meinen Herzschlag zu beruhigen, schnalle mich ab und öffne die Fahrertür. Die Ziege bleibt an Ort und Stelle.

»Hey«, sage ich laut. »Ich muss hier lang.«

Das Tier reckt ihren Kopf in meine Richtung, doch ich beachte sie schon gar nicht mehr, sondern blicke nach rechts. Sofort habe ich nur noch Augen für den Ärmelkanal neben mir, dessen tiefes Blau sich über die Küstenstraßen und die Klippen hinweg entlangzieht und in der Sonne glitzert. Ich kann einen Streifen der Nordküste Cornwalls überblicken, mit den kreisenden Möwen, Surfern, die auf die perfekte Welle warten und Klippen, die aus dem Meer herausragen und an denen sich die Wellen brechen.

»Wow«, flüstere ich. Die Ziege setzt sich in Bewegung und macht den Weg frei, doch ich verharre noch ein paar Minuten und genieße die Aussicht. Bei dem Anblick werfe ich zum ersten Mal kurz alle negativen Gefühle über Bord, die sich in den letzten Wochen trotz meiner Entschlossenheit angehäuft hatten. Seit ich tatsächlich Nägel mit Köpfen gemacht und meine Stelle in der Agentur gekündigt habe, war mir regelrecht schlecht. Ich hatte immer die Stimme meiner Mutter im Kopf, die mir einzureden versuchte, dass ich diesen Schritt bereuen würde. Doch nun, hier in Cornwall, spüre ich nichts als Bestätigung. Es mischt sich auch etwas Angst und Nervosität darunter, tausend Fragen und der Wunsch nach Antworten, aber ich spüre nun auch etwas wie Freiheit, weil es das erste Mal ist, dass ich mich von den Vorstellungen meiner Mutter losreiße und meinem Bauchgefühl folge.

Ich steige wieder ins Auto und fahre weiter, dabei versuche ich mich nicht von dem Blau ablenken zu lassen, das immer wieder hinter dem Grün der Natur hervorblitzt und mich daran erinnert, dass ich am Meer bin. Als würde der salzige Geruch, der in der Luft liegt, mir das nicht schon genug verdeutlichen.

Nach rund dreißig Minuten teilt mein Navi mir mit, auf einen staubigen Weg abzubiegen, der mich daran zweifeln lässt, ob ich dem Gerät vertrauen kann. Doch schon bald erscheinen die ersten Schilder, die Seagulls ankündigen.

Nach weiteren zwanzig Minuten sehe ich endlich das Ortsschild. Schlagartig werde ich nervös, als die ersten weißen Häuser vor mir auftauchen. Kupferfarbene Dächer reflektieren die Sonne, erste Menschen kreuzen meinen Weg. Allesamt sehen sie neugierig auf meinen Wagen, der sich inzwischen durch die verwinkelten Gässchen manövriert. Meine Handflächen werden nass, ich bin so voller Anspannung, dass ich die Umgebung gar nicht mehr richtig wahrnehmen kann. In London bin ich vieles gewohnt: Verkehrschaos, unachtsame Fußgänger. Aber so enge Gassen? Beinah nehme ich eine Häuserwand mit, ich bekomme das Lenkrad gerade noch herumgerissen. Eine der Passantinnen schüttelt irritiert den Kopf, bei meinen Versuchen, im Schneckentempo durch die Gassen zu kommen und endlich an mein Ziel zu gelangen. Als mein Navi mir endlich mitteilt, dass ich mein Ziel erreicht habe, zittern meine Beine. Aber es ist auch der Aufregung geschuldet, die sich in mir ausbreitet. Ich sehe vom Lenkrad auf und schaue zu dem kleinen, weißen Backsteinhaus mit den großen Fenstern, vor dem ich parke. Ich steige aus und gehe unwillkürlich ein paar Schritte darauf zu, gefesselt vom Anblick des mintgrünen Schilds, das in abgeblätterter Farbe Matts Café ankündigt und im Wind schaukelt. Es quietscht bei jeder Bewegung und verursacht mir eine Gänsehaut, während ich realisiere, dass dies tatsächlich meinem Vater gehört hat.

Ich ziehe den Schlüssel mit dem ovalen Holzanhänger aus meiner Hosentasche. Der Schlüssel für das Café.

Mein Café.

Der Gedanke ist noch viel zu unwirklich.

In diesem Moment spüre ich unglaubliche Erleichterung, dass ich nun endlich da bin, endlich Antworten bekommen kann, doch ich spüre auch Wehmut, die mit Tränen hinaufsteigen will. Wehmut, weil ich Matt nicht kennenlernen konnte …, weil er mich nicht mehr empfangen kann. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass er dort hinter dem Tresen steht und meine Ankunft über die großen Fenster beobachtet, um mich dann in seine Arme zu schließen und mir alles zu erzählen. Seine ganze Geschichte, der Grund, wieso ich hier bin. Aber in dem Laden vor mir bleibt alles still. Mir bleibt nur, selbst nach diesen Antworten zu suchen. Selbst herauszufinden, wer mein Vater war und woher er von mir wusste. Also gehe ich einen Schritt auf das Café zu.

»Hey, Sie dürfen da nicht parken.«

Erschreckt fahre ich zusammen. Ich war so mit dem Anblick des Ladens und meinen Empfindungen beschäftigt, dass ich die Welt um mich herum ausgeblendet hatte.

Ich drehe mich um und sehe in hellblaue Augen. Mein Mund steht offen, während mein Blick über seine dunkelblonden Haare und seinen Drei-Tage-Bart fährt und dann an seinem Bizeps kleben bleibt, der durch ein graues Shirt betont wird. So jemanden wie ihn, hätte ich hier in diesem beschaulichen, kleinen Ort nie vermutet. Ich muss mich zwingen, ihm wieder ins Gesicht zu sehen, mich jedoch nicht in dem Blau seiner Augen zu verlieren. Augen, die sich nun verengen. Offensichtlich wartet er auf eine Reaktion.

»Was?«, frage ich verwirrt.

»Ich sagte, dass Sie hier nicht parken dürfen. Das ist eine Fußgängerzone.«

»Oh.« Mein Blick fällt auf die Straßenschilder, die beinah penetrant daran erinnern, dass es sich tatsächlich um eine Fußgängerzone handelt. Dennoch nehme ich sie das erste Mal bewusst wahr. »Mist«, murmle ich und wühle in meiner Tasche nach meinem Autoschlüssel, doch die Handtasche entgleitet mir und fällt zu Boden, wo der gesamte Inhalt sich auf dem Bürgersteig verteilt. Kaugummis, benutzte Taschentücher, alte Einkaufsbons und ein paar Tampons kullern auf den Weg und lassen mich fluchend auf dem Boden herumkriechen. Der Typ mit den blauen Augen kniet sich neben mich und hilft mir, aber ich wünschte, er würde es lassen, denn seine Mundwinkel sind zu einem amüsierten Grinsen verzogen, als fände er meine Tollpatschigkeit urkomisch.

»Danke«, sage ich und nehme eilig meine Habseligkeiten an mich, um sie wieder in die Tasche zu stopfen. Neben meinem Fuß finde ich meinen Autoschlüssel, der ebenfalls herausgefallen war.

»Alles wieder beisammen?«, fragt er grinsend.

Ich richte mich auf, schwinge meinen Zopf nach hinten und versuche, ebenfalls ein Lächeln zustande zu bringen. Aber die Anwesenheit dieses Manns, in Verbindung mit meiner Nervosität, bringen meine Mundwinkel vor Anstrengung zum Zucken. »Danke«, sage ich nochmal.

»Schon gut. Aber ich würde den Wagen trotzdem wegfahren. Die Kontrolleure sind hier ziemlich streng.«

»Aber wo soll ich denn dann parken?«

»Kommt ganz drauf an, wo du hinwillst.«

Ich zeige auf das Café hinter mir. »Der Laden und die Wohnung darüber gehören jetzt mir.«

Er mustert mich sofort noch ein wenig neugieriger. »Ich wusste nicht, dass das Café verkauft werden sollte.«

»Wurde es auch nicht. Ich habe es geerbt von … nun ja, von dem Besitzer. Er war mein …«

»Lebensgefährte?«

»Was? Nein, natürlich nicht. Ich bin erst vierundzwanzig!«

Er zuckt die Schultern. »Der Besitzer war bekannt dafür, nichts anbrennen zu lassen.«

Na, ganz toll. Bin ich wirklich knapp dreihundert Meilen gefahren, habe alles aufgegeben und einen Streit mit meiner Mutter angefangen, nur um dann herauszufinden, dass mein Vater ein Lustmolch war?

»Ich bin Riley. Seine Tochter.«

»Oh.« Sein Grinsen verrutscht. »Das ist jetzt unangenehm.«

»Schon gut. Ich meine, bis vor ein paar Wochen wusste ich gar nicht, dass es Matthew Pommeroy wirklich gibt, geschweige denn, dass ich seine Tochter bin. Ich verkrafte das.«

»So schlimm war er auch gar nicht.«

»Sie kannten ihn?

»Ein bisschen. Ich bin manchmal in dem Café aufgetreten.«

»Als was?«

»Ich bin Musiker.« Er deutet auf den Gitarrenkoffer, der ihm auf dem Rücken hängt. »Also, Riley.« Ich mag es, wie er den Namen betont. »Wenn du jetzt die Besitzerin bist, darfst du durch die Fußgängerzone fahren. Parken würde ich hier trotzdem nicht. Um die Ecke gibt es einen Parkplatz, der zu dem Café gehört. Das ist dann Privatgrundstück und da kannst du dir keine Strafzettel einfangen.«

»Danke, ähm–«

»Sebastian.«

»Danke, Sebastian«, wiederhole ich seinen Namen und lächle.

Er lächelt zurück. Neben seinen Augen bilden sich kleine Lachfältchen, die ihn noch sympathischer wirken lassen. Wie alt er wohl ist? Ende zwanzig vielleicht? Höchstens Anfang dreißig, aber auf jeden Fall älter als ich.

»Ich schätze, dann sehen wir uns«, sage ich und lege meine Hand fester um meinen Autoschlüssel, bevor ich zum Wagen gehe und die Fahrertür öffne.

Sebastian bleibt stehen und sieht mir nach. »Dann machst du das Café wieder auf?«, ruft er mir zu. »Oder verkaufst du alles?«

»Ich will es wieder öffnen. Mal sehen, wie es läuft.«

»Dann werde ich dich definitiv hier besuchen kommen«, verspricht er, winkt mir zu, und verschwindet hinter der nächsten Häuserecke.

Ich sehe ihm noch eine Weile nach, bis ich mich wieder dem Café zuwende, das verlassen darauf wartet, endlich von mir begutachtet zu werden.

Kapitel 2

Das Café riecht nach Holzpolitur und abgestandener Luft. Ein dunkelbrauner, massiver Holztresen dominiert den Raum, dahinter befinden sich der Kaffeevollautomat und einige Regale mit Tassen. Ich streiche darüber, der Geruch der Politur scheint daran zu haften, ebenso wie der Staub der letzten drei Monate, in denen das Café nicht genutzt wurde. Der Gedanke, dass sich seit dem Tod meines Vaters niemand um sein Lebenswerk gekümmert hat, ist traurig. Hatte er keine weitere Familie? Niemanden? Hatte er nur mich, seine unbekannte Tochter?

Ich gehe an den weißen, viereckigen Tischen vorbei, die an der Fensterfront aufgebaut sind und genügend Platz bieten, um hier Gäste zu bewirten. Ich kann es mir regelrecht vorstellen, wie der Laden belebt aussieht, wenn die Tische gefüllt sind und es nach gerösteten Kaffeebohnen duftet. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mich selbst in Mitten dieses Bildes sehen kann, mit einer Schürze und dem Organisationstalent, das eine Ladenbesitzerin haben sollte. Aber ich weiß, dass ich mein Bestes geben werde, um es zu versuchen. Für Matt. Für meinen Vater.

Nachdenklich gehe ich zu den Bildern an der hintersten Wand, an der drei Schwarz-Weiß-Aufnahmen hängen, die das Café von verschiedenen Seiten zeigen. Ob er sie aufgenommen hat? Meine Finger gleiten über die Bilderrahmen, ich warte darauf, auf magische Weise eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, als würde ich das Band zwischen ihm und mir wahrnehmen können. Doch ich spüre nichts, außer dem Kitzeln in meiner Nase, ausgelöst von tonnenweise Staub.

Mein Blick fällt auf eine weiße Tür, in der Nähe der Theke. Dahinter befindet sich die Küche und eine weitere Tür, die laut Notausgangsschild vermutlich nach draußen zu dem kleinen Hinterhof führt, auf dem ich meinen Wagen geparkt habe. Daneben ist eine Treppe. Neugierig folge ich ihr nach oben und komme zu einer verschlossenen Tür mit einer Willkommens-Fußmatte. Ich öffne sie, trete ein, und lasse den Raum auf mich wirken. Auch hier finde ich massive, dunkle Eichenmöbel, dem Tresen ganz ähnlich, und auch hier nehme ich den Geruch von Holzpolitur wahr. Ich stehe in der Mitte des Raums, direkt neben einem runden Esstisch, und überblicke somit das gesamte Apartment, das nicht viel größer ist als meine kleine Wohnung in London. Eine Küchenzeile, ein Doppelbett und ein Kleiderschrank, umrahmt von Dachschrägen und einem hellgrauen Anstrich. Pflanzen oder Deko Fehlanzeige, nur einige Fotos hängen gegenüber der Küchenzeile. Ich gehe darauf zu. Mein Herz beginnt zu rasen, als mir bewusst wird, dass die Bilder Männer zeigen. Vier Stück an der Zahl, einmal gemeinsam auf einem Bild, mit Angelruten in der Hand und strahlendem Lächeln. Ein anderes Bild zeigt zwei der Männer vor einem Motorrad. Die anderen beiden Fotos sind auf einer Feier entstanden, so macht es zumindest den Eindruck, denn ich sehe Bier- und Schnapsflaschen im Hintergrund, einer der Männer trägt ein Hawaiihemd und lächelt sehr verträumt. In meinem Hals sammelt sich ein Kloß, während ich auf den Fotos nach einem gemeinsamen Nenner suche: Ein Mann, mit meiner Nase oder meiner Haarfarbe. Aber ich sehe weder das Kastanienbraun, das mir im Spiegelbild begegnet, noch entdecke ich irgendetwas anderes Vertrautes. In dieser Küche sehe ich vier Männer, verewigt auf Bildern, und jeder davon könnte Matthew sein … oder auch keiner von ihnen.

Frust schäumt in mir auf. Ich wünschte, mein Vater wäre jetzt hier, um mir das alles zu erklären. Um mich ihn sehen zu lassen. Wieso wusste er von mir? Seit wann? Wieso hat er mir alles vererbt, anstatt zu Lebzeiten Kontakt zu mir aufzunehmen? Wer war er, wer bin ich? Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass ich auch ohne meinen Vater weiß, wer ich bin. Aber sie konnte diesen Punkt noch nie nachvollziehen. Ja, ich sehe mich. Ich erkenne mich deutlich. Ich weiß, was ich mag, was ich kann und was meine Schwächen sind. Aber dieses eine Puzzleteil fehlt. Ohne bin ich unvollständig und das ist verdammt beängstigend.

Ich blicke mich um, suche gezielt nach weiteren Fotos, doch ich finde keine. Dafür finde ich auf einer der Kommoden einen kleinen Flakon. Meine Hände zittern leicht, als ich die schwarze Flasche an mich nehme und den Deckel abhebe, um daran zu riechen. Der Geruch von Sandelholz, gepaart mit einer herben Note, dringt mir in die Nase und lässt mich innehalten. Lässt mich träumen. Von einem Vater, dessen Geruch mich beim Schlafengehen begleitet, der mich zudeckt und küsst, mir sagt wie sehr er mich liebt. Von einem Vater, der mich umarmt und mir ins Ohr flüstert, dass er stolz auf mich ist. Ich schließe die Augen, sehe genau diese Szenen vor mir, doch die Erkenntnis, dass dieser Duft niemals mehr an Matt Pommeroy haften wird, setzt Tränen frei. Tränen, die ich gar nicht weinen will, weil ich doch so froh bin, hier in Seagulls angekommen zu sein. Ich möchte nicht traurig sein, ich möchte genießen. Genießen, dass ich endlich die Chance habe, etwas über ihn zu erfahren. Ich schließe den Flakon, stelle ihn zurück und gehe zur Dachluke, um frische Luft in das verlassene Apartment zu lassen. Dann beginne ich, meine Sachen aus meinem Auto in die Wohnung zu tragen.

Da ich nicht weiß, wie lange ich bleiben werde, habe ich nur ein paar Kartons gepackt, hauptsächlich Kleidung und meinen geliebten Katzenwecker, den ich von meinem Stiefvater Jack geschenkt bekommen habe und der schnurrt, bevor er zu klingeln beginnt. Eine kleine Albernheit, die mich immer wieder zum Lächeln bringt, und das, obwohl ich eigentlich kein Morgenmensch bin. Ich hole auch ein Foto aus einem der Kartons, das Jack, meine Mum und mich zusammen zeigt, wie wir an meinem Highschoolabschluss um die Wette lächeln. Sonst hat es immer auf meiner Kommode gestanden, aber nun ertrage ich den Anblick meiner Mutter nicht, also stelle ich es in eins der Regale in der Küche, raus aus meinem direkten Blickfeld. Aus einem der Kartons ziehe ich die Zeitschriftensammlung, die ich mir in den letzten Jahren angehäuft habe und die inzwischen vom Umblättern schon zerknittert ist. Sie landet in einem der Regale, direkt neben einer Schallplattensammlung, die meinem Vater gehört haben muss. Kurz werfe ich einen Blick darauf, entschließe mich dann jedoch dazu, sie in einer ruhigeren Stunde durchzugehen, und mich stattdessen dem Kleiderschrank zu widmen.

Nach rund zwei Stunden sehe ich mich zufrieden um. Ein paar meiner eigenen Sachen hier zu wissen, lässt die dunklen, einengenden Holzmöbel etwas vertrauter wirken. Ich klappe die Kartons zusammen und verstaue sie hinter dem Kleiderschrank. Dann inspiziere ich die Vorräte der Küche. Einige Konserven stehen in den Hängeregalen über der Spüle, hauptsächlich Dosensuppen und Ravioli. Es scheint, als wäre mein Vater ebenso kochfaul wie ich es bin. Ich nehme eine der Dosen in die Hand und genieße diesen Augenblick, in dem mir bewusst wird, dass dies die erste Gemeinsamkeit mit ihm ist. Es ist nicht viel, nur eine Kleinigkeit, und doch fühle ich mich ihm in diesem Moment nah. Und ich realisiere, dass das hier wirklich gerade geschieht. Dass ich wirklich in der Wohnung meines leiblichen Vaters stehe. Es ist verrückt. Aber wunderschön.

Eine Weile stehe ich einfach nur da, sehe gedankenverloren auf die Bilder an der Wand als würde ich auf dem zweiten Blick erkennen können, welcher der Männer Matt war. Bis ich mir eingestehe, dass dieser Moment des Erkennens nicht kommen wird. Ich muss weiter machen. Also nehme ich den leeren Kühlschrank wieder in Betrieb und entschließe mich dazu, endlich meiner Neugier nachzugeben und das Haus zu verlassen. Ich brenne darauf, die Stadt zu sehen, die mein Vater sein Zuhause genannt hat.

Planlos bummle ich durch die engen Gassen mit den weißen Häuserfassaden. Bunte Windräder, Fahnen und Willkommensschilder zeigen Gastfreundschaft, überall stehen kleine Leuchttürme und Holz-Möwen, die zum Ortsnamen passen. In den Fenstern hängen Fischernetze, die jeden daran erinnern, dass wir am Meer sind. Es duftet nach frischem Brot und ich folge dem Geruch, hin zu einer kleinen Bäckerei. Ich hole mir ein Apfelteilchen, schlendere damit weiter, an einer Pizzeria und einer Eisdiele vorbei, und setze mich auf eine Bank auf einem Marktplatz, um die Leute und die Stadt auf mich wirken zu lassen. Obwohl ich Menschen auf den Straßen sehe und auf dem Schulhof gegenüber Kinder spielen, wirkt Seagulls auf mich, die den Trubel Londons gewöhnt ist, eher verschlafen. Die kleinen, verwinkelten Gassen und der Geruch des Meers bekräftigen diesen Eindruck ebenso wie die Möwen, die ihre Kreise ziehen und auf dem Marktplatz nach Essensresten suchen. Es ist ein Ort der Ruhe, der Erholung, und ich spüre selbst, wie diese Erholung auf mich schwappt und meine Nervosität wegspült. Nur die Fragen, die sich minütlich vermehren, geben keine Ruhe. Was hat meinen Vater hierher verschlagen? Wieso lebte er gerade hier? Wieso hatte er ein Café?

Irgendwann reiße ich mich los und gehe zu einem Lebensmittelladen, den ich auf dem Hinweg entdeckt habe. Dabei komme ich an einem weiteren Café vorbei. Ein Blick durchs Fenster lässt mich einen moderneren Laden mit weiß-beiger Innenrichtung sehen. Ein Mann mit grauen, verstrubelten Haaren steht mit dem Rücken zu mir, er trägt eine Schürze und gießt einem Gast Kaffee ein. Ich überlege gerade, ob ich mir dort einen Kaffee holen soll, als das Vibrieren meines Handys mich davon abbringt. Auch ohne draufzusehen, weiß ich, dass es meine Mutter ist. Wer sonst?

Nur widerwillig gehe ich dran, aber wenn ich es nicht tue, schickt sie sofort ein Einsatzkommando, weil sie denkt, ich würde tot im Straßengraben liegen.

»Seagulls beste Cafébetreiberin am Apparat«, melde ich mich zu Wort und höre sofort das mir bekannte Seufzen.

»Kann ich also davon ausgehen, dass du gut angekommen bist?«

»Alles bestens, Mum. Echt super hier.«

»Ach bitte, du langweilst dich nach zwei Tagen sicher so sehr, dass du freiwillig zurückkommst.«

»Ich habe ein Café zu eröffnen. Da wird schon keine Langweile aufkommen«, sage ich bissig.

»Hör zu, Schatz«, erwidert meine Mutter etwas ruhiger. »Du musst das nicht durchziehen. Was willst du denn ganz allein in diesem gottverdammten Kaff?«

»Ich bin nicht allein. Laut Google leben hier knapp 1300 Menschen.«

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Ja, ich weiß.« Nun bin ich diejenige die seufzt. »Aber ich will das hier durchziehen. Und deine negative Energie hilft mir nicht.« Dann lege ich auf. Einfach so. Ein gutes Gefühl. Diese Diskussion haben wir in den letzten Wochen so oft geführt, dass ich einfach keine Kraft mehr dazu habe immer und immer wieder ihre Einwände zu hören. Sie versteht mich ja doch nicht.

Ich ignoriere, dass mein Handy danach sofort wieder vibriert, betrete endlich den Lebensmittelladen, wo ich mir hauptsächlich Nudeln, Fertigsoße und Süßigkeiten kaufe, und folge einem Straßenschild, das mich zum Strand lotst. Direkt hinter meinem Café, nur eine Abbiegung entfernt, liegt ein schmaler Weg, der mit weißen Holzpaletten ausgelegt ist. Der Weg ist eng, meine Hose bleibt zweimal an Gestrüpp hängen, das hineinragt, aber am Ende führt mich dieser Weg sicher zu einem menschenleeren Strandabschnitt. Ich sehe auf die Weiten des Ärmelkanals, nehme den salzigen Geruch in mir auf und kann zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig atmen. Direkt vor den Wellen lasse ich mich in den Sand plumpsen und hole die Packung Chips hervor, die ich mir eben gekauft habe. Mit Blick in die Ferne esse ich und spüre, wie Zuversicht sich breit macht. Ich habe es geschafft, ich bin hier.

Seagulls ist fürs Erste mein Zuhause.

Während die Möwen über mir ihre Kreise ziehen, denke ich, dass ich in meinem Leben schon schlechtere Entscheidungen getroffen habe.

 

Als ich vom Strand zurückkomme, steht eine Frau vor dem Café und drückt sich die Nase an der Fensterscheibe platt. Wortwörtlich. Ihre Shorts sind so knapp, dass ihr halber Hintern rausquillt und ein weißes Tanktop betont ihren üppigen Busen. Sie könnte mit ihrem Outfit nicht weniger in dieses beschauliche Kaff passen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich.

Die Frau zuckt zusammen und dreht sich nach mir um. Sofort fällt mir auf, dass sie von vorne viel jünger wirkt, als ich zunächst dachte. Sie ist höchstens Mitte zwanzig. Ihre barbieblonden Haare sind zu einem Dutt geformt und sie hat große Puppenaugen.

»Kommt drauf an. Bist du Riley?«

»Woher weißt du das?« Die Tatsache, dass sie meinen Namen kennt, macht mich stutzig.

»Hey, ich bin Lydia.« Sie grinst mich an. »Ich wusste nicht, dass du noch so jung bist. Als Sebastian mir sagte, dass du hier bist, hatte ich irgendwie mit jemand älterem gerechnet.«

»Wieso hat Sebastian dir gesagt, dass ich hier bin?«

»Weil er wusste, dass es mich interessiert. Allerdings interessiert es vermutlich jeden hier. In Seagulls steht man auf Klatsch und Tratsch und dass Matt Pommeroy eine Tochter hatte, hat uns alle umgehauen.«

»Dann wissen mehrere Leute von mir?«, frage ich überrascht

»Ich denke, inzwischen alle.«

Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, Bestandteil dieses Stadtgeflüsters zu sein. In London herrscht Anonymität, da weiß niemand wer ich bin. Nicht mal meine Nachbarn kennen mich, zumindest habe ich noch nie mit ihnen geredet.

»Ich habe gehört, du willst das Café wiedereröffnen?«

»Ja, das ist der Plan.«

»Oh super. Weißt du, ich habe hier früher gearbeitet.«

»Was? Wirklich?«

»Ja, zwei Jahre lang, als Aushilfe neben dem Studium. Das habe ich inzwischen geschmissen und na ja … andere Geschichte.« Lydia sieht mich verlegen an. »Tut mir leid, ich rede manchmal bevor ich denke. Also ähm … du brauchst doch sicher Hilfe, oder? Wegen dem Café, meine ich.«

»Wenn du hier gearbeitet hast, kanntest du meinen Vater«, sage ich und forme es mehr als Frage, nicht als eine Feststellung.

»Kann man so sagen. Er war eher der große, schweigsame Typ. Er stand nicht so aufs Kommunizieren. Aber ja, ein bisschen kenne ich ihn.«

Aufregung durchfährt mich. Vielleicht bekomme ich durch Lydia meine Antworten, die ich so dringend brauche. »Möchtest du reinkommen?«

»Gerne.« Sie lächelt mich an, ein warmes, ehrlich gemeintes Lächeln, das sie mir sofort sympathisch macht.

Gemeinsam gehen wir in den Laden und nehmen zwei der Stühle vom Tisch, um uns zu setzen. Ich ignoriere die dünne Staubschicht vor mir. Darum muss ich mich morgen kümmern. Oder zumindest zeitnah.

»Wie alt bist du?«, fragt Lydia, noch bevor ich etwas sagen kann.

»Vierundzwanzig.«

»Mhm … dann muss Matt schon älter gewesen sein, als er dich bekommen hat.«

»Ja?« Ich war irgendwie davon ausgegangen, dass er genauso alt war wie meine Mutter. Bei der Testamentsverlesung war ich so nervös, dass ich gar nicht richtig zugehört habe als der Anwalt den Text heruntergeleiert hat. Und meine Mutter hat mir ohnehin nichts von ihm verraten. Sobald die Worte Matt oder Vater gefallen sind, war sie auf einmal so still wie eine Nonne mit Schweigegelübde.

»Wie alt war er?«, frage ich.

»Fast siebzig.«

»Was?« Ich sehe sie erstaunt an. Meine Mutter ist damit zwanzig Jahre jünger als er. Selbst wenn sie sein Geburtsdatum nicht kennt, hätte sie wirklich mal erwähnen können, dass ihr Urlaubsflirt damals so viel älter war als sie. Verwirrt runzle ich die Stirn. »Aber Sebastian hat irgendwas davon erzählt, dass er junge Frauen abgeschleppt hat.«

»Oh ja, dafür war er bekannt.«

»Aber wie konnten die sich auf ihn einlassen? Wenn er doch schon siebzig war.«

»Das Alter hat man ihm gar nicht angemerkt. Matt war die perfekte Mischung. Ein Draufgänger mit Lederjacke und Motorrad, aber durch seine eher schweigsame Art wirkte er trotzdem wie ein richtiger Frauenversteher. Der Zuhörer. Verstehst du? Und auch wenn er oft eigensinnig war und er Leute bei sich selbst auf Distanz gehalten hat, war er für andere immer da und hat sie unterstützt.«

»Das klingt wirklich nach jemandem, den ich gerne gekannt hätte«, erwidere ich nachdenklich und starre aus dem Fenster. Lydia lässt mir diesen Moment. Ich liebe es, mehr über ihn zu erfahren, aber gleichzeitig bin ich wütend. Wütend, weil ich jede Information nur über Dritte bekomme.

»Du weißt nicht viel über deinen Vater, oder?«, fragt Lydia und sticht damit genau in die Wunde.

»Eigentlich weiß ich gar nichts. Ich weiß nur, dass er mir all das hier vermacht hat.« Ich zeige auf den Laden. »Aber ich habe keine Ahnung davon, wie man ein Café betreibt. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann. Meine Mutter hält das alles für eine totale Schnapsidee.«

»Aber du willst es versuchen?«

»Auf jeden Fall«, sage ich entschlossen und denke dabei an meine Mutter und ihr genervtes Seufzen.

»Dann helfe ich dir. Viel weiß ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Ich habe ein abgebrochenes Studium und eine abgebrochene Ausbildung. Wenn du die Leute hier fragst, bin ich eine ziemliche Versagerin.« Lydia sieht mich gequält an. In ihren Augen sehe ich Unsicherheit, es ist deutlich, dass sie bereut, es so ehrlich formuliert zu haben.

»Ich habe auch noch nicht viel vorzuweisen«, sage ich daher.

»Aber ich habe hier immerhin gearbeitet. Wenn ich dir sage, was ich weiß, bekommst du das sicher hin.«

»Und dann erzählst du mir von Matt, okay? Ich will wirklich wissen, wer er war.«

»Auf jeden Fall. Aber da gibt es jemanden, der sicher mehr über ihn weiß.«

»Wen?«

»Charlie. Du solltest Charlie fragen.«

»Und wer ist das?«, hake ich nach.

»So ziemlich der einzige richtige Freund, den dein Vater hatte, würde ich sagen. Er war außerhalb der Frauengeschichten ein Einzelgänger, aber Charlie hat er an sich rangelassen. Zumindest ein bisschen.«

»Wo finde ich ihn?«

»Keine Sorge. Charlie findet dich.«

»Das klingt sehr mafiamäßig, wenn du das so sagst.«

»Nee, hier finden dich nun mal alle von allein. Du wirst schon sehen, nach und nach kommt der ganze Ort, um sich Matts Tochter anzusehen.«

»Toll«, sage ich. Der Gedanke, so auf dem Präsentierteller zu stehen und begutachtet zu werden, macht mich schon jetzt furchtbar nervös.

»Wie wäre es, wenn ich morgen früh komme und wir gemeinsam den Laden herrichten?« Lydia guckt auf den Staub vor ihrer Nase. »So kommt höchstens die Gesundheitsbehörde, aber kein Gast.«

»Das wäre klasse«, sage ich ehrlich. »Vielleicht um neun Uhr?«

»Neun ist perfekt.« Lydia steht auf, säubert ihre Hände an ihrer Jeansshort und macht Anstalten das Café zu verlassen.

»Warte«, schreie ich beinah. »Kannst du … würdest du vorher noch kurz mit nach oben kommen?«

»Ähm …« Lydia sieht unsicher nach oben. »Klar.«

Dankbar lächele ich sie an, bevor wir ins Apartment gehen und ich sie direkt zur Fotowand in der Küche führe.

»Ist es einer davon? Ist auf einem der Fotos mein Vater?«

»Du weißt nicht mal wie er aussieht?«

Ich schüttle betrübt den Kopf. »Ich sagte doch, dass ich im Grunde nichts über ihn weiß.«

Lydia sieht mich eine Spur zu mitleidig an. »Das ist er.« Sie zeigt auf das Foto ganz rechts, auf dem ein Mann mit schulterlangen, grauen Haaren an eine Häuserwand gelehnt ist. Er trägt eine Lederjacke, an seinen Augen erkenne ich ausgeprägte Lachfalten, die zeigen, wie alt er ist. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich erkennen kann, seine Tochter zu sein. Ich sehe nicht viele Ähnlichkeiten. Und doch hat dieses Phantom, das mein Vater immer war, plötzlich ein Gesicht. Die Wurzeln, nach denen ich seit Jahren gesucht habe, beginnen zu wachsen.

»Das ist er«, flüstere ich mehr zu mir selbst. Ich trete einen Schritt vor, versuche mir jeden Gesichtszug einzuprägen.

Lydia räuspert sich. »Wir sehen uns dann morgen früh.« Sie zieht sich unauffällig zurück, als würde sie spüren, welch magischer Moment, das für mich ist.

»Danke«, flüstere ich ihr noch zu, als sie schon auf dem Weg nach unten ist.

Ich starre nur weiter auf das Foto. Vorsichtig nehme ich den Rahmen von der Wand und trage es zum Bett. Ich will das Foto nah bei mir haben, will es immer wieder betrachten.

»Woher wusstest du nur, dass es mich gibt?«, flüstere ich dem Bild zu. »Wieso hast du dich nie gemeldet, wenn du doch wusstest, dass ich existiere?«

Ich wünschte, das Foto würde mir antworten.

Aber im Apartment bleibt alles still, einzig das Pochen meines Herzens stört diese Ruhe.