1. Kapitel
England, 1071
„Vergiss nicht“, sagte Gianelle, während sie das dicke Seil zur Sicherheit noch einmal knotete, „eine Stunde, nachdem Lord Bryce und seine Gäste sich in ihre Gemächer zurückgezogen haben, werden wir fliehen.“ Sie zog den Knoten so fest, wie sie konnte, dann überprüfte sie, ob das andere Ende, das um alle vier Füße des Bettes lag, festen Halt hatte. Sie packte das Seil und zerrte mit all ihrer Kraft daran. Es würde halten. Hoffentlich.
„Was, wenn er aufwacht und nach uns sieht?“ Casey beobachtete, wie Gianelle das Seil zurück unter das Bett schob. Dieser Plan gefiel ihr gar nicht. Allein bei dem Gedanken, sich aus dem Fenster zu stürzen, drehte sich ihr der Magen um. Gäbe es doch bloß einen anderen Fluchtweg. Aber Gia hatte recht. Sie mussten Devonshire verlassen. Ihr Herr war schon übel genug, doch es war sein Bruder, vor dem sie sich am meisten fürchtete. Nur selten rührte er sie einmal an, was jedoch nicht hieß, dass er es nicht gewollt hätte. Wenigstens in dieser Hinsicht stellte sich ihr Herr schützend vor sie. Dennoch fand Edgar Dermott immer wieder Wege, um ihnen das Leben zur Hölle zu machen – und das galt vor allem für Gia. Mit seinen verschlagenen Augen verfolgte er sie unablässig. Wenn sie mehr aß als die spärliche Portion, die der Dienerschaft von Devonshire zugestanden wurde, dann war er sofort zur Stelle, um ihr Vorwürfe zu machen. Wenn irgendetwas auf der Burg fehlschlug, gab er ihr die Schuld und genoss es, sie anschließend zu bestrafen.
„Er wird nicht nach uns sehen“, versicherte Gianelle ihr. „Casey, das ist die ideale Nacht für uns, um zu fliehen. Bei den vielen Gästen, die zum Festmahl hergekommen sind, wird er unser Verschwinden erst bemerken, wenn wir bereits die halbe Strecke nach York zurückgelegt haben.“
Casey wünschte, sie wäre so zuversichtlich wie ihre beste Freundin. Sie war sich nicht sicher, welcher Teil des Plans ihr mehr Angst machte: dass sie sich an einem Seil an der Mauer von Devonshire nach unten lassen sollte oder dass die wahren Gefahren erst auf sie lauerten, wenn ihnen die Flucht aus der Burg gelungen war.
„Hast du die Münzen?“
Casey nickte und hob ihren Rock an, damit Gia den kleinen Geldbeutel sehen konnte, der etwa in Kniehöhe baumelte.
„Wie viel haben wir?“
„Weiter als bis zehn Pence kann ich nicht zählen“, machte Casey ihr klar. „Wir haben etwas mehr als zehn Pence.“ Sie nestelte mit den Fingern an ihrem langen, kastanienbraunen Zopf, während sie sich auf die Unterlippe biss. „Und wenn uns die Wachleute sehen, wie wir davonrennen?“
Gianelle kam zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Du weißt, dass sie jeden Abend einschlafen, also musst du dir keine Sorgen machen. Denk lieber daran, welches Leben uns nach dieser Nacht erwartet.“ Das entschlossene Funkeln in Gianelles Augen ließ sie leuchten wie polierten Bernstein. Auf ihren sonst so blassen Wangen lag vor Begeisterung ein sanfter roter Hauch. „Dann werden wir frei sein. Nie wieder wird uns ein Herr sagen, wie wir zu denken und uns zu benehmen haben. Es wird keine Bestrafung mehr geben, nur weil wir einmal den Blick heben. Viel besser noch: Wir werden sagen dürfen, was wir wollen, wir essen, wenn wir hungrig sind, und wir werden in sauberen Seen baden können, nicht mehr in einem Bottich hinter der Küche.“
Die Aufregung in der Stimme ihrer Freundin war irgendwie ansteckend. Selbst wenn Casey die Freiheit nicht halb so wichtig war wie Gia, musste sie doch aus lauter Vorfreude zustimmend nicken und lächeln. Sie mussten fliehen, und Casey würde nicht zulassen, dass ihre beste Freundin ohne sie fortging.
„Jetzt komm. Lass uns nach oben gehen, damit wir die pflichtbewussten Dienerinnen spielen können, für die uns unser Herr hält.“ Gianelle nahm Casey an der Hand und zog sie in Richtung Tür.
„Gia.“ Casey blieb stehen, bevor sie beide in den Korridor gelangen konnten. „Bist du dir ganz sicher, dass er nicht aufwachen und uns ertappen wird? Du weißt doch noch, was letztes Mal passiert war, als wir ihn verärgert hatten …“
Um sie zu beruhigen, tätschelte Gianelle Caseys Hand. „Ich verspreche dir, Casey, Lord Dermott wird nicht aufwachen.“
Mit dem Handrücken strich Gianelle eine Strähne aus dem Gesicht, dann hob sie das schwere Silbertablett an, auf dem ein fettes Spanferkel lag. Dabei versuchte sie ihr Magenknurren zu ignorieren, während das Gewicht des Tabletts sie wanken und nach hinten taumeln ließ. Leise fluchte sie und fragte sich, was man diesem Schwein bloß zu fressen gegeben hatte. Sie würde es wohl nicht bis in den Saal schaffen, ohne wenigstens zweimal das Tablett auf ihren Knien abzusetzen.
Ihre verdammten Haare erschwerten das Unterfangen nur noch weiter. Obwohl sie es zu einem Zopf geflochten hatte, war es so unbändig, dass es ihr immer wieder ins Gesicht fiel und ihr die Sicht nahm, während sie versuchte weiterzugehen.
In den Korridoren von Devonshire Castle wimmelte es von Dienern und Vasallen, und gelegentlich mischte sich auch einer der Gäste auf der Suche nach der Garderobe darunter. Lord Bryce Dermott hatte heute eingeladen, um die Sonnenwende zu feiern, und ihm war nichts zu kostspielig gewesen, um seine adligen Gäste zu unterhalten. Es waren sogar zwei zusätzliche Köche geholt worden, damit sie Milda helfen konnten, die Vielzahl von Köstlichkeiten zuzubereiten, die keinem Geringeren als dem König selbst serviert werden sollten. Barden knieten vor dem Kaminfeuer und trugen Lieder von Liebe und Treue vor, während farbenprächtig gekleidete Jongleure Bälle hoch in die Luft warfen und zwergenwüchsige Akrobaten Purzelbäume zwischen den Tischreihen schlugen, die für das Festmahl aufgestellt worden waren.
Auf einer Estrade saßen die beiden Dermott-Brüder nebeneinander. Wie üblich, war Lord Edgar Dermott sogar noch schweigsamer und übelwollender als sein Bruder Bryce, der Herr von Devonshire Castle. Mit herablassender Miene beobachtete Bryce, wie Gianelle sich mit dem Tablett abmühte, nachdem einer der Akrobaten ihr in den Weg geturnt war. „Beweg deinen Hintern, Weib!“ Er schnippte mit den Fingern nach ihr. „Wir haben Hunger.“
Gianelle biss die Zähne zusammen, senkte den Kopf und ging weiter, bis sie endlich die Estrade erreicht hatte, wo sie dann das Tablett abstellte. Beinahe wäre sie dabei noch über ihre eigenen Füße gefallen, weil Lord Douglas Landry – einer der Gäste an einem Tisch unterhalb ihres Herrn – ihr in den Po kniff. Sie schluckte nur mit Mühe den wüsten Fluch herunter, der ihr auf der Zunge lag, und drehte sich abrupt zu dem Edelmann um. Doch der warf ihr bloß einen herausfordernden Blick zu, dann sagte er: „Füll meinen Kelch auf.“
„Natürlich, Mylord.“ Gianelle sah zu Boden und machte einen Knicks. „In der Küche steht ein soeben geöffnetes Fass Wein.“ Sie nahm ihm den Kelch aus der Hand und ging lächelnd zurück in die Küche. Die war normalerweise der Ort, an dem Gerüchte und Klatsch ausgetauscht wurden. Deshalb wunderte es Gianelle auch nicht, dass sich etliche der Dienstmädchen um die Köchin Milda geschart hatten, während die einen Ochsen mit Fett begoss, der am Spieß gedreht wurde.
„Wie ich hörte, hat der Earl kurz nach der Eroberung völlig ohne Hilfe zwanzig von König Williams Kriegern aus dem Verlies von Edgar Ætheling gerettet. Ingrams ältere Schwester Sarah sagt, er ist sogar noch größer als Lord Edgar, und sein Haar ist so schwarz wie das einer Rabenschwinge, und seine Augen haben die Farbe von edlem Zinn.“
„Aye“, bestätigte Sylvia, die soeben ein Tablett mit verlorenen Eiern hochnahm, „ich konnte ihn kurz sehen, als ich im Frühjahr meine Schwester in Dover besuchte. Er kam ins Dorf geritten und saß ab, um mit einer Fischerin zu reden, als wäre er keinen Deut besser als sie. Und doch ist er reich und besitzt Ländereien in Norwich und sogar in der Normandie. Der Mann meiner Schwester sagt, dass die Leute aus Dover ihren Herrn sehr lieben. Vor allem die Frauen.“ Sylvia zwinkerte Milda zu. „Ich sag’s euch, Mädchen. Lord Dante Risande ist anständiger als jeder Mann, der dort im Saal sitzt.“
Milda lachte leise. „Ich wünschte, ich könnte heute Abend servieren.“ Als sie Gianelle sah, winkte sie ihr mit ihrem Schöpflöffel zu. „Hast du ihn gesehen, Gia?“
Gianelle schüttelte den Kopf und ging an den Frauen vorbei zu Casey, die Apfeltorten auf einem langen, bronzenen Serviertablett arrangierte. „Ich sagte dir doch schon gestern, Milda, als du uns von seiner Ankunft erzählt hast, dass mich kein Mann interessiert, der mich herumkommandieren kann.“
„Nun ja, ich fürchte, nicht mal der Anblick eines Gottes könnte Gia interessieren“, meinte Lydia, eine dunkelhäutige junge Frau, die damit beschäftigt war, einen Schwan zu füllen. Sie zog eine Hand aus dem Tier und zeigte mit einem fettigen Finger auf Gia. „Du wirst noch als alte Jungfer enden, wenn du nicht bald jemanden findest, in den du dich verlieben kannst.“
„Die Liebe ist etwas für die Dichter, Lydia“, gab Gianelle zurück, dann holte sie eine Prise Narzissenblatt aus einem der vielen Gläser heraus, die auf einem Regal über dem Hacktisch standen, und gab es in Lord Landrys Kelch. „Ich verschwende keinen Gedanken an derart romantisches Gefasel.“
„Was machst du mit der Narzisse?“, wunderte sich Casey, als sie sah, wie Gianelle Rotwein in den Kelch füllte.
„Lord Landry hat mich gekniffen“, antwortete sie mit vielsagendem Grinsen. „Jetzt darf er dafür bezahlen.“
„Er wird meinen köstlichen Ochsen herauswürgen, noch bevor der in seinem Magen gelandet ist.“ Milda warf den Kopf in den Nacken und lachte von Herzen.
„Na, das ist immer noch besser, als sich ein paar Zähne auszubeißen, so wie Lady Millicent letzten Monat, als sie Gia ohrfeigte, weil die ihren verdrießlichen alten Ehemann angesehen hatte“, warf Casey ein.
„Woher sollte ich denn wissen, dass sie sich die Zähne an den Steinen ausbeißt, die in ihrem Honiggebäck steckten?“
Während die anderen Frauen wieder lachen mussten, schwenkte Gianelle Lord Landrys Kelch und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, weil ihr seine armen Eingeweide leidtaten. Sie warf einen Blick auf die Apfeltorten. Eine Sache musste sie noch erledigen, bevor sie die Küche verließ.
Auf dem Weg nach draußen ging sie an Margaret vorbei, ebenfalls eines von Dermotts Serviermädchen, und verdrehte die Augen, als die Frau den anderen verkündete, sie habe soeben Lord Dante gesehen, und der Allmächtige möge ihr einen Blitz in den Hintern fahren lassen, wenn er nicht der wundervollste Kerl war, den sie je zu Gesicht bekommen hatte.
Als Gianelle wieder den Saal betrat, machte sie sich gar nicht erst die Mühe, sich nach dem Mann umzusehen, der in der Küche für so viel Aufruhr sorgte. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf Douglas Landry und ging geradewegs zu ihm, während sie zufrieden eine Melodie summte.
„Euer Wein, Mylord“, sagte sie leise und stellte den Kelch vor ihm auf den Tisch. Als sie sich umdrehte, um wegzugehen, war es ihr, als wäre sie gegen eine massive Wand gelaufen.
Starke, breite Finger schlossen sich um ihre Arme, damit sie nicht nach hinten fiel und auf Landrys Schoß landete.
„Verzeiht, Madame.“
Unwillkürlich hob sie den Kopf und sah dunkles Haar und blassgraue Augen, dann fiel ihr noch rechtzeitig ein, dass sie den Blick zu senken hatte. Mein Gott, dieser Kerl war ein Riese! Sein Körper war so hoch und breit, dass er ihr die Sicht auf alles nahm, was sich hinter und neben ihm befand. Vor allem aber war es der Geruch, der sie überwältigte. Eine intensive Mischung aus Leder und salzigem Seetang stieg ihr in die Nase und berauschte sie auf der Stelle. Als er sie losließ, wollte sie um ihn herumgehen, doch etwas hinderte sie daran.
„Eine Strähne Eures Haars hat sich an meinem Knopf verfangen.“ Seine Stimme war tief und sanft und schien aus den Tiefen seiner muskulösen Brust zu kommen.
Das muss der berühmte Earl Risande sein, überlegte sie, während sie zusah, wie er mit behänden Fingern den kleinen Knopf an seinem Surcot von ihren Haaren befreite. Keiner von Dermotts anderen Gästen sprach mit ihr in einem so sanften Tonfall, und bei kaum einem von ihnen hörte sie diesen sinnlichen Akzent ihrer Heimat – der Normandie – heraus.
„So, nun seid Ihr frei.“
Normalerweise hätte Gianelle einem Adligen keinen zweiten so direkten Blick zugeworfen, erst recht nicht, wenn der so dicht vor ihr stand. Sie war sich nicht sicher, ob es seine Stimme oder seine Worte waren, die sie in diesem Augenblick dazu verleiteten.
Als sie hochschaute, trafen sich ihre Blicke, und für einen Moment sahen sich die beiden eindringlich an. O verdammt, die Küchenmädchen hatten recht. Seine Augen waren wie aus Blattsilber geschaffen. Volle Wimpern, so pechschwarz wie sein Haar, ließen diese Augen noch klarer, noch durchdringender wirken. Die Nase war gerade, der Kiefer kantig, und seine Lippen waren wie für heidnische Vergnügungen geschaffen.
Dieser Mann erinnerte sie an einen Wolf, dessen Erhabenheit einen vergessen ließ, in welcher Gefahr man schwebte, wenn man sich ihm näherte. Diese Augen strahlten jene wilde Schönheit aus, von der eine Beute gefesselt ist, unmittelbar bevor sie ihm zum Opfer fällt. Gianelle stand einen Moment lang wie verzaubert vor ihm, während er sie anlächelte. Sie sah, wie sich Grübchen in seinen Wangen bildeten und wie er sein Gegenüber völlig aus dem Gleichgewicht brachte.
„Wenn Ihr mich dann entschuldigen würdet, Mylord“, brachte sie heraus, machte einen flüchtigen Knicks und eilte davon.
Lord Dante Risande sah ihr nach. Sein Blick wanderte dabei von ihrem langen goldblonden Zopf bis hinunter zu den verführerischen Rundungen ihres Pos.
„Merde. Habt Ihr das gesehen, Balin?“ Er wandte sich zu einem Mann um, der geduldig zu seiner Rechten wartete.
„Was gesehen, Mylord?“
„Dieses Gesicht.“ Dante drehte sich zur anderen Seite und suchte in dem belebten Saal nach dem Serviermädchen. „Diese strahlenden Augen. Findet ihren Namen heraus.“
Balin seufzte laut auf. „Eines Tages werdet Ihr feststellen, dass Ihr ein Dutzend Söhne habt, von denen Ihr nichts wisst“, brummte er, während er sich daranmachte, den Wunsch seines Herrn zu befolgen.
Dante lächelte, als er einen letzten Blick auf sie erhaschen konnte, wie sie sich ihren Weg aus dem Saal bahnte. „Vielleicht habe ich Glück und es werden dreizehn Söhne sein, noch bevor ich am Morgen diese Burg verlasse.“
2. Kapitel
Dante hob den Silberkelch hoch und betrachtete aufmerksam die kunstvollen Gravuren. Seine Augen leuchteten im gleichen Farbton wie der Glanz dieses Gefäßes. Die alte angelsächsische Handarbeit war von ausgesuchter Schönheit und so gefertigt, dass sie jahrelange Benutzung unbeschadet überstehen konnte. Damit war der Kelch so robust wie die Männer jenes Volks, die ihn geschaffen hatten.
Es freute Dante, dass Normannen und Angelsachsen gemeinsam trinken und lachen konnten. In England war bereits genug Blut vergossen worden, nun war die Zeit gekommen für Frieden zwischen den zwei unterschiedlichen Völkern in diesem Land. Aber nicht jeder wollte Frieden, und deshalb war er hier: um jeden zu finden, der sich mit Hereward dem Geächteten verbündet hatte, dem Führer des Widerstands gegen den Thron.
Als Krieger konnte Dante verstehen, warum manche Angelsachsen noch immer William bekämpften. In ihren Augen war der neue König ein Fremder, ein Eindringling, und auch wenn er seit der Eroberung versuchte, ihre Gesetze zu achten, wurde doch viel Land an die Normannen gegeben. Davon abgesehen behandelte William diese Einwohner gerecht. Wenn ein angelsächsischer Edelmann wie Bryce Dermott dem König Treue schwor, dann durfte er den größten Teil seiner Ländereien behalten. Es war der Widerstand, dem William ein Ende setzen wollte, und Dante war auf der Jagd nach dem Führer dieses Widerstands.
Etwas Warmes, Zartes strich über seinen Arm und riss ihn aus seinen Gedanken über seine Pflicht, brachte ihn aber sogleich zu seinem anderen bevorzugten Zeitvertreib. Er drehte sich zur Seite und schenkte Lady Genevieve LaSalle die Andeutung eines verführerischen Lächelns.
„Madame?“
Oh, diese Stimme … dieser Klang wie schwarze Seide und Stahl sorgte für eine wohlige Wärme in Lady Genevieves Lenden. Sie beugte sich über seinen Stuhl, sodass sich ihr milchigweißes Dekolleté dicht vor seinem Mund befand. „Ist das alles, was Ihr zu mir zu sagen habt, mon cher?“ Ihre vollen roten Lippen waren von seinen nur ein paar Fingerbreit entfernt, doch als sie sie mit ihrer Zunge benetzte, verhärtete sich Dantes Lächeln ein wenig und nahm einen nicht mehr so höflichen Zug an. „Ich hätte gedacht, dass Ihr mich nach unserer letzten …“, sie hielt kurz inne und biss sich auf die Unterlippe, „Begegnung wenigstens als amoureuse bezeichnen würdet.“
Sein Blick wanderte mit der Arroganz eines Mannes, der sich seiner Macht und Ausstrahlung vollends bewusst war, über ihren Körper. Lady Genevieve hielt den Atem an, da sie sich mit einem Mal nicht so unter Kontrolle hatte, wie es ihr lieb gewesen wäre. Zum Teufel mit diesem Mann! Warum mussten diese Augen bloß ein solches Feuer ausstrahlen? Und warum musste sein Mund nur so sinnlich sein? Lady Genevieve wurde unruhig und wünschte sich, sie hätte sich hingesetzt. Ihre Knie fühlten sich plötzlich zu schwach an, um ihr noch länger Halt zu geben. Mit einem gewissen unterwürfigen Charme, der ihrem Bewunderer nicht entging, hob sie unsicher eine Hand an ihr weizenblondes Haar. Ihre eingeflochtenen Perlen saßen noch immer am richtigen Platz.
„Ich glaube, ein einziges Stelldichein berechtigt nicht dazu, uns als Liebespaar zu bezeichnen, mein Engel“, erklärte er, während er zu Lord Landry sah, der soeben von seinem Platz aufgesprungen war, die Hände auf seinen Bauch presste und zur Tür rannte.
„Und wie sieht es nach einem zweiten Stelldichein aus?“, schlug Genevieve vor, die sich von seiner tiefen, rauen Stimme umso mehr zu ihm hingezogen fühlte. „Wir könnten uns auf der Stelle zurückziehen.“
Sein sanftes Lachen riss sie aus ihrer Träumerei. „Vielleicht ein anderes Mal, Madame.“
Die Stimme, mit der er diese Worte sprach, fühlte sich auf ihrer Haut wie ein verlockendes Feuer an. Doch Dante zog sich bereits zurück und tat sie wie ein Serviermädchen ab, das ihre lästigen Hände nicht von ihm lassen wollte. Wie konnte er das nur wagen! Hatte er vergessen, dass sie die Tochter des Comte LaSalle de la Flandre war? Jeder Mann würde es als ein Geschenk Gottes bezeichnen, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte, ganz zu schweigen von ihrem Körper! Und genau den hatte sie Dante geschenkt … und er hatte ihr noch viel mehr geschenkt … eine Nacht, die sie niemals vergessen würde, Küsse so hitzig, dass sie laut hatte aufschreien müssen – ohne Rücksicht darauf, ob ihr Vater sie hörte, der nur einige Zimmer weiter in seinen Privatgemächern arbeitete.
Sie starrte in seine melancholischen Augen. Mit ihrer Hand, an der Rubine prangten, hätte sie ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben, damit er aufhörte zu grinsen. Und gleichzeitig hätte sie liebend gern mit ihren Fingern sein Haar zerwühlt. Ihre zwiespältigen Empfindungen machten sie innerlich so wütend, dass ein paar Schweißtropfen sich einen Weg zwischen ihren Brüsten hindurch bahnten. Einerseits fühlte sie sich von diesem Mann aufs Äußerste gedemütigt, andererseits sehnte sie sich nach seinen starken Armen. Aufgebracht machte Lady Genevieve auf der Stelle kehrt und stürmte davon.
Dante sah ihr amüsiert nach und bewunderte zugleich den sanften Schwung ihrer üppigen Hüften unter dem safrangelben Kleid. Comte LaSalle würde zweifellos auf einer Heirat bestehen, wüsste er etwas von diesem Stelldichein, wie Dante es formuliert hatte. Dabei war es in Wahrheit mehr wie eine Schlacht in einem Schneesturm gewesen, die in Dante den Wunsch nach etwas Warmem weckte, nachdem alles vorüber war. Diese Frau war eine Schönheit: mit langen, anmutigen Beinen und vollen, festen Brüsten, die selbst einen Mönch zum Sünder werden lassen konnten. Zu schade nur, dass Dante bei ihr eine große Leere verspürte – so leer wie die Netze, die seine Fischer im letzten Winter unterhalb seiner Burg in Dover aus dem Meer gezogen hatten.
Genevieve LaSalle war so schnell vergessen, wie sie neben ihm aufgetaucht war. Dante zuckte mit den Schultern und veränderte seine Sitzhaltung, da der mit Schnitzereien verzierte Eichenstuhl für seine langen Beine etwas zu klein war. Sein Blick wanderte durch den Saal zu Bryce Dermott, der gerade von einem Stück gebratenem Schwein aß, das vor ihm auf dem Tisch lag. Dante bezweifelte ernsthaft, dass dieser Mann der Rebell war, nach dem König William suchen ließ. Selbst wenn dem Herrn von Devonshire der Ruf anhing, ein zügelloser Tyrann zu sein, war er unfähig, auch nur den nächsten Tag zu planen, von einem Aufstand gegen den König ganz zu schweigen. Er sah zu dem Mann rechts von Bryce. Der kam ihm schon deutlich verdächtiger vor. Edgar Dermott besaß keinerlei Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder, weder im Aussehen noch hinsichtlich seines Temperaments. Der Mann nippte an seinem Weinkelch und beobachtete Dante auf die gleiche kühle, berechnende Weise wie ein Falke, der seine Beute ausgewählt hatte.
„Glaubt Ihr, er weiß, warum wir hier sind?“, fragte Balin leise, als er sich neben Dante setzte und ebenfalls zur Estrade schaute.
„Er weiß, wer ich bin. Und er weiß, was geschah, als Hereward im letzten Winter seine angelsächsischen Rebellen und die Dänen gegen uns schickte.“ Dante lächelte Edgar Dermott herausfordernd an, dann sagte er an Balin gerichtet: „Er sieht mich nicht sehr wohlgesinnt an, oder?“
„Nun“, Balin zuckte mit den Schultern, die nur ein wenig schmäler waren als die von Dante, „wenn er wahrhaftig einer von Herewards Spießgesellen ist, dann ergibt sein wütender Blick sehr wohl einen Sinn. Immerhin wart Ihr derjenige, der die Armee des Königs in Peterborough angeführt und diesen Rebellen schwere Verluste beschert hat.“
Auch wenn ich diese Zeit lieber vergessen würde, dachte Dante. Es war nicht die blutige Schlacht bei Peterborough, die ihn so sehr bedrückte, dass er zeitweilig glaubte, er müsse den Verstand verlieren. Zu schaffen machte ihm vielmehr, was er nach seiner Heimkehr vorgefunden hatte.
„Ihr Name ist Gianelle.“
Dante lehnte sich auf seinem Stuhl nach hinten und rieb sich das Kinn, während er versuchte, die Erinnerungen zu vertreiben. „Wer?“
„Die Dienstmagd, die Ihr vor einer Weile bewundert hattet“, erklärte Balin. „Ihr Name ist Gianelle Dejiat.“
Er schaute Balin düster an. „Stammt sie aus der Normandie?“
„Es scheint so.“
Wieder sah Dante zu Bryce Dermott, und er fragte sich, wieso sich ein Angelsachse eine Frau aus der Normandie als Dienerin hielt. Im Schein der Kerzen bemerkte er, wie sie die Kelche der anderen Gäste am Tisch auffüllte. Das flackernde Licht huschte über ihr Gesicht, während sie vornüber gebeugt ihre Arbeit verrichtete, als würde sie die Adligen um sie herum gar nicht zur Kenntnis nehmen. Unter dem groben, schmucklos braunen Wollkleid wirkte sie erschreckend dünn. Wenn auch ihr Körper nicht jene von Dante üblicherweise bevorzugten vollen Rundungen aufwies, hatte diese Frau doch etwas an sich, das ihn in ihren Bann zog.
Vielleicht war es gerade ihr zierliches Erscheinungsbild, das ihm den Atem stocken ließ, während sie sich ihm langsam näherte. Oder es lag daran, dass sie so deplatziert wirkte inmitten der vornehmen Damen, die hinter ihren hochgehaltenen parfümierten Taschentüchern verlegen kicherten, und die immer ihr Haar abtasteten, um Gewissheit zu haben, dass sich alle Perlen und silbernen Haarklammern noch da befanden, wo sie sein sollten. Gianelle war von natürlicher Schönheit, die von keinem Schmuck noch zusätzlich hervorgehoben werden musste. Edgar Dermott schien das Gleiche zu denken, wie Dante bemerkte. Der Bruder des Burgherrn verfolgte jede ihrer Bewegungen mit einem gierigen Ausdruck in den Augen.
Als sie endlich bei ihm angelangt war, betrachtete er sie ausgiebig, während sie ihn verstohlen unter den langen Wimpern hindurch ansah.
„Kann ich den bedenkenlos trinken?“, fragte er, während sie sich vorbeugte.
Sie blinzelte und sah ihm direkt in die Augen. Ein Anflug von Furcht ließ ihre Wangen ein wenig erröten. Es war das zweite Mal an diesem Abend, dass er von der außergewöhnlichen Schönheit dieser Frau gefesselt war.
„Wie bitte, Mylord?“
„Ich frage nur, weil Lord Landry nach dem Genuss des Weines recht übel wurde.“
Gianelle drückte den Weinkrug an ihre Brust. Wie war es möglich, dass er ihr Handeln durchschaut hatte? „Wenn sich Lord Landry nicht wohlfühlt, dann hat das mit mir bestimmt nichts zu tun.“
Dante wusste, dass sie log.
Er hatte gesehen, wie sie mit Landrys Kelch in den Saal gekommen war. Warum hatte sie einen gefüllten Kelch mitgebracht, wenn sie doch den Krug nehmen konnte, der am Eingang zum Saal aus dem Fass nachgefüllt wurde? Seine Jahre an der Tafel von König William hatten ihn gelehrt, wie leicht es war, sich mit nichts weiter als einem Kelch Wein eines Gegners zu entledigen. Ihm missfiel der Gedanke, diese reizende Frau könnte sich mit jemandem verschworen haben, um die normannischen Gäste an Bryce Dermotts Tafel zu vergiften. Es wäre eine Schande, wenn sie sich gegen ihre Landsleute gestellt hätte. Und es wäre eine noch größere Schande, wenn er sie deswegen gefangen nehmen und zu William bringen müsste.
Er legte eine Hand auf seinen Becher, um sie am Nachschenken zu hindern, und lächelte sie freundlich an. „Ich bleibe lieber bei Sinnen und behalte das köstliche Essen bei mir.“
Eben wollte er etwas über ihre blasse Hautfarbe sagen, da stellte eine andere Dienstmagd ein Tranchierbrett vor ihn auf den Tisch. „Ein Stück Ochse, Mylord?“
Dante drehte sich um, sah den Teller an, dann das Dienstmädchen. Mit einem erstickten Fluch auf den Lippen sprang er so plötzlich auf, dass er Gianelle fast zu Boden gestoßen hätte. Einige Herzschläge lang brachte er keinen Ton heraus, sein Atem stockte, und es war ihm nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen – bis auf einen: dass seine Schwester Katherine zu ihm zurückgekehrt war.
„Balin?“, flüsterte er, ohne den Blick von der jungen Frau zu nehmen.
„Ich sehe sie, Herr“, bestätigte Balin, den die Ähnlichkeit fast genauso verblüffte wie Dante.
Der hob eine Hand, um die Wange der jungen Frau zu berühren, ließ sie aber gleich wieder sinken, als die erschrocken zurückzuckte. Ihre leuchtend blauen Augen hatte sie vor Angst weit aufgerissen. „Mein Gott, wer bist du?“ Seine Stimme war so heiser, dass er nur ein Flüstern zustande brachte.
„M-mein Name ist Casey, Mylord.“
„Casey“, wiederholte er, als sei ihm der Klang ihres Namens völlig fremd. „Du siehst aus wie jemand, der mir sehr viel bedeutete.“
Gianelle kannte viele der Listen, mit denen Männer versuchten, eine Frau zu verführen, doch der gequälte Tonfall dieses Mannes ließ sie innehalten und überlegen, ob seine Trauer wohl ehrlich gemeint war.
„Gianelle!“
Der drohende Ausruf von Bryce Dermott erschreckte sie so sehr, dass ihr der Krug aus den Händen glitt. Der Wein verteilte sich auf dem Boden, spritzte auf Dantes Stiefel und färbte den Saum ihres Kleides rot. Im Saal herrschte abrupt Grabesstille, wenn man von dem Stoßgebet absah, das Casey flüsterte.
„Meine Gäste sind durstig. Sollen sie den ganzen Abend auf ihren Wein warten, nur weil du Lord Risande anstarrst?“ Dermott presste die Lippen aufeinander und hielt Dantes zornigem Blick stand. „Ich bitte Euch um Verzeihung. Diese Frau hat nie Gehorsam gelernt, und in meinem sonst so friedlichen Leben gibt sie immer wieder Grund zum Ärgern. Seht Ihr? Seht Ihr, wie frech sie mich anstarrt?“
Als er aufstand, konnte Gianelle nicht anders, als ihm zuzusehen, wie er die Estrade verließ. Sie wusste, sie sollte den Blick senken, doch sie konnte es einfach nicht. Von Angst und Hass erfasst, starrte sie ihn bloß weiter an, während er erst um einen, dann um einen weiteren Tisch eilte, um zu ihr zu gelangen.
„Ich werde dir beibringen, deinen Herrn zu respektieren!“ Er war so dicht vor ihr, dass Gianelle in seinen eisblauen Augen sehen konnte, wie gewillt er war, ihr Gewalt anzutun.
Unwillkürlich trat sie einen Schritt nach hinten, stieß aber auf ein scheinbar unverrückbares Hindernis. Sie wusste, ihr Herr würde sie schlagen. Nichts konnte das jetzt noch verhindern. Ihr Blick wanderte durch den Raum, und sie entdeckte Edgar Dermott, der trübselig lächelte. Es war offensichtlich, wie sehr er sich wünschte, derjenige zu sein, der den Schlag austeilte. Gianelle bedauerte wirklich, dass sie nicht auf sein Essen geniest hatte, als sie es in den Saal brachte. Trotzig hob sie den Kopf, auch wenn sie wusste, dass sie eine Schmach erwartete.
„Du wirst schon lernen, dich zu fügen, ungezogenes Weib!„ Als Dermott seine Hand hob, kniff sie die Augen zusammen. Doch die erwartete Ohrfeige kam nicht. Sie blinzelte vorsichtig, dann erkannte sie, dass Dermotts Arm von einer anderen, größeren Hand umschlossen war. Das Knurren, das hinter ihrem Kopf seinen Ursprung hatte, klang so bedrohlich, dass Gianelle am liebsten davongelaufen wäre.
„Seid gewarnt, Dermott. Senkt Eure Stimme, und nehmt Eure Hand nach unten, sonst seid Ihr derjenige, der niedergeschlagen wird.“
Bryce Dermott sah zwischen Dante und ihr hin und her, woraufhin sie den Kopf zur Seite drehte, da sie seinen bedrohlichen Gesichtsausdruck nicht länger ertrug.
„Rührt sie an“, sprach Dante mit eisiger Stimme weiter, „und ich schwöre, ich werde Euer Blut dort vergießen, wo Ihr gerade steht.“
Langsam nickte Dermott und schaute Gianelle gar nicht erst an, als Dante ihn losließ. Stattdessen rieb er sein Handgelenk und wandte sich zu seinem Bruder um, der von seinem Platz aus alles mitverfolgt hatte. Edgar Dermott nickte ihm kaum merklich zu, bevor er Dantes vernichtenden Blick erwiderte. Einen Moment lang funkelten in seinen Augen Rachegelüste, doch plötzlich begann er zu grinsen.
„Ein Trinkspruch auf den Kommandanten von König William!“ Er hob seinen Kelch. „Auf den kühnen Beschützer des …“, er sah über den Gefäßrand Gianelle an, „des schwachen Geschlechts. Wollen wir hoffen, dass ihn das niemals sein Leben kosten wird.“
„Und wollen wir hoffen“, fügte Dante an, dessen Augen nicht das herausfordernde Lächeln widerspiegelten, mit dem er Edgar Dermott begegnete, „dass dieser Mann genug Kraft und Geschick besitzt, damit ich wenigstens ins Schwitzen komme, bevor er mit seiner Absicht scheitert.“
Der selbstbewusste Tonfall überzeugte Gianelle davon, dass Dante Risande nicht daran gewöhnt war, einen Kampf zu verlieren. Darüber konnte sie aber nicht länger nachdenken, denn als er sich auf einmal bewegte, merkte sie, dass es sein Körper war, gegen den sie sich die ganze Zeit über gepresst hatte. Ohne sich nach dem Mann umzusehen, der sie soeben gerettet hatte, machte sie einen Satz weg von ihm und durchquerte den Saal, um einen neuen Krug zu holen und am nächsten Tisch weiter ihrer Pflicht nachzukommen.
Die nächste Stunde über unternahm sie alles, um einen großen Bogen um Lord Risandes Tafel machen zu können. Er hatte bereits seine Wachsamkeit bewiesen, als er ihr auf die Spur gekommen war, dass sie etwas in Lord Landrys Wein gemischt hatte. Warum war er mit dieser Erkenntnis nicht sofort zu Lord Dermott gegangen? Er verdächtigte sie einer schändlichen Tat, und doch beschützte er sie vor dem Zorn ihres Herrn. Wieso nur? Über diese Frage würde sie noch ein oder zwei Wochen lang grübeln, dessen war sie sich sicher. Dieser Mann führte irgendetwas im Schilde, doch sie wusste nicht, was es war. Ein paar verstohlene Blicke bestätigten ihren Eindruck, dass er seine gesamte Umgebung aufmerksam beobachtete, während er den Wein trank, den Sylvia ihm eingeschenkt hatte. Würde er ihren Plan durchschauen, wenn sie Casey einen flüchtigen Blick zuwarf? Nein, dieses Risiko konnte sie nicht eingehen.
Sie hielt sich aber auch aus einem anderen Grund von ihm fern, den sie sich nur widerstrebend eingestehen wollte. Tatsächlich war es so, dass sie sich versucht fühlte, immer wieder zu ihm hinzusehen – sogar jetzt, als sie eine abgebrannte durch eine neue Kerze ersetzte. Sie hörte ihn lachen, ein volles, tiefes Lachen, das männlicher nicht hätte sein können. Vermutlich betörte er irgendeine junge Frau, die beim Anblick seiner Grübchen und seines Lächelns weiche Knie bekam. Dumme Kühe, ging es Gianelle durch den Kopf. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich über Lord Dante Risande Gedanken zu machen. Da war zum Beispiel die Frage, was sie und Casey machen sollten, wenn sie erst einmal frei waren. Vielleicht würden sie nach Schottland reisen und dort Schafe züchten. Gianelle überlegte, ob sich die Männer dort wohl auch eine Dienerschaft hielten. Falls ja, wären sie da falsch. Aber sie würden schon irgendeinen Platz finden, wo sie leben konnten. So wie ihr Vater würde auch sie nie aufhören zu suchen. Sie hoffte, Henri Dejiat hatte seine lang ersehnte Freiheit gefunden.
Immer noch in Gedanken bei ihrem Vater hob sie den Kopf, da sie spürte, dass Dante seinen verführerischen Blick wieder auf sie gerichtet hatte. Überrascht und bestürzt zugleich bemerkte sie, wie er sich ihr näherte. Was wollte er von ihr? Sie weiter zu Landry befragen, der zwar zweimal in den Saal zurückgekehrt, aber jedes Mal nach wenigen Augenblicken mit leichenblasser Miene nach draußen gestürmt war? Ihr Herz raste wie wild, und für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie ihm eine Kerze entgegenwerfen sollte, damit er stehen blieb. Doch das Einzige, was sie zustande brachte, war ein kläglicher Blick in seine Richtung.
Dieser Mann war das Sinnbild eleganter Männlichkeit in einem auf ihn zugeschnittenen, aufgeknöpften kobaltblauen Surcot, der ihm bis unter die Knie reichte. Darunter trug er ein weißes, mit Goldfäden durchwirktes Hemd, ein Breitschwert in dicker Lederscheide hing unter dem Surcot von der Hüfte herab. Eine schwarze wollene Hose und weiche Lederstiefel umhüllten seine langen, muskulösen Beine. Sein dunkles Haar hatte er aus dem Gesicht gestrichen, im Nacken war es zum Zopf geflochten.
Anstatt gegen die Wirkung anzukämpfen, die sein Erscheinungsbild auf sie hatte, stand sie einfach nur da und trat ungeduldig mit einem Fuß auf. Er sollte sie endlich befragen und sie dann in Ruhe lassen. Ihr Problem war allerdings, dass sie einfach nicht den Blick von ihm nehmen konnte. Ihn schien das jedoch nicht zu stören, denn er schaute sie einfach weiter an, bis er sie erreicht hatte.
„Verzeiht, Madame“, sagte er mit tiefer Stimme. „Aber ich möchte unbedingt herausfinden, warum das Ersetzen alter Kerzen Euch so schmachtend dreinschauen lässt.“
Er war ein Hexer, der ihre Gedanken lesen konnte. Gianelle versuchte, ihm zu entkommen, bevor er mit dem Finger auf sie zeigen und alle ihre Verfehlungen verkünden konnte. Würde man sie züchtigen, weil sie letzten Monat die flüssige Seife durch Baumharz ersetzt hatte? Und war die Peitsche die angemessene Strafe dafür, dass sie vor dem Servieren über alle Apfeltorten geleckt hatte?
Der Mann versperrte ihr den Weg und hob ihren Kopf an, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Du musst dich vor mir nicht fürchten.“
Fast hätte Gianelle laut gelacht. Sie reichte diesem Mann gerade mal bis zur Brust, und seine Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem Stoff seines Surcots ab. Sie hatte allen Grund, sich vor ihm zu fürchten.
„Worüber hast du nachgedacht?“, wollte er von ihr wissen.
„Über meinen Vater“, erwiderte sie. Für den schmachtenden Blick, den zu sehen er behauptet hatte, hätte sie wohl eher darüber nachdenken müssen, wie sie völlig frei über ein Heidekrautfeld in den Highlands lief, doch das wagte sie ihm nicht zu sagen.
„Dann fehlt er dir also“, sagte er verständnisvoll.
„Nein, Mylord. Das tut er nicht.“
Verblüfft über ihren sachlichen, kühlen Tonfall und neugierig, wie sie in Bryce Dermotts Dienste geraten war, fragte er weiter: „Hat er dich in die Knechtschaft verkauft?“
„Ich wurde als Sklavin geboren, Mylord.“ Sie sah sich im Saal um und wünschte, er würde seine Fragen zu Landry stellen und dann tun, was er zu tun hatte.
„Wo warst du, bevor du herkamst?“
Schließlich hob sie den Blick und sah ihm in die Augen. Die Art, wie sie leicht die Stirn runzelte, ließ Dante lächeln.
Doch Gianelle begann in diesem Moment zu verstehen, dass er sogar noch klüger als bislang angenommen war. Er wollte die Namen ihrer früheren Herren, damit er die befragen konnte, ob sie schon anderen Menschen Schaden zugefügt hatte. Aber so schlau wie er war sie schon lange. Sie würde ihm alle Namen geben, die er hören wollte, allerdings nicht die wahren Namen. „Ich weiß nicht, was das soll. Aber wenn Ihr es wissen wollt, dann kann ich mich nicht weigern. Lasst mich überlegen. Mein erster Herr nach meiner Ankunft in England … das war … Lord Harold … ähm … Hampton. Und danach …“
Dante kniff die Augen ein wenig zusammen und musste sich zurückhalten, um nicht schon wieder zu grinsen. Ihm war beim besten Willen nicht klar, warum sie ihn schon wieder belog. Es hätte ihn umso misstrauischer machen sollen. Doch es war ein so köstlicher Anblick, wie sie versuchte, die Oberhand zu behalten, dass er genug Mühe hatte, um nicht laut zu lachen. „Ich habe noch nie von einem Lord Harold Hampton gehört. In welcher Grafschaft verteidigt er die Ehre des Königs?“
„Grafschaft?“ Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, sich an die Namen irgendwelcher Grafschaften in England zu erinnern. In den sechs Jahren, die sie nun hier im Land war, hatte sie sich erst in drei davon aufgehalten, und von den anderen wollte ihr nicht eine einzige in den Sinn kommen.
Dante legte die Hände auf den Rücken und gestattete es sich, sie so strahlend anzulächeln, wie er nur konnte. „Sag einfach das, was dir als Erstes einfällt, Gianelle. Ich schwöre bei meinem Schwert, dass du mir erzählen könntest, dieser Harold Hampton hielte tief unten am Meeresboden Hof, und ich müsste dir nur in die Augen sehen, um es zu glauben.“
Gianelle betrachtete ihn aufmerksam, war sich aber nicht sicher, ob er ihr soeben ein Kompliment gemacht oder sie als Lügnerin hingestellt hatte. Letzteres musste der Fall sein, denn kein Adliger, der bei Verstand war, würde einer Dienerin ein Kompliment machen. Die Erkenntnis machte sie auf der Stelle wütend. Wie konnte er es nur wagen, sie als Lügnerin zu bezeichnen! „Wenn Ihr damit fertig seid, mich auszufragen, darf ich mich dann wieder meinen Pflichten widmen?“
Er sah sie vorwurfsvoll an. „Ich wollte dich nicht verhören, sondern mich nur mit dir unterhalten.“
„Warum um alles in der Welt denn das?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihn mit vor Unglauben weit aufgerissenen Augen an.
„Pardon?“ Dante musste sich verhört haben, etwas anderes war gar nicht möglich. „Warum ich mich mit dir unterhalten will?“
„Oui.“
„Ich …“, begann er, hielt jedoch gleich wieder inne. „Nun, ich …“ Zum Teufel! Noch nie hatte er erklären müssen, weshalb er mit einer Frau reden wollte. Daher wusste er auch nicht, was er antworten sollte. Zu seiner Enttäuschung deutete sie sein Schweigen so, als hätte er die Unterhaltung beendet.
„Warte.“ Er bekam sie am Arm zu fassen, ehe sie weggehen konnte. Für einen Moment überlegte er, ob sie ihm etwas in sein Essen getan hatte. Warum sollte er sonst so hinter ihr herlaufen wie ein junger Hund, der gekrault werden wollte? So etwas war ihm noch bei keiner Frau passiert, und er wollte auch nicht jetzt damit anfangen. Seine Miene war noch immer finster, dennoch machte er den Mund auf. „Geh mit mir später draußen spazieren, wenn du deine Arbeit getan hast.“
Sie schüttelte den Kopf und entgegnete: „Non.“
„Ich werde auch schweigen und mich von dir ausfragen lassen.“
„Aber, Mylord“, wieder sah sie ihm in die Augen, „es gibt nichts, was ich über Euch erfahren möchte.“
Dante stand nur da und sah ihr wortlos nach, wie sie ihn zum dritten Mal an diesem Abend einfach stehen ließ. Ihre Worte hätten ihm einen Stich versetzen sollen, da noch nie eine Frau so etwas zu ihm gesagt hatte, doch er musste darüber lächeln. Er war ein Krieger, der jede Herausforderung durch einen würdigen Gegner annahm. Tatsächlich hatte der Gedanke, sie für sein Bett zu gewinnen, etwas Erfrischendes an sich.