1. Kapitel
„Großer Gott! Er ist ins Wasser gefallen!“
Katherine Adair – für ihre Freunde und ihre geliebte Familie nur Kat – sog erschrocken den Atem ein und sprang auf. Eben hatte sie noch im Boot ihres Vaters gesessen, ein Buch gelesen und ihren Träumen nachgehangen. Bislang war der Tag wie viele andere Sonntage verlaufen, die sie in den letzten Jahren im Kreis ihrer Familie auf der Themse verbracht hatte. Oft schauten sie den viel eleganteren Segelbooten der wohlhabenden Leute nach; Kat musste immer lächeln, wenn ihre Schwester Eliza den vornehmen Akzent der Oberschicht nachahmte. Oder die Geschwister stimmten alte Shantys an – vergewisserten sich dann jedoch stets, dass ihr Vater nicht in Hörweite war, ehe sie die etwas anzüglicheren Strophen sangen.
Aber es gab Zeiten, da schwelgte Kat ganz in ihrer eigenen Welt und träumte etwa von jenem Mann, der soeben von einer Welle vom Deck seiner feinen Yacht gerissen worden war.
David hieß er. David Turnberry, jüngster Sohn des Baron Rothchild Turnberry, nicht nur ein glänzender Student in Oxford, sondern auch ein begeisterter Segler und Abenteurer.
„Kat! Du setzt dich auf der Stelle hin! Unser alter Kahn schaukelt so sehr, dass wir auch noch ins Wasser fallen“, schalt Eliza sie. „Keine Sorge. Einer dieser Oxford-Jungs wird ihn schon herausfischen!“, setzte sie in einem etwas schnippischen Ton hinzu.
Aber niemand kam dem Armen zu Hilfe. Der Fluss war an diesem Tag tückisch – Kats Vater gefiel das natürlich, weil die Strömungen und Wirbel ihn bei seiner Malkunst inspirierten –, aber ein entspannter Ausflug war es nicht gerade. Die jungen Burschen, die David begleiteten, suchten Halt an den Tauen, schauten aufgeregt umher und riefen nach ihrem Freund. Aber keiner sprang in den Fluss, um David zu retten! Einen der jungen Männer kannte Kat. Er hieß Robert Stewart, auch so ein gut aussehender Student, begütert und stilvoll, obendrein Davids bester Freund. Aber wieso war er nicht längst im Wasser? Und da stand noch einer seiner Kameraden an der Bordwand. Sein Name fiel ihr gerade nicht ein … Allan, oder so ähnlich …
Oh, was für Narren! Die Männer hatten nicht einmal einen Rettungsring ins Wasser geworfen, und inzwischen war David so weit vom Boot ihres Vaters abgetrieben, dass Kat damit auch nichts mehr würde ausrichten können.
An einem Tag wie diesem hätten sie nicht hinaussegeln sollen. Die jungen Herren hielten sich für erfahrene Seeleute, aber sie waren noch so unbedarft. Der Fluss war zu wild, nur etwas für Fischer und Tollkühne. Und natürlich für Leute wie ihren Vater.
Aber jetzt hatten sie David verloren! Und nach wie vor war niemand an Bord heldenhaft genug, in die Fluten zu springen, um den armen Kerl zu retten.
Die Wellen waren höher als sonst. Kat konnte nachvollziehen, warum die Männer zögerten. Aber ihr Herz litt Qualen. David sah so umwerfend gut aus und war einfach hinreißend. Kein junger Mann in ganz England, nicht einmal in anderen Ländern, lächelte so charmant wie er. Und noch nie hatte Kat erlebt, dass ein Mann seines gesellschaftlichen Ranges so freundlich mit den Leuten sprach, die darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt mit dem zu verdienen, was das Wasser hergab. Ja, sie hatte ihn schon oft beobachtet.
„Die finden ihn nicht mehr!“, rief sie verzweifelt.
„Doch, warte nur ab.“
„Aber dann ertrinkt er doch!“ Kat schaute sich rasch um. Ihr Vater hatte die Segel eingeholt; das Boot dümpelte nun auf den Wellen.
Tatsächlich arbeitete ihr Vater im Augenblick weder mit Pinsel noch mit Farbe und schenkte auch seinen Töchtern keine Beachtung. Denn Lady Daws war mit ihnen hinausgefahren und lachte vergnügt, doch in Kats Ohren klang dieses Lachen eher wie das Kichern einer alten Hexe. Ihr Vater schien das anders zu sehen. Er war ganz verzückt von der Dame, die offenbar ein Auge auf ihn geworfen hatte.
Voller Sorge schaute Kat wieder über den Fluss. Vielleicht hatte das, was ihr wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen war, nur wenige Augenblicke gedauert. Womöglich brauchten die jungen Herren noch einen Moment, um all ihren Mut zusammenzunehmen. Aber nein! Die Zeit verging, und keiner der Gentlemen an Bord des eleganten Schiffes hatte auch nur den leisesten Versuch unternommen, den Unglückseligen zu retten.
„Kat! Nun schau nicht so verwirrt drein! Komm schon! Der Herr wird doch wohl schwimmen können!“
Mochte Eliza auch über die Wohlhabenden lästern, so steckte sie ihre Nase doch immer gern in „Godey’s Lady’s Book“. Sie liebte die Modewelt. Und sie konnte wirklich sehr gut nähen und kreierte großartige Entwürfe aus so bizarren Materialien wie altem Segeltuch oder Leinwand.
Ah, dort war er! Weit entfernt von seiner schnittigen Yacht.
„Der Fluss ist so aufgewühlt!“, entfuhr es Kat leise. „Er wird ertrinken!“
„Du kannst da nichts tun. Du riskierst nur dein Leben“, warnte Eliza sie mit Nachdruck.
„Ach, aber ich wäre ja bereit, für ihn zu sterben! Ich würde meine Seele für ihn verkaufen!“, erwiderte Kat.
„Kat, was tust du da?“, rief Eliza entsetzt.
Zu spät.
Bisweilen war es von Vorteil, nicht zu den Reichen zu gehören. Kat entledigte sich der festen Schuhe und schob den baumwollenen Rock von den Hüften. Rasch hatte sie auch ihre Jacke abgelegt. Aber sie brauchte sich aus keinem Korsett zu schälen, keine Tournüre auszuziehen, keinen eleganten Hut abzunehmen. Und daher sprang sie, trotz des Protests ihrer Schwester, in das bräunliche Wasser des Flusses, nur noch bekleidet mit einem langen Unterhemd.
Die Kälte traf sie wie ein Schlag.
Und die Wellen schlugen erbarmungslos über ihr zusammen.
Doch so oft im Leben war sie eins gewesen mit dem Wasser. Sie holte tief Luft, warf sich in die Wogen und schwamm mit kräftigen Zügen los.
Beim nächsten Luftholen tauchte sie auf Höhe der eleganten Yacht auf. Deutlich vernahm sie die Rufe der Männer an Deck. Ihre Stimmen klangen aufgeregt.
„Könnt ihr ihn noch sehen?“
„Sein Kopf … Nein, er ist wieder untergetaucht. Oh Gott! Er wird noch ertrinken … Beidrehen! Beidrehen! Wir müssen David finden!“
„Aber ich kann ihn nirgends sehen!“
Kat holte erneut Luft und tauchte knapp unter die Wasseroberfläche. Sie ließ die Augen offen und versuchte, etwas in den trüben Fluten zu erkennen. Und tatsächlich …
Dort sah sie ihn. Weiter rechts, wenige Fuß unter ihr.
War er bereits tot?
Großer Gott, nein! Inständig betete sie um Beistand, während sie weiterhin versuchte, zu dem Mann aufzuschließen. Zu David. David, der Schöne, der Großartige. Seine Augen waren geschlossen … sein Leib sank nach unten …
Sie bekam ihn zu fassen. Sie packte ihn so, wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte, einen Fischer zu packen, der über Bord gegangen war: Eine flache Hand legte sie dem Ertrinkenden unter das Kinn, damit der Kopf wieder an die Wasseroberfläche kam, den anderen Arm schlang sie ihm von hinten um den Oberkörper und nutzte die Kraft der Beinschläge, um in Richtung Ufer zu gelangen.
Aber es war noch so weit!
Allein würde sie es nicht schaffen!
Doch wie es aussah, befanden sich sowohl die luxuriöse Yacht als auch das Fischerboot ihres Vaters noch im offenen Wasser. Auch die übrigen Boote, die entweder Segel gesetzt hatten oder vor Anker lagen, schienen weit entfernt zu sein. Sie musste es bis zum Ufer schaffen!
Sie setzte die Kraft ihrer Beine ein und versuchte, ruhig zu bleiben, wusste sie doch, dass sie sich ihre Kräfte bei diesem Wellengang gut einteilen musste – sie musste die Strömung ausnutzen, bis sie das feste Ufer erreichte.
Verzweifelt versuchte sie, Davids Kopf über Wasser zu halten, sog gierig die Luft ein und kämpfte gegen die Wellen an, die gräulich-braun und mit weißen Schaumkronen über sie hinwegspülten – wie atmende Wesen, die es darauf abgesehen hatten, sie in die Tiefe zu ziehen. Wie schmal der Fluss manchmal aussah, aber wie weit die Ufer doch in Wirklichkeit auseinander lagen!
Dennoch, so durchgefroren und verzweifelt sie auch sein mochte, sie machte sich bewusst …
… dass er in ihren Armen lag! Oh Gott! Womöglich starb er in ihren Armen.
Und sie würde bereitwillig in seinen sterben.
„Grundgütiger! Sieh sich einer diese Tölpel an!“ Hunter MacDonalds Blick haftete auf den jungen Gentlemen, die ziellos auf der Yacht durcheinanderliefen. Sie hatten einen aus ihren Reihen verloren, aber offenbar fühlte sich keiner der Herren in der Lage, eine Rettung einzuleiten.
Er verfluchte diese Dummköpfe und rief dann seinem Bediensteten und Freund, Ethan Grayson, zu: „Beidrehen! Ich kümmere mich um den jungen Mann.“
„Sir Hunter!“, protestierte Ethan, ein wettergegerbter kräftiger Mann. „Sie werden nur selbst ertrinken, Sir!“
„Nein, Ethan, ich bestimmt nicht.“ Schnell zog Hunter Schuhe, Jacke und Hose aus und lächelte grimmig. „Mein Freund, ich bin den Krokodilen im Nil entkommen. Da werde ich mich ja wohl in diesem englischen Wasser zurechtfinden.“
Mit diesen Worten sprang er über Bord und tauchte, nur noch in Unterhose und Hemd, ins Wasser. Rasch schwamm er in die Richtung, in der er zuletzt den Kopf des Mannes gesehen hatte. Trotz des Wellengangs hörte er Ethan verärgert schimpfen. „Ein ‚Sir‘ allein gibt einem Mann noch keinen gesunden Menschenverstand, wie ich sehe. Nein, wahrlich nicht! Da überlebt er Hungersnöte, Krieg und das Böse in den Herzen der Menschen, doch dann stürzt er sich in den Fluss und ertrinkt wie der junge Narr, den er zu retten gedenkt!“
Zu spät! dachte Hunter. Die Themse umschloss ihn, während er die Wellen mit kraftvollen Arm- und Beinbewegungen teilte.
Das Wasser war entsetzlich kalt.
Im Nil war ihm trotz der Krokodile das Schwimmen leichter gefallen, wie er sich jetzt reumütig eingestand.
Endlich! Kat hatte mit ihrer Bürde beinahe den Uferbereich erreicht.
Inzwischen war sie weit entfernt von den Docks. Sie kämpfte sich auf den letzten Metern durch die Wellen. Unter den Füßen spürte sie Schlamm und eine Scherbe, die ihr in die Fußsohle schnitt. Doch den Schmerz fühlte sie kaum, denn sie hatte David endlich bis ans Ufer gezogen. Vollkommen erschöpft und zuletzt auf allen vieren zerrte sie Davids schlaffen Körper auf den matschigen, hier und da grasbewachsenen Ufergürtel. Die Straße war gar nicht so weit entfernt; Kat nahm Häuser, Geschäfte und Schiffe an Anlegeplätzen wahr. Kraftlos hockte sie neben David auf dem Boden und konnte zunächst nichts anderes tun als zu atmen. Dann, als ihre Lungen wieder gefüllt waren, wanderte ihr Blick zu Davids Gesicht. Sie erschrak. Rasch richtete sie sich auf und legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf seine Brust, fest entschlossen, die Themse aus seinen Lungen zu pressen. Schließlich gab er einen erstickten Laut von sich; Wasser rann von seinen blauen Lippen. Dann hustete und hustete er.
Und lag reglos da, aber sein Atem ging langsam und rau.
Am ganzen Leib zitternd, betrachtete sie ihn. Er lebte. „Ich danke dir, Gott!“, wisperte sie voller Inbrunst. Beim Anblick seiner langen Wimpern und der edlen Gesichtszüge flüsterte sie: „Du bist so schön!“
Er schlug die Augen auf, die bernsteinfarben glänzten. Benommen starrte er sie an.
Und sie erschrak, weil sie ahnte, wie unmöglich sie aussah. Das lange, rot leuchtende Haar fiel ihr stets bis über die Schultern, aber nun klebte es ihr in nassen Strähnen am Kopf. Ihre grünen Augen, die je nach Lichteinfall haselnussbraun bis golden gesprenkelt waren, wirkten gewiss trübe. Und bestimmt waren ihre Lippen genauso blau gefroren wie seine. Der durchnässte Stoff ihres Hemds klebte ihr am Leib, und sie zitterte vor Kälte. Dass er sie ausgerechnet in diesem Zustand sah, war für Kat das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte. Dabei lebte sie doch so gern in der Welt ihrer Träume, aber die gesellschaftlichen Zwänge erlaubten es der Tochter eines einfachen, um Anerkennung ringenden Künstlers – eines Iren obendrein – nicht, sich ein Leben in den Kreisen der Oberschicht auszumalen.
Seine Hand bewegte sich. Mit den Fingern berührte er ihr Gesicht. Einen Moment lang wirkte seine Miene besorgt, als überlege er, wo er sich befand … und warum. „Ich lauschte auf das Rauschen des Windes … Wir lachten … denn Lieder lagen in der Luft, als hätten die Sirenen uns gerufen, doch dann … stürzte ich“, murmelte er. „Bei Gott, ich könnte schwören, dass ich gestoßen wurde! Aber warum …“
Erst jetzt schien er Kat richtig wahrzunehmen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja, ich spürte Hände auf meinem Rücken, die mich stießen … Aber wer, zum Teufel, sollte … und dann … diese Kälte … und die Dunkelheit. Dann … kamst du! Bilde ich mir all das ein? Bist du ein Engel?“, flüsterte er. „Ein Engel der Tiefe … ein Engel, und ich liebe dich!“ Dann lachte er leise. „Nein! Eine Meerjungfrau bist du, und deshalb lebe ich noch!“
Seine Finger – sie berührten ihr Gesicht!
Und das, was er soeben zu ihr gesagt hatte!
Ah, sie hätte sterben mögen, um beseelt von Glück hinauf zum Himmel zu schweben.
Seine Lider schlossen sich. Panik erfasste Kat. Aber sie sah, dass er noch atmete; seine Brust hob und senkte sich, und trotz der Kälte glaubte sie, die Wärme seines Leibes zu spüren.
Von irgendwoher wehte der Wind Stimmen herüber. Kat schaute auf und sah einige Leute, die von dem befestigten Weg herunter zur Uferböschung kamen. Sie sprang auf, obwohl sie wusste, dass das nasse Hemd, das sich an ihren Leib schmiegte, jeglichen Anstand vermissen ließ. Da die Kälte ihr bis auf die Knochen ging, schlang sie die bloßen Arme um ihren Körper.
„Oh, sie suchen nach ihm … Aber ich dachte, ich hätte da was gesehen!“ Es war die Stimme einer Frau, unterbrochen von Schluchzern.
„Aber, aber, meine Liebe. Unser Junge kann doch schwimmen, Margaret!“, hörte Kat die Stimme eines Mannes. „Ihm passiert schon nichts.“
Kat sah nun deutlich eine sehr hübsche schlanke Frau in einem elegant geschnittenen spätsommerlichen Kleid. Auf dem Kopf trug sie einen kleinen Hut, in einer Hand hielt sie einen Sonnenschirm, und ihre Tournüre wippte leicht bei jedem Schritt. Ihr Haar war hellblond, ihre Augen strahlten so blau wie die See im Sommer. Neben ihr schritt ein älterer Gentleman, der einen tadellosen Anzug trug, dazu den passenden Umhang und einen Zylinder. Die beiden kamen immer näher.
Kats Herz drohte einen Schlag auszusetzen. In diesem Augenblick konnte sie nur an den Gegensatz zwischen der elegant gekleideten Dame und ihr, dem einfachen Mädchen, denken. Da wusste sie, dass sie flüchten musste. Und zwar rasch.
Gerade als sie kehrtmachte, um zurück zum Wasser zu laufen, entstieg keine zwanzig Yards entfernt ein Mann den Wellen.
Er war hochgewachsen, schlank und kraftvoll gebaut, wie sie unschwer erkennen konnte, da er abgesehen von einem Hemd und einer Unterhose nichts am Leib trug. Das dunkle Haar klebte ihm am Kopf.
„Miss!“, rief er ihr hinterher.
Mehr bekam sie nicht mit. Denn mit einem leisen Aufschrei rannte sie zurück zum matschigen Uferstreifen, watete ins Wasser und tauchte ab in die Wellen, sobald sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen spürte. Sie schwamm entschlossener als je zuvor in ihrem Leben und bemerkte weder die Kälte noch das taube Gefühl in Armen und Beinen.
Als sie mit dem Kopf wieder über Wasser war, hatte sie die Orientierung verloren. In diesem Moment begann es zu regnen.
„Margaret!“
David blinzelte in den Nieselregen. Tatsächlich, dort war sie: Lord Averys hübsche Tochter, jene liebenswerte und wohlhabende Lady Margaret. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie auf ihn herabsah. Sie achtete nicht weiter auf den matschigen Untergrund, als sie sich auf den Uferstreifen setzte und Davids Kopf auf ihren Schoß bettete.
Sein Herz machte einen Freudensprung. Sie hatte zwar oft Interesse an ihm bekundet, aber während er versucht hatte, ihre Gunst zu gewinnen, hatte er immer den Eindruck gehabt, sowohl Robert Stewart als auch Allan Beckensdale seien ihm eine Nasenlänge voraus.
Wie herrlich war es, jetzt in ihr schönes Antlitz blicken zu dürfen!
Doch er war verwirrt. Einen flüchtigen Moment lang hatte er geglaubt, jemand anders gesehen zu haben. Ja, er hatte in das Gesicht einer anderen Frau geschaut. In ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht … in Augen, in denen ein eigenartiges grünliches Feuer lag … Und ihre Haare waren von einem versengenden, flammenden Rot. Hatte er einen Engel gesehen? War er denn dem Tode so nah gewesen? Nein. Oder war sie eine Meerjungfrau gewesen, ein Geschöpf der See oder eher des Flusses?
Hatte er sich das alles bloß eingebildet?
Entsprang es etwa auch seiner Einbildung, dass er glaubte, jemand habe ihn an diesem windigen Tag von hinten über Bord gestoßen? Oder hatte es an den rollenden Bewegungen der Yacht gelegen?
„David! David, bitte sprich mit mir. Geht es dir gut?“, fragte Margaret voller Sorge.
„Ich … Oh, meine liebe Margaret! Ja, ich … Mir geht es gut!“ Aber das stimmte nicht. Im Gegenteil, ihm war furchtbar kalt, doch das machte ihm nichts aus, weil diese schöne, von vielen umworbene Dame sich so fürsorglich um ihn kümmerte.
Ihre strahlend blauen Augen waren voller Tränen!
„Du hast mir das Leben gerettet“, sagte er, immer noch verwirrt.
„Nun“, erwiderte sie leise, „ich habe dich weiter hinauf ans Ufer gezogen und halte dich seither hier auf meinem Schoß.“
„Er wird es überleben!“ Die Stimme klang rau und ungeduldig und eiskaltes Wasser tropfte auf David.
„Sir Hunter?“, entfuhr es ihm. Tatsächlich, er stand unmittelbar neben ihm: Der berühmte Segler, Soldat und Archäologe, ein Abenteurer durch und durch, der Liebling und der Stolz der Londoner Gesellschaft. Doch er wirkte aufgebracht, Missfallen lag in seinem Blick. Furchen zeichneten sich auf seiner Stirn ab.
Und unaufhörlich tropfte das Wasser auf David hinunter.
„Wie ich sehe, ist er in guten Händen, Lord Avery“, sagte Hunter trocken zu Margarets Vater, der – wie David erst jetzt wahrnahm – einige Schritte entfernt stand und sehr besorgt dreinblickte. „Ich muss das Mädchen finden.“
„Das Mädchen?“, wiederholte David.
„Die junge Frau, die Ihnen das Leben gerettet hat“, erklärte Sir Hunter barsch.
„Grundgütiger! Sir Hunter, Sie können sich doch nicht allen Ernstes wieder in …“, rief Lord Avery erschrocken.
„Oh doch, durchaus“, unterbrach Sir Hunter ihn, „denn sonst ertrinkt sie.“
„Sie werden selbst ertrinken!“, betonte Lord Avery. „Wenn dort wirklich eine junge Frau treibt, dann finden die Fischer oder andere Segler sie gewiss.“
Doch Sir Hunter hatte sich bereits abgewandt und watete zurück in den Fluss.
„Vater, lass nur, das schafft er schon!“, rief Margaret und fügte hinzu: „Sir Hunter MacDonald ist jeder Gefahr gewachsen!“ Bei dieser Bewunderung in ihrem Ton spürte David einen Stich in seinem Herzen.
Ja, Sir Hunter! dachte David verstimmt. Der starke, tapfere und unbezwingbare Held! Und ich liege hier am matschigen Ufer, ringe nach Luft und bin gerade so noch am Leben …
Dafür liege ich aber in ihren Armen!
„Dann will ich hoffen, dass du recht hast, meine Liebe“, sagte Lord Avery, ging neben David in die Hocke, zog das elegante Jackett aus und deckte David damit zu. „Danken wir Gott, dass Sie überlebt haben, mein Junge! Können Sie aus eigener Kraft aufstehen? Wir bringen Sie hinauf zur Straße und dann in die Stadt, ehe Sie sich hier draußen noch den Tod holen.“
Derweil versuchte David immer noch zu ergründen, was nun wirklich geschehen war und was in das Reich seiner Einbildung gehörte. „Und da war wirklich eine junge Frau?“, fragte er verwundert und schaute auf zu Margaret.
„Ja, offenbar. Oder sie war ein Geschöpf der See“, antwortete sie.
„Wir werden dafür sorgen, dass sie für ihre Bemühungen entschädigt wird, vorausgesetzt, dass Sir Hunter sie auch findet. Wie eigenartig, dass sie zurück in den Fluss gegangen sein soll. Sie muss den Verstand verloren haben. Oder sie kommt aus einer angesehenen Familie und wollte nicht gesehen werden!“, fügte Lord Avery ein wenig schroff hinzu. „Tja, da können wir nur Mutmaßungen anstellen, David. Aber jetzt müssen wir Sie erst einmal ins Warme bringen. Dieser verfluchte Fluss! Er ist selten etwas anderes als ein Ärgernis!“
„Ja, gewiss“, murmelte David, „ich danke Ihnen. Aber wenn da tatsächlich eine junge Frau war … eine mutige Frau, dann müssen wir ihr in der Tat eine Belohnung zukommen lassen, ganz gleich, ob meine Retterin arm oder reich ist.“
Wieder durchzuckte ihn die Erinnerung, dass ihn jemand in den Fluss gestoßen hatte. Oder erlag er Trugbildern? Sollte sich dieser Verdacht jedoch als wahr erweisen, so war es eine boshafte, vorsätzliche Tat gewesen.
Wer auch immer dahintersteckte, er hatte David nach dem Leben getrachtet.
Aber warum?
Ging es um Margaret? Hatte da jemand einen Konkurrenten aus dem Weg räumen wollen?
Oder lag der Grund ganz woanders?
Plötzlich erfasste ihn eine große Angst, die er sich jedoch nicht anmerken lassen wollte. Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Er war doch nur so zum Spaß mit seinen Freunden hinausgefahren: mit Alfred Daws, Robert Stewart, Allan Beckensdale, alles Kameraden, die er gut kannte. Immerhin hatte er mit ihnen zusammen studiert, Kricket gespielt, hatte ihnen immer vertraut.
Nein, er musste sich irren!
Dennoch, wenn da nicht jenes Mädchen gewesen wäre …
„David?“
Mit wie viel Sorge sein Name ausgesprochen wurde! Margaret duftete so herrlich nach Rosen, und sie schlang die Arme um ihn, als sie ihm beim Aufstehen half.
„Dieses Mädchen hat dir das Leben gerettet“, stimmte Margaret ihrem Vater zu. „Dein kostbares Leben.“
Als er in ihre himmelblauen Augen schaute, vergaß er Lord Avery und die Bedenken im Hinblick auf seine Freunde. Er musste dafür sorgen, dass seine Zukunft gesichert war. Und als Schwiegersohn von Lord Avery bräuchte er sich keine Gedanken mehr zu machen.
„Aber wir wissen, wie es wirklich war! Du hast mir das Leben gerettet“, betonte er. „Du mit deiner lieben Fürsorge. Du hast mich zurück ins Leben geholt. Selbst hier am Ufer hätte ich sterben können. Nein, wirklich, ich wäre gestorben, wenn ich nicht die Augen geöffnet und in dein wunderschönes Gesicht geblickt hätte!“
Als ihr eine zarte Röte in die Wangen stieg, traute er sich, ein „Ich liebe dich!“ zu flüstern.
Sie erwiderte nichts, doch die Röte in ihren Wangen vertiefte sich, als sie ihm sanft in Erinnerung rief: „Mein Vater, David!“
Ja, dachte er, Margaret war wirklich wunderschön. Und liebenswert. Obendrein sehr wohlhabend. Für ihn wäre sie die vollkommene Gattin.
In diesem Moment gelobte er im Stillen, ihr Gemahl zu werden.
Es war schwer gewesen, den Mann zu retten, auf den all ihre Sehnsüchte gerichtet waren, aber in dem Kampf gegen die kalten Wellen hatte Kat nicht einen Augenblick um ihr eigenes Leben gefürchtet.
Doch das hatte sich mit einem Mal geändert.
Wie töricht von ihr, sich erneut in die Fluten zu stürzen! Gewiss, die Leute hätten der unziemlichen Kleidung wegen über sie gelacht, und bestimmt hätte man sie in diesem Aufzug als skandalös bezeichnet. Aber was machte es schon, als skandalös beschimpft zu werden, wenn man den Tod vor Augen hatte?
Erschöpft, durchgefroren und orientierungslos bot sie ihre letzten Kräfte auf, um sich so lange in dem wilden Wasser zu halten, bis sie entweder das Ufer erreichte oder eines der Schiffe entdeckte. Es regnete zwar nicht in Strömen, dafür hatte sich mittlerweile ein für diese Jahreszeit typischer Nachmittagsnebel über die aufgewühlten Wasser gelegt. Hilflos trieb Kat in dem grau-braunen Fluss.
Sie bewegte die Beine, wandte sich mal in die eine, dann in die andere Richtung, stets in der Hoffnung, irgendetwas erkennen zu können. Ihr war bewusst, dass sie in Bewegung bleiben musste, damit die beißende Kälte sie nicht lähmte. Das Hochgefühl, das sie unmittelbar nach der erfolgreichen Rettung verspürt hatte, war verflogen. Ihre Kräfte schwanden zusehends. Sie bereute es auch jetzt nicht, ihn gerettet zu haben. Denn war sein Leben nicht viel mehr wert als ihr eigenes? Aber dafür bereute sie, dass sie so töricht gewesen war, fortzulaufen und in den Fluss zu waten. Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft kämpfte sie sich weiter vorwärts. Schließlich war sie die Tochter ihres Vaters, ein Geschöpf des Wassers, ein Teil dieser nassen Welt.
Sie zwang sich, sich zu beruhigen, drehte sich auf den Rücken und versuchte, ihre Beinbewegungen der Strömung des Flusses anzupassen. Kaum hatte sie sich ein wenig entspannt, als eine neue Angst in ihr aufstieg, wusste Kat doch, dass die Themse kein Bächlein, sondern ein breiter Strom war. Plötzlich fürchtete sie sich vor den dunklen Tiefen des Flusses und bildete sich ein, Bewegungen im Wasser wahrzunehmen. Fantasien bestürmten sie. Furcht vor Wasserschlangen! Nein, hier in diesen Gewässern gab es sicherlich keine. Seeungeheuer? Vollkommen abwegig! Konnten Haie aus dem Meer bis in den Fluss gelangen? Bis in die Themse? Himmel, nein … Oh Gott, da bewegte sich etwas im Wasser!
Sie stieß einen Schrei aus und schluckte Wasser. Als eine Welle über ihr zusammenschlug, bekam Kat keine Luft mehr. Prustend versuchte sie in ihrer Verzweiflung, sich weiter mit dem Beinschlag über Wasser zu halten.
Etwas berührte sie!
Etwas tastete nach ihrem Bein, dann nach ihrer Hüfte. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen noch, um sich zu befreien. Doch dann fühlte sie die Berührung erneut. Etwas Glattes, Kräftiges …
„Nein!“, kreischte sie. Auf diese Weise würde sie nicht sterben – nicht ausgerechnet an jenem Tag, an dem er ihr gesagt hatte, dass er sie liebte! Nein, im Wasser wollte sie nicht sterben. Das Wasser war ja sozusagen ihr zweites Zuhause; da kannte sie sich aus, und nie würde sie nachgeben.
Als das Etwas unmittelbar vor ihr Gestalt annahm, schlug Kat mit der Faust danach, so fest sie nur konnte.
„Großer Gott, Mädchen! Was, um Himmels willen, ist los mit Ihnen? Ich tue mein Bestes, um Ihnen das Leben zu retten!“
Es war ein Mensch. Ein Mann. Bei dem Wellengang konnte sie ihn kaum sehen, aber seine tiefe Stimme drang bis zu ihr. Erst da fiel ihr wieder ein, dass sie einen Mann aus dem Fluss hatte kommen sehen, als sie neben David gekniet hatte. Nicht nur der Anblick der elegant gekleideten jungen Dame, sondern auch das Erscheinen dieses Mannes hatte Kat dazu bewogen, erneut in die Themse zu waten.
„Mir das Leben retten! Sie sind der Grund dafür, dass meine Kräfte schwinden!“, keuchte sie atemlos.
„Herrgott nochmal, Kind, seien Sie doch vernünftig! Mein Boot ist keine hundert Yards südlich von uns!“
Eine Welle schlug über Kat zusammen. Sie hatte sie nicht kommen sehen und schluckte abermals Wasser. Hustend und keuchend kämpfte sie gegen die Strömung an.
Dann spürte sie, wie der Mann ihr einen Arm um den Leib schlang, unmittelbar unterhalb ihrer Brüste. Sie setzte sich zur Wehr gegen diese unziemliche Berührung, doch dem kraftvollen Arm des Fremden war sie nicht gewachsen.
„Verflucht, so beruhigen Sie sich doch! Wie soll ich Sie denn retten, um alles in der Welt?“
„Niemand muss mich retten!“
„Da bin ich anderer Meinung!“
„Wenn Sie damit aufhören würden, mich unter Wasser zu drücken, käme ich ganz gut allein zurecht!“
Natürlich war das gelogen, denn sie war völlig kraftlos. Es fiel ihr von Atemzug zu Atemzug schwerer, sich über Wasser zu halten.
Kaum hatte sie ihre Anschuldigung ausgestoßen, ließ er sie los.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde Kat von der nächsten Welle unerbittlich überrollt. Sie sank nach unten.
Doch sie nahm all ihre Kraft zusammen und schnellte mit einem Beinschlag zurück an die Oberfläche … genau in die Arme des Mannes.
„Wollen Sie wohl stillhalten!“, schimpfte er. „Sonst muss ich Sie bewusstlos schlagen, wenn ich Ihr elendes Leben retten will!“
„Aber ich sage Ihnen doch …“, begehrte sie wieder auf und schnappte nach Luft.
„Seien Sie still!“
„Aber…“
„Großer Gott, Frau, wann halten Sie endlich den Mund?“
Sie hätte ohnehin nichts erwidern können, da sie wieder einen Schwall Wasser schluckte. Abermals spürte sie, wie der Mann kraftvoll einen Arm um sie schlang, den sie trotz der Kälte als warm empfand. So wütend und aufgebracht sie auch war, letzten Endes überwog die Erschöpfung. Sie nahm wahr, wie sich der Nebel auf den Fluss legte, und mit einem Mal fühlte es sich richtig an, die Augen zu schließen, nachzugeben …
Offenbar besaß er eine unglaubliche Kraft, denn Kat bewegte sich nicht mehr, hatte aber trotzdem das Gefühl, auf dem Wasser zu treiben.
Dann drangen Stimmen in ihr Bewusstsein, Stimmen von Männern, und endlich merkte sie, dass sie sich einem Segelboot genähert hatten, einer eleganten Yacht.
„Ethan!“
Der Ruf erschreckte sie, und sie riss sich von ihrem Retter los. Mit dem Kopf stieß sie gegen den Bug und spürte einen heftigen Schmerz.
Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen.
Und dann umschloss sie die Dunkelheit.
„Heilige Muttergottes!“, entfuhr es Ethan. Mit starken Armen umfasste er das Geschöpf, das Hunter aus dem Fluss gerettet hatte, und hievte es an Bord, als wiege es kaum mehr als ein Spielzeug. Für einen Moment ruhte sein Blick auf Hunter, ehe er die bewusstlose Frau hinunter in die Kabine brachte.
Die Yacht gierte in der Strömung, und Hunter hastete zum Steuerrad und brachte sie wieder auf Kurs, während der Wind an den Tauen riss. Im Augenblick kümmerte es ihn nicht, dass er vollkommen durchnässt war und die Kälte ihm in den Knochen saß. Fluchend kämpfte er gegen den Wind an, der urplötzlich gedreht hatte, in die Segel fuhr und die Yacht in Richtung Ufer drückte.
Ethan war derweil wieder an Deck gestiegen und brachte Hunter eine Decke und ein Glas heißen Grog. Hunter nickte seinem Bediensteten dankend zu, nahm zuerst das Glas entgegen, leerte es in einem Zug und spürte, wie die Wärme in seinen Leib zurückkehrte. Erst dann legte er sich die Decke um die Schultern, während Ethan das Steuer übernahm.
„Geht es ihr gut?“, erkundigte Hunter sich, wobei er laut rufen musste, um sich bei dem Wind bemerkbar zu machen.
„Sie wird eine Beule am Kopf haben!“, rief Ethan. „Aber sie hat kurz die Augen aufgemacht. Ich habe sie in mehrere Decken gehüllt und ihr einen Schluck Brandy eingeflößt. Ihr wird bald wieder warm sein, denke ich, und in der Zwischenzeit bringen wir sie an Land. Aber wohin mit ihr? In ein Hospital?“
Hunter runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Es heißt zwar, diese Einrichtungen seien besser geworden, aber ich würde nicht mal einen Hund in ein Hospital bringen. Nein, wir fahren ins Stadthaus. Bist du sicher, dass es ihr auch gut geht? Sie hat sich wie eine Irrsinnige gewehrt.“
„Bitte um Nachsicht, Sir Hunter, aber als Sie die Yacht erreichten, hatte ich den Eindruck, dass die Frau mit dem Kopf gegen den Rumpf geprallt ist.“
Ethan hatte schon manch eine Verletzung gesehen, da er in einigen Schlachten Seite an Seite mit Hunter auf mehreren Kontinenten gekämpft hatte. Er kannte sich aus, wenn es darum ging, Knochenbrüche zu versorgen. Er wusste zudem in den meisten Fällen, welche Arzneien halfen. Deshalb vermochte er einzuschätzen, ob eine Verletzung bedenklich oder gar tödlich war. Die Beule am Kopf der jungen Frau gehörte sicher nicht in die letzte Kategorie. „Wer mag sie sein?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, erwiderte Hunter. „Offensichtlich sprang sie ins Wasser, um den jungen David zu retten, aber woher sie kam, weiß ich nicht.“ Er hielt inne und dachte nach. Hatte er sie etwa schon einmal gesehen? In einem Punkt war er sich ziemlich sicher: Sie gehörte nicht zu den jungen aufblühenden Schönheiten, die in der vergangenen Saison von ihren ehrgeizigen Müttern bei gesellschaftlichen Anlässen zur Schau gestellt worden waren. Gewiss hätte er sich an sie erinnert. Selbst in diesem Zustand, nass und mit wirrem Haar, fiel ihre Schönheit ins Auge.
Wie es schien, bewegte sie sich so geschickt und sicher im Wasser wie ein Fisch; womöglich hatte sie recht mit ihrer Behauptung gehabt, keiner Hilfe zu bedürfen. Ihr Haar … was für eine eindrucksvolle Farbe! Trotz der Nässe wirkte es feurig. Und in ihrem Blick hatte er ein Aufflammen wahrgenommen, das zu ihrer Haarfarbe gepasst hatte.
Obendrein wäre es nicht einmal einem Blinden entgangen, wie vollkommen ihr Körper geformt war. Sie war keine dieser verhätschelten Damen in den Salons, sondern eine ungemein kraftvolle Erscheinung – schlank, mit langen Beinen, schmalen Hüften und … schönen Brüsten. Feste, volle Rundungen, die sich unter dem feuchten Stoff abzeichneten.
Bei diesen Gedanken zuckte er zusammen. Aber er hatte eben Augen im Kopf. Die körperlichen Vorzüge dieser jungen Frau wären jedem Mann aufgefallen.
„Tapferes kleines Ding!“, meinte Ethan anerkennend. „Sie sprang ins Wasser, als keiner von Davids edlen Kameraden Anstalten machte, ihn zu retten.“
Auch das stimmte.
In diesem Moment entsann Hunter sich des Blicks der Frau, als sie David am Ufer hatte liegen sehen. Verzückung hatte ihre Augen leuchten lassen. Sie war nicht in den Fluss gesprungen, um einen wildfremden Mann zu retten. Etwas an diesem Blick ließ Hunter nicht mehr los. Einen solchen Ausdruck hatte er kaum je bei anderen Menschen gesehen, auch wenn manch einer sich womöglich nach einer derart feurigen Leidenschaft sehnte. Ja, Hunter war sich sicher, dass diese Frau bereitwillig ihr Leben für David gegeben hätte.
Sie ist verliebt, dachte er.
„Glauben Sie, dass sie eine Freundin des jungen Burschen ist?“, erkundigte Ethan sich.
„Ich habe sie jedenfalls noch nie zuvor gesehen“, sagte Hunter. „Andererseits kenne ich natürlich auch nicht alle Freunde von David. Tatsächlich bin ich nur deshalb mit ihm bekannt, weil er an den bevorstehenden Ausgrabungen am Nil teilnehmen wird. Und weil sein Vater Interesse bekundet hat, diese Arbeit finanziell zu unterstützen.“
„Gütiger Gott! Sie wollen doch damit nicht andeuten, dass sie eine …“
„Eine Dirne ist?“ Hunter legte den Kopf schief und überlegte. „Nein“, meinte er schließlich. „Danach sieht sie mir nicht aus. Ihr fehlt diese Härte im Blick. Bislang jedenfalls. Aber wer auch immer sie ist, sie dürfte jetzt ein wenig wohlhabender sein als zuvor. Denn Lord Avery ist fest entschlossen, ihr eine Belohnung zukommen zu lassen. In der Zwischenzeit sollten wir uns vielleicht um ihr Wohlergehen kümmern, nicht wahr?“
Binnen einer halben Stunde machte die Yacht am Anlegeplatz fest. Hunter trug die junge Frau, die immer noch in die Decke gehüllt war, über den Kai, während Ethan sich um die Kutsche kümmerte. Bei den Booten war niemand mehr zu sehen.
Und schon gar nicht der junge David oder einer seiner Kameraden. Hunter war sich ziemlich sicher, dass Lord Avery zu seinem Wort stehen und dem Mädchen eine Belohnung zukommen lassen würde, aber er ahnte, dass seine Lordschaft nicht sonderlich am Wohlergehen der jungen Lebensretterin interessiert sein würde. In erster Linie dürfte es ihm um David gehen.
Und natürlich um seine Tochter Margaret.
Ethan brachte den Zweispänner zum Stehen, und die Pferde warteten geduldig, bis Hunter die schlafende Frau im Innern der Kutsche auf eine der beiden Bänke gelegt und ihren Kopf sicher auf seinen Knien gebettet hatte.
„Also dann, nach Hause, so schnell es geht“, ließ sich Ethan vernehmen, der die Tür schloss und dann auf den Kutschbock stieg.
Während der Fahrt betrachtete Hunter das Gesicht der Schlafenden. Sie war wirklich wunderschön. Ihre Haut glich trotz der leichten Sonnenbräune hellem, glattem Alabaster. Ihre Nase war gerade, aber mit ihren vollen, geschwungenen Lippen entsprach sie nicht dem momentanen Modegeschmack. Lange dunkle Wimpern bildeten Schatten auf ihren ausgeprägten Wangen.
Sie regte sich, zog die Stirn kraus.
Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen.
Sie schien noch zu schlummern und zu träumen, und was auch immer sie träumte, es schien wunderschön zu sein.
Die dunklen Wimpern flatterten. Sie schlug die Augen auf.
Nur zögernd nahm sie Hunter wahr und suchte seinen Blick. Sie runzelte die Stirn.
„Sie weilen ja wieder unter uns Lebenden“, sagte er leise.
Ihre Lippen bewegten sich. Sie schien ihre Stimme verloren zu haben.
„Lassen Sie sich Zeit“, bot er ihr an.
Der Anblick dieser jungen Schönheit weckte zärtliche Gefühle in ihm. Er spürte, dass er sie beschützen wollte. Ja, er würde dafür sorgen, dass es ihr an nichts mangelte, dass sie sich warm und geborgen fühlte.
Wieder bewegten sich ihre Lippen.
Er beugte sich etwas weiter zu ihr herab, um ihr Flüstern verstehen zu können.
„Sie!“, hauchte sie.
Selbst diesem einen Wort entnahm er, wie bestürzt die junge Frau war. Hunter verspannte sich und rang sich ein Lächeln ab. Er erinnerte sich, wie verzückt sie den jungen David angesehen hatte.
„In der Tat, ich bin es. Und ich bitte um Vergebung. Vielleicht hätte ich Sie doch dem Wasser überlassen sollen!“
Ihre Lider schlossen sich wieder. Offensichtlich hatte die junge Frau noch nicht begriffen, wo sie sich befand.
Er war versucht, sie von seinem Schoß zu stoßen, doch er zügelte seinen Verdruss.
„Also gut, wer sind Sie? Und wenn wir Sie sicher nach Hause bringen sollen, in welche Straße müssen wir dann fahren?“
Erneut öffnete sie die Lider, und als sie begann, ihn zu mustern, glaubte Hunter, so etwas wie Unmut in ihrem Blick zu entdecken. Bei allen Heiligen, diese Augen waren wirklich herrlich und von den ungewöhnlichsten Farben! Da ihm ihr Gesicht so nah war, konnte er die am äußeren Rand bläulich-grün schillernde Iris sehen, ehe sie ins Grüne spielte, durchsetzt mit goldenen Einsprengseln. Außergewöhnlich! Und sie war in jedem Fall eine Rothaarige, aber es war kein stumpfes Ziegelrot, sondern eher ein flammendes Rot. Und dann diese dunklen Wimpern …
Hunter hatte nicht die leiseste Ahnung, woher diese Frau stammte, aber er befürchtete, dass sie ein feuriges Temperament besaß. Womöglich waren ihr armer Vater oder Bruder oder gar ihr Liebhaber froh, eine Weile nicht ihre spitze Zunge ertragen zu müssen!
Sie starrte ihn weiterhin an, und Verwirrung schlich sich in ihre Züge.
„Also? Wer sind Sie?“, verlangte er.
„Ich …“ Sie stockte und schloss die Lider.
„Großer Gott, so antworten Sie mir doch endlich!“
„Ich weiß es nicht!“, entgegnete sie in scharfem Ton, riss die Augen auf und funkelte ihn an.
Mit diesen Worten löste sie sich aus seinen Armen und richtete sich anmutig auf, bis sie bemerkte, dass die Decken verrutscht waren. Sie errötete, bedachte Hunter mit einem weiteren wütenden Blick, zog die Decken zurecht und blieb schweigend sitzen.
2. Kapitel
Hunter musterte sie ausgiebig, ehe er den Mund zu einem leisen Lächeln verzog. „Sie lügen“, sagte er rundheraus.
„Wie können Sie es wagen!“, rief sie aufgebracht.
Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube einfach nicht, dass Sie sich den Kopf so hart gestoßen haben.“
Sie schaute aus dem Fenster der Kutsche, die durch die geschäftigen Straßen Londons fuhr. Dann senkte sie die Lider.
„Mein Kopf tut schrecklich weh!“, beklagte sie sich schroff, und ihr Blick wanderte wieder zu ihm.
Doch Hunter musste erneut lächeln. „Aber Sie leben noch“, meinte er.
„Ich bin bisher auch ganz gut ohne Sie zurechtgekommen.“
Er hielt es nicht für nötig, näher auf diese Bemerkung einzugehen.
Sie sah ihn wachsam an, als sie sich die Decke bis unters Kinn zog. „Und wer sind Sie?“, fragte sie, und eine Falte erschien zwischen ihren Brauen.
„Hunter MacDonald.“ Belustigt legte er den Kopf schräg. „Zu Diensten.“
Er glaubte, dass sich ihre Augen ein wenig geweitet hatten; offenbar kam ihr sein Name bekannt vor. Aber konnte sie damit tatsächlich etwas anfangen? Sicher, die Zeitungen berichteten des Öfteren über ihn, aber er verschwendete kaum einen Gedanken an die Presse. Sein Name tauchte außerdem regelmäßig in der Journaille der besseren Gesellschaft auf, oft mit frivolem Unterton – die Leser liebten den Klatsch.
Offen gestanden: Die skandalösen Details der Gerüchte rund um ihn trafen schon länger nicht mehr zu. Bereits vor Jahren hatte er festgestellt, dass es für einen Mann wie ihn schwer war, den hohen Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden, ganz gleich, was er tat. Seither nahm er es gelassen, wann immer man ihm etwas andichtete.
Die junge Frau schien in Gedanken bereits ihr weiteres Vorgehen zu planen.
„Wohin fahren wir?“, fragte sie.
„Nun, in mein Stadthaus natürlich“, antwortete er freimütig.
Es freute ihn insgeheim, als er sah, dass bei diesen Worten ein Anflug von Misstrauen über ihr Gesicht huschte.
„Ich weiß vielleicht nicht mehr, wer ich bin“, sagte sie, „aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich …“ Die Stimme versagte ihr, als seien ihr die richtigen Worte entfallen.
„Was wollten Sie mir mitteilen?“, bot er an.
Sie senkte den Kopf. „Wenn Sie mich zurück zum Fluss bringen, dann erkenne ich vielleicht etwas wieder … oder jemanden.“
„Zurück zum Fluss?“
Röte schoss ihr in die Wangen. „Ich meine den Uferbereich am Fluss.“
Je länger er diese Frau einzuschätzen versuchte, desto faszinierender fand er sie. Ihre äußere Erscheinung sprach ihn an. Zudem konnte sie sich gut ausdrücken, als habe sie eine anständige Erziehung genossen. Dennoch vermutete er, dass sie aus den ärmeren Vierteln entlang der Themse stammte.
Er hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie einer Schicht der viktorianischen Gesellschaft angehörte, die es ihr nie ermöglichen würde, ihrem geliebten David zu begegnen, zumindest nicht unter normalen Umständen.
Er wandte den Blick von ihr ab und spürte einen kleinen Stich im Herzen, da er sich bei dem Wunsch ertappte, er möge das Objekt jener tiefen Zuneigung sein, die diese junge Frau offensichtlich für den jüngsten Sohn des Baron Turnberry empfand. Es tat nichts zur Sache, dass David nicht den Titel seines Vaters erben würde – es standen nämlich nicht ein oder zwei ältere Brüder in der Hierarchie über ihm, sondern gleich fünf! –, aber in den Augen dieses Mädchens war er so etwas wie ein leuchtender Stern.
Und wenn sie nun ihm eine solche Zuneigung entgegenbrächte?
Zugegeben, sein Ruf kam nicht von ungefähr. Aber bislang hatte er sich nie auf eine junge unschuldige Frau eingelassen.
Aber was veranlasste ihn zu der Vermutung, dass sie unschuldig war? Immerhin war sie so gut wie unbekleidet in die Themse gesprungen. Um einen Mann zu retten.
„Ich denke, dass er kurz davor ist, sich zu verloben“, sagte Hunter schonungslos.
„Von wem sprechen Sie?“
Sie spielte ihre Scharade recht gut.
„Von David Turnberry, meine Liebe.“
„Und was geht das mich an?“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, ich vergaß. Sie wissen nicht, wer Sie selbst sind, woher sollten Sie dann diesen Mr Turnberry kennen, nicht wahr?“
Sie sah ihn an, und die roten, inzwischen fast trockenen Haare fielen ihr weich ins Gesicht. „Woher wissen Sie Bescheid über die Beziehungen … dieses Mannes, von dem Sie da gerade sprechen?“, fragte sie.
„Nun, wir verkehren sozusagen in denselben Kreisen“, erwiderte er. „Im Übrigen, der Mann, den Sie gerettet haben – und Sie werden sich ja sicher erinnern, einen Mann aus dem Fluss gezogen zu haben –, wird England in Kürze verlassen, um an Ausgrabungen in Ägypten teilzunehmen. Und wenn er zurückkehrt, wird er verheiratet sein.“
„Hat er sich schon offiziell verlobt?“
„Nein, das nicht“, räumte Hunter ein. „Aber ich weiß, dass er seit einiger Zeit darum bemüht ist, die Gunst der schönen Lady Margaret zu erlangen. Und ich glaube, dass die Dame heute beschlossen hat, dass er derjenige sein wird, den sie zu ehelichen gedenkt, nach diesem ganzen Drama am Fluss und der Angst, die sie um sein Leben hatte.“
Sie wendete rasch den Blick von ihm und wirkte verzweifelt, aber das wollte sie sich natürlich nicht anmerken lassen. Schließlich schaute sie zu Boden und sagte leise: „Bitte, wenn Sie mich zurück zum Fluss bringen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich bin davon überzeugt, dass ich rasch herausfinde, wer ich bin und wohin ich gehöre.“
Er beugte sich vor und legte ihr, ohne groß nachzudenken, eine Hand aufs Knie, als er sagte: „Aber verstehen Sie denn nicht, meine Gute? Mr Turnberry möchte sich gern bei Ihnen bedanken, weil Sie ihm das Leben gerettet haben. Sie müssen ihm die Gelegenheit dazu geben.“
Sie zuckte sichtlich zusammen. „So, in diesem Aufzug? Da würde ich es vorziehen, zum Fluss zurückzukehren.“
Sie rutschte ein wenig auf der Bank hin und her. Erst da wurde ihm bewusst, dass seine Hand immer noch auf ihrem Knie ruhte. Ein Umstand, den Hunter als viel beunruhigender empfand als die Frau. Rasch zog er seine Hand zurück.
„Wir treffen jeden Augenblick an meinem Haus ein. Meine Schwester verbringt oft einige Zeit bei mir. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir etwas Passendes für Sie zum Anziehen finden werden.“
„Sir! Ich kann unmöglich allein mit Ihnen in Ihr Stadthaus gehen.“
„Oh, keine Sorge“, erwiderte er mit einem Lächeln. „Ich habe die liebenswürdigste Haushälterin, die man sich wünschen kann. Sie werden in den allerbesten Händen sein.“
Bald erreichten sie das Stadthaus mit den eleganten gusseisernen Toren und den gepflegten Rasenflächen. Hunter fragte sich, ob diese Frau nicht doch schon einmal seine Aufmerksamkeit erregt hatte, denn auf eine ganz eigenartige Weise erinnerte sie ihn an den jungen Hunter MacDonald. Damals hatte er erkannt, was er war und was er nicht war. Und spätestens da war ihm klar geworden, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen musste, was ihm auch recht ordentlich gelungen war. Zunächst hatte er Karriere in der Armee gemacht, dann die Königin mit seinem Charme verzaubert und sich letzten Endes den Dingen gewidmet, die ihn wirklich faszinierten: den Artefakten und Baudenkmälern des Alten Ägypten. Sein Wissen auf diesem Gebiet ließ er in einige Bücher einfließen, die ihm ein wenig Geld einbrachten. Aus eigener Kraft war er jedoch kein vermögender Mann geworden, sondern erst nach dem Tode seiner geliebten und begüterten Taufpatin. Ihr Nachlass erwies sich als äußerst förderlich für seine gesellschaftliche Stellung. Dabei hatte er mit dem Geldsegen gar nicht gerechnet, denn die alte Dame, die selbst eine wahre Abenteurernatur gewesen war und ihn stets in wissenschaftliche Gespräche verwickelt hatte, hatte Zeit ihres Lebens Armut vorgetäuscht. Liebend gern hatte sie Geschenke von ihm angenommen.
Die Kutsche fuhr durch das Tor und hielt vor dem überdachten Seiteneingang des Gebäudes. Hunter stieg aus der Kutsche und streckte seinem Gast eine Hand entgegen, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Doch sie zögerte, als jemand die Tür des Seiteneingangs öffnete. Schließlich legte sie höflich ihre Hand in seine.
„Gütiger Gott!“ Dies waren die ersten Worte, die Mrs Emma Johnson, Hunters Haushälterin, von sich gab. Sie bedachte ihren Herrn mit einem anklagenden Blick. „Sir Hunter! Was hat das zu bedeuten, um Himmels willen? Mein liebes Kind, so kommen Sie doch herein, damit ich mich Ihrer annehmen kann! Wissen denn Ihre Eltern, wo Sie sind? Hunter, haben Sie etwa diese junge Frau zu einem Segelausflug eingeladen und dann nicht aufgepasst, als sie in den Fluss stürzte? Oh, mein Kind, danken wir Gott, dass Sie wohlauf sind. Ich kümmere mich sofort um Sie.“ Sie legte der jungen Frau einen Arm um die Schulter und warf Hunter erneut einen missbilligenden Blick zu. „Nun, Hunter, es geht mich ja nichts an, aber …“
„Nein, Emma, es ist nicht so, wie Sie denken“, verteidigte er sich und lächelte. Die gute Emma Johnson war ihm lieb und teuer. Als er jung war und sich mehr schlecht als recht durchschlug, hatte er sie manchmal mehrere Wochen lang nicht für ihre Arbeit bezahlen können. Doch sie hatte ihn immer beruhigt und gesagt, er könne ihr das Geld geben, sobald … nun, sobald es ihm besser gehe. Seither hatte er sich stets bemüht, Emma für jene Wochen zu entschädigen, als sie ihm nur aus Treue zu Diensten gewesen war.
Als sich die grauen Augen seiner Haushälterin verengten, fühlte er sich erneut veranlasst, etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen. Doch er tat es auch diesmal mit einem Lächeln. „Emma, glauben Sie mir, ich habe nichts Unrechtes getan, das versichere ich Ihnen. Sie drohte zu ertrinken …“
„Ertrunken wäre ich beinahe, weil er versuchte, mir zu helfen!“, entgegnete die junge Frau scharf.
„Oh, erstaunlich, an was Sie sich dann doch erinnern können“, stellte Hunter nüchtern fest.
„Bei Gott, was ist denn bloß passiert?“, wollte Emma wissen.
„Ich denke, wir sollten unseren Gast erzählen lassen“, schlug Hunter vor.
„Wie heißen Sie, meine Liebe?“ Emma war wirklich besorgt.
„Ja, wie heißen Sie?“, wiederholte Hunter und sah, dass der jungen Frau die Röte in die Wangen stieg. „Ach, wie konnte ich das nur vergessen? Sie hat sich den Kopf gestoßen und die Erinnerung verloren. Können Sie sich so etwas vorstellen, Emma?“
Die Haushälterin schaute erschrocken von Hunter zu der Frau. „Hunter, was haben Sie bloß getan?“
„Ich bin unschuldig, ich schwöre es!“, rief er.
„Ja, Ma’am, diesmal trifft ihn wirklich keine Schuld. Da gebe ich Ihnen mein Wort“, erklärte Ethan, der inzwischen die Pferde ausgespannt und in die Obhut des Stallburschen gegeben hatte. „Sir Hunter beobachtete, wie ein Bekannter an Deck einer anderen Yacht das Gleichgewicht verlor und in die Themse stürzte. Er sprang hinterher, um den jungen Burschen zu retten. Wie sich dann herausstellte, hatte unser Gast hier dieselbe Idee.“
Emma warf der jungen Frau einen tadelnden Blick zu. „Kind! Sie sind doch nicht wirklich in die Themse gesprungen? Der Fluss ist verdreckt vom Unrat Tausender Menschen! Auch wenn es immer heißt, während der Regentschaft unserer guten Königin Victoria sei einiges getan worden, um die Themse sauber zu halten!“
„Aber ich war doch schon vor Sir Hunter im Fluss“, bekannte die Frau leise. Erneut errötete sie und fing Hunters Blick ein. „Ich … nun, ich glaube jedenfalls, dass ich schon vorher oft im Wasser war. Ich meine … womöglich war ich sogar des Öfteren baden … es könnte ja sein …“ Ihre Stimme verlor sich.
Emmas anklagender Blick ruhte abermals auf Hunter. „Sehen Sie sich doch nur mal an! Nur in Unterhose und in eine Decke gehüllt! Also, so was!“ Drohend erhob sie einen Finger. „Ihr Ruf, Sir, ist Ihre Sache, aber ich lasse es nicht zu, dass Sie auch meinen guten Namen beflecken. Ich sorge dafür, dass unser armer Gast ein heißes Bad nimmt und sich dann anständig anzieht. Ethan! Sie müssen sofort den Doktor holen.“
„Den Doktor?“, entfuhr es der jungen Frau erschrocken.
„Aber natürlich! Sie haben Ihr Gedächtnis verloren. Und da der Herr des Hauses zugegen ist, meine Gute, wollen wir nicht, dass Sie obendrein noch um den Verstand gebracht werden! Nein, nein, das müssen wir alles rasch erledigen!“
„Emma, ich werde das Mädchen wohl kaum unter meinem Dach verführen“, protestierte Hunter trocken.
„Wohl kaum“, murmelte das Mädchen.
„Während Ethan mir aus dieser recht unpassenden Kleidung hilft, Emma, kümmern Sie sich um unseren Gast. Übrigens, der Vorfall dürfte auch die Herrschaften in Lord Averys Anwesen interessieren. Sie müssen nämlich wissen, dass es David Turnberry war, der in den Fluss stürzte. Und er wird sich angemessen bei unserem geheimnisvollen Gast bedanken wollen. Ich werde bei den Averys anrufen, vorausgesetzt, das verfluchte Telefon funktioniert. Dann weiß seine Lordschaft, dass das Mädchen bei uns ist.“
„Aber ich denke trotzdem, dass wir den Doktor rufen sollten“, beharrte Emma.
„Aber mir geht es doch gut!“, versicherte das Mädchen.
Die Haushälterin gab einen Laut des Unmuts von sich.
„Vielleicht sollten wir abwarten, wie es ihr morgen früh geht, Emma. Gewiss haben Sie ein Zimmer hier im Haus fertig, nicht wahr?“, schlug Hunter vor.
„Mir genügt ein Bad … und ein Zimmer, in dem ich mich ein wenig ausruhen kann, allein“, fügte die junge Frau rasch hinzu. „Wenn sich das einrichten ließe. Das wäre wunderbar. Und sollte ich mich morgen früh tatsächlich nicht gut fühlen, dann können wir ja immer noch den Doktor rufen.“
„Also gut. Hunter, Sie gehen jetzt nach oben und ziehen sich um. Junge Frau, ich lasse Ihnen ein Bad ein. Sie werden sehen, bald ist Ihnen wieder warm. Hunter, Sie halten sich von jetzt an fern!“
„Bei Gott, so glauben Sie mir doch, genau das ist meine Absicht!“, versicherte er. Doch er konnte es sich nicht verkneifen, seinem wenig dankbaren Gast zuzuzwinkern, ehe er an der jungen Frau vorbeiging. Seine feinen Segelschuhe quietschten bei jedem Schritt vor Nässe, und allmählich plagte ihn die Kälte, obwohl er sich die Decke um die Schultern gelegt hatte.
Ethan folgte Hunter hinauf in dessen Zimmer und zog das Sitzbad von der Wand, bereit, seinem Herrn zu Diensten zu sein. „Halt, mein Freund“, sagte Hunter. „Ich lasse mir das Wasser selbst ein. Kümmern Sie sich darum, dass Münzen auf der Kommode in dem blauen Zimmer liegen. Denn dorthin wird Emma unseren Gast bringen. Oh, und denken Sie auch daran, ausreichend Münzen in die Taschen der Kleidungsstücke zu stecken, die Emma für das Mädchen auswählen wird.“
Ethan zog fragend eine Braue hoch.
„Glauben Sie mir, mein Freund“, sagte Hunter. „Es ist zum Besten der jungen Frau.“
„Sie wollen, dass sie fortläuft?“
„Sie wird zurück zum Fluss gehen. Sie werden es schon sehen, Ethan. Aber keine Sorge. Ich habe nämlich vor, ihr zu folgen. Ach, Ethan! Bitte tun Sie einfach, was ich sage!“
Ethan grummelte vor sich hin, verließ dann aber das Zimmer, um dem Wunsch seines Herrn nachzukommen.
Kat, die keineswegs das Gedächtnis verloren hatte, fühlte sich wohl in Gegenwart von Mrs Johnson, oder Emma, wie sie genannt werden wollte. Die Frau war so warmherzig und fürsorglich. Kat glaubte, noch nie ein so herrliches Bad genossen zu haben, denn das Wasser war wunderbar warm. Das ganze Haus war exquisit eingerichtet. Nie zuvor hatte Kat sich in so viel Luxus bewegt.
Derweil erzählte Emma ihr, wer in der Nachbarschaft wohnte – alles fabelhafte Leute, wie sie betonte. Sir Hunter lebte seit etwa zehn Jahren in diesem Haus. Schließlich kam Emma auf die Möglichkeiten zu sprechen, sich in dieser großen Stadt fortzubewegen – mit dem Zug, der unterirdisch durch die Stadt fuhr! „Oh, hätte es das doch nur gegeben, als ich jung war!“, rief sie. Die meiste Zeit über erzählte sie jedoch von Sir Hunter MacDonald.
Kat wäre es natürlich viel lieber gewesen, man hätte sie in das Haus von David Turnberry gebracht, denn sie war sich sicher, dass sie dort von seiner Haushälterin viele kleine Anekdoten aus Davids Leben hätte erfahren können. Aber es sollte wohl nicht sein. Kat durfte nicht vergessen, wer sie war.
Und sie durfte auch nicht vergessen, dankbar zu sein. Also hörte sie geduldig zu. Sir Hunter, so erfuhr Kat von der Haushälterin, sei ein eindrucksvoller Soldat gewesen, und aufgrund seiner Tapferkeit im Dienst für sein Land habe man ihn in den Ritterstand erhoben. Emma betonte, er sei des Öfteren in diplomatischer Mission im Auftrag der Königin unterwegs gewesen. Gewiss, fügte sie hinzu, er stand in einem gewissen Ruf … Aber auch nur, weil es so viele geschiedene Damen gab und ein paar Witwen, die nicht recht wussten, was es hieß, zu trauern. Wo doch die teure Königin mit gutem Beispiel voranging! Und dann die Amerikaner! Ja, die seien ein ganz besonderer Menschenschlag, erfuhr Kat weiter. Abenteurer allesamt. Schließlich kam sie darauf zu sprechen, dass Sir Hunter von den Altertümern Ägyptens besessen war. Ja, vor einem Jahr sei es zu einem hässlichen Vorfall im Museum gekommen. Niederträchtige Vorkommnisse, aber letztlich habe man sich geeinigt. Die bösen Zungen seien verstummt, ließ Kat sich erklären, und die anderen Forscher würden wieder in See stechen, um immer noch mehr zu erfahren und um dem Britischen Weltreich zu neuem Glanz zu verhelfen.
Ja, ja, ja! dachte Kat geduldig. Wie viele von diesen Anekdoten konnte sie auf einmal aufnehmen? Zumal es um einen Mann ging, der sie beinahe ertränkt hätte. Zugegeben, das war nicht seine Absicht gewesen, und obendrein hatte er sie in sein wunderschönes Haus eingeladen. Darum hielt Kat den Mund, während die Haushälterin Kats Haar mit duftendem Seifenschaum wusch und unentwegt plauderte. Kat blieb somit keine andere Wahl, als zuzuhören.
„Aber Sie werden seinen Namen gewiss schon einmal in den Zeitungen gelesen haben“, fuhr Emma fort. „Er war schon des Öfteren das große Vorbild des Landes. Oh, ich vergaß! Armes Ding, Sie haben ja Ihr Gedächtnis verloren. Aber seien Sie versichert, was auch immer Sie hören über ihn – auch wenn er im Ruf steht, ein Frauenheld zu sein –, Sir Hunter ist ein Gentleman, ein wahrer Gentleman.“ Emma schien es wichtig zu sein, dass Kat das begriff.
Die Frau fuhr fort: „Leider muss ich sagen, dass an den Gerüchten viel Wahres dran ist, aber wie ich schon sagte, er hat sich nur mit Geschiedenen und Witwen abgegeben, mit Frauen, die alt und reif genug waren und für ihr eigenes Handeln verantwortlich sind. Ich nehme nicht an, dass er in Häusern mit schlechtem Ruf verkehrt – und schon gar nicht in den billigen. Aber Sie müssen mir glauben, dass er ein gutes Herz hat. Und mutig ist er! Immer und immer wieder hat er in der Armee der Königin gedient, auch dann, wenn er meinte, wir hätten nicht das Recht, dort zu sein, wo gekämpft wurde. Großer Gott, meine Gute, das dürfen Sie nicht weitererzählen! Er ist ein treuer Untertan unserer lieben Königin, vom Scheitel bis zur Sohle! Und vergessen Sie nicht, er ist ständig auf der Suche nach ägyptischen Altertümern.“
„Sprechen Sie von Schätzen?“
Emma Johnson gab ein schnalzendes Geräusch von sich. „Schätze? Nicht die Art von Schätzen, die wir uns vorstellen. Für Sir Hunter sind Schätze Überreste der Vergangenheit, und je älter sie sind, desto wertvoller sind sie für ihn. Andererseits, fast die gesamte britische Aristokratie beschäftigt sich derzeit mit Kunst aus aller Herren Länder. Und mit dem Mesmerismus!“, fügte sie mit verächtlichem Schnauben hinzu. „Manchmal hat er sich entschieden, eine Saison an der Riviera oder in Italien zu verbringen. Oh, er liebt es, für ein paar Tage in Rom zu sein, aber letzten Endes zieht es ihn immer wieder nach Ägypten. Ja, das ist seine große Liebe. Er arbeitet mit dem Museum zusammen, müssen Sie wissen. Und es gelingt ihm stets, sich die beste Grabungsstelle zu sichern, mithilfe der Botschaften Englands und Ägyptens, die das Sagen haben. Nun, wir meinen, die Ägypter haben das Sagen, aber es ist nach wie vor unser Einfluss, der alles dort in Bewegung bringt. Ich denke, auch die ägyptischen Behörden sind froh, dass die Engländer sich engagieren.“
„Und englisches Geld mitbringen, nehme ich an“, ergänzte Kat leise.
Emma lachte frohgelaunt. „Nun, das ist wohl wahr. Aber auch die Türken waren eine ganze Weile am Nil, und die Ägypter sind froh, dass wir sie schützen, das können Sie mir glauben. Und die Franzosen treiben sich natürlich ebenfalls dort herum. Aber ich wünschte, Sir Hunter würde sich eine Herbstsaison lang in einer schönen europäischen Großstadt aufhalten!“
„Aber Ägypten klingt so faszinierend.“ Kat lehnte sich zurück. „Ich habe immer schon vom Alten Ägypten geträumt!“ Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf dem Stuhl auf. „David Turnberry will doch diese Saison auch nach Ägypten, nicht wahr?“
„Ja, da wollen viele hin, wie ich schon sagte. Wissen Sie, im Herbst beginnt die eigentliche Saison für die Archäologen. Der Sommer ist dort viel zu heiß! Wenn der Herbst in den Winter übergeht, ja, dann setzen sie alle die Segel und reisen zu den Geheimnissen der Vergangenheit. Und zwar schon nächste Woche!“
Eine Woche! dachte Kat. Eine Woche. Noch eine Woche in diesem Land, und dann …
David Turnberry würde nach Ägypten reisen. Und bei seiner Rückkehr würde er heiraten?
Kat seufzte leise. Nur weil er unmittelbar nach der Rettungsaktion zu ihr aufgeschaut und „Ich liebe dich“ gesagt hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass es ihr noch einmal gelingen würde, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Das war vollkommen abwegig. Er war im Begriff sich zu verloben, um später den Bund fürs Leben zu schließen. Mit einem sehr eleganten weiblichen Geschöpf seines Standes.
Aber er kann doch unmöglich seine zukünftige Verlobte lieben! Nicht, wenn er diese Worte zu mir gesagt hat!
Aber sie war geflüchtet, überwältigt von Angst. Aber jetzt hatte Hunter MacDonald ihr in Aussicht gestellt, sie mit David Turnberry bekannt zu machen. Man würde sich formvollendet einander vorstellen.
„Also dann, mein Kind, steigen Sie aus dem Zuber“, sagte Emma. „Ich habe auch schon sehr schöne Kleider für Sie herausgesucht. Lady Francesca, Sir Hunters Schwester und die Gemahlin von Lord Hathaway, hat eine komplette Garderobe hier, müssen Sie wissen. Sie wird erfreut sein, wenn sie erfährt, dass sie einem armen Mädchen aushelfen konnte, das aus dem Fluss gezogen wurde. Zumal Sie Ihr Leben riskiert haben, um jemanden zu retten!“
Mit einem Mal war Kat ganz unbehaglich zumute angesichts dieser lobenden Worte. Sie fragte sich, ob sie auch dann in den Fluss gesprungen wäre, wenn ein anderer Hilfe gebraucht hätte. Dieser Gedanke beunruhigte sie, und so bemerkte sie nicht gleich, dass Emma ihr eine seidene Unterhose hinhielt und ihr dann ein Kleid von schlichter Eleganz über den Kopf streifte. Als Kat nach unten schaute, sah sie die feine Spitze des Mieders.
„Meine Liebe, wenn Sie sich auch nach dieser Nacht an nichts erinnern können, müssen wir etwas unternehmen“, sagte Emma unvermittelt. „Gewiss wartet irgendwo ein netter junger Mann auf Sie und macht sich schreckliche Sorgen. Einen Ring tragen Sie allerdings nicht am Finger, wie ich sehe.“
Kat hatte das Gefühl, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. Nein, da gab es keinen netten jungen Mann, der voller Unruhe auf sie wartete. Aber ihr Vater machte sich gewiss Sorgen. Ebenso ihre Schwester und so viele ihrer Freunde.
Wie weit weg von ihrem Zuhause war sie wohl? Wie sollte sie wieder zurückkommen? Wenn sie sich zu Fuß auf den Weg machte …
Sie senkte den Kopf, nagte an ihrer Unterlippe. Ein Mann wie Hunter MacDonald hatte doch bestimmt irgendwo ein bisschen Geld herumliegen. Nein, stehlen wollte sie nichts! Sie würde dafür sorgen, dass er das Geld zurückbekam. Die öffentlichen Verkehrsmittel funktionierten inzwischen ausgezeichnet, und Kat kannte sich als Tochter eines armen Mannes in London aus.
„Ja, in der Tat“, brachte sie schließlich ernst hervor. „Ich denke, morgen wird es mir schon viel besser gehen. Bestimmt kommen all die Erinnerungen zurück, wenn ich morgen früh die Augen aufschlage“, log sie. Dann gähnte sie. „Vergeben Sie mir, aber ich bin sehr erschöpft.“ Sie hob die Hände in einer hilflosen Geste und ließ sie wieder sinken. Da hörte sie ein leises Klimpern aus den Falten des Kleides. Geschickt strich sie mit einer Hand über die Taschen. Mit einem Mal war sie sehr erleichtert. Sie ertastete Münzen!
„Und nach einem solchen Tag dürfen Sie auch erschöpft sein, meine Gute! Aber setzen Sie sich jetzt ruhig noch ein wenig ans Feuer, während ich Ihr Haar kämme. Gleich können Sie sich oben in Ruhe ausschlafen.“
Kat konnte kaum stillhalten, als die freundliche Frau begann, ihr die Haare vorm Kamin zu trocknen und die kleinen Knoten aus den langen Strähnen zu bürsten. Als Emma die Bürste zur Seite legte, fühlten sich Kats Haare weich wie Seide an, viel weicher als je zuvor. Doch Kat hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie längst mit ihren Gedanken bei ihrer Flucht war. In ihrer Aufregung musste sie sich regelrecht zwingen, sich bei der Haushälterin für die Hilfe zu bedanken.
Dieses Schuldgefühl war auch der Grund dafür, dass Kat die schlichte Eleganz des Hauses nicht recht zu würdigen vermochte. Sie wünschte, sie hätte mehr Zeit gehabt, all die kleinen Kunstgegenstände näher zu betrachten, die nicht nur viel von Hunter MacDonalds Geschmack, sondern vor allem von seiner Vorliebe verrieten: die antiken Artefakte auf den Treppenspindeln, die Hieroglyphen an den Wänden. Kats Blick fiel auf die feinen Ölgemälde, die englische Landschaften und Schauplätze des Alten Ägypten zeigten. Auf einem Bild war die Sphinx im Sonnenuntergang zu sehen, und diesen Anblick fand Kat so atemberaubend, dass sie ins Stolpern geriet.
„Ich kann Ihnen noch mehr vom Haus zeigen, meine Liebe“, bot Emma ihr an.
„Danke, aber vielleicht später. Ich brauche jetzt einfach ein paar Stunden Schlaf.“
„Aber natürlich!“
Die Haushälterin geleitete sie über die große Treppe hinauf in ein hergerichtetes Gästezimmer. Wie es schien, war dieser Raum weiblichen Gästen vorbehalten, denn die Möbel waren aus hellem Holz, und der Baldachin sowie die Tagesdecke des Himmelbetts wiesen eine freundliche blau-weiße Musterung auf, die von den Farbschattierungen des orientalischen Teppichs noch unterstrichen wurde.
„Ruhen Sie sich gut aus, meine Liebe. Ich sorge dafür, dass Sie nicht gestört werden“, versprach Emma.
„Haben Sie vielen Dank!“
Die Tür fiel ins Schloss. Kat trat ans Bett, legte sich auf die Decke und blieb eine Weile so liegen.
Dann stand sie auf. Leise ging sie zur Tür und entdeckte dabei die Münzen auf der Frisierkommode. Ohne groß darüber nachzudenken, steckte sie das Geld zu den anderen Münzen in die Tasche, ehe sie in dem schön gearbeiteten orientalischen Nachttischchen nach Papier und Feder suchte.
Das Kleid und das Geld bringe ich zurück
schrieb sie. Doch die Worte wirkten kalt und unfreundlich. Sie zögerte und fügte dann hinzu:
Haben Sie vielen herzlichen Dank für alles.
Nein, auch das reichte noch nicht. Aber die Zeit lief ihr allmählich davon. Daher zeichnete sie sich selbst in Gestalt der Sphinx und verschönerte ihr Gesicht mit einem Lächeln. Ganz nach Art der Karikaturisten zeichnete sie eine kleine Sprechblase neben die Lippen der Sphinx, in die sie schrieb:
Ich danke Ihnen von Herzen!
Das genügte. Sie musste fort von hier und zurück nach Hause. Dann würde sie hierher zurückkehren, ehe jemand etwas bemerkte, und wäre bereit, David Turnberry zu gestatten, sich bei ihr zu bedanken.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und schlich in den Korridor. Dort verharrte sie einen Moment und lauschte in die Stille. Vom Foyer drang das Ticken der alten Standuhr herauf, sonst war kein Laut zu hören.
Kat stahl sich die Stufen nach unten bis in die Eingangshalle. Wie sich herausstellte, war die Haustür nicht abgeschlossen. Noch nicht. Was sollte sie tun, wenn sie später zurückkehrte?
Nun, darüber würde sie sich bei ihrer Rückkehr Gedanken machen. Im Augenblick jedenfalls musste sie zu ihrem Vater und ihrer Schwester.
Ob sie überhaupt in der Lage wäre, das Kleid und das Geld zurückzubringen?
Draußen, an der ersten Hausecke, blieb sie stehen und atmete durch.
Es war nicht schwer gewesen, sich aus dem Haus zu schleichen.
Die Frage war nur, ob es ihr auch gelingen würde, wieder in das Haus zu gelangen.
„Der Vogel ist ausgeflogen!“, stellte Hunter fest.
Er saß auf Alexander, seinem Pferd, verborgen hinter einigen Bäumen, die seitlich des Stadthauses in dem kleinen Garten standen. Ethan hatte sein Pferd Anthony gesattelt und schaute in die Richtung, in die Hunter wies. Eine steile Falte zeichnete sich zwischen Ethans Brauen ab.
„Wir reiten ihr nach“, sagte Hunter schließlich.
Offenbar wusste die junge Frau sehr genau, wohin sie ging. Denn zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg durch die Straßen unweit des Hyde Parks und suchte eine Haltestelle für Omnibusse.
Sieh an, sie steigt ein.
Es fiel den beiden Reitern nicht schwer, hinter dem Bus zu bleiben, der von kräftigen Kaltblütern gezogen wurde. In den Straßen herrschte geschäftiges Treiben, und da die Fußgänger oft nicht nach rechts oder links schauten, kam man zu Pferd nur langsam voran.
Kurze Zeit später stieg die Rothaarige in einen anderen Bus, der in Richtung Themse fuhr, wie Hunter vermutet hatte. Allerdings wurde es von da an ein wenig schwieriger für die Männer, unbemerkt hinter dem öffentlichen Verkehrsmittel zu bleiben. Darum stieg Hunter ab, reichte Ethan die Zügel und bat ihn, mit den Pferden auf ihn zu warten.
„Ich weiß weder, was Sie planen noch was das Mädchen vorhat, Sir!“, grummelte Ethan.
Hunter lachte. „Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, was ich tue!“
Schon eilte er los, denn seitdem die junge Frau den Bus verlassen hatte, ging sie schnellen Schrittes durch die Straßen, vorbei an dicht gedrängt stehenden Häusern. Die Menschen tummelten sich auf Gehwegen oder in den Gassen. Derweil machte Hunter sich ein Bild von dem Stadtviertel.
Dies hier war gewiss nicht das Armenviertel Londons, sondern eher der Bereich im alten Herzen Londons, in dem noch Häuser des späten siebzehnten Jahrhunderts standen: schlichte Gebäude, die unmittelbar nach dem großen Stadtbrand von 1666 erbaut worden waren. Die meisten Bewohner waren hart arbeitende Händler, aber das Viertel lockte auch Studenten, Musiker und Künstler aller Art an. Die Straßen waren nicht so breit wie in anderen Stadtteilen, dafür aber sauber.
„Mensch, ich werd verrückt!“, rief eine alte Frau, die vor ihrem Haus fegte. „Das ist doch Kat!“
„Pst, Mrs Mahoney, bitte!“, sagte das Mädchen und eilte an der Frau vorbei. „Ist Papa zu Hause?“
„Der macht sich Sorgen, das sag ich dir! Die Polizei sucht schon nach dir, Kind! Dein Vater kennt da ja ein paar Leute. Es hieß, du wärst aus dem Wasser gerettet worden, aber … nun, keiner weiß, wer dich herausgefischt hat und wohin du dann gebracht wurdest!“
„Oh nein!“, rief die junge Frau.
„Und was hast du da überhaupt an?“, wollte die Alte wissen.
„Ich muss unbedingt mit Papa sprechen“, sagte Kat, ließ die Frau stehen und hielt auf ein kleines Haus zu, dessen Fassade gestrichen war und fein herausgearbeitetes Schnitzwerk aufwies. Der Stil erinnerte Hunter an die Gebäude aus der Zeit der flämischen Weber.
Da er nicht darauf erpicht war, sich von der alten Frau in ein Gespräch verwickeln zu lassen, schlüpfte er in eine schmale Seitengasse, die offenbar zu einem Hinterhof führte. Langsam schritt er die Gasse ab. Er brauchte nicht weit zu gehen.
Durch ein offenes Fenster, an dem die Vorhänge aufgezogen waren, konnte Hunter mühelos beobachten, was im Haus vorging. Dort stand sie, die junge Rothaarige, die die alte Frau mit Kat angesprochen hatte, in den Armen eines hochgewachsenen Mannes mit Schnurrbart. Eine andere junge Frau, ebenfalls rothaarig – wenn auch ein wenig heller im Ton –, stand neben den beiden. Dann umarmte auch sie Kat, ehe sie einen Schritt zurücktrat, während der ältere würdevolle Mann Kat erneut in die Arme schloss.
Nach der herzlichen Begrüßung verlangte die andere Frau – ihre Schwester? – von Kat zu wissen: „Katherine Mary! Was, um Himmels willen, hast du da an? Du meine Güte! Woher hast du so ein elegantes Kleid?“
„Ich werde euch alles erklären“, versprach Kat.
„Das will ich doch hoffen!“, erwiderte der Mann ein wenig schroff. „Ich bin halb verrückt vor Angst und Sorge. Eliza hat mir erzählt, dass du meintest, diese irrsinnige Rettungsaktion durchziehen zu müssen. Und mir blieb nichts anderes übrig, als mir immer wieder einzureden, dass du zurückkommen würdest … Dass du nicht irgendwo dort unten am Grund der Themse liegst! Im Augenblick sucht die Polizei nach dir, junge Frau. Eliza, schick Maggie los. Sie soll den Polizisten sagen, dass mein Kind wieder da ist. Wir brauchen den Fluss nicht nach ihr abzusuchen!“
Der Mann war wirklich aufgebracht und gleichzeitig sehr erleichtert. Hunter bekam ein schlechtes Gewissen und vermutete, dass es dem Mädchen nicht viel anders erging. Jedenfalls wirkte es entsetzt, ganz so, als habe sie bis eben nicht erkannt, wie viel Sorgen und Ängste ihre Familie ausgestanden hatte.
Eliza eilte aus dem Raum, um dieser Maggie – einer Bediensteten, wie Hunter vermutete – Bescheid zu sagen. Andererseits, können diese Leute sich Hausangestellte leisten? ging es ihm weiter durch den Kopf. Im nächsten Augenblick kam Eliza jedoch wieder herein, da sie offenbar kein Wort verpassen wollte.
„Papa“, sagte Kat und wollte ihren Vater beschwichtigen. „Armer Papa, es tut mir so leid. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so turbulent würde. Warum hast du denn gleich die Polizei nach mir suchen lassen? Du weißt doch, dass ich besser schwimmen kann als ein Fisch.“
„Ja, das weiß ich ja auch“, antwortete ihr Vater nicht ohne Stolz. „Aber du bist einem dieser Burschen von der Universität hinterhergesprungen und warst nicht mehr zu sehen! Was soll ich nur mit dir machen! Oh, wäre doch deine liebe Mutter noch am Leben!“
„Kat, woher hast du das Kleid?“, wollte ihre Schwester erneut wissen.
„Das habe ich mir geliehen … Papa, bitte, alles wird gut. Weißt du, mir half ein anderer Gentleman, nachdem ich den jungen Mann gerettet hatte. Ich war an einem sicheren Ort und wurde äußerst freundlich behandelt, das schwöre ich euch! Bald soll ich David Turnberry treffen, denn er war derjenige, der in den Fluss stürzte. Er wird sich bald mit Lord Averys Tochter verloben, und ich muss …“
„Lord Avery!“, rief Eliza. Sie suchte den Blick ihres Vaters. „Papa, sie wird eine Belohnung bekommen. Eine hohe Belohnung!“
„Ich brauche keine Belohnung“, wiegelte Kat ab.
„Nun, ich hätte gern eine!“, stellte Eliza klar. „Wir knausern und sparen und hoffen, mal etwas anderes auf dem Tisch zu haben als nur immer Fisch.“
„Eliza!“, entfuhr es ihrem Vater traurig. Er schüttelte den Kopf.
Eliza entschuldigte sich rasch. „Papa, du machst doch alles für uns. Bitte, es tut mir leid, wenn ich mich beklagt habe. Aber Kat! Dieses Kleid! Es ist herrlich – wo hast du es her? Oh mein Gott! Ich bräuchte auch etwas zum Anziehen. Ich muss mit dir kommen und dann …“
„Nein“, sagte der Mann mit Nachdruck. „Keiner geht irgendwohin.“
„Aber wir müssen das doch zumindest in Betracht ziehen“, flehte Eliza.
„Katherine Mary, du bist mein Kind. Meine Tochter. Und du treibst dich nicht einfach so mit Männern herum, ob sie nun arm sind wie Bettler oder reich wie Midas. Nicht ohne angemessene Begleitung. Nicht ohne mich, hast du verstanden?“, schimpfte er.
„Oh, Papa, bitte! Ich muss allein zu Lord Avery. Ich schwöre dir, mir passiert nichts. Es gibt dort eine wundervolle Frau namens Emma Johnson. Sie war wie ein Schutzengel für mich.“
„Du warst in dem stattlichen Haus einer Dame?“, forschte ihr Vater nach. „Warum haben dich diese Leute dann nicht nach Hause begleitet?“
„Papa, vergib mir, aber ich habe so getan, als hätte ich mein Gedächtnis verloren. Ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin.“
Der Mann ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. „Du schämst dich wegen deiner Herkunft“, sagte er leise.
„Oh, Papa, das stimmt doch nicht! Das würde ich nie sagen!“, rief sie.
Traurig schaute er zu ihr auf. „Wir sind nicht angewiesen auf Wohltaten anderer Leute. Ich arbeite hart, wir arbeiten hart. Und wir haben unser Auskommen, auch wenn es bescheiden ist. Aber ich bin ein ehrlicher Mann und gehe einem ehrlichen Tagewerk nach. Du wirst keine Belohnung annehmen.“
„Papa!“, protestierte Eliza. „Papa, wirklich, du bist ein großartiger Künstler! Aber du arbeitest immer zu schnell für Leute, die große Versprechungen machen und letzten Endes nicht zahlen.“
„Sie sind meine interessantesten Kunden“, murmelte ihr Vater vor sich hin.
„Und wenn du dann mal einen Auftrag von einem reichen Mann annimmst, weigerst du dich, die Summe zu verlangen, die dein Bild tatsächlich wert ist! Ich möchte behaupten, dass manch ein Wohlhabender dir noch Geld schuldet. Und würde der wahre Wert deiner Dienste je bekannt, Papa, dann würdest du in den Ritterstand erhoben! Und deshalb sage ich: Hier geht es nicht um Wohltätigkeit oder milde Gaben, sondern um Geld, das dir zusteht, und um Anerkennung“, schloss Eliza.
Wieder schüttelte er nur den Kopf. „Das Leben eines Menschen kann man ohnehin nicht mit Geld bezahlen. Kat wird keine Belohnung annehmen.“
Eliza wandte sich ab und seufzte verzweifelt.
Kat ging vor ihrem Vater in die Hocke und legte ihm ihre Hände auf die Knie. „Papa, ich werde keine Belohnung annehmen. Aber darf ich nicht wenigstens zurück zu Mrs Johnson, um diese Leute kennenzulernen? Ich schwöre dir, ich werde die Belohnung ablehnen. Aber ich würde gern … wirklich liebend gern … nur dies eine Mal diese Leute kennenlernen, damit sie sich bei mir bedanken können. Oh bitte, Papa!“
„Die Welt da draußen ist hart und unerbittlich, Mädchen! Wir haben vielleicht kein Geld, aber wir haben unseren Stolz. Und du hast gewiss keine große Mitgift, aber denk dran, du hast deine Tugendhaftigkeit.“
„Meine Tugendhaftigkeit steht doch gar nicht auf dem Spiel, Papa“, gelobte Kat. Sie wirkte nicht beleidigt und schien ihr Versprechen ernst zu meinen.
„Ich lasse dich nur ungern aus den Augen!“, bekannte ihr Vater.
„Sie ist verl…“, setzte Eliza an, aber Kat erhob sich blitzschnell und wirbelte auf dem Absatz herum.
„Vielleicht erlaubt Papa mir ja, das Kleid zu behalten, weil es ein abgelegtes Kleid ist. Und vielleicht bekommst du es dann!“, sagte sie, und in ihrem Blick lag ein Flehen, aber auch eine Warnung.
„Was für ein Vater wäre ich, wenn ich dich einfach so gehen ließe?“
„Vielleicht ein liebevoller Vater, der seiner Tochter vertraut?“, antwortete Kat.
„Nein!“
„Oh, Papa, bitte! Es ist doch nur ein Traum, ein törichter Traum, endlich Gelegenheit zu haben, den Dank anderer Menschen entgegennehmen zu können. Und ich kenne mich in den Straßen aus. Ich weiß, wie die Leute sind, ob arm oder reich. Du hast uns alles beigebracht. Du hast hart dafür gearbeitet, dass Eliza und ich eine gute Schulbildung bekamen. Du hast uns gelehrt, was Recht und Unrecht ist. Bitte, Papa, vertrau mir!“ Mit der letzten Bitte schien sie sein Herz zu rühren, denn er stand auf und nahm ihre Hände in seine.
„Ich vertraue dir ja auch. Aber es tut mir wirklich leid, dass du vielleicht nicht den Moment des Ruhms auskosten kannst. Ich bin ein armer Mann, aber ich veräußere weder meinen Stolz noch meine Verantwortung.“
„Aber Papa …!“
„Du kannst mich hassen, Kind, gegen mich aufbegehren. Aber ich lasse dich nicht gehen.“
„Papa, wie sollte ich dich je hassen?“ Sie schmiegte sich wieder in seine Umarmung, fühlte sich zwar geliebt, wirkte aber bestürzt.
Hunter konnte Kats Gesicht sehen, als sie ihren Vater umarmte. Sie liebte ihn wirklich, aber sie war auch hartnäckig. Unbesonnen und waghalsig. Und sie schmiedete schon wieder Pläne. Sie merkte, dass sie so nicht weiterkam. Aber sie würde einen Weg finden, dessen war er sicher.
Was wird sie also tun? fragte Hunter sich. Er merkte, dass er beim Lauschen vor Anspannung den Atem angehalten hatte. Jetzt atmete er ruhig aus und überlegte.
Ob diese kleine durchtriebene Rothaarige wusste, dass sie bereits sehr viel mehr besaß als Geld, einen Titel oder die Hälfte jener törichten Dinge, die die Mitglieder der sogenannten Elite als wichtig erachteten?
Ihr Vater wandte sich ab. „Aber das Kleid, Mädchen, das musst du zurückbringen. Von wem hast du es?“
„Von Lady Francesca Hathaway“, sagte Kat unglücklich.
„Aber sie lebt doch gar nicht in London!“, rief ihr Vater.
„Das Stadthaus ihres Bruders ist nicht weit entfernt.“
Eliza gab einen Laut des Erstaunens von sich. „Du warst im Stadthaus von Sir Hunter MacDonald?“
„Ausgerechnet Hunter MacDonald!“, rief ihr Vater zornig.
Hunter zuckte zusammen. Offenbar kannte man ihn hier.
„Papa!“, sagte Eliza, überrascht von der Reaktion ihres Vaters. „Der Mann ist ein Günstling der Königin!“
„Ja, nur weil dieser Mann bekannt ist für seine Abenteuer in fremden Ländern und stets jede Auseinandersetzung sucht. Ich möchte behaupten, die Königin genießt die Geschichten seiner Eskapaden – und die Schmeicheleien, mit denen er sie zweifelsfrei überhäuft.“
„Aber es heißt immer, er sei ein brillanter Kopf!“, wandte Eliza aufgeregt ein. „Und bezaubernd soll er sein. Schenkt man den Gerüchten Glauben, so hatte er Affären mit den Damen der Oberschicht.“
Sowohl ihre Schwester als auch ihr Vater sahen Eliza entsetzt an.
„Nein, ihr versteht das falsch“, versuchte Eliza sich zu verteidigen. „Er hat den Ruf der Damen nicht befleckt, er hat bloß … du meine Güte, wie sage ich das anständig? Nun, er hat nur die Spiele mitgespielt, die alle spielten.“
Draußen am Fenster schüttelte Hunter den Kopf. Die Sache wurde immer schlimmer. Obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er sagen sollte, beschloss er, dass es Zeit sei, an die Tür zu klopfen.
Er war gerade im Begriff, zur Haustür zu gehen, als er Kats Stimme hörte.
„Sir Hunter ist ganz anders, das versichere ich dir, Vater. Ich verspreche dir, du brauchst dir keine Sorgen um meine Tugendhaftigkeit zu machen, wenn es um ihn geht. Aber … über ihn hätte ich Lord Avery kennenlernen können, Vater.“
„Und ihren wundervollen David!“, murmelte Eliza.
„Was?“, hakte ihr Vater stirnrunzelnd nach.
„Oh, ich wollte nur sagen, dass sie wahrscheinlich ein herrliches Dinner hätte erleben können“, antwortete Eliza. „Weißt du, Papa, sie wäre in den höchsten Kreisen verkehrt!“
„Das ergibt doch alles keinen Sinn“, sagte der ältere Mann leise. „Überhaupt keinen Sinn. Und glaube mir, du wirst diese Absage akzeptieren, ehe du einen größeren Fehler machst. Hast du verstanden, Katherine Mary?“
Kat senkte den Blick. „Ich beuge mich deiner Weisheit, Papa“, erwiderte sie. Dann begann sie zu gähnen. „Papa, ich bin müde, ich gehe zu Bett.“
„Das wäre das Beste, mein Mädchen“, sagte er freundlich. „Und morgen bringen wir das Kleid zurück.“
„Ja, morgen“, stimmte sie zu.
Sie strebte bereits der engen Stiege zu. Doch sie drehte sich noch einmal um. „Ich liebe dich, Papa“, sagte sie.
„Und ich dich.“
Kat lächelte, zögerte einen Moment und stieg dann die Stufen hinauf.
Derweil lehnte Hunter sich draußen vor dem Fenster nachdenklich an die Wand. Als er einen neuerlichen Blick ins Haus warf, zeichneten sich Falten auf seiner Stirn ab. Er stellte nämlich fest, dass er den Vater des Mädchens kannte. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, und ein Lächeln stahl sich in seine Züge.
Endlich verließ er sein Versteck am offenen Fenster und schlenderte durch die Gasse zurück zur Straße, wusste er doch, dass er sich nicht zu beeilen brauchte.
Denn Kat, das war ihm klar, würde alsbald wieder unterwegs sein.