Leseprobe Das Herz des Duke of Rothwell

Kapitel 1

Hyde Park im Mai 1815, am frühen Morgen

Die Morgendämmerung war erst vor wenigen Minuten hereingebrochen, aber ein leichter Nebel lag in der Luft und ließ die Sonne wie einen kleinen gelben Ball aussehen. Gideon Duke of Rothwell war sich sicher, dass er zu derart früher Morgenstunde der einzige Reiter sein würde. Er brauchte dringend die Ruhe, die ihm ein scharfer Ritt verleihen konnte, und donnerte den leeren Kutschpfad entlang. Doch plötzlich brach wie aus dem Nichts ein dunkler Fuchs aus dem Nebel heraus und störte seine Einsamkeit. Noch mehr wurde seine Aufmerksamkeit allerdings von dem riesigen Hund – fast von der Größe eines Ponys – gefesselt, der mit dem Pferd Schritt hielt.

Was zum Teufel?

Faisu, sein schwarzer Murgese, tänzelte nervös, als Gideon ihn zum Stehen brachte. »Ruhig, Junge. Wir wollen doch nicht, dass dieses Biest dir ins Gehege kommt. Er könnte dir im Nu einen Bänderriss an den Hinterläufen bescheren.«

Einen Augenblick darauf lenkte eine lange, dunkle Haarsträhne, die sich unter dem Hut der Reiterin löste, seine Aufmerksamkeit auf die Frau. In der Zeit, die verging, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war, hatte er ihre zierliche, in ein dunkelblaues Reitgewand gekleidete Gestalt und ihre exzellente Haltung wahrgenommen.

Sie sah herüber und zügelte ihr Pferd nur für den kürzesten Augenblick, bevor sie an ihm vorbeiritt. Ihre Wangen waren von der kühlen Luft rosig, und ein zauberhaftes Lächeln umspielte ihre glänzenden, rosaroten Lippen. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander haften. Als wären sie die beiden einzigen Menschen auf der Erde. In dieser Sekunde, in der Gideon sich fühlte, als würde er in das lebhafte Blau der Augen der Reiterin hinabstürzen, erinnerte deren Farbe ihn an Lapislazuli.

Sie muss ein Trugbild sein.

Er zwinkerte, und da war sie verschwunden. Es hätte alles nur ein Traum sein können, doch wenige Sekunden später ritt ein Stallbursche heran, der offenkundig versuchte, seine Herrin einzuholen.

Für einen Moment war er versucht, ebenfalls hinterherzureiten, aber da wäre er schlecht beraten. Offenkundig war sie eine Dame, und selbst wenn er eine offizielle Vorstellung herbeiführen könnte und ihre Bekanntschaft sich zufriedenstellend entwickeln würde, so war er doch noch nicht in der Lage, sich zu verheiraten.

Es war reine Spinnerei, im Zusammenhang mit einer Frau, die er nur im Vorbeireiten gesehen hatte, an eine Ehe zu denken. Trotzdem hätte er zu gerne davon träumen dürfen.

Verdammt, Vater! Wärst du noch am Leben, würde ich dich schütteln, bis du Vernunft annähmest.

Doch der alte Herzog hatte bereits seit mehr als drei Monaten unter der Erde gelegen, als Gideon aus Kanada zurückgekehrt war. Er konnte jetzt nur noch die Scherben einsammeln, die sein Vater hinterlassen hatte.

»Komm, Junge.« Er schüttelte den Kopf, um das Bild der blauen Augen in seinem Geiste loszuwerden, und ließ Faisu in Trab fallen. »Es ist Zeit, umzukehren. Solange ich hier bin, kann ich auch versuchen, mehr herauszufinden, und einige Rechnungen begleichen.«

Er hätte nie weggehen sollen. Die Verluste waren seine eigene Schuld. Wäre er zu Hause geblieben, wäre kein Schaden entstanden. Wie ging noch mal das alte Sprichwort vom Säen und Ernten? Nun, jetzt war es allein seine Aufgabe, die Besitztümer des Herzogtums wieder zu dem zu machen, was sie noch vor wenigen Jahren gewesen waren, bevor er zu den Kolonien aufgebrochen war, um den Hinterwäldler zu spielen. Leider würden die Erfahrungen, die er dort gesammelt hatte, ihm keineswegs dabei dienlich sein, seine Besitztümer wieder zusammenzutragen und auf den Stand der Zeit zu bringen.

Fünfzehn Minuten später, als er zu den Stallungen hinter dem Stadthaus ritt, betrachtete er das Gebäude auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass es bald renoviert werden müsste. Als er aus Kanada zurückgekehrt war, hatte es ihn zunächst einmal schockiert zu erfahren, dass sein Vater verstorben war. Man hatte zwar einen Brief geschickt, doch den hatte er nicht erhalten, bevor er die Kolonien verlassen hatte. Der zweite Schock war der erbärmliche Zustand seiner Liegenschaften. Es überraschte ihn, dass die ehemals prosperierenden Anwesen innerhalb solch kurzer Zeit in einen solch reparaturbedürftigen Zustand hatten geraten können. Wenn er nur wüsste, aus welchem Grund sein Vater seine Besitztümer so vernachlässigt hatte, wo er in der Vergangenheit doch so stolz auf deren Zustand gewesen war. Noch verwirrender empfand er es jedoch, dass niemand in ganz Rothwell Abbey ihm zufriedenstellend erklären konnte, was geschehen war, das seinen Vater derart verändert hatte.

Wäre er doch nur zu Hause geblieben, wo er hingehörte, anstatt in See zu stechen und den Ozean zu überqueren. Es hatte ihn gelehrt, seine eigene Verantwortung niemals in die Hände anderer zu legen.

Eigentlich hatte er keine Zeit für diesen Abstecher in die Stadt, doch sein Vetter Edmond Bentley hatte Gideon geschrieben und um Hilfe gebeten, also war er jetzt hier.

»Euer Gnaden.« Barnes, sein Stallmeister, streckte rasch die Hand nach Faisus Kopf aus und griff nach dem Zaumzeug. »Ich hab ihn.«

»Wie ist der Zustand des Dachs?«, fragte Gideon und schwang sich vom Pferd. In der kurzen Zeit, seit er zu Hause war, hatte er gelernt, zu fragen. Niemand, so schien es, gab freiwillig irgendwelche Informationen preis. »Ich will die Wahrheit hören. Es ist viel leichter, ein kleines Leck zu reparieren, als den Schaden, den es nach sich ziehen kann.«

»Bis jetzt ist alles trocken, Euer Gnaden. Ich behalte es im Auge. Aber an einigen Fensterrahmen löst sich der Kitt.«

Wenn es nichts Schlimmeres war, würde Gideon sich glücklich schätzen. Es würde Zeit und Geduld kosten, die nötigen Reparaturen an den vernachlässigten Gebäuden durchzuführen, aber er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass noch mehr in Unordnung geriet. »Sorgen Sie dafür, dass sie repariert werden.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden. Werdet Ihr lange hierbleiben?«, fragte der Mann mit einem hoffnungsvollen Ausdruck im wettergegerbten Gesicht.

»Ein paar Wochen, vielleicht auch kürzer. Es muss einiges getan werden – sowohl auf Rothwell als auch den übrigen Gütern.«

»Schlimme Sache, das Ganze.« Der ältere Mann tippte sich mit dem Finger seitlich an die Nase. »Ich sorge mal dafür, dass die Stadtkutsche in gutem Zustand ist. Ihr könnt’s nicht brauchen, dass sie zusammenbricht, wenn Ihr sie benutzt. Oder dass sie schäbig aussieht.«

»Wenn es noch dieselbe ist, an die ich mich erinnern kann, muss sie wohl ersetzt werden.« Gideons Tonfall klang sogar noch grimmiger, als er sich fühlte, obwohl das kaum ging.

»Die hat noch ein paar gute Jahre.« Der Stallmeister schickte sich an, Faisu in den Stall zu führen, und blieb stehen. »Überlasst es dem alten Barnes.«

»Danke sehr.« Gideon hoffte, er konnte die Dankbarkeit, die er für seine alten Hausangestellten hatte, zeigen. Sie waren echte Juwelen. Ohne ihre Loyalität und ihre Geduld wäre sein eigenes Leben und das seiner gesamten Familie viel schwerer.

»Jetzt, wo Ihr da seid, was wollt Ihr mit den neuen Kutschen machen, die der Herzog bei Hatchett’s geordert hat?«

»Neue Kutschen?« Er musste sich zusammenreißen, dass ihm nicht die Kinnlade herunterfiel. Was zum Teufel hatte sich sein Vater nur gedacht? Wobei dieses Detail unnötiger Extravaganz zu den Informationen passte, die er nach und nach über das Verhalten des alten Herzogs zusammengetragen hatte. Über seine Ausgaben, die nur wenig übrigließen, um die Besitztümer in Schuss zu halten.

»Er hat einen Landauer und einen hochsitzigen Phaeton …«

»Was zum Teufel sagen Sie da?« Sein Vater war nicht mehr siebzig. »Was wollte er denn mit einen Phaeton anfangen?«

Barnes errötete. »Ich glaube, der war für diese gierige Weibsperson, mit der er sich eingelassen hat.«

Gideon blieb die Luft weg. Seine Eltern waren das hingebungsvollste Ehepaar gewesen, das er kannte. Was konnte geschehen sein, das seinen Vater so drastisch verändert hatte? Und warum, in Gottes Namen, hatte niemand Gideon geschrieben und ihn gebeten, nach Hause zu kommen?

Verflucht noch mal! Nur das wäre nötig gewesen.

Ein Gefühl der Frustration durchlief ihn. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stieß dabei seinen Hut herunter. Und doch passte auch das zu der unvollständigen Geschichte, die er über den Tod seines Vaters gehört oder vielmehr nicht gehört hatte. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb seine Mutter so einsilbig gewesen war. Niemand hatte ihm erklären wollen, was genau geschehen war und dazu geführt hatte, dass der Herzog seine Besitztümer derart vernachlässigt hatte. Gott sei Dank waren die meisten Liegenschaften Erblehen, sonst hätte Gideon sie womöglich bestenfalls bis unters Dach mit Hypotheken belastet oder gleich ganz veräußert vorgefunden. »Wissen Sie zufällig, wer diese bedürftige Weibsperson ist?«

»Ihr Mädchen nannte sie Misses Rosemund Petrie.« Barnes spuckte den Namen aus. »Als wäre sie von königlichem Blut und müsste auch so behandelt werden. Nichts weiter als eine Hure, wenn Ihr mich fragt.«

Sein Stallmeister schien nicht viel über die Frau zu wissen, aber Gideon würde dafür sorgen, nicht nur herauszufinden, wer sie war, sondern auch, was er, wenn überhaupt, von ihr zurückverlangen könnte. Dann kam ihm ein Gedanke, den er nicht in Betracht hatte ziehen wollen. »Ich hörte, er starb in der Stadt.«

Barnes hob Gideons Hut vom Boden auf und fuhr mit der Hand die Krempe entlang, bevor er sprach. »Ist im Bett gestorben. Bei ihr.«

»Hier?« Er blickte dem Älteren scharf ins Gesicht. »In Rothwell House?«

Ohne aufzublicken, nickte der Stallmeister langsam.

»Um Gottes willen! Was dachte Vater sich nur dabei?«

»Ich weiß es nicht, Euer Gnaden«, sagte Barnes rasch, als würde er persönlich für die Indiskretion des alten Herzogs verantwortlich gemacht. »Ich hab sie aus dem Haus geschafft, ohne dass es einer mitbekommen hat … außer zwei der Burschen und Mister Fredericks. Die wo hier arbeiten, wissen, wes Brot sie essen. Da wird keiner was weitertratschen.« Er zeichnete ein Kreuz über sein Herz. »Ihr könnt meinen Namen aus der Bibel meiner Ma streichen, wenn wer was verrät. Misses Boyle hat sogar die Matratze wechseln lassen. Sagte, die ist voll Lasterhaftigkeit.«

Gideon glaubte nicht daran, dass eine Matratze eine lasterhafte Natur haben konnte, war aber froh über die neue. Ebenso würde er darauf schwören, dass seine Mutter eine genaue Vorstellung davon hatte, wo ihr Gatte sich aufgehalten hatte, als er zu seinem Schöpfer gegangen war. »Ich bin sicher, Sie haben alles Nötige getan.«

»Jawohl, Euer Gnaden! Ich lass die Fenster reparieren. Was soll mit den Pferden und Kutschen dieser Misses Petrie geschehen, die sie hier stehen hat?«

Er durchbohrte Barnes mit strengem Blick. »Ich würde es außerordentlich schätzen, wenn Sie mir alles auf einen Schlag sagen könnten. Wie viele Pferde, Kutschen und andere Dinge sind es? Hat mein Vater sie gekauft oder hat sie sie bereits besessen, bevor er sich mit ihr eingelassen hat? Bitte seien Sie so frei und informieren mich über alles, was Sie sonst noch für nötig halten.«

Der Stallmeister rieb sich die Nase, während er nachdachte. Schließlich antwortete Barnes: »Der alte Herzog kaufte ihr einen hübschen Araber und zwei dunkelrote, hochtrabende Füchse für den Phaeton, den er ihr vor ein paar Jahren gekauft hat …«

»Ein zusammenpassendes Paar?« Gideon konnte es kaum aussprechen.

Der Diener sah ihn an, als wäre er närrisch geworden. »Hättet Ihr etwa was anderes von Seinen Gnaden erwartet? Wenn ich nun fertig aufzählen kann, Euer Gnaden?«

Mit verkrampftem Kiefer nickte er knapp. Nicht, dass es eine Rolle spielte, was noch alles da war. Alles würde baldmöglichst verkauft werden. Er rechnete, dass allein die Kosten für die Pferde sich auf dreitausend Pfund beliefen. Wenn es um Pferde ging, war Vater nie geizig gewesen. Gideon wandte seine Aufmerksamkeit erneut Barnes zu, der noch immer die Ausgaben seines Vaters der letzten drei Jahre aufzählte.

»Verkaufen Sie alles.«

»Ich wollte gerade zu den Satteln und dem anderen Zeugs kommen«, sagte der ältere Mann in beleidigtem Tonfall.

»Behalten Sie die Pferde, die ich mitgebracht habe, und alles, was Sie für die Stadtkutsche für nötig halten. Der Rest muss weg.«

»Was ist mit dem Zweispänner? Dafür bekommt Ihr nicht viel, und er könnte Euch von Nutzen sein.«

Er konnte eine sportliche Kutsche brauchen. Es würde jedenfalls Geld für Mietdroschken sparen. »Gut dann. Aber setzen Sie sich wegen der Kutschen und der anderen Dinge mit Tattersalls und allen anderen in Kontakt, die nötig sind.« Barnes öffnete erneut den Mund. »Behalten Sie alles, wovon Sie denken, dass ich es brauchen werde.«

»Vielen Dank, Euer Gnaden.«

 

Stanwood House, Mayfair

»Die Masern?«, rief Lady Louisa Vivers aus. »Alle drei?«

In der Vorfreude, jemandem von dem Gentleman zu erzählen, den sie im Park gesehen hatte, war sie direkt zu dem Salon gegangen, den sie sich mit ihrer Freundin und neuen Schwester Lady Charlotte Carpenter teilte.

Just bevor die Saison tatsächlich begann, hatte Matt Worthington, Louisas Bruder, Lady Grace Carpenter geheiratet.

Grace war der Vormund ihrer sieben Brüder und Schwestern. Ihre Ehe hatte dazu geführt, dass Louisa nun insgesamt zehn Brüder und Schwestern hatte, ihre drei leiblichen Schwestern eingeschlossen, Grace nicht mitgezählt. Irgendwann im nächsten Winter würde sich die Zahl der Kinder mit der Geburt des ersten Kindes von Matt und Grace auf zwölf erhöhen. Die Mädchen waren ganz aus dem Häuschen, dass sie Tanten werden würden. Aber auch die Jungen waren voller Vorfreude.

Wie auch immer – als Louisa den Mund geöffnet hatte, um loszureden, hatte Charlotte ihr sogleich von der Diagnose des Doktors berichtet. Offenkundig war diese Neuigkeit wichtiger als die von Louisa.

»Ja«, antwortete Charlotte. »Theo, Mary und Philipp. Laut Cousine Jane und den Informationen, die deine Mama Grace hinterlassen hat, haben die anderen, auch Grace und Matt, sie schon gehabt.«

»Wird dadurch die Reise von Grace und Matt nach Worthington hinfällig?« Der Zuwachs so vieler Familienmitglieder bedeutete, dass nicht nur Worthington House, sondern das gesamte Gut Worthington ausgedehnten Renovierungen unterzogen werden mussten, um alle angemessen unterbringen zu können. Tatsächlich war Charlie Earl of Stanwood der Einzige ihrer Geschwister, der derzeit nicht in Stanwood House, dem Stadthaus der Carpenters, lebte, weil er derzeit in Eaton weilte. Selbst Louisas Mutter und ihr neuer Gatte, Richard Viscount Wolverton, würden die restliche Saison in Stanwood House wohnen, solange Worthington House renoviert wurde. Natürlich erst, wenn sie von ihrer Hochzeitsreise zu Richards Anwesen in Kent zurückkehrten. Glücklicherweise lagen die beiden Häuser am Berkeley Square sich genau gegenüber.

»Ich glaube, sie müssen fahren«, sagte Charlotte. Sie saß am Schreibtisch und tippte sich mit dem weichen Ende der Schreibfeder gegen die Wange. »Die Schulzimmer dort müssen renoviert werden, wenn wir nach der Saison alle auf dem Familiengut leben wollen.«

Luisa und ihre Schwester hatten fast die Hälfte ihrer ersten Saison hinter sich. Diese neue Entwicklung verkomplizierte die Dinge fraglos.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und begann, im Geiste ihre Pläne an die neuen Umstände anzupassen. »Hm, ich denke, wir sollten Entschuldigungsschreiben formulieren, um unsere Zusagen zu den gesellschaftlichen Anlässen, die wir angenommen haben, zu annullieren.«

Sie blickte zum Schreibtisch. »Was für eine Unannehmlichkeit. Warum mussten die Kinder ausgerechnet jetzt krank werden?«

Charlotte stieß ein glockenhelles Lachen aus und lockerte damit die Stimmung wieder etwas auf. »Fast exakt die gleichen Worte hat Matt benutzt.«

Louisa schmunzelte. »Und Grace?«

»Sie sagte ihm, er solle nachhören, was die Kinder dazu meinen. Grace trifft für den Fall, dass er die Reise dennoch machen möchte, Vorkehrungen für unsere gesellschaftliche Begleitung.« Charlotte seufzte schwer. »Die armen Dinger. Ich weiß noch, wie ich die Masern hatte. Am schlimmsten war es, als ich mich wieder besser fühlte, aber das Krankenzimmer trotzdem noch nicht verlassen durfte. Ich wünschte, Charlie wäre hier, um dabei zu helfen, sie bei Laune zu halten. Ich werde natürlich bei der Betreuung helfen.«

»Ich auch.« Louisa nahm ihr Notizbuch vom Schreibtisch. »Wir sollten einen Plan machen, der es uns ermöglicht, an den gesellschaftlichen Anlässen teilzunehmen und bei der Pflege der Kinder zu helfen.«

Sie duckte sich, als Charlotte mit einem kleinen, gestickten Kissen nach ihr warf. »Du und deine Pläne.«

»Wie willst du sonst unsere Vermählungen ermöglichen? Wie geht es denn übrigens mit Harrington voran?«

Charlottes Lippe schob sich vor. »Nicht so, wie ich es mir wünsche. Er scheint anzunehmen, er hätte alle Hürden übersprungen. Folglich ist er für eine Woche zu seinem Landhaus gereist.« Sie zog eine Braue hoch. »Ich kann mir nur vorstellen, dass er denkt, ich wäre ihm sicher.«

»Das geht nicht an.« Louisa war über diese Information alles andere als glücklich. Charlotte verdiente es, besser behandelt zu werden. »Wenn er dich jetzt schon ignoriert, stell dir nur vor, wie er erst als Ehemann wäre.«

»Ganz mein Gedanke«, stimmte Charlotte zu. »Ich mag ihn gern, aber ich möchte nicht als gegeben angenommen werden. Ich glaube, ich muss ihn als möglichen Ehemann streichen.«

»Ich kann nicht sagen, dass ich das falsch von dir finde.« Louisa schlenderte zum Tisch neben einem der Sofas und legte die Hand an die kalte Teekanne. »Würdest du nach einer neuen Kanne klingeln, während ich mich umkleide?« Charlotte nickte abwesend.

»Ich habe endlich entschieden, was ich mit Lord Bentley tue.« Louisa warf ihrer Freundin ein maliziöses Lächeln zu. »Du musst mir helfen, die passende Frau für ihn zu finden.«

Edmond Marquis of Bentley, Erbe des Duke of Covington, war einer der ersten Gentlemen gewesen, die Louisa in dieser Saison kennengelernt hatte, und trotz der Hinweise, die sie ihm gegeben hatte, ihr hartnäckigster Verehrer. Nichts, was sie bis jetzt getan hatte, hatte ihn davon überzeugt, dass sie nicht zusammenpassten.

Ihre Schwester brach in überraschte Rufe aus. Kurz darauf zog sie ihr Taschentuch hervor und wischte sich die Augen ab. »Das ist die beste Idee, die du bisher hattest. Wenn er seine Zuneigung auf eine andere Dame überträgt, hast du es geschafft, ihn loszuwerden, ohne seine Gefühle zu verletzen.«

»In der Tat. Die einzige Schwierigkeit ist: wer? Sie muss klug genug sein, um seine Herzogin zu werden, energisch genug, um sicherzustellen, dass Bentley seinen Pflichten nachkommt, und außerdem enorme Geduld besitzen, um mit seiner Nervosität zurechtzukommen.« Louisa konnte nicht anders, als das Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen. »Das ist eine Tugend, über die ich nicht im Übermaß verfüge.«

»Geduldiger als du?« Charlottes Tonfall war ernst, aber ihre Mundwinkel zuckten. »Das klingt beinahe unmöglich. Sie müsste ein perfekter Ausbund an Tugend sein.«

Louisa ging über den scherzhaften Kommentar ihrer Schwester hinweg. »Falls wir am Ball heute Abend teilnehmen, können wir mit der Suche nach ihr beginnen.« Sie hielt einen Augenblick inne, die Finger an der Türklinke. »Es wird keine leichte Aufgabe sein, dennoch bin ich mir sicher, dass es mir gelingen wird. Ich bin in wenigen Minuten wieder da.«

»Wir gehen zum Ball«, rief Charlotte Louisa hinterher. »Tust du mir den Gefallen, Matt Bescheid zu geben? Ich wollte soeben meine Schuhe anziehen, aber du bist ja schon angekleidet.«

Ihr Bruder benutzte noch immer sein Studio in Worthington House. Er sagte, dass es selbst mit den Renovierungsarbeiten ruhiger als Stanwood House sei.

»Und ich rieche nach Stall. Warte mit dem Tee noch, und ich gehe sogleich hinüber.« Louisa ging die Treppen hinunter, verließ das Haus und überquerte Berkeley Square.

Kapitel 2

Wenige Minuten später, als er von den Ställen wegging, betrat Gideon das Haus durch die Hintertür, ging rasch durch den Flur zur Halle und dem Treppenhaus. Ein Brief auf dem runden, schweren Eichentisch fiel ihm ins Auge. Er musste von seinem Vetter Bentley sein. Niemand sonst wusste oder erwartete, dass er in der Stadt war. Wahrscheinlich sollte Gideon seinem Cousin dankbar sein. Hätte er nicht Hilfe in einem Notfall benötigt, über den Gideon noch nichts wusste, hätte er nie herausgefunden, was sein Vater hier angerichtet hatte.

Er zog seine Handschuhe aus, griff nach der Nachricht und öffnete sie.

Rothwell,

eigenartig, Dich so zu nennen, aber ich denke, ich werde mich daran gewöhnen. Ich hoffe, Du bekommst meine Nachricht rasch. Was ich damit meine: Ich hoffe, Du bist schon in der Stadt. Heute Abend findet bei Lady Sale ein Ball statt, und ich habe dafür gesorgt, dass Du eine Karte erhältst. Natürlich würde man Dir den Eintritt nicht verwehren, aber ich hielt es unter den Umständen für das Beste. Wir sehen uns dort.

Dein Cousin

Bentley

Gideon stieß verärgert die Luft aus. Wie in drei Teufels Namen sollte er seinem Vetter helfen, wo doch der verfluchte Kerl ihm immer noch nicht mitgeteilt hatte, was er eigentlich brauchte? Obgleich Gideon ein paar Jahre älter als Bentley war, so waren sie doch immer sehr vertraut gewesen, und Gideon würde alles tun, was er konnte, um ihm beizustehen. Wenn er denn je herausfinden würde, worum es ging. Er hoffte ernstlich, dass Bentley entweder eine Frau mit Verstand heiraten oder eigenständig welchen entwickeln würde, bevor er den Titel seines Vaters erben würde.

Indessen war es bis zum Ball noch Stunden hin, und Gideon konnte die Zeit sinnvoll nutzen. Seit er nach Hause gekommen war, hatte er viel über neue Anbaumethoden und eine Steigerung des Ernteertrags nachgelesen. Zunächst jedoch musste er ein paar Worte mit seinem Sekretär wechseln. Anschließend würde er einen Freund besuchen.

***

Eine knappe Dreiviertelstunde später pochte er an der Tür von Worthington House. Ein stattlicher Butler öffnete, und Gideon überreichte ihm seine Karte.

Ohne eine Miene zu verziehen, verbeugte sich der Diener. »Folgt mir, Euer Gnaden.«

Gideon unterdrückte ein Grinsen. Matt Earl of Worthington hatte immer die Tatsache beklagt, dass das Schicksal ihm einen Butler beschert hatte, der sich weigerte, ein Lächeln über sein Antlitz huschen zu lassen oder seine Steifheit für den geringsten Augenblick aufzugeben. Weshalb ihn das allerdings störte, war Gideon nicht klar. Die meisten Butler waren so steif wie ein Brett und hochnäsiger als Herzöge.

Er blickte sich um und bemerkte, dass das Haus ungewöhnlich leer zu sein schien, und auf dem Boden lagen keine Teppiche. Dann setzte lautes Klopfen ein.

Kurz darauf öffnete sich die Tür von Worthingtons Studio.

»Seine Gnaden, der Duke of Rothwell«, verkündete der Butler in feierlichem Ton.

»Vielen Dank, Thornton.« Worthington stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Rothwell, es ist schön, dich wiederzusehen. Ich glaube, meine Stiefmutter hat unsere Beileidsbekundung geschickt. Es tut mir sehr leid um deinen Verlust.«

Gideon streckte die Hand aus, die sein Freund ergriff. »Danke. Vaters Tod war ein Schock, doch was ich über den Zustand unserer Ländereien und anderen Besitztümer feststellen musste, war noch schlimmer. Glücklicherweise besteht der größte Teil unseres Besitzes aus Erblehen.«

»Heutzutage scheint es, als ob nur noch unveräußerliche Erblehen und die Töchter aus wohlhabenden Händlerfamilien viele aristokratische Familien retten können. Nimm Platz.« Worthington winkte Gideon zu einem großen Sessel neben einem leeren Kamin. »Der Tee wird gleich kommen. Ich habe aber auch Wein und Brandy, wenn dir das lieber ist.«

»Vielen Dank, Tee ist hervorragend.« Es war außerordentlich wichtig, seine Sinne beisammenzuhalten. »Wie kannst du bei solchem Lärm arbeiten?«

»Glaub mir, die Alternative ist schlimmer.« Worthington ließ sich mit seiner langen Statur auf einem kleinen Sofa gegenüber von Gideon nieder. »Ich hatte noch gar nicht gehört, dass du in der Stadt bist.«

»Ich bin gestern erst spät angekommen. Ein Verwandter hat mich um Hilfe gebeten. Ich werde nicht lange bleiben. Es ist zu viel zu tun.«

»Ist das ein rein freundschaftlicher Besuch«, Worthington neigte leicht den Kopf, »oder kann ich etwas für dich tun?«

Der Tee kam, während Gideon noch darüber nachdachte, wie viel er seinem Freund von den Schwierigkeiten anvertrauen sollte, die ihn beschäftigten. Wenn er den besten Rat wollte, den er bekommen konnte, war es sinnlos, alles geheim zu halten. Dennoch zögerte er, allzu viel Information preiszugeben. »Unser Gespräch muss unter uns bleiben. Wenn das, was ich dir sage, herauskommt, wird es meine Lage noch verschlimmern.«

Worthingtons Lächeln erlosch. »Du kannst dich selbstverständlich auf mich verlassen.«

»Ich will offen sein. Wenn es um flüssige Geldmittel geht, bin ich praktisch am Limit. Mein Vater hat die Konten geplündert, als wäre ihm die Welt egal. Glücklicherweise war mein Verwalter fähig, mit den Ressourcen, auf die er Zugriff hatte, hauszuhalten. Deshalb haben wir Saatgut, allerdings auf Kosten von drei Jahren der Instandhaltung und Reparaturen.«

»Es ist nie eine gute Idee, nötige Reparaturen anstehen zu lassen«, kommentierte Worthington ausdruckslos.

Gideon nickte. »Ich muss auch unsere Methoden ändern. Mein Verwalter ist ein guter Mann, hält jedoch an den alten Traditionen fest. Ich habe einiges gelesen, aber ich bin gekommen, um deinen Rat einzuholen, welche der neuen Methoden die besten sind.« Er grinste. »Abgesehen davon bin ich gespannt, zu sehen, wie du mit dem Eheleben zurechtkommst.«

Das breite Lächeln seines Freundes verriet ihm, was er wissen wollte.

»Hätte ich gewusst, wie viel Freude es machen würde, hätte ich schon vor Jahren geheiratet.« Worthington zog neckend eine Braue hoch. »Denkst du daran, es mir gleichzutun?«

Gideons Gedanken kehrten zu der Lady auf dem Pferderücken zurück, die er früher an diesem Tag gesehen hatte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe durchaus vor zu heiraten. Es ist sowohl mein Wunsch als auch meine Pflicht. Unglücklicherweise kann ich erst um die Hand einer Dame anhalten, wenn meine Finanzen wieder in besserer Ordnung sind.«

»Du könntest eine Erbin heiraten.« Worthington klopfte mit einem Bleistift auf seinen Schreibtisch. »Das ist eine durchaus ehrenwerte Art und Weise, sein Vermögen wieder aufzustocken. Besonders, da du nicht schuld an dem Problem bist.«

»Und mich einer Frau anpassen, die nur Herzogin werden möchte.« Gideon zog eine Grimasse. »Nein, danke. Alles soll wieder seine Ordnung haben, bevor ich mir eine Frau nehme, und ich werde so sparsam wie möglich sein, um das zu erreichen. Glücklicherweise habe ich noch ein oder zwei Jahre bis zum Debüt meiner Schwester.« Er rieb sich über den Nacken, dann sah er Worthington in die Augen. »Vielleicht ist es dumm von mir, aber ich will nicht das Geld meiner Gattin für die Instandsetzung meiner Besitztümer benutzen. Was eine Dame mit in die Ehe bringt, sollte für Kinder und ihr eigenes Wohlergehen verwendet werden. Dies ist mein persönliches Problem. Ich werde mich darum kümmern.«

Er wollte seine Gattin nicht vom Zustand bestimmter Besitztümer abhängig machen, die sie höchstwahrscheinlich mittellos zurückließen, wenn sie nicht gut verwaltet wurden. Er schüttelte sich und nahm einen Schluck Tee. Nicht, dass er sich um eine Heirat Gedanken machen müsste. Er zweifelte, ob überhaupt eine Dame sein Interesse zu wecken vermochte. Es sei denn vielleicht eine Dunkelhaarige mit wundervoller Haltung auf dem Pferderücken, entsprechender Statur und Augen, in denen ein Mann glücklich versinken konnte. Jedoch waren die Aussichten darauf, dass er ihr begegnen würde, fast inexistent. Abgesehen von dem Ball an diesem Abend beabsichtigte er nicht, an irgendwelchen gesellschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

***

In demselben Augenblick, in dem Louisa sich Worthington House näherte, öffnete ein eifriger Hausdiener die Tür und der Lärm von Hammerschlägen erscholl aus den oberen Bereichen des Hauses, wo das Stockwerk mit den Schulzimmern renoviert wurde.

Der Diener verbeugte sich. »Seine Lordschaft hält sich in seinem Studio auf, Mylady.«

Und das konnte fast der einzige denkbare Grund sein, weshalb sie das Haus ihrer eigenen Familie aufsuchte. »Danke sehr.«

Andererseits fühlte sie sich in Stanwood House mehr zu Hause. Letzten Endes hatte sie dort länger gelebt. Nachdem Louisas Mutter sie und ihre Schwestern in die Stadt gebracht hatte, hatten sie nur wenige Wochen in Worthington House verbracht, bevor Matt und Grace heirateten und die Familie in das Stadthaus der Carpenters umgezogen war. Es war nichts weniger als ein Wunder, dass sie alle so gut miteinander auskamen. Louisa liebte Charlotte und ihre Geschwister schon jetzt ebenso sehr wie ihre eigenen.

Die Teppichläufer waren für die Renovierungsarbeiten entfernt worden, und ihre Stiefel erzeugten ein hohl klapperndes Geräusch auf dem harten Holzboden des Flurs. Sie erreichte die Tür und klopfte an, bevor sie sie öffnete. »Matt …«

Ein großer Gentleman mit dunkelblondem Haar und den bezauberndsten grauen Augen, die sie je gesehen hatte, stand da und blickte sie an. Sie riss sich zusammen, damit ihr der Mund nicht offenstehen blieb.

Das ist er!

Derselbe Mann, den sie vor nicht einmal einer Stunde gesehen hatte. Seine wohlgeformten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das sie bereitwillig erwiderte.

»Louisa«, sagte ihr Bruder, als sie den Blick von dem anderen Gentleman löste. »Ich möchte dir den Duke of Rothwell vorstellen. Rothwell, meine Schwester, Lady Louisa Vivers.«

Sie trat in den Raum hinein, und er wandte sich ihr zu. Als sie ihre Hand ausstreckte, verbeugte er sich. »Sehr erfreut, Mylady.«

»Euer Gnaden.« Sie sank in einen tiefen Knicks. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits.« Der Augenblick, in dem sein warmer Mund ihre nicht behandschuhten Finger berührte, ließ ihre Knie weich werden, und es kümmerte sie nicht einmal, dass er ihre Hand nicht wirklich hätte küssen dürfen.

Gütiger Himmel! Das war noch niemals geschehen. Sein Blick aus Augen von geschmolzenem Silber fing ihren ein, genauso wie früher am Tag. »Ich bestehe darauf, dass Ihr mir zugesteht, das größere Vergnügen zu verspüren, Mylady.«

Fast zum allerersten Mal in ihrem Leben blieb Louisa die Sprache weg. Glücklicherweise räusperte Matt sich, bevor sie sich vollends zur Närrin machen konnte. Sie zuckte mit der Hand, und langsam gab der Herzog ihre Finger frei und ließ sie los.

»Matt«, sagte sie und nahm einen tiefen Atemzug in dem Versuch, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Mehr konnte sie nicht tun, um den Blick von dem des Herzogs zu lösen. Endlich gelang es ihr, wieder ihren Bruder anzusehen. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir heute Abend zum Ball gehen werden.«

»Ja. Ich dachte mir schon, dass wir das tun«, erwiderte er verdrießlich. »Ich hatte darauf gehofft, die Masern könnten mir die restliche Saison ersparen, aber Grace hat andere Vorstellungen.«

»Was haben Masern mit dem Ball zu tun?«, fragte der Herzog.

»Ich habe nicht nur eine Frau gewonnen, sondern auch mehrere Kinder.« Matt erklärte, dass Grace bereits vor ihrer Eheschließung Vormund ihrer Brüder und Schwestern gewesen war. Diese Pflicht hatte er nun übernommen. »Die drei Jüngsten sind krank, aber es geht ihnen nicht so schlecht, dass wir unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen absagen müssen.«

Louisa blickte erneut den Herzog an. »Werdet Ihr Lady Sales Ball besuchen?«

»Ich werde da sein.« Seine Augen schimmerten silbern, als er sie anblickte. »Würdet Ihr mir die Ehre eines Tanzes erweisen, Mylady?«

Im Geiste ging sie ihre Tanzkarte durch. Bentley bat für gewöhnlich um den Supper-Tanz, aber wenn ihr Vorhaben, eine andere Dame für ihn zu finden, erfolgreich sein sollte, musste sie ihn von sich entwöhnen. »Den Supper-Tanz habe ich noch frei.«

»Wundervoll. Ich freue mich darauf, Euch wiederzusehen.«

Ihr Bruder warf ihr einen Blick zu, den sie nicht zu interpretieren vermochte, und sagte: »Rothwell und ich haben uns darüber beraten, wie er seine Eigentümer mehren kann.«

Sie wusste um nichts in der Welt, ob er sie gerade einlud, sich in die Unterhaltung einzubringen, oder ob er sie bat zu gehen. Allerdings musste sie tatsächlich noch nach den Kindern sehen. »Ihr habt dafür die richtige Person aufgesucht, Euer Gnaden. Wenn es um Immobilien geht, kennt Matt sich sehr gut aus.« Sie knickste erneut. »Es war schön, Euch kennenzulernen. Ich freue mich auf unseren Tanz.«

»Ganz meinerseits, Mylady.« Sein warmer Tonfall überlief sie und ließ einen wohligen Schauder ihren Rücken entlanglaufen.

Er öffnete die Tür für sie, und sobald sie wieder geschlossen war, flog Louisa praktisch den Flur entlang zur Halle und dann über den Platz. Ihr Herz schlug wie noch nie zuvor. Als sie ihn an diesem Morgen gesehen hatte, hätte sie beinahe ihr Pferd angehalten. Doch so gern sie auch jegliche Vorsicht in den Wind geschlagen hätte, hatte sie gewusst, dass das nicht ging. Solches Verhalten würde nicht nur ihre Mutter, sondern auch Grace und Matt enttäuschen. Und dann war er hier bei Matt!

Das musste ein Zeichen sein, dass es ihnen vorbestimmt war, sich zumindest kennenzulernen. Louisa konnte es nicht abwarten, Charlotte davon zu erzählen!

***

Er war ein verfluchter Narr. Das dachte Gideon jedenfalls, als sich die Tür hinter Lady Louisa schloss. Und doch hätte er sie genauso wenig ignorieren können, wie er aufhören konnte zu atmen. Als sie gefragt hatte, ob er an diesem Abend auf dem Ball sein würde, konnte er sich nicht bremsen, sie um einen Tanz zu bitten. Nur ein Tanz, mehr nicht. Mehr konnte es nie sein. Danach würde er herausfinden, was zum Teufel Bentley wollte, ihm dabei zur Seite stehen und nach Rothwell Abbey zurückkehren.

»Wieso habe ich das Gefühl, dass du meine Schwester schon kennengelernt hast?« Worthington wandte sich Gideon zu, die Brauen zusammengezogen.

»Nicht wirklich kennengelernt«, sagte er langsam. Er wollte Worthington nicht verärgern. Lady Louisa war nicht nur seine Schwester, sondern auch sein Mündel, und Gideon hatte diesem Mann soeben erklärt, dass er keine Frau unterhalten könne. Als er sie gesehen hatte, hätte er sogleich wissen müssen, dass sie seine sorgfältig gefassten Pläne durcheinanderwerfen würde. Doch so sehr er sich auch zu ihr hingezogen fühlte, blieb doch die Tatsache bestehen, dass er mit einer Heirat noch warten musste. Er legte sich seinen Satz sorgsam zurecht. »Wir sind heute Morgen zu früher Stunde im Park aneinander vorbei geritten. Sie hatte ein riesiges Ungeheuer bei sich.« Er hatte seine Reaktion auf sie heute Morgen für stark gehalten – so, als verginge die Zeit langsamer und als wären sie die einzigen Menschen auf der Erde. Doch als er vorhin Lady Louisas Hand ergriffen hatte, hatte sein Körper sie mit jeder Faser festhalten wollen.

Er hatte nicht gewollt, dass der Augenblick endete. Hätte sie nicht sanft mit der Hand gezuckt, würde er sie womöglich noch immer festhalten. Dennoch konnte er ihr nicht den Hof machen. Allerdings konnte er sie vielleicht für einige Zeit im Arm halten.

Er hörte jemanden oder etwas hinter dem Schreibtisch gähnen. Nach einer ganzen Weile erhob sich genau das Ungeheuer, das er heute früh gesehen hatte.

Worthington grinste. »Dieses Ungeheuer?«

»Ja. Eine Deutsche Dogge?«

»Richtig. Wir haben zwei, aber Daisy, die Jüngere, ist noch nicht verlässlich genug, um die Pferde zu begleiten.«

»Deine Schwester ist eine sehr gute Reiterin.«

»Das war sie immer schon.« Matt warf Gideon einen intensiven Blick zu, den er nicht zu deuten vermochte, dann sagte er: »Kommen wir zu unserem Thema zurück? Ich besitze mehrere Bücher, die ich dir ausleihen kann, wenn du möchtest.«

»Ja, gewiss. Danke sehr.« Erneut bildete sich in seinem Kopf die Vision von Lady Louisa auf ihrem Pferd. Verfluchter Vater. Hätte er nicht leichtfertig das Herzogtum aufs Spiel gesetzt, könnte Gideon ihr den Hof machen. Wie die Dinge jedoch lagen, konnte er es nicht. Nicht, solange seine Besitztümer in derartig schlechtem Zustand waren. Und sei es auch nur aus dem Grund, dass er Worthington nicht auf diese Art hinters Licht führen wollte.

Aber, bei Gott, sie war schön! Er freute sich auf den Tanz und den anschließenden Imbiss mit ihr mehr, als er sollte. Vielleicht, wenn sie sich gut verstanden, würde sie warten bis … Nein. Darum konnte er sie nicht bitten.

Worthington kritzelte etwas auf eine Karte. »Dies sind Name und Adresse meines Geschäftsbevollmächtigten. Er wird dir dabei helfen, einige sichere Investitionen zu tätigen.«

»Danke sehr. Das wird mir sicherlich von Nutzen sein.« Selbst wenn Gideon den Verstand verlor und doch um ihre Hand anhielt, würde Worthington, der den Zustand von Gideons Vermögen kannte, es nicht erlauben. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass irgendein Glückspilz sie ihm wegschnappen würde, bevor die Saison vorbei war.

Hölle und Verdammnis! Warum hatte sich sein Vater nicht von Flittchen und Spieltischen fernhalten können?

»Was kannst du mir über eine ehrgeizige Frauensperson namens Misses Petrie sagen?«

Abermals lehnte Worthington sich gegen die Rückenlehne. »Nichts aus persönlicher Erfahrung. Ich weiß, dass dein Vater recht oft in ihrer Gesellschaft ›gesehen‹ wurde. Nach allem, was ich höre, ist sie unerhört kostspielig.«

»So wurde es mir zur Kenntnis gebracht.«

»Geht es um den Herzog?«

Wie viel sollte Gideon enthüllen? Er wollte nicht, dass jedermann erfuhr, was sein Vater angerichtet hatte. Andererseits schien Worthington von der Verbindung zu wissen. Mal ganz abgesehen davon, dass Gideon niemand anderen hatte, um über sein spezielles Problem zu reden. »Unglücklicherweise. Bei der Inventur wurde festgestellt, dass einiges vom Erbschmuck fehlt. Zunächst glaubte ich noch daran, dass die Stücke im Schmuckkästchen meiner Mutter auftauchen würden, aber sie sagte, dass Vater sie immer im Safe aufbewahrte. Sie waren weder in Abbey noch sind sie hier. Erst heute Morgen habe ich von der Existenz dieser Misses Petrie erfahren. Ich glaube, sie könnte die Stücke haben.«

»Sollten sie wirklich in ihrem Besitz gewesen sein, könnte sie sie auch versetzt haben.«

»Daran dachte ich auch, aber sie sind leicht wiederzuerkennen. Nur ein erfahrener Juwelier könnte sie auseinanderlegen.«

Worthington zog eine weitere Karte hervor. »Geh zu Rundell and Bridge’s. Wenn sie den Schmuck nicht gesehen haben, dann könnte dir der Pfandleiher T. M. Sutton vielleicht weiterhelfen. Mister Sutton hat den Ruf, den besten Gegenwert zu zahlen.«

»Übrigens, solltest du nach guten Pferden suchen – ich werde einige Tiere verkaufen, für die ich keinen Nutzen habe.«

»Willst du sie bei Tattersalls versteigern lassen?«

»Ja, ich muss sehen, dass ich so viel dafür bekomme wie irgend möglich.«

»Lass mich wissen, wann sie versteigert werden sollen, und ich werde danach schauen.«

»Danke für alles.« Gideon nahm die Karte und erhob sich. »Ich überlasse dich nun wieder deinen Geschäften.«

Sein Freund stand auf. »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Es ist eine teuflische Schande, dass du zu Gütern heimgekehrt bist, die in Trümmern liegen, aber du wirst es durchstehen.« Sie schüttelten sich die Hände. »Lass mich wissen, wenn du noch etwas brauchst.«

»Das werde ich. Nochmals Dank für deine Unterstützung.«

Worthington hielt die Tür auf. »Ich werde meine Frau Grace bitten, dir eine Einladung zum Abendessen zu schicken, sobald wir von unserem Kurztrip nach Worthington Place zurück sind.«

»Ich glaube, ich bin ihr noch nie begegnet.«

Ein selbstgefälliges Lächeln erschien auf Worthingtons Antlitz. »Nein, ich habe sie mir so schnell geschnappt, wie ich konnte.«

Als Gideon das Pflaster betrat, schlenderte er die Straße entlang und hielt nach einer Droschke Ausschau. Kurz darauf entdeckte er eine, der soeben ein Passagier entstieg. »Hatchett’s in Longacre.«

»Sehr wohl, Meister.« Die schäbige Kutsche fuhr ruckelnd los.

Eine halbe Stunde darauf betrat er einen weitläufigen Bau, in dem Dutzende von Kutschen in unterschiedlichen Stufen der Reparatur und des Ausbaus standen. Ein Mann, den er nur wenige Jahre älter als sich selbst schätzte, näherte sich ihm.

»Ich bin Mister Hatchett Junior. Kann ich Euch helfen, Sir?«

»Sehr erfreut. Mein Name ist Rothwell.« Der Mann machte einen Diener. »Mein Vater hat bei Ihnen zwei Kutschen in Auftrag gegeben, einen Landauer und einen hochrädrigen Phaeton. Leider muss ich diese Bestellungen annullieren.«

»Ich erinnere mich gut an die Aufträge. Doch zunächst lasst mich Euch das Beileid meiner Familie ausdrücken. Wir haben vom Ableben Seiner Gnaden gehört. Tatsächlich haben wir aus diesem Grund mit dem Bau des Landauers gar nicht begonnen. Der Phaeton ist allerdings schon halb fertig.« Er hüstelte diskret. »Die Frau, die Euren Vater begleitete, als er uns den Auftrag erteilte, hat just gestern eine Nachricht geschickt, in der sie danach fragte.«

Raffgieriges Weib. »Wenn Ihr mir ihre Adresse gebt, kann ich ihr die Lage selbst erläutern.«

Mister Hatchett wirkte, als werde ihm eine schwere Last von den Schultern genommen. »Ja, in der Tat, Euer Gnaden. Sehr gern.«

»Außerdem besitze ich einen Phaeton, den ich gern veräußern würde. Handeln Sie mit gebrauchten Kutschen?«

»Das tun wir. Es wäre mir ein Vergnügen, zu Euch zu kommen, oder Ihr lasst Euren Kutscher den Wagen herbringen.«

Gideon wollte das Ding schnellstmöglich aus dem Stall haben, genauso wie alles andere, das die Geliebte seines Vaters als ihr Eigen betrachtete. »Ich lasse ihn vorbeibringen.«

Gideon rief eine andere Mietdroschke, nannte die Adresse in der Nähe von Green Park, änderte dann jedoch seine Meinung und beschloss, Rundell and Bridge’s zuerst aufzusuchen. »Ludgate Hill.«

»Dieses Mal sicher?«

»Sicher«, antwortete er.

Bevor er die Frau darüber in Kenntnis setzte, dass sie von Rothwell keine Großzügigkeiten mehr zu erwarten hatte, wollte er herausfinden, ob die vermissten Schmuckstücke aufzufinden waren. Er wollte sie auch nicht wissen lassen, dass er die Absicht hatte, nachzuforschen, ob sie Dinge in ihrem Besitz hatte, die sie nicht besitzen sollte. Er fragte sich, ob das Haus, in dem sie lebte, überhaupt ihres war. So verliebt, wie sein Vater anscheinend gewesen war, konnte es sehr wohl auch seines sein. Aber nicht nur das, er konnte auch gleich noch seinen Anwalt besuchen, wenn er schon unterwegs war.

Das Bild von Lady Louisa huschte durch seinen Geist. Wenn er seine Besitztümer nur rasch genug wieder zusammentragen konnte, um ihr den Hof machen zu können.