Leseprobe Das Herz der Toskana

Kapitel 1

Eliza

„Entschuldigen Sie, sind Sie Miss Itterford?“ Eine junge Frau in einem Traum aus nachtblauer Seide steuerte auf Eliza zu und lächelte. „Dorothy erzählte mir gerade, dass wir Ihnen dieses“, sie breitete ihre Arme aus und scherte sich nicht darum, dass Champagner über den Rand ihres Glases schwappte, „atemberaubende Spektakel zu verdanken haben. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen!“

Eliza verneigte sich leicht und intensivierte ihr professionelles Lächeln. „Die Freude ist ganz meinerseits.“ Sie legte den Kopf schief, strich sich eine Strähne ihres langen blonden Haares hinter ein Ohr und studierte die Gesichtszüge der jungen Frau. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die jüngste Cousine von Dorothy sind? Nein, sagen Sie nichts!“ Eliza ließ ein paar Sekunden vergehen, in denen ihr Gegenüber sie voller Erstaunen ansah. „Amber, richtig?“

Ein Ausruf fast kindlicher Begeisterung bestätigte ihre Ahnung, die eigentlich keine war. Eliza war die Namen und Fotos von Familie und Freunden unzählige Male mit Dorothy durchgegangen, während sie den Erzählungen lustiger Anekdoten und kleiner Skandale gelauscht hatte. Dass sich alle wohlfühlten und kein Streit ausbrach, etwa weil der eine nicht neben dem anderen sitzen wollte oder irgendwelche Missverständnisse in der Luft lagen, gehörte genauso zum Aufgabenbereich einer Hochzeitsplanerin wie das Buchen der gewünschten Location und das Schaffen eines Ambiente, das dem Brautpaar zusagte. Es war schließlich ihr großer Tag.

„Ich fasse es nicht! Wie konnten Sie das wissen?“ Amber bedeutete dem nahenden Kellner, sein Tempo zu verringern. „Lassen Sie uns anstoßen, Miss Itterford!“, flötete sie und erleichterte das Tablett der Servicekraft um zwei Gläser.

„Bitte, nennen Sie mich doch Eliza!“, entgegnete Eliza und nahm zögernd die Champagnertulpe entgegen. Sie wollte eigentlich nichts trinken, aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich womöglich auf dem besten Wege befand, neue Kundschaft zu akquirieren – Amber war liiert, aber bislang unverheiratet –, unterdrückte sie das mulmige Gefühl, das sich seit einigen Minuten in ihrem Magen ausbreitete.

„Es war eine besondere Zeremonie. Die sprechenden Papageien, der Drehorgelspieler, die riesigen Luftballons … Alles war perfekt!“ Ambers Augen sprühten Funken des Entzückens.

Eliza hob das Kinn und ließ ihren Blick durch den Festsaal schweifen. Unter Kristalllüstern in überdimensionaler Größe waren runde Tische angeordnet, an denen dunkelrot behusste Sessel Platz für acht Personen boten. Während etwa die Hälfte der über zweihundert Gäste noch an den Tischen verweilte, etwas zu Essen vor sich stehen hatte, ein Wein- oder Champagnerglas in der Hand balancierte und in angeregte Gespräche vertieft war, erkundete der Rest das Unterhaltungsprogramm, das außergewöhnliche Inhalte bereithielt: Auf Emporen und kleinen Bühnen, die ringsum aufgebaut waren, begeisterten Artisten, Tänzer und Kunstdarstellende das Publikum. Wellen des Beifalls erhoben sich über das sanfte Stimmengemurmel, Kundgebungen schierer Faszination ließen die Blicke des Publikums von einer Attraktion zur nächsten zucken. Rhythmische Musik, die praktisch jede Aufführung untermalte, als wäre sie genau zu diesem Zweck ausgesucht worden, erfüllte den kompletten Saal, und über allem schwebte der Duft nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln.

Eliza nickte. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie nach außen den Eindruck von Zufriedenheit und Entspannung vermittelte, in Wahrheit jedoch überprüfte sie jede Bewegung der Bedienungen. Sie verfolgte die performenden Künstler mit ihrem prüfenden Blick und inspizierte Gestik und Mimik sämtlicher Anwesenden. Es war von enormer Bedeutung, alle Abläufe im Auge zu behalten und selbst dem unscheinbarsten Ausdruck von Unwohlsein oder Kritik sofort entgegenzuwirken. Eliza war in ihrem Metier für nicht weniger als absolute Perfektion bekannt.

Sie stellte ihr Glas auf den Stehtisch und schob es ein paar Zentimeter von sich. Der Champagner schwappte in ihrem leeren Magen hin und her und sorgte für aufkommende Übelkeit, aber Eliza bemühte sich darum, ihr Unwohlsein zu unterdrücken. Sie meinte wie nebenbei: „Dorothys Wunsch war ein Fest, das den Rahmen des Durchschnitts sprengt. Sie wollte es pompös. Überwältigend.“ Eigentlich war es sogar mehr als das. Es herrschte eine Jahrmarktatmosphäre der Superlative.

„Oh, und Sie haben ihren Geschmack genau getroffen! Ach, was sage ich? Es gibt niemanden an diesem herrlichen Abend, der nicht von alldem angetan ist“, bestätigte Amber. „Die Leute überschlagen sich regelrecht.“ Ihre freie Hand legte sich auf Elizas nackten Unterarm, lenkte sie fort von den Stehtischen und führte sie entlang der beleuchteten, zum Teil erhöhten Spots, vor denen sich Gäste versammelt hatten, die nahezu schwärmerisch ihr Entzücken ausdrückten. „Ich bin selten so gut unterhalten worden – und erst recht nicht auf einer Hochzeitsfeier“, rief Amber aus und klatschte in die Hände. „Was Sie hier auf die Beine gestellt haben, Eliza, grenzt an Genialität. Sehen Sie nur: Dieses kleine altmodische Karussell, auf dem sich die Kinder vergnügen. Phänomenal! Wie schaffen Sie es nur, für jedes Ersuchen Ihrer Auftraggeber die passenden Kontakte aus dem Hut zu zaubern? Ihr Netzwerk muss riesig sein, ihr Know-how nicht von dieser Welt!“

Amber hatte recht. Eliza Itterford hatte sich innerhalb weniger Jahre von der mittelmäßig erfolgreichen Eventmanagerin zur selbstständigen und heiß begehrten Hochzeitsplanerin hochgearbeitet. Sie liebte ihren Job und wollte ihn gegen nichts in der Welt eintauschen. Ihren Kunden jeden Wunsch von den Augen abzulesen und alles möglich zu machen, erfüllte sie mit größter Zufriedenheit. Viele der von ihr geplanten Hochzeiten wurden von der Presse begleitet, Lob und Anerkennung waren ihr gewiss, wo sie auch auftauchte.

„Es freut mich, dass es Ihnen so gut gefällt, Amber!“ Mit einer kaum sichtbaren Handbewegung machte Eliza eine Angestellte des Caterings darauf aufmerksam, dass jemandem ein Malheur mit seinem voll beladenen Teller passiert war. Sofort huschte die Frau zwischen die Tische und machte sich daran, den Boden zu säubern.

„Wissen Sie“, flüsterte Amber, kicherte und lehnte sich zu Eliza, als wären sie zwei Freundinnen, die über ein Geheimnis beratschlagten. „Fred und ich sind seit gut zwei Jahren ein Paar, und ich habe das Gefühl, er wird mir demnächst einen Antrag machen.“ Sie trat einen großen Schritt nach vorn, stellte sich Eliza in den Weg und ergriff ihre Hände. „Und wenn es so weit ist, möchte ich Ihnen die Konzeption und Organisation der Trauung übergeben.“

Eliza wollte die Berührung zuerst abschütteln, weil sie sie als unpassend empfand und ihr bewusst war, dass die freudige Hitze, die Ambers Körper ausstrahlte, mit der unangenehmen Kälte kollidierte, die ihre eigene Haut überzog. Dennoch entschied sie sich gegen den Rückzug. Der Kunde war König, auch der potenzielle. „Darüber freue ich mich natürlich sehr, Amber. Und ich bin gespannt auf Ihre Vorstellungen. Wollen wir so verbleiben, dass Sie mir eine Nachricht zukommen lassen, sobald es“, sie räusperte sich verheißungsvoll, „akut wird?“ Eliza öffnete ihre Clutch aus schwarzem Leder, zog eine ihrer glänzenden Visitenkarten hervor und reichte sie Amber.

„Ich kann es gar nicht erwarten!“, piepste diese, betrachtete die Informationen auf der Karte und lächelte versonnen. „Am liebsten würde ich unter offenem Himmel feiern. In irgendeinem alten Gemäuer, so richtig urig. Was innerhalb Londons schwierig werden dürfte, ich weiß. Doch wie ich hörte, pflegen Sie weitreichende Kontakte, korrekt?“

„So ist es!“ Eliza zwinkerte Amber zu, während sie innerlich gegen ein schmerzhaftes Ziehen hinter ihrem Brustbein ankämpfte. Verstohlen warf sie einen Blick auf die Smartwatch an ihrem Handgelenk. Es war ein hübsches Exemplar, bei dem kaum auffiel, dass es sich um einen Tracker für Fitness- und Vitalwerte handelte. Doktor Germic hatte ihr vor einem halben Jahr dazu geraten, ihrem Blutdruck mehr Aufmerksamkeit zu schenken. „Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen würden, Amber.“ Es half nichts mehr! Eliza konnte weder die Hitze, die ihr über das Dekolleté kroch, noch das unangenehme Kribbeln, das damit einherging, länger ignorieren. Ihr Blutdruck lag jetzt bei 160/100, die winzigen Ziffern auf dem Display ihrer Uhr leuchteten in einem alarmierenden Rot.

„Geht es Ihnen gut, Eliza? Soll ich …?“ Amber runzelte die Stirn und sah sich Hilfe suchend um.

„Nein, es ist alles in Ordnung.“ Eliza brachte ein Lächeln zustande, beeilte sich aber, Amber den Rücken zuzukehren. Das Letzte, was sie brauchte, war negative Publicity. Welchen Eindruck würde es machen, wenn die Hochzeitsplanerin schwächelte? Ihr Ruf, Höchstleistungen zu erbringen und dabei glänzend auszusehen, eilte ihr voraus und gehörte nicht aufs Spiel gesetzt. „Ich bin gleich wieder bei Ihnen!“ Sie legte eine Hand auf ihre Brust, spürte das unerbittliche Pochen darin und bog in einen Gang ab, der zu den Waschräumen führte. Wenn sie sich einen Moment in der Zurückgezogenheit einer Toilettenkabine sammelte, ein paar Atemübungen durchführte, die ihr Yogacoach ihr beigebracht hatte, und ein Aspirin gegen die höllischen Kopfschmerzen einwarf, würde sie sich in Windeseile wieder um die Party kümmern können. Und um Amber.

Im Vorbeistolpern entdeckte sie eine umgestürzte Vase auf einem Beistelltisch. Gedanklich notierte Eliza, gleich die Mitarbeiterin des Blumenlieferanten darauf anzusetzen, die in der Vorhalle damit beschäftigt war, kleine Abschiedsarrangements aus leuchtenden Gerbera für die Damen der Gesellschaft zu binden. Es konnte ja nicht angehen, dass …

Eliza klopfte sich kräftig aufs Dekolleté, weil ihr Herz ein paar Extraschläge getan hatte und aus dem Rhythmus geraten war. Manchmal half das. Heute jedoch nicht. Endlich erreichte sie die Toilette, stieß die Tür energisch mit dem Ellbogen auf und verschwand sofort in einer der Kabinen. In Windeseile klappte sie Deckel und Sitzbrille nach oben und beugte sich leicht über die Schüssel. Der Geruch eines WC-Duftsteins stieg ihr in die Nase und bewirkte, dass sich ihr Magen augenblicklich umstülpen wollte. Ein erstes Würgen entstieg ihrer Kehle. Hoffentlich war sie allein. Hoffentlich würde niemand mitbekommen, wenn sie sich übergab. Hoffentlich würde sie ihr Kleid dabei nicht bespritzen. Sie würgte ein weiteres Mal, stemmte beide Hände gegen die Trennwand und krümmte ihren Oberkörper. Tief inhalierte sie das Aroma von Meeresbrise und Urinstein. Nur Sekunden später platschten einige Glas Mineralwasser, eine kleine Menge Champagner und ein Stück Brot in die Kloschüssel. Elizas Pulsschlag verlangsamte sich, ihr Blutdruck aber schien noch unbeeindruckt. Trotzdem atmete sie auf, rollte Toilettenpapier ab und wischte sich die Lippen trocken. Vielleicht hatte sie sich den Magen verdorben. Doch wodurch? Ihre letzte richtige Mahlzeit hatte sie vor Stunden zu sich genommen, genauer gesagt irgendwann am frühen Vormittag. Eventuell war auch ein aufgeschnapptes Virus verantwortlich für ihre Misere. Im Frühjahr kursierten doch standardmäßig Magen-Darm-Infektionen.

Eliza lauschte in die Stille des Waschraums. Niemand betätigte eine Spülung, keiner drehte am Wasserhahn, das Gebläse des Handtrockners blieb stumm. Prüfend sah sie an sich hinunter, strich den Stoff ihres schwarzen Midikleides glatt und stellte erleichtert fest, dass sie sich nicht versehentlich bespuckt hatte. Sie spülte und setzte sich auf den Toilettendeckel. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück und genoss die Kühle der Kacheln, mit denen der Spülkasten verkleidet war. Hinter ihrer Stirn pochte es noch leicht, das Dröhnen des Blutstroms in ihren Ohren wurde leiser. Eliza konzentrierte sich auf ihre Atmung und versank in der samtenen Schwärze hinter ihren Augenlidern.

Als sie sich kräftig genug fühlte, verließ sie die Kabine und schluckte mit einer Handvoll Wasser ein Aspirin. Kritisch betrachtete sie sich in dem Spiegel, der über die ganze Länge der Waschbecken angebracht war. Die warme Farbnuance der Beleuchtung ließ ihr Gesicht gesünder aussehen, als sie sich fühlte. Unter ihren Augen begann das Make-up zu bröckeln, Schatten und feine Äderchen, die in einem schwachen Blau schimmerten, arbeiteten sich an die Oberfläche. Die rot geschminkten Lippen zitterten. Eliza kramte in ihrer Clutch nach einer Puderdose, betupfte die Augenpartie und stöhnte laut auf. Unmöglich konnte sie das Fest jetzt schon verlassen. Ein bisschen musste sie noch durchhalten. Wenigstens eine Stunde. Besser zwei. Erst dann würde sie mit einem halbwegs ruhigen Gewissen die Heimreise antreten können, natürlich nicht, ohne dem Hochzeitspaar nochmals die vereinbarte Garantie auszusprechen, bis zum Ende der Feierlichkeiten telefonisch abrufbereit zu bleiben.

Die Tür schwang auf.

„Entschuldigen Sie“, nuschelte Amber, als sie den Raum betrat und an Elizas Seite stehen blieb. „Ich will nicht aufdringlich wirken, aber Sie sahen vorhin tatsächlich etwas angegriffen aus. Und seit Sie zur Toilette verschwunden sind …“ In ihren Gesichtszügen war Besorgnis abzulesen. Echte Besorgnis. „Seitdem ist beinahe eine halbe Stunde vergangen.“

Eliza legte den Kopf schräg und wartete einige Wimpernschläge, bis der innere Schock an Wucht verloren hatte. Dann winkte sie ab. „Ich habe noch ein paar wichtige Telefonate geführt.“ Um ihre Aussage zu bekräftigen, nickte sie und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Darin war sie geübt. Von Kindertagen an. Ihre Mutter hatte sie früh instruiert, wie bedeutungsvoll es war, fürs Geschäft den Schein zu wahren. „Ich weiß Ihre Aufmerksamkeit zu schätzen, meine Gute, aber es ist alles in bester Ordnung. Mir geht es hervorragend!“

„Nun gut, wenn Sie es sagen.“ Amber wandte sich ab und betrat eine der Kabinen. „Vielleicht trinken wir gleich noch einen Schluck, und ich verrate Ihnen meine Wunschlocation für unsere Trauung?“

„Sehr gern!“, log Eliza in Richtung der Trennwand und wusch sich die Hände. Hatte Amber recht damit, dass so viel Zeit vergangen war, seit die Übelkeit sie aus dem Festsaal getrieben hatte? Sie schüttelte ungläubig den Kopf und hielt ihre Hände in den Schlitz des Handtrockners. „Ich besorge mir ein Wasser!“, rief sie über das Summen des Geräts hinweg. „Was darf es für Sie sein, Amber?“

„Ich glaube, ich vertrage noch einen Champagner, herzlichen Dank und bis gleich“, schallte es vergnügt zurück. Ambers Sorge war verflogen.

Eliza hatte ganze Überzeugungsarbeit geleistet. Sie betrat den Flur und beschleunigte ihre Schritte, um sich selbst zu beweisen, dass sie zu gewohnter Form zurückgefunden hatte.

„Ma’am?“, hörte sie wie von weit her eine Stimme an ihr Ohr dringen, als sie sich nach einigen Metern auf den Beistelltisch mit der umgestürzten Vase stützte. „Ma’am, soll ich einen Arzt rufen?“

Es ruckelte. Eliza verspürte den Drang, sich festzuhalten, brachte es aber nicht fertig, ihre Arme zu bewegen.

Alles wurde schwarz. Tiefste Nacht.

 

„Sauerstoffsättigung bei sechsundneunzig Prozent“, hörte sie jemanden sagen. „Keine nennenswerten Auffälligkeiten im EKG.“

Was, um Himmels willen, war passiert? Sie stöhnte, zuckte mit den Fingern.

„Wir sind in zwei Minuten da“, meldete sich eine weitere Person. „Kommt sie zu sich?“

„Ich glaube, ja.“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Leichter Druck wurde ausgeübt. „Miss Itterford? Hören Sie mich?“

Natürlich hörte sie ihn. Wer auch immer er war, sie hörte ihn. „Könnten Sie bitte das Licht einschalten?“, fragte sie und war schockiert darüber, dass ihre Stimme so brüchig klang. „Ich kann … gar nichts sehen.“

„Eliza Itterford!“ Er sprach ihren Namen mit einem gewissen Nachdruck aus, fast so, als wollte er sie für etwas tadeln. Mum hatte das immer gut gekonnt und konnte es immer noch. „Miss Itterford, Sie müssen Ihre Augen öffnen!“

Eliza erschrak, kam aber im nächsten Moment der Aufforderung nach. Sie hob die Hand an ihr Gesicht, schirmte das grelle Licht ab, das von allen Seiten auf sie herabschien. „O Gott, wie peinlich!“ Sie befand sich in einem Krankenwagen. Ihr Kleid war im Brustbereich verschoben, damit die Elektroden für das EKG angebracht werden konnten. Dünne Kabel hatten sich an und um ihren Hals gelegt wie Miniboas. Eliza zupfte wenig erfolgreich an ihrem Ausschnitt herum, griff sich in die Frisur und versuchte, das offensichtliche Durcheinander in Ordnung zu bringen. Bestimmt sah sie aus wie eine Vogelscheuche.

Ein junger Mann, der neben der Pritsche saß, auf der sie lag, beugte sich zu ihr „Ich heiße Gail. Sie befinden sich auf dem Weg ins St. Luisa Hospital. Aber das ist kein Grund, in Panik zu geraten. Wir haben uns bereits gut um Sie gekümmert.“ Dann lächelte er. „Sagten Sie gerade wirklich: wie peinlich?“ Sein Grinsen wurde breiter, seine Hand tätschelte ihre Schulter. „Glauben Sie mir, Ihnen muss nichts peinlich sein. Wissen Sie denn überhaupt, was passiert ist?“

„Ich … Mir wurde schwindlig.“ Aber klar, sie hatte den Waschraum verlassen, wollte für sich und Amber etwas zu trinken besorgen, nachdem sie … „Ich hatte mich kurz zuvor übergeben.“

„Hm, ja“, machte der junge Mann. „Ihr Blutdruck war ziemlich hoch.“ Er entfernte die Miniboas und prüfte erneut den Sauerstoffgehalt, der ihm neben anderen Daten auf einem Bildschirm angezeigt wurde. Er schien zufrieden.

Eliza rollte mit den Augen. „Ich weiß. Ich … bin deswegen in Behandlung.“ Das stimmte nicht ganz. Doktor Germic stellte ihr zwar regelmäßig Rezepte für einen Blutdrucksenker aus, aber sie nahm die Tabletten eher unregelmäßig ein. Nicht, weil sie sie vergaß. Eliza vergaß nie etwas.

Der Wagen hielt, und die Türen wurden schwungvoll geöffnet. Vitalwerte wurden ausgetauscht, der Unfallhergang erklärt. „Synkope, am ehesten durch hypertensive Entgleisung“, gab der Rettungssanitäter an einen Arzt weiter, der sich ihr kurz mit: „Wellerton, guten Abend“, vorstellte und sie dann gemeinsam mit einer weiblichen Pflegekraft in ein Gebäude und durch lange Gänge schob.

„Wer hat den Notruf gewählt?“, wollte Eliza wissen und starrte auf die an der Decke vorbeiziehenden Rasterleuchten.

„Eine Frau, den Namen wissen wir gerade nicht. Sie waren gemeinsam auf einer Feier?“

Eliza nickte.

„Bestimmt meldet sie sich bei Ihnen und erkundigt sich nach Ihrem Befinden. Auf einer Hochzeit kennt doch jeder jeden, nicht wahr?“

Eliza stöhnte auf, verzichtete aber darauf, Arzt und Pflegekraft über ihre Gedankengänge in Kenntnis zu setzen. Wahrscheinlich kursierten bereits Klatschgeschichten, sie hätte sich auf dem Fest betrunken oder leide an einer unheilbaren Krankheit. Oder sie hätte sich mit einem Gast aufs Klo verzogen und sich beim Vögeln den Kopf gestoßen. Gerüchte kochten schneller hoch als jede Pasta. Welches Brautpaar wünschte sich schon so ein Desaster auf der eigenen Hochzeit?

„Wir führen noch ein paar Untersuchungen durch, aber wie es scheint, ist die Akutlage überstanden“, informierte sie Doktor Wellerton und schloss sie an einen Überwachungsmonitor an. „Wir geben Ihnen Flüssigkeit über die Vene. Das hilft, den Kreislauf zu stabilisieren.“

„Wann kann ich gehen?“

Doktor Wellerton lachte leise. „Warum so eilig, Miss Itterford? Ruhen Sie sich ein bisschen aus! Morgen besprechen wir das weitere Vorgehen. Wen können wir informieren, dass Sie bei uns Patient sind? Gibt es Angehörige?“

Eliza seufzte resigniert. Auf keinen Fall wollte sie, dass Mum und Dad hier auftauchten. Auch ihre Schwester Chloe würde nur für Aufregung sorgen. „Meine beste Freundin. Ihr Name ist Bethany Fielding.“

 

Erste Sonnenstrahlen mogelten sich zwischen die Jalousien und tauchten das Einzelzimmer, in dem Eliza untergebracht war, in roséfarbenes Licht, malten Schatten auf die hellen Fliesen des Bodens. Ließ man die charakteristischen Umgebungsmerkmale und den scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel außer Acht, könnte man die Atmosphäre beinahe als behaglich bezeichnen.

Eliza setzte sich auf, legte ihre Beine über die Bettkante und griff nach der Flasche Wasser, die man ihr in der Nacht auf den Tisch gestellt hatte. Sie trank einen Schluck. Es perlte wohltuend an ihrer trockenen Mundschleimhaut entlang und vertrieb zumindest einen Teil des unangenehmen Geschmacks, der sich wie ein Pelz auf ihre Zunge gelegt hatte. Sie musste unbedingt nach einer Einmalzahnbürste fragen.

Es dauerte keine zehn Minuten, da meldete sich ihre Blase. Eliza sah seufzend an dem Infusionsständer hinab, rutschte auf ihre nackten Füße, löste die Bremse an dem Ständer und ratterte zur Toilette. Ihr Kreislauf schien stabil, auch ihre Smartwatch zeigte einen durchaus vertretbaren Blutdruckwert. Alles war bestens. Sobald eine Krankenschwester oder besser noch ein Arzt aufkreuzte, würde sie um die Entlassungspapiere bitten. Sie hatte schließlich Termine einzuhalten. Ein Nachtreffen mit Dorothy und Callum war für morgen datiert, und nach dem Debakel von gestern sollte sie im Vorfeld unbedingt das Gespräch mit den beiden suchen, bevor sie vor deren Tür stand, als wäre nichts gewesen. Wenigstens ein Telefonat mussten sie führen, damit sie die Grundstimmung abklopfen und sich für ihr beschämendes Auftreten entschuldigen konnte.

„Guten Morgen, Miss Itterford!“, erklang eine Stimme vor der Toilettentür. „Hallo? Miss Itterford?“

„Ich bin hier drin!“, meldete Eliza sich zurück und beeilte sich, das Krankenhaushemdchen so um ihren Körper zu wickeln, dass nicht jeder ihr Hinterteil zu Gesicht bekam.

Es klopfte an der Tür. „Darf ich reinkommen?“ Die Klinke wurde bereits heruntergedrückt. „Hat man Ihnen nicht davon abgeraten, den ersten Toilettengang allein zu machen?“

„Äh, nein, davon wusste ich nichts!“ Und selbst wenn, sie ließ sich doch nicht zum Pinkeln begleiten. Eliza schüttelte ihren Kopf und sperrte auf. „Guten Morgen, ich fühle mich sehr gut“, sie schubste mit dem Zeigefinger den Infusionsbeutel an, sodass er hin- und herschaukelte, „die zusätzliche Flüssigkeit, mit all den guten Sachen darin, hat Wunder gewirkt. Ich bin fit wie ein Turnschuh!“ Scheppernd setzte Eliza sich in Bewegung und lief der skeptisch dreinschauenden Krankenschwester fast davon. „Sehen Sie?“, rief sie ihr über die Schulter hinweg zu. „Wie neu!“

Doch dann verlor sie plötzlich das Gleichgewicht und wäre fast an das Bettgestell gedonnert. „Vielleicht sollte ich beim Gehen besser nach vorn schauen!“, versuchte sie die Situation zu entschärfen, während sie schon den festen Griff zweier Hände um ihre Hüfte spürte.

„Vielleicht sollten Sie sich noch etwas Ruhe gönnen, Miss Itterford!“, entgegnete die Schwester und lenkte Eliza zurück zum Bett. „Ich bin übrigens Irene. Gleich bringt man Ihnen Ihr Frühstück, und danach steht die Visite an. Doktor Wellerton, der Arzt, der Sie vergangene Nacht aufgenommen und untersucht hat, ist unser Stationsarzt. Er hatte Dienst, ist noch ein paar Stunden im Haus und wird nachher mit Ihnen sprechen.“

„Das wird nicht nötig sein!“ Eliza ließ zu, dass Irene ihr Kissen richtete und die Decke aufschlug. „Ich werde die Klinik noch heute Vormittag verlassen. Ich unterschreibe gern, dass ich dies gegen jeden ärztlichen Rat wünsche.“

Irene stemmte die Hände in die Hüften und lächelte, als hätte sie es mit einem uneinsichtigen Teenager zu tun. „Kaffee oder Tee? Es wird dauern, bis ich die Dokumente fertig habe und Sie gehen können.“

Eliza verzog den Mund und atmete hörbar aus. „Na gut. Kaffee bitte. Schwarz, kein Zucker.“ Wie es aussah, saß sie ein bisschen länger fest, als sie vorgehabt hatte. Sie würde Dorothy und Callum später einfach von hier aus anrufen.

Nachdem sie gefrühstückt hatte, öffnete sie den Kalender ihres Smartphones und checkte die für die kommende Woche anstehenden Termine. Langsam scrollte sie durch ihre Notizen, legte einen Finger an die Lippen und rief sich jedes Detail ins Gedächtnis, das in Verbindung mit den Zusammenkünften stand. Morgen würde sie mit Dorothy und Callum zu Abend essen und dabei die gesamte Hochzeitsfeier Revue passieren lassen. Eventuell könnte sie bei diesem Dinner beiläufig etwas über Amber und ihren Auserwählten in Erfahrung bringen. Unter Cousinen, die sich derart nahestanden, wurde doch gern ein Plausch gehalten, und Eliza liebte es, so viel wie eben möglich im Voraus zu wissen, bevor sie die Organisation einer Trauung übernahm. Dienstag stand die Anprobe für Claudine an, die ihre langjährige Partnerin Nelly in vier Wochen auf einem Schiff auf der Themse ehelichen würde und dafür ein Kleid ausgesucht hatte, das an einen Matrosenanzug erinnerte. Eine Schiffskapelle war bereits über die Auswahl der gewünschten Lieder informiert und hatte Eliza eingeladen, am Mittwoch einem Rehearsal in Soho beizuwohnen. Ein Gespräch mit der Traurednerin, einer ehemaligen Kapitänin, hatte sie für Donnerstag auf der Agenda stehen, ebenso ein Treffen mit den Brautjungfern.

Ein zartes Klopfen an der Tür riss Eliza aus ihren Gedanken. „Ja, bitte?“

„Hey, meine Liebe!“ Bethanys Lockenkopf erschien im Türspalt. Schnell huschte sie durch das Zimmer und eilte auf Eliza zu. „Wie geht es dir? Du hast mir einen Wahnsinnsschrecken eingejagt.“ Vorsichtig, als hätte sie Angst davor, ihre Freundin zu verletzen, legte sie beide Arme um Elizas Körper und drückte sie für einen Moment an sich.

„Du sollst dir doch um mich keine Sorgen machen, Beth!“ Eliza lächelte, schlug ihre Augen jedoch sofort nieder. Eine Spur Schuldbewusstsein meldete sich tief in ihrem Inneren.

„Red keinen Unsinn!“, schimpfte Beth, während sie sich auf die Bettkante setzte. „Du bist mir wichtig, Eli. Wie sollte ich mich nicht sorgen, wenn ich einen Anruf aus dem Krankenhaus bekomme und mir eine wildfremde Person mitteilt, dass du bewusstlos aufgefunden wurdest?“

„Ach.“ Eliza winkte ab. „Du kennst doch diese Leute, die aus allem ein Drama machen!“

Diese Leute?“, fragte Beth, und in ihrer Stimme schwang ein tadelnder Unterton mit. „Du sprichst von Fachpersonal! Meinst du, die denken sich ihre Diagnosen aus?“

„Ja“, entgegnete Eliza prompt. „Ja, manchmal ist das so. Davon habe ich schon des Öfteren gelesen. Die halten manche Patienten regelrecht fest, damit sie an ihnen ihre teuren Tests durchführen und unnötige Medikamente verschreiben können.“

„Du bist unverbesserlich!“ Beth legte den Kopf schief. Sie befeuchtete ihre Lippen, biss darauf herum und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

„Man könnte meinen, du willst etwas loswerden“, murmelte Eliza. „Etwas, von dem du weißt, dass es mir nicht gefallen wird.“

„Ich habe mir erlaubt, etwas … nun, sagen wir … einzufädeln.“

„Solange es nicht um meinen Gesundheitszustand geht.“ Eliza setzte sich gerade hin und verschränkte die Arme vor der Brust. „An dem, by the way, überhaupt nichts zu beanstanden ist.“

„Da bin ich anderer Auffassung.“ Doktor Wellerton hatte das Zimmer betreten und offensichtlich Elizas letzte Worte mitangehört. Im Schlepptau hatte er Irene, die mindestens genauso ernst dreinschaute wie der Arzt selbst.

Eliza holte tief Luft und streckte ihren Oberkörper noch ein bisschen mehr. Sie sollten ruhig sehen, dass sie sich vollkommen gesund und stark genug fühlte.

„Dürfte ich Sie für ein paar Minuten nach draußen bitten?“, wandte sich Doktor Wellerton an Beth, während er sein iPad studierte, ohne auch nur aufzusehen. Wie es sich für einen Gott in Weiß gehörte, klang seine Frage nicht nach einer Frage, sondern nach einer Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete.

„Ich möchte, dass Sie bleibt.“ Eliza setzte eine strenge Miene auf und presste ihre Lippen aufeinander. Sie konnte Beths Unterstützung jetzt gut gebrauchen. Falls sie sie unterstützen wollte. Sie sackte ein Stück in sich zusammen.

„Nun, wie Sie meinen“, antwortete der Arzt, klickte auf dem Tablet herum und hob endlich sein Kinn. Seine Stirn lag in tiefen Falten. „Miss Itterford, ich habe den Eindruck, dass Sie sich nicht im Klaren darüber sind, welche Gefahren Ihnen drohen, wenn Sie so weitermachen wie bisher.“

„Jetzt übertreiben Sie aber!“, gab Eliza zurück und lachte. Sie räusperte sich und schluckte hart.

Doktor Wellerton schüttelte den Kopf. „Keineswegs! Ich habe Rücksprache mit Ihrem Hausarzt gehalten, den ich zufällig privat kenne.“

Eliza verdrehte die Augen. Das hatte ihr noch gefehlt: Zwei von der Sorte, die ihr einreden wollten, dass mit ihr etwas nicht stimmte. „Geht es um meinen erhöhten Blutdruck? Die Werte haben sich verbessert. Ich trage eine Uhr, die …“

„Miss Itterford!“ Der Arzt klemmte sich das iPad unter den Arm und trat einen Schritt näher ans Bett. „Die Blutuntersuchungen beweisen, dass Sie dehydriert waren, ihre Entzündungswerte sind erhöht, das Immunsystem steht unter Dauerbeschuss, und ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Sie steuern auf einen Abgrund zu. Sehenden Auges!“

Eliza wich instinktiv zurück, spürte aber sogleich das aufgestellte Bettende in ihrem Rücken und nahm Hilfe suchend Blickkontakt mit Beth auf.

„Ich habe es dir doch gesagt“, gab diese von sich, statt ihrer Freundin unter die Arme zu greifen und dafür zu sorgen, dass diese Farce ein Ende nahm.

Eliza schnappte nach Luft.

„Sie müssen dringend nicht nur einen Gang zurückschalten, sondern mindestens drei“, ergriff Doktor Wellerton wieder das Wort und drehte sich zu Irene, die bislang kein Wort gesagt hatte und damit beschäftigt war, ein weiteres Tablet zu bedienen. „Wir benötigen ein psychiatrisches Konsil, bitte informieren Sie Doktor Trades.“

„Psychiatrisch?“ Eliza fuhr auf. Das musste sie sich nicht bieten lassen. „Jetzt reicht es. Ich bitte Sie darum, mir umgehend meine Entlassungspapiere auszuhändigen.“

„Eli, jetzt sei doch vernünftig!“ Beth drängte sich an dem Arzt und der Krankenschwester vorbei und setzte sich neben Eliza, legte ihr eine Hand auf den Rücken und streichelte sie. „Du darfst das nicht falsch verstehen!“

„Ich fasse es nicht, dass du ihm beipflichtest. Ich dachte, du stehst auf meiner Seite!“ Energisch befreite sich Eliza aus Beths Liebkosung und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Wo, zur Hölle, hatte man ihr Kleid versteckt? In diesem Krankenhausfummel konnte sie unmöglich auf die Straße gehen.

„Miss Itterford. Es geht nicht darum, Ihnen etwas zu unterstellen oder Ihnen eine Therapie aufzuschwatzen. Doktor Trades ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und kann Ihnen dabei behilflich sein, mit Fachleuten gemeinsam zu überlegen, an welcher Stelle Sie kürzertreten können. Man selbst sieht die Notwendigkeit oft nicht, aber Sie sollten sich meine Warnung unbedingt zu Herzen nehmen. Es ist fünf vor zwölf!“

Eliza stand auf, stolperte an allen vorbei und riss eine Schranktür auf. Da war es ja, das gute Stück. Wütend zerrte sie an dem Kleiderbügel. „Ich denke, ich habe meinen Standpunkt deutlich gemacht, Doktor Wellerton. Wenn ich Sie nun nochmals darum bitten dürfte, meine Papiere fertigzustellen? Ich verspreche Ihnen, alsbald mit meinem Hausarzt Kontakt aufzunehmen.“ Das war keine Lüge. Sie würde Doktor Germic gleich morgen anrufen und um einen Telefontermin bitten. Ganz so uneinsichtig, wie man sie hier hinstellen wollte, war sie nicht. Dennoch grenzte das Tamtam für sie an maßlose Übertreibung. Fünf vor zwölf! So ein Quatsch!

Doktor Wellerton und Irene wechselten einen Blick, der Resignation ausdrückte, nickten Beth hingegen aber vielsagend zu. Dann machten sie sich auf den Weg zur Tür. „Passen Sie gut auf sich auf, Miss Itterford. Den vorläufigen Entlassungsbrief können Sie in etwa zwanzig Minuten am Schwesterndienstzimmer abholen.“

Als sie wieder allein im Raum waren, atmete Eliza laut auf. „Endlich“, gab sie von sich und verschwand in dem kleinen Badezimmer, aus dem sie kurz darauf wieder heraustrat. „Ein bisschen overdressed, um aus einer Klinik zu spazieren, aber sei’s drum! Können wir?“

Beth seufzte. „Eli, komm, setz dich noch einen Moment.“ Sie deutete auf einen kleinen Tisch. „Lass uns nichts überstürzen! Bitte, ich bin deine beste Freundin. Du musst dir anhören, was ich zu sagen habe. Das bist du mir schuldig!“

Eliza kräuselte ihre Lippen. „Ich habe zwar keinen Schimmer, warum ich dir etwas schuldig sein sollte, aber gut.“ Sie streifte sich ihre Pumps über, stöckelte auf Beth zu und ließ sich auf einem der Stühle nieder. „Wenn du mir versprichst, dass du danach kein Wort mehr über diesen … Vorfall verlieren wirst!“ Sie sah ihre Freundin an, bemerkte das Zögern, das in deren Augen aufflackerte, und kniff die Augen zusammen. Beth hielt sich selten an Versprechen.

„Erinnerst du dich noch an das Haus meines Onkels?“ Beth ergriff Elizas Hände und drückte sie leicht. „Das in Italien.“

Kapitel 2

Valerio

Valerio Rossini öffnete die Haustür und trat über die zwei ausgetretenen Stufen hinaus in den taufrischen, noch in der Dämmerung ruhenden Morgen. Langsam setzte er den Rand der Tasse an seine Lippen und genoss den heißen Cappuccino. Er schloss die Augen, während die cremige Flüssigkeit seine Mundschleimhaut verwöhnte und er sie hin- und herschwenkte, um das Aroma auszukosten. Seine Wimpern zuckten, als sich durch das Schwarz hinter seinen Lidern ein Hauch Licht stahl. Er blinzelte ein paarmal, bis er bereit war, aus seinem Moment der Zurückgezogenheit aufzutauchen. Über der Senke, die rechts von ihm lag, hatte sich Frühnebel ausgebreitet, der bis ins Tal hinunterreichte. Von Montabello, der kleinen Stadt, die sich auf einem eigenen Hügel aus der Tiefe erhob, war nicht mal die Kirchturmspitze der Piazza Paradiso erkennbar, alles war in gespenstische Schwaden gehüllt. Wäre Valerio nicht genau hier groß geworden und hätte sich der Anblick der umliegenden Hügel nicht unwiderruflich in sein Gedächtnis gebrannt, er wäre dem Trugschluss verfallen, dass rings um ihn herum keinerlei Zivilisation existierte. Das Haus, in dem er aufgewachsen war, lag ohnehin nicht inmitten eines Wohngebietes, doch wenn er sich nach rechts und nach links drehte, konnte er im Normalfall seine nächsten Nachbarn erkennen. Oder zumindest die Zufahrten zu deren Häusern.

Erneut nippte er an seinem Cappuccino und trat von einem Fuß auf den anderen. Der Untergrund zu seinen Füßen, schwerer Mutterboden, aus dem sich vereinzelt Grashalme reckten, gab einen schmatzenden Laut von sich. Der Dauerregen, der in den letzten Tagen niedergeprasselt war, hatte die Landschaft vielerorts unter Wasser gesetzt, und erst seit gestern Abend hatten sich die Niederschläge verzogen. Die Temperaturen lagen unterhalb des für Anfang April üblichen Durchschnitts, und ein leicht modriger Geruch erschwerte die Frische der Frühlingsluft. Valerio leerte seine Tasse, stellte sie auf dem niedrigen Mäuerchen neben der Eingangstür ab und umrundete langsamen Schrittes das Haus. Konzentriert begutachtete er die Fassade, prüfte an auffälligen Stellen die Festigkeit von Lehm und Naturstein, indem er den Zeigefinger in die bröckeligen Fugen legte und daran kratzte. Die jahrzehntelange Vernachlässigung des in die Jahre gekommenen Hauses und die Feuchtigkeit vor allem des letzten Winters hatten dem Baumaterial sichtlich zugesetzt.

Valerio sprang über eine Pfütze, in der sich das Zartrosa des erwachenden Tages spiegelte, und betrat die Terrasse. Lockere Betonstücke, die sich aus dem Verbund der Bodenplatte gelöst hatten, waren ins Gras abgerutscht, die hölzernen Dielen, die Valerios Vater vor fünf Jahren angebracht hatte, hatten sich verzogen, man stolperte leicht über die hochstehenden Kanten. Valerio seufzte und fuhr sich durch sein dunkles langes Haar. Eine Handvoll Strähnen raufte er im Nacken zu einem Knäuel zusammen, kratzte über seine Kopfhaut und ließ die Haare dann wieder über seine Schultern fallen. Du siehst aus wie ein Mädchen mit Dreitagebart, pflegte seine Mutter ihn zu necken, wenn er sie im Haus ihrer Schwester, seiner Tante Loretta, besuchte, wo sie seit ihrem Sturz und dem anschließenden langen Krankenhausaufenthalt wohnte. Die Frauen von heute sind vielleicht selbstständiger als zu meiner Zeit, aber sie suchen immer noch nach einem richtigen Mann an ihrer Seite. Valerio grinste bei dem Gedanken an seine Mutter, die sich beinahe pausenlos um seinen Familienstand sorgte: ledig, ungebunden, keine Kinder. Ihrer Meinung nach war er mit seinen fast dreißig Jahren im besten Alter, um zu heiraten und Nachwuchs in die Welt zu setzen. Und im Grunde lag es ihm fern, dem etwas entgegenzusetzen – wenn er den Glauben an die wahre Liebe nicht begraben hätte. Dachte er an die Frauen, mit denen er in den letzten Jahren Beziehungen geführt hatte, musste er sich eingestehen, dass nicht eine unter ihnen gewesen war, bei der er ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, ihr einen Antrag zu machen. Die meisten seiner Verflossenen hatte vor allem jene Tatsache abgeschreckt, dass Valerio sich weigerte, seine Heimat zu verlassen. Auf Dauer im Haus seiner Eltern zu wohnen, hatte seine Freundinnen ebenso wenig gereizt, wie die Aussicht darauf, sich mit einer Anstellung als Servicekraft in einem Hotel oder in einer der Trattorias Montabellos zufriedenzugeben. In Richtung Stadt aufzubrechen und sich dort ein neues Leben aufzubauen, ein Leben, das eine Vielzahl von Möglichkeiten bot, hatte immer irgendwann zur Diskussion gestanden und war in vielen Fällen der entscheidende Grund für die Trennung gewesen. Doch Valerio war nicht umsonst nach Montabello zurückgekehrt, nachdem er nahe Siena eine Ausbildung zum Schreiner absolviert und eine Zeit lang in der Stadt gewohnt hatte. Die Sehnsucht nach den Hügeln seiner Heimat hatte überhandgenommen, und erst, als er wieder zurückgekommen war, hatte sein Innerstes aufgeatmet. Und so hatte er die Frauen nie aufgehalten, wenn sie des Landlebens überdrüssig geworden waren. Er war ein Freund der Routine, und wenn das bedeutete, dass er Junggeselle bliebe, dann war es eben so. Es gab Wichtigeres.

Ziellos kickte er einen der losen Betonklötze der Terrasse die Böschung hinunter und folgte dem Pfad, der zur Rückseite des Gebäudes führte, wo das Schmetterlingshaus noch im Schatten lag. Dunkel ragten die Silhouetten von Orangen- und Kiwibäumen, Engelstrompeten und stark verzweigtem Oleander in den fast fünf Meter hohen Dachfirst. Hinter den milchigen Glaselementen regte sich nichts, keinerlei Bewegung war auszumachen, denn es war noch zu früh, und zu wenig Tageslicht schien ins Innere. Gerade machte Valerio sich an der Verriegelung der Doppeltüren zu schaffen, da vernahm er das Motorengeräusch eines sich nähernden Autos. Er wusste, dass er seinen Bruder würde begrüßen dürfen, noch bevor dessen SUV die letzte Biegung nahm.

Breitbeinig stellte Valerio sich auf die sandige Auffahrt, gleich neben seinen rostigen Ford Ranger aus dem letzten Jahrtausend, und stemmte beide Hände in die Hüften.

Gianni bremste so scharf ab, dass die Kiesel unter den Reifen seines Wagens hervorschossen.

„Unverbesserlich!“, rief Valerio und lachte, als Gianni ausstieg und ihm zuwinkte.

„Keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Die Augen des hochgewachsenen Mannes, der vier Jahre vor Valerio das Licht der Welt erblickt hatte, blitzten. Bis vor Kurzem hatten er und seine Frau in einer winzigen Wohnung vor den Toren Montabellos gelebt. Doch als Francesca nach dem Tod ihrer Nonna ein Haus in Florenz erbte, hatte die kleine Familie – mittlerweile war das zweite Kind unterwegs – nichts mehr halten können.

„Ich wette, wenn Alfonso nicht schon vor zwei Stunden aufgestanden wäre, hättest du ihn ohne Zweifel um seinen Schönheitsschlaf gebracht.“ Valerio breitete seine Arme aus und begrüßte Gianni herzlich.

„Der alte Kauz“, feixte Gianni, ließ sich in Valerios herzliche Umarmung ziehen und klopfte ihm auf den Rücken. „Der wird nicht mehr hübscher, egal, wie lang er im Bett bleibt!“ Er sah über seine Schulter in Richtung des Bauernhofes des alten Mannes. Das alte Gemäuer ragte in einiger Entfernung zwischen den Baumkronen mehrerer Kastanien hervor.

„Ich werd’s ihm bei Gelegenheit ausrichten.“

„Besser nicht!“ Gianni sah Valerio an und legte seine Hände um das Gesicht des Bruders. „Geht es dir gut?“

„Si. Der Frühling kommt, es gibt viel zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das vergessen hast.“ Valerio zwinkerte fröhlich, obwohl ihm der besorgte Unterton in der Stimme Giannis nicht entgangen war.

„Ich weiß“, sagte er. „Und ich will dich auch nicht lang aufhalten. Eigentlich bin ich auf der Durchreise zu unserer Mutter. Ich war schon so lang nicht mehr bei ihr und Tante Loretta.“ Er ging zurück zum Auto und öffnete den Kofferraum. „Im Übrigen habe ich dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Oder besser gesagt … deinen Faltern.“

Valerio hörte ein Ächzen und fragte, ob er behilflich sein könne, doch sein Bruder wuchtete bereits eine Bananenstaude stattlichen Umfangs herbei.

„Das ist ein Prachtstück, oder?“ Gianni grinste, doch der Ausdruck seiner Augen verriet Valerio, dass er sich gedanklich bereits mit etwas anderem, etwas Schwerwiegenderem, auseinandersetzte. Seine Stirn lag in Falten, direkt über seiner Nasenwurzel hatte sich ein dicker Wulst gebildet, der seine freundlichen Gesichtszüge verdunkelte und ihn um Jahre älter aussehen ließ.

„Ich danke dir, Bruderherz! Ich werde die Staude noch vor der Arbeit einpflanzen.“ Valerio umfasste eine von Giannis Schultern und drückte sie leicht. „Willst du mir jetzt erzählen, was dich bedrückt?“

Gianni ließ ein leises Lachen hören. „Ist es so offensichtlich?“

„Ich kenne dich mein Leben lang. Also ja!“

„Hast du einen Cappuccino für mich? Wir sollten das nicht hier draußen besprechen.“

Valerio schluckte hart. „Ist mit Francesca alles in Ordnung? Mit dem Baby?“

Gianni sah ihn an, als hätte er vergessen, dass seine Frau schwanger war. „Natürlich“, stammelte er. „Es sind alle wohlauf. Auch Giulia. Sie kann’s kaum erwarten, die Morphos wieder bestaunen zu dürfen. Wir … sollten bald mal wieder hierherkommen und gemeinsam essen.“ Sein wehmütiger Blick huschte über das Gelände und blieb am Haus hängen.

Valerio spürte eine Welle von Traurigkeit auf sich zurollen und schüttelte sich. Und obwohl er nicht einzuordnen vermochte, was es war, das Gianni so beschäftigte, fürchtete er dennoch, dass es auch ihn in einen Abgrund befördern würde. Er hasste es, einen Tag mit schlechten Neuigkeiten zu beginnen.

„Lass uns reingehen“, sagte er. „Dann können wir reden.“

Gianni nickte stumm, und gemeinsam umrundeten sie das Haus.

Als sie den unbeleuchteten Flur betraten, von dem mehrere Türen nach rechts und links in die Räume der unteren Etage führten, zog Gianni seine Schultern hoch und rieb sich die Hände.

„Jetzt sag bloß, dir ist kalt?“, fragte Valerio, ließ das Gäste-WC, das von niemandem mehr genutzt wurde, sowie das Wohnzimmer, in dem er kaum Zeit verbrachte, rechts liegen und schritt in die Küche.

„Na, angenehm kuschelig nenne ich das nicht!“

„Du bist nichts mehr gewöhnt.“ Valerio hob neckend seine Augenbrauen. Die düstere Stimmung schien sich zu verflüchtigen. Vielleicht hatte Gianni sich lediglich von einer unbegründeten Angst die Laune verderben lassen und fing sich jetzt wieder. „Soll ich dir einen Pulli von mir geben? Nicht, dass du dein schickes Oberhemd bekleckerst und deine Kunden dich schief angucken.“ Er war schon auf dem Weg zurück in die Diele, doch Gianni winkte ab.

„Geht schon, und ich hab erst am Nachmittag Dienst. Aber sag, warum heizt du nicht ein bisschen mehr? Der Frühling lässt in diesem Jahr auf sich warten. Wer weiß, wie lang wir uns noch mit diesen winterlichen Temperaturen herumschlagen müssen.“

„Ach, ich glaube, nicht mehr lang.“ Valerio verspürte keine große Lust, seinem Bruder Rede und Antwort zu stehen, ganz besonders nicht, wenn es dabei um das leidige Thema Finanzen ging. Diskussionen dieser Art führten in der Regel nur dazu, dass Gianni das Elternhaus als Ruine betitelte und sich darüber ausließ, welche Unsummen investiert werden müssten, um dem Verfall entgegenzuwirken. Wenn er dann die Liste der Mängel am Haus herunterbetete, musste Valerio sich eingestehen, dass sein Bruder recht hatte. Das Gebäude befand sich tatsächlich in einem desolaten Zustand, und das Geld für eine Instandsetzung war schlicht und ergreifend nicht vorhanden. Doch Valerio versuchte, sich der Schwarzmalerei zu entziehen, und stützte sich auf die Hoffnung, dass irgendwann von irgendwoher ein Geldsegen auf ihn niederregnen würde. Er wandte sich ab, um den Espressokocher mit Wasser und Kaffeepulver zu befüllen. Der Blick seines Bruders bohrte sich zwischen seine Schulterblätter, er konnte es deutlich fühlen. Die Atmosphäre kühlte sich ab, während Wasserdampf und Kaffeemehl sich zu einem duftenden Gebräu vereinten. „Willst du ein Cornetto mit Marmelade?“ Valerio schaute kaum auf, richtete seine Konzentration darauf, Milch zu erhitzen und sie mit einem Schneebesen zu feinem Schaum aufzuschlagen.

„Danke, nein.“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, das er von Gianni vernahm, bevor für Minuten Stille einkehrte und jeder seinen Gedanken nachhing.

„Prego!“ Valerio goss den fertig zubereiteten Cappuccino in eine dickwandige, weite Tasse und reichte sie seinem Bruder.

„Mhm“, gab Gianni von sich, als er den ersten Schluck getrunken hatte und sich über die Lippen leckte. „Wirklich gut!“ Er nahm einen weiteren Schluck und sah sich um. „Der Schimmelfleck da oben …“

Valerio zuckte zusammen und fühlte sich wie ein Insekt, das reglos in einem Spinnennetz ausgeharrt hatte und trotzdem entdeckt worden war. Gianni stellte seine Tasse auf den Tisch und zeigte auf jene Wand, die an den verwilderten Garten grenzte.

„Verblasst, sobald die Temperaturen steigen“, entgegnete Valerio. „Im Sommer ist davon quasi nichts zu sehen.“

„Aber du weißt schon, dass der Pilz sich nur in einen inaktiven Ruhezustand versetzt, aber weiterwächst, sobald ihm wieder genug Feuchtigkeit zur Verfügung steht?“

Valerio stöhnte auf. Sein Bruder hatte zur alten Gewohnheit zurückgefunden, ihm das Haus madigmachen zu wollen. Immerhin war bereits eine Viertelstunde vergangen. „Wie läuft es daheim? Der Laden brummt, hörte ich von Mamma.“

Der „Laden“ war die Apotheke, die Gianni zusammen mit Francesca im Erdgeschoss ihres neuen Hauses betrieb. Der Umbau und die Renovierungsmaßnahmen hatten sämtliche Ersparnisse dahingerafft, doch wurde das Geschäft von den Kunden so gut frequentiert, dass die Lage sich allmählich entspannte.

„Wie wäre es, wenn du meine Frage zuerst beantwortest?“ Gianni beugte sich leicht über die Tischplatte und hielt Valerio in seinem Blick gefangen. Die Spinne hatte das Insekt im Visier.

Valerio seufzte, weil es nicht fair war, in seinem Bruder ein unliebsames Krabbeltier mit acht Beinen zu sehen. Und trotzdem nervte ihn diese Penetranz. Geräuschvoll räumte er das Geschirr zu einem Stapel zusammen und brachte es zur Spüle. „Ist das dein Ernst? Du bist hergekommen, um mit mir über Schimmelflecken zu reden?“

„Ach, wenn das alles wäre …“

Valerio drehte sich um und versuchte, im Gesichtsausdruck seines Bruders zu lesen. „Bitte spann mich nicht länger auf die Folter. Deine Laune ist kaum auszuhalten!“

Gianni stand auf und betrachtete den Schimmelfleck aus der Nähe. „Gibt es mehr davon? In den anderen Räumen?“

„Ich glaube nicht, nein.“

„Du glaubst?“

Valerio starrte ins Spülbecken und verdrehte die Augen. Wenn er zugab, dass sich an der Außenwand seines Schlafzimmers ein ähnlich großer Fleck ausbreitete, würde sein Bruder am Ende noch die Seuchenbehörde verständigen. Oder ein Abrisskommando. „Ich werde mich darum kümmern!“

Gianni lachte kurz auf. „Das muss fachmännisch beseitigt werden, Val! Der Putz gehört abgeschlagen und mit einem Mittel gegen Schimmelbefall behandelt. Dann muss alles vernünftig trocknen. Du musst für ausreichend Lüftung sorgen und davon abrücken, Heizkosten einsparen zu wollen. Das ist nämlich ein Schuss in den Ofen!“ In seiner Stimme schwelte Argwohn. „Und selbst wenn du das alles erledigen würdest“, er warf die Hände in die Luft, „selbst wenn du das Geld besäßest, um das alles zu erledigen …“ Er ließ sich zurück auf den Stuhl plumpsen, seufzte laut und sah Valerio an. „Hast du eigentlich mal deinen Briefkasten geleert?“

Valerio legte den Kopf schief und sah seinen Bruder entgeistert an. „Ich kann dir nicht ganz folgen.“

Gianni schloss seine Augen für einen Moment und schüttelte den Kopf. „Also gut! Du scheinst tatsächlich nicht im Bilde zu sein.“ Er setzte sich wieder an den Tisch und bedeutete Valerio, es ihm gleichzutun.

„Wenn du mich erneut dazu bewegen willst, dieses Haus abzustoßen, sag ich dir gleich: Spar dir deinen Atem! Das wird nicht passieren!“ Valerio schnaubte, nahm aber trotzdem seinem Bruder gegenüber Platz und blickte ihn abwartend an.

„Ich vermute, dir wird nichts anderes übrig bleiben.“ Gianni langte über die Tischplatte und griff nach Valerios Unterarm. Der Druck, den seine Finger ausübten, war sanft und dennoch spürbar. „Und jetzt sag mir, seit wann du deine Post nicht mehr durchgesehen hast.“

Valerio zog seine Stirn in Falten. „Es ist eine Weile her. Warum willst du das wissen?“

„Weil eine Benachrichtigung der Stadtverwaltung Montabellos darunter ist“, kam die prompte Antwort. Ein Ausdruck des Zweifels verdunkelte Giannis Augen und ließ das warme Braun Kohlschwarz erscheinen. „Dieses Haus …“, er sah sich um und nickte leicht, als könnte er das, was er im Begriff war auszusprechen, selbst nicht glauben. „Es gehört nicht uns.“ Ein irres Lachen entwich seiner Kehle. „Es gehörte niemals uns!“

Valerios Mundwinkel zuckten, ein Schauer lief ihm über seine Wirbelsäule, feinste Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. „Ich bitte dich! Zu solch üblen Scherzen bin ich wirklich nicht aufgelegt.“

Gianni zog seine Hand zurück und sah Valerio an, sein Kiefer mahlte. „Die Lage ist ernst! Ich mache keine Witze.“

„Wovon, zur Hölle, redest du? Du weißt genau, dass unsere Großeltern schon hier gelebt haben. Dass Vater hier wohnte, als er unsere Mutter kennenlernte.“

„Richtig!“ Gianni presste seine Lippen aufeinander und überlegte, bevor er weitersprach. „Das ist die Version, die man uns erzählt hat. Nur leider entspricht sie nicht den Tatsachen, Val!“

Valerio lehnte sich zurück und griff sich in sein Haar, raufte darin und strich es dann mit beiden Händen wieder glatt. „Was genau steht in diesem Schreiben?“

Giannis Atem kam ihm hörbar über die Lippen. Er schluckte mehrmals. „Dass dieses Grundstück und alles, was sich darauf befindet, zu keinem Zeitpunkt auf den Namen unserer Familie eingetragen war.“

„Vielleicht hat man es damals versäumt. Es waren andere Zeiten und –“

„Du verstehst nicht, Val! Es ist nicht so, dass es niemandem gehört.“ Giannis Finger krümmten sich um den Griff seiner Cappuccinotasse, bis seine Gelenke weiß hervortraten. „Nur nicht uns!“

„Wem dann?“ Valerio erschrak vor dem Klang seiner eigenen Stimme, die pure Hysterie transportierte.

„Einem Mann aus den Vereinigten Staaten. Sein Name ist Billie Costrado, und er hat erst kürzlich davon erfahren, dass er der rechtmäßige Eigentümer eines Hauses in den Hügeln der Toskana ist.“

Valerio senkte den Kopf und betrachtete den Schlamm, der an seinen Schuhen klebte. In seinen Ohren rauschte es.

„Vaters Tod brachte den Stein ins Rollen“, erklärte Gianni weiter. „Sein gesamter Besitz ging automatisch an Mamma.“

Valerio nickte geistesabwesend, weil sich die Puzzlestücke nach und nach zu einem grässlichen Bild zusammenfügten. „Und sie wollte, dass wir als Erbengemeinschaft für das Haus eingetragen werden“, brachte er hervor und schlug die Augen nieder.

„Während dieses Prozesses stießen die Behörden auf Ungereimtheiten. Man fand heraus, dass das Haus nicht von Vaters Familie, sondern von einem Fremden erbaut wurde, der sich seinerzeit nach Amerika abgesetzt hat. Er lernte eine Frau kennen, heiratete und verstarb kurz danach durch einen Autounfall.“

„Und weiter?“, fragte Valerio, obwohl er die Antwort fürchtete.

„Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Der einzige Nachkomme dieser Verbindung ist ein gewisser Joseph Costrado gewesen, der wiederum einen Sohn bekam: Billie Costrado. Weitere Verwandte dieser Linie gibt es nicht. Dieses Haus ist also sein Erbe. Es gehört“, Gianni seufzte laut und ließ die Schultern resigniert hängen, „ihm.“

„Das heißt, Vaters Eltern sind einfach irgendwann hier eingezogen und haben gehofft, dass niemand Fragen stellen würde?“

Gianni zuckte mit den Schultern. „So wird es vermutet.“

„Weiß Mamma von der Sache? Hat man auch ihr das Schreiben zukommen lassen?“ Valerio wollte sich nicht ausmalen, wie seine Mutter reagieren würde.

„Nein, da sie das Haus an uns überschrieben hat“, Gianni wiegte müde seinen Kopf und kniff die Augen zusammen, „sind wir die Ansprechpartner der Behörden. Und dabei sollte es auch bleiben! Ich habe bereits dafür gesorgt, dass Mamma nichts davon erfährt, zumindest vorerst nicht.“

Valerio nickte geistesabwesend und fuhr mit seinem Blick die Fugen entlang, die dunkelgrau zwischen den Kacheln ein Irrnetz an Straßen und Wegen zu ergeben schienen. Ohne aufzusehen, hob er ein paar Atemzüge später den Zeigefinger, als sei ihm eine bahnbrechende Idee gekommen. „Wenn das alles so stimmt“, er ignorierte das Seufzen seines Bruders, „wieso hat sich die Familie dieses Billie Costrados nie um das Haus bemüht? Sie müssen doch gewusst haben, dass sie in Italien Eigentum besitzen.“

„Das kann ich dir nicht beantworten, Val. Fakt ist, dass die Stadtverwaltung den Amerikaner informiert und er sein Interesse bekundet hat. Daran gibt es, so leid es mir tut, nichts zu rütteln.“

Valerios Kopf ruckte hoch. „Sein Interesse woran?“

Gianni beugte sich abermals vor, und in seinen Augen blitzte plötzlich etwas auf. „Ich verstehe, dass dich das Ganze schockt. Ich war ebenso aufgewühlt. Aber in dieser Hiobsbotschaft verbirgt sich eine Chance.“

„Ach ja?“ In Valerios Eingeweiden machte sich das Gefühl einer düsteren Vorahnung breit, doch weil er von Natur aus eher optimistisch eingestellt war, versuchte er, es zu ignorieren.

„Denk doch mal nach!“, forderte sein Bruder ihn auf. „Wir wären in der Lage, zwei Fliegen mit einer Klappe zu erledigen.“

Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht. Gianni war tatsächlich bereit, mit dem Amerikaner zu verhandeln. „Vergiss es!“, zischte Valerio.

Gianni schnaubte, und Valerio wusste, sein Blutdruck schnellte genau jetzt in die Höhe. Sein Bruder war von klein auf mit einem feurigen Temperament gesegnet – oder belastet – gewesen. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.

„Wieso lässt mich das Gefühl nicht los, ich unterhielte mich mit einem Holzscheit?“ Gianni schob seinen Stuhl energisch nach hinten, durchschritt die Küche und knurrte beim Hinausgehen: „Du bist ebenso stur wie unsere Mutter, Val. Das wird dich irgendwann um Kopf und Kragen bringen!“

Valerio hörte die Haustür ins Schloss knallen. Langsam stand er auf, atmete ein paarmal durch und ging auf das Fenster zu, durch das er Gianni beobachten konnte. Sein Bruder hatte einen Fuß auf das Mäuerchen platziert, wippte unaufhörlich mit dem Bein und kraulte sich mit einer Hand den dichten dunklen Bart, der Kinn und Oberlippe bedeckte. Man sah ihm die Erregung an, die zweifelsohne durch seine Adern rauschte. Seine Gesichtshaut war tiefrot gefärbt, sein Brustkorb hob und senkte sich in rascher Abfolge. Es wäre kein kluger Schachzug, ihm jetzt entgegenzutreten, zumal es auch in Valerios Bauch rumorte. Doch er zwang sich dazu, die Fassung zu wahren und nicht in blinden Aktionismus zu verfallen. In den meisten Fällen wurde weniger heiß gegessen als gekocht, und es bestand zweifelsohne die Möglichkeit, dass Billie Costrado – würde er hier auftauchen, und selbst das stand in den Sternen – keinerlei Ambitionen zeigte, das Haus übernehmen zu wollen. Wenn man es realistisch einschätzte, wäre er ein Idiot. Was sollte er mit einem Gebäude wie diesem schon anfangen?

Und so wischte Valerio über den Tisch und stieg dann die Treppe ins Obergeschoss empor, um sich in seinem Schlafzimmer – jenes mit dem zweiten Stockfleck an der Wand – für die Arbeit umzuziehen. Die weite Jogginghose tauschte er gegen eine zerschlissene Jeans. Über sein kariertes Baumwollhemd zog er einen dicken Wollpulli und eine ärmellose Weste, die er bis unters Kinn schließen konnte. Seine Haare band er zu einem losen Zopf zusammen, den er unter einer Mütze mit Ohren verstaute. Der Wind im Hain pfiff mitunter gewaltig, und eine Erkältung war das Letzte, das Valerio brauchen konnte.

Als er wieder nach unten ging, sah er Gianni in der offenen Tür stehen, ein Lächeln auf den Lippen – seine Art, einen Streit oder eine Unstimmigkeit zu begraben. Keiner der Rossinis war ein Freund davon, das Kriegsbeil länger als unbedingt nötig zu schwingen.

„Musst du gleich los?“, fragte sein Bruder. „Zu Alfonso?“

„Si.“ Valerio nickte, ging an ihm vorbei und steuerte den Holzschuppen an, in dem er Dekoware anfertigte, die er einem Laden für regionale Handwerkskunst in Montabello regelmäßig zum Verkauf zukommen ließ. Er bewaffnete sich mit verschiedenen Schneidewerkzeugen und Greifzangen, die er dann auf die Ladefläche seines Fords hievte, der neben der gepflegten Familienkutsche seines Bruders ein bedauernswertes Bild abgab. „Wir sind im Zeitverzug wegen des schlechten Wetters. Wenn es weiterregnet, werde ich den Boden nicht pflügen können. Der Traktor wird schlichtweg versinken.“

„Verstehe.“ Das tat Gianni wirklich, auch wenn seine Apothekerhände schon lang nicht mehr mit feuchter Erde gekämpft hatten. Doch als junger Mann hatte er sich genau wie Valerio ein Zubrot verdient, wenn er dem Olivenbauern von nebenan zur Hand gegangen war. Und er wusste, was es bedeutete, wenn die Witterung zu wünschen übrig ließ und die Ernte unter einem wenig Erfolg versprechenden Stern stand.

„Wollen wir die Bananenstaude einbuddeln? Ich hätte noch ein paar Minuten, bevor ich Mamma besuchen fahre und mich dann auf den Rückweg mache.“

„Du willst doch bloß die Morphos filmen, damit du Giulia beeindrucken kannst“, antwortete Valerio und grinste. Giulia war Giannis Tochter. Mit ihren sieben Jahren war sie an allem interessiert, das sich an Land, in der Luft und im Wasser bewegte, und hatte ihren Onkel Val im letzten Sommer sogar dazu überreden können, vor einer Grundschulklasse über sein liebstes Hobby – die Schmetterlingszucht seiner Mutter – zu referieren. Sich und sein Tun so in den Mittelpunkt zu stellen, lag Valerio zwar überhaupt nicht, doch was tat man nicht alles für die Familie.

„Mit den Morphos hab ich nie Glück! Die sind viel zu nervös“, antwortete Gianni und schlug den Weg zum Glashaus ein.

Der Nebel hatte sich aufgelöst. Am leicht bewölkten Himmel war die Sonne aufgegangen, sie wärmte die durchweichten Grasflächen und verwandelte die letzten Rinnsale aus Regentropfen auf dem Dach in dampfende Schwaden. „Wenn das Licht hineinfällt und die Umrisse der Gewächse dunkel aufragen, sieht das Ding immer noch so mystisch aus, wie ich es aus unserer Kindheit in Erinnerung habe. Damals habe ich oft gedacht, ich würde eine andere Welt betreten. Dir ging es doch auch so, oder?“

Doch Valerio antwortete nicht auf Giannis Frage. Er war an der Längsseite des Glashauses stehen geblieben, von wo er durch eine lückenhafte Buchenhecke zum nächsten Grundstück schauen konnte. Sein Blick richtete sich starr auf das Nachbarhaus, das in ein paar Hundert Metern Entfernung im Schatten eines kleinen Waldes aus Säulenzypressen lag. „Da brennt Licht hinter den Fenstern im Erdgeschoss!“, stellte er fest.

„Und?“ Gianni war zu ihm aufgeschlossen. „Was ist so ungewöhnlich daran? Es ist noch früh und die Bäume rings ums Haus sorgen sicher dafür, dass drinnen alles dunkler erscheint, als es ist.“

Valerio hob die Hand an seine Stirn und inspizierte das Gebäude. „Ungewöhnlich ist, dass dort jemand zu wohnen scheint.“

„Hast du nicht vor einiger Zeit erzählt, ein Geschäftsmann aus – war es England? – wäre dort eingezogen?“

„Richtig. Aber Mister Fielding nutzt das Haus ausschließlich als Feriendomizil für den Spätsommer. Im Frühling lässt er sich hier nicht blicken.“

Gianni warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte. „Na, vielleicht hat er es sich anders überlegt. Hör zu, ich muss gleich los. Wenn wir jetzt nicht anfangen –“

„Fahr nur“, unterbrach Valerio ihn und kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, weil er eine Bewegung hinter einem der Fenster wahrgenommen hatte.

„Bist du sicher?“

Valerio sah seinen Bruder an und lächelte. „Ich danke dir für deinen Besuch. Lass bald wieder von dir hören, grüß mir Mamma und leg dich nicht mit ihr an.“

Gianni umarmte ihn und nickte. „Viel Spaß bei der Arbeit. Und dass du mir mit dem Traktor nicht absäufst, unsere Mutter würde dich vermissen.“ Er grinste. „Vielleicht!“

„Mach, dass du wegkommst!“, zischte Valerio und lachte, während er andeutete, seinem Bruder eine verpassen zu wollen. Er sah ihm nach, wie er ins Auto stieg, und winkte, als der Motor startete.

Kaum war Gianni um die erste Biegung verschwunden, richtete Valerio den Blick wieder auf die Fielding-Villa. Es war ein imposantes Gebäude aus hell gemustertem Naturstein inmitten der Schlichtheit der umliegenden Häuser, und Valerio hatte von Anfang an befunden, dass es nicht hierher passte. Hin und wieder spazierte er zwar daran vorbei, doch vornehmlich dann, wenn er wusste, dass der Besitzer nicht darin verweilte. Nur ein- oder zweimal war es unumgänglich gewesen, mit Mister Fielding ins Gespräch zu kommen. Dass der Mann ausschließlich im Spätsommer in der Toskana Urlaub machte, meistens in Begleitung einer sehr viel jüngeren Frau, wusste Valerio aus diesen kurzen Unterhaltungen, und er hatte sich schon damals gewundert, warum jemand einen solchen Klotz errichten ließ, nur um ganze drei Wochen im Jahr darin zu verbringen. Schließlich musste das Haus geheizt und gelüftet werden. Aber dafür und um regelmäßig nach dem Rechten zu sehen, hatte Fielding eine Frau aus Montabello beauftragt, die ihrer Pflicht mehrfach wöchentlich nachging. Angelica war es auch, die in den regenarmen Monaten die Sträucher und Blumen wässerte, die rings ums Haus angepflanzt worden waren. Riesige, farbenprächtig blühende Rhododendren, die unter Pinien wuchsen, von denen man glaubte, sie berührten den Himmel. Glockenblumen, die in der Nachmittagssonne in intensiven Blau- und Violetttönen leuchteten und den Boden rings um die Zypressen wie ein Teppich bedeckten.

Valerio ging ein paar Schritte weiter, bis er auf den letzten Grasbüscheln seines Grundstücks stand, von wo aus das Terrain zu einer beachtlichen Senke abfiel. Auf der Kante balancierend reckte er den Hals, folgte dem Schemen, der sich im Nachbarhaus von einem Raum zum nächsten bewegte. Wäre die Villa vermietet worden, hätte er ganz bestimmt davon erfahren. Wenn er in der Küche oder im Service des A Marcella aushalf, war er am Ende seiner Schicht stets auf dem neuesten Stand der Dinge, was Klatsch und Tratsch betraf. Doch von einem Besucher im Fielding-Haus hatte er nichts gehört.

Die Lampen im Inneren des Gebäudes erloschen nach und nach. Wahrscheinlich schien nun genug Tageslicht hinein. Valerios Aufmerksamkeit ließ nach, weil er die sich bewegende Silhouette nicht mehr erkennen konnte. Doch dann trat eine Person aus der bogenförmigen Tür, die in den Garten führte, und blieb auf dem grasgrünen Rasen stehen. Sie richtete den Blick nach oben, legte den Kopf weit in den Nacken, wobei sich blondes Haar über ihren Rücken ergoss. Valerios Augen erfassten schmale Schultern, einen zierlichen Oberkörper, der in eine knielange Jacke eingewickelt war, und schlanke Waden. Daran, dass es sich bei der Person um eine Frau handelte, bestand kein Zweifel. Doch es war keineswegs Fieldings Gefährtin, dessen war Valerio sich sicher.

Mit beiden Händen schirmte er sein Gesicht vor der Sonne ab, die die letzten Wolken vertrieben hatte, und beobachtete, wie sich die Fremde auf den Rand ihres Grund und Bodens zubewegte. Ihr Gang schien unsicher, fast schon steif, als würde sie sich nicht wohlfühlen und jeden Moment damit rechnen, dass sich vor ihr ein schwarzes Loch auftat. Langsam sah sie sich um, inspizierte den Garten und die Bereiche, die sich hinter dem niedrigen Zaun befanden und einen Blick auf die umliegende Landschaft gewährten. Und gerade, als Valerio sich abwenden wollte, weil er befürchtete, von ihr erspäht zu werden, blieb sie abrupt stehen und starrte in seine Richtung.