Leseprobe Das Haus unter den Pinien

Prolog

Ich vergrabe die Hände tief in den Taschen meiner Strickjacke und schleiche mich vorbei an den überbreiten Türen, die wie immer alle geschlossen sind, an denen ich aber unweigerlich vorbeimuss. Der Flur in der vierten Etage kommt mir heute noch grauer und länger und bedrückender vor als sonst. Draußen hat es über zwanzig Grad, und ich friere. Wie immer riecht es nach Desinfektionsmitteln und nach sauberen Fußböden, einer Mischung, vor der es mich schon beim Informationsabend schüttelte, und die ich inzwischen zu hassen gelernt habe. Als ich am Zimmer neun vorbeikomme, höre ich ein wimmerndes Weinen, höre das metallene Klirren einer Bettpfanne, die auf den Boden poltert, dann ein lautes Fluchen. So schnell ich kann, drücke ich mich an der Tür vorbei.

Ich möchte nicht alt werden, denke ich.

Und niemals, niemals möchte ich hier untergebracht werden, auch wenn das Haus Regenbogen wirklich malerisch liegt und das Personal sehr bemüht ist. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, auch nicht an diese verdichtete, beinahe greifbare Bedrücktheit, die ich schon spüre, wenn ich mit schnellen Schritten die lichtdurchflutete Eingangshalle durchquere. Sie ist, wie mir scheint, bereits in die Wände eingemauert und damit unausweichlich im Gebäude eingeschlossen.

 

Dein Zimmer ist am Ende des Ganges. Ich kann es schon sehen, es trennen uns nur noch wenige Meter, und ich spüre, wie es in meiner Kehle enger wird, wie meine Aufregung mit jedem Schritt wächst. Ich möchte davonlaufen, möchte zurück, und gleichzeitig ist mir klar, dass es kein Zurück gibt. Ich muss zu innerem Frieden finden.

„Hallo, Frau Jahn!“, ruft es hinter mir, und ich zucke zusammen. Es ist Schwester Ilona, die junge Pflegerin mit den rötlich getönten Haaren und der Himmelfahrtsnase, die aus einem der Zimmer kommt. „Ich habe Sie lange nicht gesehen! Wie geht’s Ihnen? Gut sehen Sie aus! Ist alles in Ordnung?“

Nein, nichts ist in Ordnung.

Meine berechenbare Welt, eine scheinbar dicke, tragende Eisdecke, auf der ich bis jetzt ohne größere Stürze durchs Leben geschlittert bin, ist auseinandergebrochen. Mir bleibt gerade noch eine winzige Scholle im eiskalten Meer, die wogt und wankt von den Ereignissen und Gefühlen, und von der ich jeden Moment in das bitterkalte, dunkle Wasser zu stürzen drohe.

Nein, gar nichts mehr ist in Ordnung.

Aber hier im Flur ist nicht der richtige Ort, um darüber zu sprechen. Es ist auch nicht der richtige Zeitpunkt, und Schwester Ilona, dieses unbekümmerte Energiebündel von höchstens fünfundzwanzig Jahren, ist auch nicht die richtige Person dafür. Also erwidere ich nur: „Alles bestens.“

„Sie sehen auch ausgesprochen gut aus, Frau Jahn! Erholt!“

„Ich war in Südfrankreich“, sage ich lahm.

„Wie wunderbar! Daher Ihre gesunde Farbe. Beneidenswert!“

„Wir hatten tolles Wetter.“

Ist es nicht erschreckend, wie einfach sich Phrasen abspulen lassen, auch wenn das Leben hoffnungslos aus dem Lot geraten ist?

Ich huste trocken hinter meiner vorgehaltenen Hand. „Wie geht es ihr denn?“

Nur einen winzigen Augenblick verdüstert sich das unbekümmerte Gesicht der jungen Frau.

„Sie hat seit etwa einer Woche unruhig geschlafen. Hat viel im Schlaf geweint, wir mussten ihr Beruhigungsmittel spritzen. Tagsüber ist es unverändert.“

Ilona hat keinen vorwurfsvollen Ton angeschlagen, aber sofort brennen Schuldgefühle wie eine unvermutete Ohrfeige: Man fährt auch nicht so lange weg und lässt einen alten Menschen im Pflegeheim zurück.

Hat sie vielleicht etwas gespürt von dem, was ich erlebt habe?

Ist es möglich, dass sie, über die Distanz von mehr als tausend Kilometern, etwas mitbekommen haben könnte von meiner Seelenqual?

Ich schaudere.

„Es wäre gut, wenn sie sich in nächster Zeit nicht aufregt.“

„Ja, ja. Natürlich.“

Die Fahrstuhltür am Treppenhaus hinter mir öffnet sich. Ein kurzer Blick über die Schulter, und ich sehe den schlaksigen Zivildienstleistenden, der seit Anfang des Jahres hier arbeitet. Er schiebt einen Metallwagen aus dem Aufzug, darauf die Tabletts mit Kaffee, Tee, Gebäck.

„Wenn sie wach ist“, sage ich und deute auf die Nachmittagsmahlzeit, „werde ich sie füttern.“

„Schön“, meint Schwester Ilona und legt damit die Hand auf die Klinke zum nächsten Zimmer, „sie wird sich bestimmt freuen.“

Da bin ich mir nicht sicher.

So wie ich mir, was mein Leben betrifft, beinahe bei gar nichts mehr sicher bin.

Aber ich möchte Ilona jetzt nicht widersprechen. Ich hebe die

kraftlose Hand zum Gruß und schleiche, als wäre ich auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung, die letzten Schritte bis ans Ende des Ganges.

 

Als ich ins Zimmer trete, hast du die Augen geschlossen. Auf leisen Sohlen nähere ich mich. Ich wage kaum zu atmen und stelle erleichtert fest, dass du tatsächlich schläfst. Auch deine Bettnachbarin, die fast neunzigjährige Frau Kohlding, die seit Ostern in deinem Zimmer untergebracht ist und die nur selten Besuch bekommt, schläft. Nun kann ich mich ein wenig sammeln und gegen meine nervöse Angst ankämpfen. Fast geräuschlos ziehe ich mir den Stuhl vom Waschbecken ans Bett und setze mich zu dir.

Wie friedlich du daliegst! Gleichmäßig geht dein Atem, die Decke hebt und senkt sich langsam. Dein Kopf ist tief versunken in dem weißen Kissen wie in einem großen Watteberg, und deine entspannten Gesichtszüge lassen dich beinahe jung erscheinen. Einen Moment lang sehe ich dich als kleines Mädchen. Dieses Bild schwebt über der alten, fast erloschenen Frau, die dort im Bett liegt. Wenn ich dich so ansehe, kann ich nicht glauben, dass die Krankheit dich nun ganz gefangen hat. Dann habe ich, wie jedes Mal, wenn ich hierherkomme, die absurde Hoffnung, dein Zustand könnte sich, wie durch ein Wunder, verbessert haben. Doch solche Wunder sind in den letzten Monaten nicht mehr geschehen. Vielmehr habe ich zusehen müssen, wie du langsam zerfielst. Wie du schlaffer und faltiger wurdest, dein Körper alt und mager, die schlohweißen Haare immer dünner, die Haut durchscheinend wie Pergamentpapier, durch das sich ein Geflecht eisblauer Adern zieht. Ich habe zusehen müssen, wie du langsam wortkarg wurdest und verwirrt, selbst in den Zeiten zwischen zwei Krankheitsschüben, bis du ganz aufgehört hast zu sprechen. Seitdem bist du gefangen in deiner eigenen, wortlosen Welt, aus der heraus sich ab und zu eine unbeholfene Geste schleicht oder ein unwillkürliches Muskelzucken, das ich nicht zu deuten weiß.

Ich beuge mich zu dir hinab. Der Duft der Seife, mit der sie dich jeden Morgen waschen, steigt mir in die Nase, ein anklagender Geruch, aromatisch und scharf wie matschige Früchte. Vorsichtig greife ich nach deiner Hand, sie ist kalt und klamm. Ich spüre deine knochigen Finger. Mein Atem flattert, meine Augen sind geschlossen.

Ich fühle wieder, wie sich deine Finger auf mein blutendes Knie legen. Heiß ist es im Treppenhaus, trotz der kurzen Lederhose, und die Riemen meiner Rollschuhe schneiden mir in die Knöchel.

„Es ist nicht so schlimm.“

„Aber es tut so weh!“

„Stell dich nicht so an.“

Ich sehe, wie ein rostroter Tropfen das Schienbein hinabrinnt, und eine schmale Spur zieht durch ein Feld blassweißer Narben. Von der Hollenstraße dringt fröhliches Kinderlachen in das kühle Treppenhaus. Mit bittendem Blick sehe ich hoch, doch auch heute schneidest du keinen schmalen Streifen vom Pflasterband, das hinten im himmelblauen Badschränkchen liegt und Stefans Wehwehchen vorbehalten ist.

„Und wenn kleine Steine in der Wunde sind?“

„Da ist nichts. Geh spielen!“

Ich stehe mit wackeligen Beinen auf, drücke mein verschmutztes Taschentuch auf den blutenden Fleck und stakse zurück auf die Straße. Mein Knie brennt von der Wunde und von der Berührung deiner Finger.

Mir ist zum Weinen zumute, aber ich unterdrücke mühsam die Tränen. Noch kann ich das alles nicht verstehen, noch werden Jahrzehnte vergehen bis zu dem Urlaub in Frankreich.

 

Ein leises Stöhnen entfährt deinem leicht geöffneten Mund, ich lasse deine Hand rasch zurückfallen auf das weiße Laken. Unter deinen geschlossenen Augenlidern flackert es.

Wo bist du gerade?

Merkst du, dass ich gekommen bin?

Ich spüre, wie mein Herz hämmert und versuche, ganz ruhig zu atmen. Durch das große Kippfenster höre ich ein Rotkehlchen, sein munterer Gesang kommt vom Wipfel einer Kiefer, deren ausladende Zweige sich bis dicht ans Haus strecken. Eigentlich ist es idyllisch hier, gleich hinter dem Parkplatz liegt ein kleines Wäldchen, in dem man auf sandigem Boden einen Rundgang durch hohe Tannen, Kiefern und Birken machen kann. Das war der Grund, warum ich mich für dieses Haus entschieden habe, es sah vor der Waldkulisse so friedlich aus. Doch Spaziergänge haben wir nur ein paar Mal gemacht, ganz am Anfang, als du noch gesund genug warst. Jetzt ist es zu spät. Ich sehe dich an, kann meinen Blick nicht von deinen trockenen, aufgesprungenen Lippen wenden, hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen, Wehmut und Wut.

Plötzlich wachst du auf, als könntest du meine brennenden Gefühle spüren. Deine Augen öffnen sich, du bewegst dich ein wenig in den weißen Wattebergen.

„Hallo, ich bin wieder da“, sage ich leise und versuche zu lächeln.

Kann sie mich hören?

Hat sie mich verstanden?

Ausdruckslos sind ihre grautrüben Augen auf die Decke geheftet.

„Ich weiß, ich war lange nicht hier. Du musst sicher gedacht haben, ich komme gar nicht mehr. Aber ich habe dir ja gesagt, ich fahre in Urlaub.“

Ich versuche, ruhig und optimistisch zu klingen, aber ich merke selbst, dass meine Stimme zittert.

„Ich war mit Stefan und seiner Familie in Frankreich. Und mit Leo und Erik. Wir sind zusammen verreist, wir acht, das habe ich dir doch erzählt.“

Ich spreche langsam wie mit einem kleinen Kind, dem man einen komplizierten Sachverhalt erklärt, und versuche, Kontakt zu den ausdruckslosen Augen aufzunehmen.

„Hörst du? Hast du mich verstanden? Du erkennst mich doch, oder? Ich bin es, Dagmar!“

Du starrst noch immer zur Decke, deine Augen sind feucht und trüb, und ich wünschte, ich bekäme ein Zeichen, dass du mich verstehst.

Alt sieht sie aus, denke ich, entsetzlich alt. Jetzt, wo sie wach ist, sehe ich viel deutlicher die eingefallenen Wangen und die tiefen Furchen, die sich in die ledrige Stirn gegraben haben. Dabei ist sie gerade erst dreiundsiebzig geworden. Meine Nachbarin hütet in diesem Alter noch ihre beiden Urenkel, fährt den kleinen Sebastian täglich in der Karre aus, begleitet die fünfjährige Vanessa zum Spielplatz. Aber du hast nichts mehr von deinen Enkeln. Ich muss schlucken.

Ein Tropfen Speichel läuft aus deinem Mund, ich sehe zu, wie der Faden dir übers Kinn rinnt. Mit dem Zipfel eines Taschentuchs tupfe ich ihn trocken.

Wie soll ich bloß anfangen?

Ich soll dich nicht aufregen, hat Schwester Ilona gesagt, und das will ich auch nicht. Ich will nicht diese hilflosen, spitzen Schreie hören, die mir in den Ohren klingeln, will nicht sehen müssen, wie du mit deinen dürren Ärmchen wild um dich schlägst, Schweißperlen auf der Stirn, und wie sie dir die lange Spritze in die faltigen Lappen deines Oberarms jagen, damit du nicht deine Bettnachbarin ansteckst, die immer in dein Geschrei einfällt, nein, das will ich nicht. Darum werde ich auch Sofies Unfall auf keinen Fall erwähnen. Und ich werde nicht in die Abgründe der Vergangenheit steigen, um sie vor dir in die Gegenwart zu zerren. Ich soll dich nicht aufregen.

Und trotzdem muss ich dringend mit dir reden.

„Ich soll dich von Stefan grüßen“, fahre ich unsicher fort. „Es geht ihm gut. Ihm hat es in Frankreich gefallen. Wenn er es nächste oder übernächste Woche schafft, kommt er auch mal her, soll ich dir ausrichten.“

Deine rissigen Lippen bewegen sich tonlos. Hast du das verstanden? Oder ist es einfach nur eine Lippenbewegung, ausgelöst von deinem Atmen? Ich weiß es nicht.

Wenn ich sonst komme, versuche ich von meinem Alltag zu erzählen, von den Projekten, an denen ich arbeite oder für die ich recherchiere, von den Einkäufen, vom Wetter, oft auch von Leo und Erik, die mich manchmal hierher begleiten. Es frustriert mich, einen fröhlichen Plauderton anzuschlagen und Monologe zu führen, deshalb sitze ich viel lieber stumm an deinem Bett, halte deine Hand oder sehe dich einfach nur an. Heute fällt mir das Reden noch schwerer als sonst, und so versuche ich es weiter über Stefan.

„Stefan hatte ein tolles Ferienhaus gemietet. Groß und mit wunderschönen, hellen Zimmern. Geschmackvoll eingerichtet. Nah am Meer und nicht weit weg vom Ort, und trotzdem ruhig und abgeschieden.“

Sofort bin ich wieder in Frankreich, im Urlaub.

Eine Drossel schimpft draußen laut keckernd, als wollte sie mich warnen. Nein, von Sofie darf ich keinesfalls etwas sagen. Schmerzvoll zieht es in meinem Bauch, Gegenwart und Vergangenheit bohren sich wie ein spitzes Messer in mein Herz. Einen Augenblick beneide ich dich, weil du dich in eine sprachlose Welt zurückziehen durftest.

Der junge Mann vom Freiwilligendienst ist da, er hat die Tür aufgerissen und schiebt den Metallwagen herein. „Tag“, ruft er und lächelt breit. Der Knopf in seinem Ohr blitzt, als er mir eins der beiden Tabletts reicht. Das andere schiebt er auf den Tisch deiner Bettnachbarin, die noch immer schläft. Er hat wache, wasserblaue Augen, und einen Moment lang meine ich zu sehen, was er sieht: eine Frau mittleren Alters mit nussbraunen, welligen Haaren, die bis auf die Schulter reichen und von grauen Fäden durchwirkt sind, und die ihren verzweifelten Blick auf die Greisin vor ihr im Bett richtet, die Schultern gebeugt von einer unsichtbaren Last.

„Ich mach das gleich“, sage ich zu ihm und meine das Füttern.

„Ja, gut“, entgegnet er. „Zu Frau Kohlding komm ich noch mal, wenn sie wach ist.“

Schon ist er mit dem Wagen wieder raus.

Die kurze Unterbrechung hat mich ganz aus dem Konzept gebracht. Ich rücke an dem Plastiktablett und nehme die Schnabeltasse in die Hand.

„Möchtest du etwas trinken?“

Ich weiß, dass keine Antwort kommen wird, schon lange haben wir dich für unmündig erklärt. Ich drücke den Hebel an der Seite am Bett, dein schmächtiger Körper schiebt sich mit dem Oberteil langsam hoch. Ich lege eine Hand in deinen Nacken und merke, du hilfst mit. Als ich dir die Tasse an die Lippen führe, saugst du.

„Ich muss mit dir reden“, sage ich mit verzweifelter Stimme. „Hörst du, ich muss unbedingt mit dir reden!“

Noch immer halte ich die Tasse an deinen Mund, und du trinkst Schluck um Schluck. Ich versuche, den dicken Kloß herunterzuwürgen, der in meiner Kehle klebt. In dem Moment kehre ich zurück nach Frankreich und spüre erneut das lähmende Entsetzen, das mich erfasst.

Mühsam presse ich hervor: „Ich weiß jetzt, was damals passiert ist. Damals in dem großen Haus. Wie das mit Dorit war. Ich weiß es wieder. Ich habe es herausgefunden.“

Die Tasse zittert in meiner Hand.

Geräuschvoll schlürfst du den lauwarmen Tee, als hätte ich nichts von Bedeutung gesagt.

Weißt du, wovon ich spreche?

Hast du mich überhaupt gehört?

So viele unverarbeitete Gefühle drängen in mir hoch, einen Moment lang glaube ich, es wird mich gleich zerreißen unter diesem Druck. Ich presse die Lippen aufeinander und blinzele die Tränen weg, die mir in die Augen geschossen sind.

„Es tut mir leid! Tut mir leid!“

Ich schiebe die Tasse weg und greife nach deiner dürren Hand, ich führe sie hoch und drücke sie an meine Brust.

Wie ein eiskalter Stein liegt sie auf meiner Bluse. Meine Verzweiflung ist fast unerträglich.

„Es tut mir so leid, Mama! So leid!“

Ich will dir sagen, dass ich nun viele Dinge verstehe, dass ich einiges erst jetzt begreife, wo ich die Wahrheit kenne.

Da bemerke ich, dass du den Kopf drehst.

Deine wässrigen Augen schauen genau in meine.

Ich sehe, wie viel Anstrengung und Mühe es dich kostet, dieser feste, bedeutungsvolle Blick, und ich versuche, ihn mit warmen Augen zu erwidern.

Einen Moment lang denke ich, du versuchst, mir etwas zu sagen, deine spröden Lippen bewegen sich. Ein leises Zischen entweicht, ich beuge mich tiefer, „Ja?“, aber deine Zunge formt kein verständliches Wort.

Bilde ich es mir ein, oder spüre ich einen sanften Druck von deiner Hand?

Ich kann ihn nur einen winzigen Moment lang fühlen, vielleicht habe ich mich geirrt.

Vielleicht ist es nicht geschehen.

Vielleicht entspringt er nur meinem Wunschdenken, denn schon ist er vorbei, schon fällt dein Kopf zur Seite, schon fallen deine Lider zu, du schläfst.

Ich sitze unbeweglich da und versuche zu begreifen. Die Tasse, die ich auf der Matratze abgestellt habe, ist umgefallen. Tee tropft auf das Laken und bildet einen hässlichen gelbbraunen Fleck.

Alles ging so schnell, fast als wäre nichts geschehen.

Und doch kann ich fühlen, dass etwas geschehen ist.

Ich halte deine kalte Hand. Der Stein auf meiner Bluse ist warm.

„Danke“, flüstere ich.

Ich sehe in dein schlafendes Gesicht, aus dem alle Anspannung gewichen ist, es sieht ganz friedlich aus.

„Danke!“

Ein Gefühl von tiefem Frieden umschließt mich wie eine sanfte Wolke.

Ich bleibe noch lange an deinem Bett sitzen. Mit meinem Handrücken streiche ich wieder und wieder über deine weißen Haare, zwischen denen an etlichen Stellen die nackte rosa Haut hindurchschimmert.

Draußen trällert eine Meise eine muntere Tonfolge. Die Sonne ist jetzt um die hohe Kiefer gewandert, ihr warmes Licht liegt wie Goldlametta auf deiner weißen Decke.

Es ist nicht so einfach, wie ich es mir wünsche. Die Vergangenheit lässt sich nicht ungeschehen machen. Wenigstens weiß ich jetzt, es gibt nicht die Schuld des Einzelnen, nein, jeder trägt ein eigenes, schweres Päckchen mit Schuld, und im Annehmen und im Vergeben wird es erträglicher.

Ich blicke nach draußen und entdecke die Kohlmeise zwischen den dichten dunkelgrünen Ästen.

Meine Wut und meine Schuld und meine Traurigkeit schweben hinaus und verbinden sich mit dem Gesang des kleinen Vogels zu einer hoffnungsvollen Melodie.

Kapitel 1

Ich sitze an einem Beitrag über Zeitarbeit bei uns und im europäischen Ausland, den ich für unser Lokalblatt schreiben soll, als das Telefon klingelt. Ich schaue von der Tastatur auf, draußen wird es gerade hell, und es nieselt.

Nachdem der Anrufbeantworter nicht anspringt, weil ich ihn offenbar vergessen habe einzuschalten, und Leo noch schläft, nehme ich das Telefonat widerwillig entgegen.

„Grüß dich, Dag, ich bin’s.“

„Stefan?“

Ich habe plötzlich ein Sausen im Ohr und merke, dass mein Herz hart pocht.

„Ist was passiert? Bei euch alles in Ordnung? Mit den Kindern? Mit Mutter?“

„Ganz ruhig, Dagmar! Es ist nichts passiert.“

„Es ist noch nicht mal sieben! Und mit dir hab ich überhaupt nicht gerechnet!“

„Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich wollte dich eigentlich gestern Abend anrufen, aber dann kam was dazwischen. Und gerade hat ein Schüler kurzfristig abgesagt, und ich hab ein bisschen Zeit. Deshalb dachte ich, ich frag dich jetzt.“

Stefan klingt irgendwie dringend, auch wenn er einen fröhlichen Ton anschlägt.

Ich lockere den Griff um den Hörer, aber mein Herz hat sich noch nicht beruhigt.

„Was willst du mich fragen, Stefan?“

„Also, es geht um die Sommerferien. Hättest du Lust, mit uns Urlaub zu machen? Ich meine natürlich nicht nur dich, sondern selbstverständlich auch Leo und Erik. Wir wollen euch einladen.“

„Urlaub?“

„Ich hab ein Ferienhaus gemietet, den ganzen Juli, groß genug für zwei Familien, in Biscarrosse-Plage. Das ist in Südfrankreich, an der Atlantikküste. Wir könnten uns dort treffen.“

Stefans Vorschlag macht mich sprachlos.

„Also, es ist so, eigentlich sollten Freunde von uns mitfahren. Aber sie wollen plötzlich nicht mehr, Ehekrise, verstehst du.“

„Ja“, sage ich. Aber ich verstehe nichts.

„Das Haus ist schon bezahlt. Wir wollen euch einladen. Ihr hättet also nur die Anfahrt, eine Beteiligung am Essen und bräuchtet etwas Taschengeld.“

Ich habe mich in meiner Überraschung noch nicht ganz gefangen. „Und Anja? Was sagt Anja dazu?“

„Es war ihre Idee, sie freut sich auf euch. Also, Dag, was ist, hast du etwa keine Lust auf Frankreich? Baguette, vin rouge, cuisine française?“ 

Stefans Stimme will mich locken, sie ist jetzt sprühend und mitreißend, ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er unwiderstehlich lächelt und seinen Elan mit dynamischen Gesten unterstreicht.

Aus irgendeinem Grund bin ich sofort auf der Hut, lächerlich.

Urlaub.

Schon so lange bin ich nicht mehr weggefahren, und wenn, dann höchstens im Auftrag einer Redaktion, und meist nur ein paar Tage, höchstens eine Woche. Das ist natürlich nicht dasselbe.

Urlaub in Frankreich.

Plötzlich sehe ich Sonne und Meer vor mir, kann den fruchtigen Bordeaux schon auf der Zunge schmecken, die prickelnde Wärme auf der Haut spüren. Verlockend.

Warum bin ich so zögerlich?

Liegt es daran, dass Stefan mit dem Thema Geld einen meiner wunden Punkte getroffen hat?

Natürlich weiß er, dass meine Kasse permanent leer ist. Weiß um die Existenzangst, die mich befällt, wenn ich Aufträge nur kleckerweise heranschaffen kann und für den nächsten Monat keine neuen Projekte in Sicht sind. Wenn es hart auf hart kommt, muss Leo mir aushelfen, kein schönes Gefühl, oder ich muss mein Konto überziehen, eine teure Angelegenheit. Von Stefan habe ich noch nie Geld genommen, auch wenn seine Fahrschule floriert und es ihm nicht schwerfallen würde, mir mit ein paar Tausendern über die Runden zu helfen. Aber ich will es nicht. Ich hasse das Gefühl von Abhängigkeit. Und ich hasse es, jemandem Dank zu schulden. Vielleicht daher mein Zögern.

Aber gut, für eine andere Familie einspringen, einen preiswerten Urlaub machen, das ist schon ein verlockender Gedanke. Doch eines verstehe ich nicht.

„Warum gerade wir, Stefan?“

„Du bist meine Schwester! Warum also nicht?“

Warum nicht?

Stefan und ich haben ein gutes Verhältnis. Ja also, warum nicht?

„Um ehrlich zu sein“, beantwortet Stefan nun meine Frage, „ich hab dabei auch an Mirko gedacht. Es wäre schön, wenn er einen gleichaltrigen Spielkameraden hätte. Allein wird es ihm vielleicht zu langweilig.“

Aha, denke ich, doch nicht ganz uneigennützig. Aber immerhin hat er auch an Leo gedacht, der ziemlich darunter leidet, dass er Erik seit der Scheidung nur jedes zweite Wochenende sieht. Ich weiß, Leo wird Stefans Angebot begeistert zustimmen. Doch dann fällt mir noch etwas anderes ein.

„Und was wird in der Zeit aus Mutter?“

„Dagmar, das Heim kostet jeden Monat ein kleines Vermögen. Sie bekommt dort die Pflege, die sie braucht!“ In Stefans Stimme schwingt die Autorität des Fahrlehrers, der seinen Schüler ermahnt, weil er ein wichtiges Verkehrsgebot übersehen hat.

„Ich hab sie noch nie länger als ein paar Tage allein gelassen.“

„Bist du sicher, dass sie das überhaupt mitkriegt? Und dass sie deinen Einsatz zu schätzen weiß?“

Nein, natürlich bin ich mir da nicht sicher.

„Na los, Dag, spring über deinen Schatten und sag Ja! Wir sehen uns viel zu selten, obwohl wir so dicht beieinander wohnen. Und du hast seit Ewigkeiten keinen Urlaub mehr gemacht, stimmt’s? Er wird dir guttun. Euch.“

Eigentlich hat Stefan mich schon überzeugt, ich weiß selbst nicht, warum ich nicht einfach Ja sagen kann.

„Den ganzen Juli! Vier Wochen sind ziemlich lang!“

Stefan lacht.

„Ihr könnt jederzeit abreisen, wenn ihr es nicht mehr mit uns aushaltet, kein Risiko also. Außerdem ist das Haus groß genug, jeder hat sein eigenes Zimmer. Und wir brauchen ja nicht ständig zusammenzuglucken, jeder kann das tun, was er will.“

„Na gut“, sage ich schließlich. „Zwei Wochen. Maximal drei. Ich sag Ja, wenn Leo auch Ja sagt.“

„Wunderbar, Dag!“

Als ich aufgelegt habe, schießt mir ein Gewirr von nicht greifbaren Gefühlen durch den Kopf wie eine Handvoll schnelle Pfeile. Mein Herz hat sich ein wenig beruhigt, aber ich merke, dass ich unter den Achseln stark schwitze. Ich lege das Telefon neben meinen Computer und versuche zu lesen, was ich zuletzt getippt habe, aber meine Gedanken lassen sich nicht mehr auf den Bildschirm lenken. Sie sind bei Stefan und seiner Einladung.

Urlaub, wie schön.

Urlaub in Südfrankreich.

Ich will mich freuen, aber irgendwie versetzt mich dieser Gedanke in eine vage Unruhe. Und ohne dass ich weiß warum, fühle ich mich plötzlich deprimiert.

Nein, denke ich mit Nachdruck, Stefan meint es nur gut.

Es spricht nichts gegen einen gemeinsamen Urlaub.

Kapitel 2

Die Einfahrt ist nicht so leicht zu finden. Sie liegt mitten im Wald und ist nur daran zu erkennen, dass an einen der Bäume ein kleiner weißer Briefkasten aus Holz genagelt ist. Stefan hat mir die Anfahrt genau beschrieben, hat mir sogar eine Skizze geschickt, trotzdem wären wir beinahe an dem unbefestigten Sandweg vorbeigefahren, der unscheinbar von der Hauptstraße abgeht wie viele andere Stichwege auch.

Meine Hände schwitzen auf dem Kunststoff des Lenkrads. Von hinten stöhnt Erik, ihm sei so heiß, er habe Durst und er müsse aufs Klo. Ich bin selbst genervt von der brütenden Hitze im Auto, wünschte, ich hätte einen Wagen mit Klimaanlage und nicht diesen uralten Golf, aber ein neuer ist in nächster Zeit nun einmal nicht drin. Und komfortabler als Leos alte Schrottlaube ist er allemal. Ich parke den Wagen zwischen zwei Bäumen neben Stefans Van.

Hier sind wir also.

„Wow, nicht schlecht“, ruft Erik beim Anblick des großen, zweigeschossigen Hauses, das rechts und links von Pinien gesäumt ist.

Beinahe gleichzeitig stoßen wir die Autotüren auf, schieben unsere schweißfeuchten Körper, an denen die Kleidung klebt, ungelenk nach draußen. Wir recken uns ausgiebig und vertreten unsere steifen Beine auf der Stelle, schließlich sind seit der letzten größeren Pause viereinhalb Stunden vergangen. Erik hat sofort den Lederball entdeckt, der in der Einfahrt liegt, und kickt ihn in die Luft. Leo und ich stehen Seite an Seite und lassen das Haus mit seinen einladenden Sprossenfenstern einen Augenblick auf uns wirken.

Es ist ganz ruhig hier, nur das dumpfe Plopp des Balls ist zu hören und eine Grille, die ich nicht entdecken kann, zirpt irgendwo entschlossen in der Nähe.

Der würzige Geruch nach Pinienwald und Kräutern und Meer, der uns in einer seichten Brise entgegenweht, versetzt Leo augenblicklich in Urlaubsstimmung. Ich sehe es an seinem Gesicht, das sich schon entspannt hat, die Krähenfüße um seine Augenwinkel, die eben noch bis an die Wangen reichten, schrumpfen zu feinen Linien. Er hebt die Arme, drückt den Rücken durch und atmet tief ein.

„Herrlich hier!“, ruft er, und setzt sich in Bewegung. „Hier kann man’s aushalten!“

Vor der Tür bleibt er stehen, schirmt mit beiden Händen die Sonne ab und schaut durch eine Art Bullauge ins Haus.

„Ich glaube, es ist keiner da.“

Leo klopft, und als sich drinnen nichts rührt, schlägt er kräftig die messingfarbene Schiffsglocke an, die neben der Eingangstür hängt. Ihr Klang geht durch Mark und Bein, stört einige Sekunden empfindlich die Waldruhe, sogar die Grille verstummt einen Moment. „Nein, keiner da.“

Erik dribbelt mit dem Ball eine Runde ums Haus. Wenig später ist er zurück. „Auf der Terrasse und im Garten ist auch niemand.“

„Ich hab ja die Schlüssel“, sage ich.

Ich hole den Bund aus meiner Hosentasche, den Stefan mir schon vor Wochen geschickt hat, und der mich seit der letzten Rast unangenehm in der Leiste drückt. Ein großer, silbriger Schlüssel für das Haus, ein kleiner, messingfarbener für den Schuppen, der hier irgendwo stehen muss. Ich schließe auf, die schwere Holztür öffnet sich mit einem leisen Knarren. Leo ist inzwischen zurück zum Auto und wuchtet das Gepäck aus dem Kofferraum.

Wir sind nur zu dritt, haben aber ziemlich viel dabei: zwei große Koffer, außerdem verschiedene Reisetaschen, Leinen- und Plastiktüten. Wie ein kleiner Umzug mutet unser Gepäck an. Das meiste sind Kleidung und Schuhe, falls sich das Wetter nicht so strahlend und warm hält, außerdem jede Menge Spielzeug, das Erik eingepackt hat, für mich selbst brauche ich nicht so viel. Beinahe hätte mich Leo überredet, unsere Laptops zu Hause zu lassen, aber im letzten Moment habe ich ihn doch vom Gegenteil überzeugen können. Als Freiberufler sein Geld zu verdienen, hat den Angestellten gegenüber eben nicht nur beneidenswerte Seiten.

„Hallo!“, rufe ich in den Flur, obwohl längst klar ist, dass alle ausgeflogen sind.

Leo steht hinter mir, in jeder Hand einen Koffer. „Geh schon weiter“, drängt er, weil das Gepäck schwer ist.

Ich trete zur Seite und lasse ihn durch. Erik saust an uns vorbei ins Haus.

„Wow, klasse hier!“, höre ich ihn aus dem Wohnzimmer rufen. „Kommt mal her!“

Ich liebe es, mir fremde Wohnungen und Häuser anzuschauen, zu gerne hole ich mir Anregungen für meine eigene Einrichtung.

Heute tappe ich unsicher durch den Flur.

Ich kann nicht sagen, warum ich zögere, aber ich spüre einen kühlen Hauch in meinem Nacken, als hätte ein Windstoß mich berührt.

Stefan hat nicht übertrieben, das Haus ist tatsächlich sehr geräumig. Fast andächtig bleiben Leo und ich einen Moment im Wohnzimmer stehen und lassen die Blicke über den lichtdurchfluteten Raum gleiten: eine gemütliche Sitzgruppe aus schwarzem Leder vor einem gemauerten Kamin, eine moderne, offene Küche, die durch einen Tresen vom Wohnbereich getrennt ist, eine Holztreppe mit gedrechseltem Handlauf, die vom Wohnzimmer aus ins Obergeschoss führt, eine große Sprossenfensterfront mit herrlichem Blick über die Terrasse in einen großen Garten und den angrenzenden Wald.

Leo stellt die Koffer ab. „Nicht schlecht! Ich glaube wirklich, hier kann man’s aushalten.“

Mein Blick fällt auf eine Hängematte, die draußen sachte zwischen zwei Bäumen schaukelt, und dann auf die Pergola am Terrassenrand, über deren sonnenbeschienenem Holz eine Weinrebe mit üppigen Trauben rankt.

Ja, hier ist es wirklich schön, ein kleines Paradies. Längst ist mein Zögern der Vorfreude auf ein paar unbeschwerte Wochen gewichen.

Erik hat inzwischen im Laufschritt die untere Etage erkundet. Er hat ein kleines Duschbad entdeckt, ruft: „Ich guck jetzt mal nach oben“, fliegt wie ein aufgescheuchtes Huhn zur Treppe.

„Und ich hol den Rest von unserem Gepäck“, sagt Leo und ist wieder draußen.

Plötzlich bin ich allein.

Von oben höre ich Eriks Füße von Raum zu Raum wieseln, sonst ist es ganz ruhig. Von dem durchdringenden Zirpen draußen ist im Haus nichts zu hören.

Sie sind bestimmt alle am Strand, denke ich und merke, wie eine zähe Enttäuschung von mir Besitz ergreift. Beim Kofferpacken hatte ich mir ausgemalt, wie die ganze Familie Jahn bei unserer Ankunft vor der Tür steht, winkt und uns mit großem Hallo begrüßt. Sie wissen doch, dass wir heute kommen!

Wahrscheinlich habe ich zu viel erwartet. Sie können schließlich nicht ahnen, dass wir so reibungslos durchgekommen sind, ohne Stau und fast ohne Pausen. Und sicher wollten sie bei diesem herrlichen Wetter nicht einfach hier sitzen und einen Urlaubstag opfern. Ich lege eine Hand in den Nacken.

„Mann, sind das viele Zimmer hier“, höre ich Erik von oben schwärmen. „Papa, Dagmar, kommt doch mal hoch!“

„Das kannst du gleich mitnehmen“, sagt Leo, der vom Auto zurück ist. Er drückt mir zwei kleinere Reisetaschen und ein paar Tüten in die Hand. „Ich hol eben noch den Rest.“

Ich übernehme die Taschen und klemme mir die Tüten unter die Arme.

Während ich die knarrenden Stufen hochsteige, kann ich meine Enttäuschung unten zurückzulassen. Es hat schließlich auch sein Gutes, eine Zeitlang allein zu sein: Wir können uns ganz ungestört einrichten und ausruhen.

Ich freue mich vor allem auf eine kühle Dusche. Auch wenn ich sicher nicht eitel bin, möchte ich Stefan nicht unbedingt so verschwitzt und mit angeklatschten Haaren gegenübertreten, wahrscheinlich rieche ich sogar nach Schweiß. Besonders Anja gegenüber wäre mir das unangenehm, weil ich weiß, welchen Wert sie auf Körperpflege legt.

Oben angekommen, stehe ich in einer kleinen Galerie, umgeben von offenen Türen, die in kleinere und größere Zimmer führen. Fünf zähle ich und ein weiß gekacheltes Bad, in dem Erik sich gerade, weit über ein bauchiges Waschbecken gebeugt, die Hände wäscht. Warmer Sonnenschein flutet aus den weiß getünchten Zimmern in den Flur, ich bin begeistert. Mir fällt plötzlich Mutter ein, die hier sofort die Gardinen zugezogen hätte, damit es nicht so hell um sie herum ist.

Wo Sofie und Anna ihr Zimmer haben, ist nicht zu übersehen. Puppen und Spiele und Stifte liegen kreuz und quer auf dem Fußboden, dazwischen Papier und Bücher und Schuhe. Von einem doppelstöckigen Bett hängen Unterwäsche und Socken und T-Shirts über die Kanten, fast möchte man glauben, der vertäfelte Raum sei kurz zuvor von Einbrechern heimgesucht worden. Als ich das Chaos sehe, bin ich froh, dass Erik meine Vorliebe für Ordnung teilt. Aber er hat ja auch nie so viele Sachen dabei, wenn er uns besucht, mit denen er in Leos Arbeitszimmer eine derartige Unordnung anrichten könnte.

Vor mir liegen zwei größere Schlafzimmer mit Doppelbetten. Eines haben Stefan und Anja belegt, das andere ist offenbar für Leo und mich reserviert, hier haben die Kinder sich mit ihrem Spielzeug noch nicht ausgebreitet.

Trotzdem ist es irgendwie komisch, mit dem ganzen Gepäck im Arm hochzukommen, ich fühle mich ein bisschen wie ein Soldat, der in besetztes Gebiet vorrückt. Vielleicht liegt es einfach nur an den vielen Spielsachen, dem zerwühlten Bettzeug, den verstreuten Schuhpaaren und Kleidern in den Kinderzimmern, diesen unverhohlenen Spuren, dass sich hier bereits eine Familie häuslich eingerichtet hat. Ein bisschen hätten sie schon mal aufräumen können, wenn wir kommen, denke ich. Das Haus ist groß genug für uns alle, hat Stefan gesagt, und ich verstehe nicht, warum ich mich zurückgesetzt fühle. Wir sind von Stefan ausdrücklich eingeladen worden!

„Ich will bei Mirko im Zimmer schlafen!“, ruft Erik, der jetzt den Wasserhahn zugedreht hat, in meine Gedanken hinein. „Da ist zwar noch ein kleines Zimmer frei, aber viel lieber möchte ich mit Mirko zusammensein.“

„Wenn es ihm recht ist“, sage ich, „von mir aus.“

Ich stelle unser Gepäck auf dem Doppelbett ab und schaue erst einmal aus dem großen Fenster, das herrlich viel Licht ins Zimmer hereinlässt und einen wunderschönen Blick auf den Garten bietet. Neben dem Fenster führt eine Tür hinaus auf einen Balkon, der die beiden Schlafzimmer miteinander verbindet. Auf einem kleinen weißen Tisch, zu dem zwei Klappstühle gehören, steht ein Henkelbecher, unter dem eine französische Zeitung klemmt. Wahrscheinlich hat Stefan heute Morgen hier gesessen und mit seinem rudimentären Schulfranzösisch die Sportseiten enträtselt. Für die Weltpolitik interessiert er sich, im Gegensatz zu mir, weniger, aber dafür kennt er sich im Sport aus, besonders im Rennsport. Sicher hat er vorgestern Vettels knappen Sieg bejubelt, obwohl ich jetzt überlege, ob ich unten überhaupt einen Fernseher gesehen habe.

„Hier möchte ich morgens frühstücken“, sagt Leo mit einer weitschweifigen Handbewegung über den Balkon.

Ich habe ihn gar nicht kommen hören.

Er steht plötzlich hinter mir und legt die Arme um meine Schultern. Wir sind fast gleich groß. Wenn ich höhere Schuhe anhabe, bin ich sogar ein paar Zentimeter größer als er.

Ich lege den Kopf zurück und reibe mein Gesicht an seiner kratzigen Wange, wo immer schon nach einem halben Tag die rotblonden Bartstoppeln sprießen, auch wenn Leo sich morgens gründlich rasiert.

„Das musst du dann allerdings allein machen“, sage ich.

Leo schiebt mich ein Stück zur Seite. Er öffnet die Tür zum Balkon und tritt an die Brüstung aus geschwungenen Holzpalisaden.

Ich bleibe hinter dem Fenster stehen.

„Was für ein himmlischer Blick!“ Leo lässt die Weite des Gartens und des angrenzenden Pinienwalds auf sich wirken.

„Ich pack schon mal meinen Koffer aus und zieh mir was anderes an!“, ruft Erik aus Mirkos Zimmer. „Ganz schön warm hier oben!“

Leo schaut über die Schulter zu mir und zieht genüsslich die würzige Luft ein.

„Ich hab mir vorgenommen, hier nicht so viel an die Arbeit zu denken.“

„Mmh“, antworte ich.

Mit beiden Händen hält Leo sich am Geländer fest und dreht den Kopf langsam in alle Richtungen. Ich mache vom Fenster aus einen Schritt zur Seite und bleibe an der Schwelle zur Tür stehen.

Direkt unter dem Balkon liegt die Terrasse, die sich beinahe über die ganze Breite des Wohnzimmers erstreckt und als sichtbares Rechteck in den Garten ragt. Ein riesiger Sonnenschirm aus wollweißem Leinen überspannt einen Teil der Terrasse. Dahinter beginnt der Garten. Wie eine große, eingezäunte Lichtung mit vereinzelten Bäumen und üppigen Randrabatten liegt er mitten im Wald.

Doch so einsam, wie es von hier oben wirkt, scheint es nicht zu sein. Der Ortskern von Biscarrosse-Plage ist nicht weit entfernt, und hinter dem Wald beginnen, wenn ich Stefans Beschreibung richtig in Erinnerung habe, die Dûne de Pyla und das Meer. Wenn ich mich konzentriere, kann ich es rauschen hören.

„Wir hätten die Laptops einfach zu Hause lassen sollen“, sagt Leo über seine Schulter zu mir.

Ich nicke und weiß doch genau, dass ich das niemals gekonnt hätte. Ich muss immer und überall meine Gedanken festhalten können, auch wenn es nicht um ein konkretes Projekt geht.

„Willst du es nicht wenigstens versuchen?“

Leo dreht sich um und streckt mir die Hände entgegen.

„Nein, lieber nicht.“

„Es ist nicht so hoch. Wir sind doch nur im ersten Stock!“

Ich schüttele den Kopf.

Leo kommt wieder ins Zimmer. Er umarmt mich, und wir wiegen uns, eng aneinandergeschmiegt, vor und zurück.

„So“, sagt er schließlich und löst abrupt die Umarmung, „jetzt springe ich aber unter die Dusche. Kannst du schon Kaffee aufsetzen?“

„Mach ich, wenn ich in der Küche alles dafür finde.“

Leo zieht das verschwitzte T-Shirt aus und steigt aus der verbeulten Jeans. In hohem Bogen fliegen die Sachen aufs Bett.

Er ist angekommen, denke ich, und das Selbstverständnis, mit dem Leo sich hier schon bewegt, schmerzt mich unerwartet.

„Hast du dir schon überlegt, wo du schlafen willst?“

In weißen Boxershorts, von denen er mindestens ein halbes Dutzend im Schrank hat, weil er sie so bequem findet, stellt Leo mich vor die Wahl: „Rechts oder lieber links?“

Zu Hause schlafe ich auf der linken Betthälfte. Ich bilde mir ein, es ist gemütlicher, an Leos Herzseite zu kuscheln. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus wähle ich die andere Seite.

„Ist mir recht. Ich geh dann duschen.“ Mit seinem Kulturbeutel in der Hand und einem großen Frotteetuch über den Schultern verschwindet Leo ins Bad.

Ich verriegele die Balkontür. Meine paar Klamotten kann ich später auspacken, aber meinen altertümlichen mechanischen Wecker stelle ich jetzt schon ans Bett. Ich brauche ihn nicht, um mich wecken zu lassen, ich werde sowieso immer früh wach, selbst am Wochenende, aber er hat ein wunderbar großes, beleuchtetes Zifferblatt, das ich auch nachts im Dunkeln ohne meine Brille lesen kann.

Als ich losgehen will, um den Kaffee aufzusetzen, bleibe ich noch einmal vor dem zweiten Schlafzimmer stehen. Vorsichtig stoße ich die Tür noch ein wenig weiter auf und stecke den Kopf ins Zimmer, wo ich sofort in einer Wolke parfümierter Luft bade. Das Zimmer entspricht spiegelbildlich dem Nachbarraum.

Hier haben also Stefan und Anja ihr Reich.

Selbst wenn ich es nicht gewusst hätte, an den Cremes und Wässerchen und Quasten und Döschen und Flakons, die auf einer halbhohen Spiegelkommode stehen, dieser ganzen Armee von Produkten im Kampf gegen Pickelchen, Härchen und Fältchen, hätte ich es auch erkannt. Anja hat sie bestimmt in diesem schwarzen Beautycase mitgeschleppt, der neben dem Bett thront. Dagegen nimmt sich mein kleiner gelbgrüner Kulturbeutel, in dem nur Duschgel, Shampoo, Allzweckcreme, Sonnenmilch und Zahnputzzeug Platz finden, aus wie ein einsamer Soldat mit hoffnungslos unzulänglichen Waffen.

Anja ist erst Mitte dreißig, und von Falten kann man bei den winzigen Vertiefungen um ihre Mundwinkel weiß Gott nicht sprechen, aber sie hat dem unausweichlichen Alterungsprozess frühzeitig den Kampf angesagt. Als Kosmetikerin ist bei ihr die Beschäftigung mit einem attraktiven Äußeren wahrscheinlich auch eine Frage des Berufsethos, auch wenn sie mit der Geburt der Mädchen ihren Job als Visagistin am Theater aufgegeben hat und sich seitdem ganz auf den Haushalt und die Kinder konzentriert. Man kann zu ihr kommen, wann man will, Anja sieht immer adrett aus, präsentiert sich äußerlich immer makellos. Ohne frisierte Haare oder ihr tadelloses Make-up habe ich sie nur ein einziges Mal gesehen, das war vor etlichen Jahren, als ich ihr ein paar Einkäufe vorbeigebracht habe, während sie mit vierzig Grad Fieber im Bett lag.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, jeden Tag eine halbe Stunde oder länger im Bad zu verbringen, bei mir muss es schnell gehen. Ich habe kein Interesse daran, meine Unebenheiten im Gesicht zu überpinseln, mir die Silbersträhnen zu tönen, meine Oberschenkel mit Bürsten zu bearbeiten oder mir die Beine zu enthaaren – dazu ist mir die Zeit viel zu kostbar. Ich halte auch nicht viel von den parfümierten, hormon- und vitaminversetzten Mittelchen, die es für ein kleines Vermögen zu kaufen gibt, bin vielmehr der Auffassung, dass viel nicht unbedingt viel hilft. Meiner Erfahrung nach darf man die Haut nicht mit hunderterlei Tinkturen irritieren. Aber das muss jeder selber wissen, da werde ich mich mit Anja nicht anlegen.

Ich frage mich nur, ob sie das alles für sich selbst macht oder ob mein Bruder seine Frau täglich so perfekt haben möchte.

 

In der Küche finde ich das Kaffeepulver und die Filtertüten sofort in einem der Hängeschränke und setze den Kaffee auf. Weil Leo oben noch das Bad belegt, stelle ich mich unten im Duschbad unter die Brause.

Als ich fertig bin ist der Kaffee bereits durchgelaufen. Leo hat auf der Terrasse gedeckt und es sich auf einem der Teakholzstühle bequem gemacht. Erik döst, die Stöpsel seines Smartphones in den Ohren, schaukelnd in der Hängematte. Ich setze mich zu Leo. Der leichte Wind pustet erfrischend in meine nassen Haare. Ich strecke Arme und Beine von mir, lasse mich einfangen von der knisternden Stille des Waldes. Bald kann ich spüren, wie die Anstrengung der Fahrt aus meinen Gliedern weicht, wie sich meine verkrampften Muskeln in der wohligen Wärme lockern und dehnen. Ich lege den Kopf leicht in den Nacken und sehe das ungetrübte Türkisblau des Himmels, an dem sich kein einziges Wölkchen verirrt hat.

„Wir haben drei wunderbare Wochen vor uns“, sagt Leo mit dem wohligen Brummton, für den ich ihn liebe, weil er tief aus seinem Herzen kommt. „Hier werden wir uns erholen.“

Hier werden wir uns erholen.