Kapitel 1
London
„Selina, meine Liebe? Hier ist jemand, der darum bittet, vorgestellt zu werden.“
Beim Klang der Stimme ihrer Tante Ellen, der Viscountess Fitzroy, drehte sich Lady Selina Bellamy um und sah sich dem schönsten Mann gegenüber, den sie je gesehen hatte. Er war groß und geschmeidig, hatte dunkelgoldenes Haar und schelmische blaue Augen. Ein menschgewordener griechischer Gott – Apollo, der vom Olymp herabgestiegen war, um sich mit ahnungslosen Jungfrauen zu vergnügen.
„Lord Shelton, dies ist meine Nichte, Lady Selina Bellamy.“ Ausnahmsweise lächelte ihre Tante nicht, während sie Selina und Shelton einander vorstellte.
Selina machte einen Knicks. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord.“
„Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Mylady.“ Lord Shelton hob ihre Hand zu seinem Mund, war aber nicht so fahrlässig, ihren Handschuh mit seinen Lippen zu berühren. „Ich nehme an, ich bin zu spät?“
Sie legte den Kopf schief. „Zu spät?“
„Ich fürchte, Sie haben alle Ihre Tänze vergeben und es ist kein einziger mehr frei.“ Seine tragische Miene hätte überzeugend wirken können, wenn nicht das Lachen in seinen Augen getanzt hätte.
„Der Zufall will es, dass der Abendtanz noch verfügbar ist. Mein Tanzpartner wurde wegen eines Notfalls fortgerufen.“
„Ah, ja, der arme Mann.“
Selina runzelte die Stirn. „Sie wissen, wer mein Tanzpartner war und was mit ihm passiert ist?“
„Nein“, gab er zu. „Aber jeder, der von einem Tanz mit Ihnen fortgerufen wird, ist ein armer Mann.“
Selina lachte.
„Ich werde die Minuten bis zum Abendessen zählen“, sagte er, verbeugte sich sowohl vor ihr als auch vor ihrer Tante und verschwand dann anmutig in der Menge.
Ihre Tante trat näher und murmelte: „Nun ja. Das ist bedauerlich.“
„Ist es das?“ Selina war verwirrt.
„Dieser Mann sollte sich nicht in die Nähe einer wohlerzogenen jungen Frau begeben. Der einzige Grund, warum Shelton irgendwo empfangen wird, ist seine Verwandtschaft zum Duke of Chatham.“
Angesichts des feindseligen Tons ihrer Tante drehte sich Selina um, ihre Gedanken noch immer bei Lord Sheltons breiten, eleganten Schultern und der schmalen Taille. „Aber … was meinen Sie?“
„Shelton ist Chathams Erbe und könnte sehr wohl Duke werden, falls Chatham nicht wieder heiratet – was durchaus möglich ist –, aber der Mann ist keine gute Gesellschaft.“
„Was hat er getan?“
„Ich wiederhole nicht gern Klatsch und Tratsch, aber du solltest von dieser Geschichte erfahren, denn der verflixte Mann ist einfach zu gutaussehend und charmant, als dass eine Frau ihn übersehen könnte.“ Sie lehnte sich noch näher zu Selina. „Vor einigen Jahren tändelte er mit der Tochter von Sir John Creighton. Das Mädchen ist sehr hübsch, aber die Familie ist nicht wohlhabend und ihr Vater ein Niemand. Shelton lud das Mädchen zu einer Kutschfahrt ein – nur die beiden. Sie wurden von schlechtem Wetter überrascht und saßen fest. Er hätte ihr danach die Ehe antragen sollen – unabhängig davon, ob zwischen den beiden etwas passiert ist oder nicht –, aber er tat nichts. Vielleicht einen Monat später entdeckte das Mädchen, dass sie schwanger war.“
„Und es war Lord Sheltons Kind?“
Tante Ellen zuckte mit den Schultern. „Das spielt kaum eine Rolle, Selina. Der Punkt ist, dass Shelton nichts unternahm, um den Schaden zu beheben, den er verursacht hatte. Sein Cousin, der Duke of Chatham, sprang ein und fand einen geeigneten Ehemann für das Mädchen.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Jetzt lebt die arme Frau versteckt in einem grässlichen Kaff mit ihrem dummen Ehemann und – wahrscheinlich – mit Sheltons Kind.“
„Aber Sie wissen nicht, ob das Kind von ihm ist?“
Ihre Tante warf ihr einen gequälten Blick zu. „Das spielt keine Rolle“, wiederholte sie.
Selina war der Meinung, dass es durchaus eine Rolle spielte, behielt ihre Meinung aber für sich. „Warum haben Sie mich ihm vorgestellt, wenn er so ein Schurke ist?“
„Weil er Chathams Erbe ist“, sagte Tante Ellen. Sie tätschelte Selinas Hand. „Es kann nicht schaden, mit ihm zu tanzen, aber lass dich nicht zu etwas … Leichtsinnigem verleiten, ja? Damit meine ich, dass du nicht mit ihm auf der Terrasse spazieren gehst oder leere Zimmer betrittst – so etwas in der Art.“ Tante Ellen streckte die Hand aus und strich mit dem Zeigefinger über die Stelle zwischen Selinas Augenbrauen. „Schau nicht so böse, meine Liebe, sonst bildet sich eine unschöne Linie. Du bist einfach zu schön, um etwas anderes zu tun, als immer nur zu lächeln. Denk daran, Liebes, das ist es, was die Herren mögen: hübsche, lächelnde, angenehme Damen.“
Selina störte sich nicht an der Anweisung ihrer Tante, zu lächeln – diese Anweisung hatte sie schon unzählige Male von ihrer eigenen Mutter gehört. Vielmehr ärgerte sie sich darüber, wie schnell sich Gerüchte in der Gesellschaft verbreiteten, so, wie das über Lord Shelton. Ihre Tante wusste nicht, ob das Kind von Shelton stammte, aber das spielte keine Rolle. Wer einen schlechten Ruf hatte, hing schon halb am Galgen.
Vielleicht hätte sie nicht so viel Mitleid mit dem prächtigen Lord, wenn sie nicht selbst das Ziel von Klatsch und Tratsch gewesen wäre. Es bezog sich auf nichts, das sie getan hatte, sondern auf das Glücksspiel ihres Vaters. Jeder, der etwas auf sich hielt, wusste, dass Selina und ihre fünf Geschwister so arm wie Kirchenmäuse waren, weil der Earl of Addiscombe nicht nur sein eigenes Vermögen, sondern auch die Mitgift seiner Töchter verprasst hatte. Kirchenmäuse waren sogar besser dran, denn die hatten wenigstens ein Dach über dem Kopf, was bei den Nachkommen des Earls nicht mehr lange der Fall sein würde.
Keines der Gerüchte über deinen Vater ist erfunden, nicht wahr, Selina? Vielleicht ist an der Geschichte über Shelton auch etwas Wahres dran.
Sie musste zugeben, dass es der Wahrheit entsprechen könnte – Lord Shelton hatte ein verwegenes Aussehen.
Ob Lord Shelton seinen Ruf tatsächlich verdient hatte oder nicht, spielte sowieso keine Rolle. Die traurige Wahrheit war, dass Shelton selbst kein Geld hatte. Wenn Selina ihre Familie vor den Folgen der Verschuldung ihres Vaters bewahren wollte, dann konnte sie das nur mit einem wohlhabenden Ehemann.
Doch Shelton war göttlich und es war doch nichts falsch daran, ihn anzusehen, oder?
Aber sie würde dem Rat ihrer Tante folgen und nur einmal mit ihm tanzen. Das war ein sicherer Weg. Selina würde ihren Ruf niemals durch leichtsinniges Handeln in Gefahr bringen.
***
Selina lächelte zu Lord Fowler, dem riesigen schottischen Baron, hinauf und versuchte, etwas zu sagen, das ihn aus der Reserve locken könnte.
Sie hatte bereits mindestens ein halbes Dutzend Versuche unternommen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber keiner von ihnen hatte dem rothaarigen Lord mehr als zwei oder drei Worte entlockt. Er war so schüchtern, dass er noch nicht einmal ihren Blick erwiderte.
Sie hatte schon viele Tanzpartner gehabt, deren Zunge gelähmt schien, aber noch nie einen solchen wie Lord Fowler. Wann immer sie mit ihm über irgendetwas sprach, verfärbte sich sein Gesicht so dunkel wie rote Beete und sein ganzer Körper versteifte sich, als hätte er gerade einen elektrischen Schlag erhalten.
Selina beschloss, Mitleid mit dem armen Mann zu haben, anstatt ihn mit weiteren Fragen zu löchern.
Wenige Augenblicke später war der Tanz glücklicherweise zu Ende. Der Baron begleitete sie gerade zurück zu ihrer Tante, als Lord Shelton vor ihnen auftauchte. Er grinste, sein Blick verweilte auf Fowler, bevor er Selina ansah.
„Das ist mein Tanz, glaube ich.“ Er bot ihr seinen Arm an.
Selina löste ihre Hand von Fowlers Ärmel, aber der große Mann wich nicht zurück. Stattdessen starrte er Shelton an, als wolle er ihm den Kopf von den Schultern reißen. Er war so groß, dass Selina befürchtete, er könnte es tatsächlich tun.
„Danke, Lord Fowler“, sagte Selina, nahm Sheltons Arm und schob ihn in Richtung Tanzfläche, bevor der Schotte den gewalttätigen Impulsen, die über sein sommersprossiges Gesicht flackerten, nachgeben konnte.
Als sie davongingen beugte sich Lord Shelton zu ihr und flüsterte: „Er hat Ihnen das Ohr abgekaut, was?“
Sie verschluckte sich an einem Lachen, fühlte sich aber gleich darauf schrecklich. „Er ist ein sehr netter Mann, nur äußerst schüchtern.“ Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. „Im Gegensatz zu manch anderen Leuten.“
Shelton lachte und das ansteckende Geräusch zog die begehrlichen Blicke einer Gruppe junger Damen auf ihn. „Nein, ich wurde noch nie als schüchtern bezeichnet.“ Auf der Tanzfläche angekommen, nahm er ihre Hand und legte seine andere Hand an ihre Seite.
Selina musste sich zusammenreißen, um unter seiner Berührung nicht zu erschauern.
„Ich wette, Sie sind häufig den sehnsüchtigen Blicken von Männern wie Fowler ausgesetzt.“
„Das ist nicht nett, Mylord.“
Er schürzte die Lippen. „Nein, das ist es nicht. Ich entschuldige mich.“
Selina sah das Glitzern in seinen Augen und schüttelte den Kopf. „Sie sind unverbesserlich.“
Er lachte. „Man hat mir gesagt, das sei Teil meines Charmes.“
Das Orchester spielte einen Walzer und sie begannen zu tanzen. Natürlich bewegte sich der Mann genauso göttlich, wie er aussah, und hielt sie dabei leicht im Arm, während sie über die Tanzfläche schwebten.
Nach einigen Augenblicken des Schweigens sagte er: „Ihre Tante hat Sie vor mir gewarnt, nicht wahr?“
Selina blinzelte ihn unsicher an.
„Das sehe ich daran, dass Sie mich so misstrauisch beäugen.“ Er warf ihr einen ulkigen, schielenden Blick zu, als wollte er es ihr demonstrieren. Selina lachte.
„So, das ist besser“, sagte er und lächelte. „Es war unhöflich von mir, Ihnen eine solche Frage zu stellen, nicht wahr?“
Es war tatsächlich unhöflich gewesen, und diese Frage war es auch. Selina hatte keine Ahnung, wie sie sie beantworten sollte.
Glücklicherweise schien Shelton keine Antwort von ihr zu erwarten und fuhr fort: „Normalerweise macht es mir nichts aus, wenn ich angeklagt, verurteilt und gehängt werde, bevor ich überhaupt mit einer Frau tanze. Bei Ihnen spüre ich es aber besonders deutlich.“
„Was ist so anders?“, fragte Selina. Innerlich stöhnte sie auf. Gewiss war er kurz davor, Oden über die Schönheit ihrer Lippen oder Augen zu verfassen.
„Ich beobachte Sie schon seit Wochen.“
Sie hob eine Augenbraue. „Tatsächlich?“
Shelton gluckste. „Es tut mir leid. Ich wage zu behaupten, das klingt, als wäre ich ein bisschen verrückt.“
Er klang wie … etwas, aber sie war sich nicht sicher, was.
Selina lächelte leicht und sagte: „Nichts derart extremes, Mylord.“
„Ich meinte nur, dass ich die Aufregung gesehen habe, die Sie verursachen, wenn Sie einen Raum betreten. Und ich habe bemerkt, wie jeder Mann der Gesellschaft – von frischgebackenen Lords wie Fowler bis zu hartgesottenen Ikonen wie Chatham und Moncrieff – Ihnen mit den Augen folgt. Und dennoch –“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe schon zu viel gesagt.“
Selina wollte mit den Augen rollen. Stattdessen sagte sie: „Bitte, bringen Sie es zu Ende – jetzt, wo Sie angefangen haben.“
Er schenkte ihr ein freches Grinsen. „Jetzt sind Sie verärgert.“
„Nein, aber ich bin neugierig, worauf Sie mit Ihren Beobachtungen hinauswollen.“
„Mit Ausnahme von Fowler – der offensichtlich zu verwirrt von Ihrer Schönheit ist, um auch nur einen Pieps hervorzubringen – lächeln Sie jedes Mal, wenn ich Sie tanzen sehe, und hören zu, und Ihr Partner redet und redet und redet.“
So wie Sie es jetzt gerade tun, dachte sie, sagte es aber natürlich nicht.
Shelton lachte. „So wie ich es jetzt gerade tue.“
Selina lächelte und dieses Mal war es echt. Sein selbstironischer Humor war wirklich unwiderstehlich.
„Hat jemals jemand Fragen über Sie gestellt, Mylady? Wollte jemand wissen, wie Sie Ihre Zeit am liebsten verbringen? Oder was Sie davon halten, eine weitere Ware auf dem Heiratsmarkt zu sein?“ Diesmal lachte er nicht und scherzte auch nicht.
Es war eine so unerwartete Frage, dass sie sprachlos war.
„Das tut keiner, oder?“, fragte er und sah ziemlich grimmig aus. „Sie schauen nicht hinter Ihr perfektes Gesicht, auf die Person, die dahinter lebt. Nicht, weil sie nicht wissen, wie man Fragen stellt, sondern weil sie es nicht wollen. Es interessiert sie einfach nicht.“
Sie legte den Kopf schief. „Und ich nehme an, Sie schon?“
Er stieß ein schadenfrohes Lachen aus. „Das habe ich verdient.“
Sie tanzten einen Moment lang schweigend, und diesmal war es Selina, die die Stille unterbrach. „Sie haben recht, Mylord. Die Herren stellen mir nur selten Fragen – über irgendetwas. Aber ich habe festgestellt, dass die meisten Menschen lieber über sich selbst reden.“
„Die meisten Männer, meinen Sie. Während die Damen gelehrt werden, ihre Gedanken und Meinungen für sich zu behalten und jede unserer Äußerungen mit Oh und Ah zu quittieren, als wäre jeder Mann ein tiefsinniges Genie.“
Seine Worte spiegelten ihre eigenen Gedanken so perfekt wider, dass sie erstaunt war. „Sprechen Sie – sprechen Sie mit all Ihren Tanzpartnerinnen so offen, Mylord?“
„Nein, Lady Selina, das tue ich nicht.“
„Also … warum sagen Sie mir das alles?“
„Weil ich glaube, dass Sie meine Gefühle in Bezug auf diese Veranstaltungen besser verstehen könnten als die meisten. Tun Sie das?“
„Ich weiß es nicht, Mylord. Wie stehen Sie zu dem Thema?“
„Nun, ich finde, dass diese Art von Anlässen ungefähr so würdevoll ist wie eine Pferdeauktion. Alles dreht sich um Aussehen und Form. Hier gibt es keine Substanz und sie ist auch nicht erwünscht. Wenn ein Mensch schön ist, dann ist er das – und das ist auch schon alles, was er ist. Was in dessen Kopf oder Herzen vorgeht, ist für die Gesellschaft irrelevant.“ Er warf ihr einen schiefen Blick zu. „Sie müssen mir verzeihen, dass ich es so unverblümt und unelegant ausdrücke, aber wie kann ein Mensch nicht beklagen, dass die einzige Möglichkeit, Angehörige des anderen Geschlechts kennen zu lernen, darin besteht, sich auf den fadesten, oberflächlichsten sozialen Handel einzulassen, den die Menschheit kennt?“
Er schüttelte den Kopf, als hätte Selina ihm widersprochen, und fuhr dann fort: „Oh, ich weiß, dass ich mir auf die Zunge beißen und still sein sollte. Ich sollte dankbar sein, dass ich angesichts meines ramponierten Rufs überhaupt in Häuser wie dieses eingelassen werde. Wären da nicht meine familiären Verbindungen und – in geringerem Maße – mein gutes Aussehen, so würde ich wohl draußen stehen und durch die Fenster spähen.“ Seine Augen funkelten und einen Moment lang sah Selina echten Ärger hinter seinem unbekümmerten Lächeln. „Wenn ich ein hässlicher Mann wäre … Nun, ich vermute, dass mein Empfang in diesem Fall hier ganz anders ausfallen würde.“
„Glauben Sie das wirklich?“
„Oh, ja. Ich fürchte, wir leben in einer Gesellschaft, die sich nur um Äußerlichkeiten kümmert.“
Es war so schockierend, ihre eigenen Schlussfolgerungen ausgesprochen zu hören, dass es aus Selina herausbrach, bevor sie sich selbst stoppen konnte. „Ich dachte, ich wäre die Einzige, die so denkt.“
„Es gibt nicht viele, die so empfinden, und die, die es tun, müssen ihre Gedanken für sich behalten.“ Sein Blick huschte über sie. „Sie sind eine außergewöhnlich schöne Frau. Und das ist alles, was die meisten Männer sehen, wenn sie Sie erblicken: ein Preis, den es zu gewinnen gilt, eine Trophäe, die es zu besitzen und zur Schau zu stellen gilt.“ Er nickte weise. „Diese Denkweise ist mir – in geringerem Maße – vertraut, Mylady.“
Selina konnte sich gut vorstellen, dass ihm dies bekannt war. Von allen Gentlemen, die sie in ihren ersten Wochen in London kennengelernt hatte, konnte ihm in Sachen Aussehen niemand das Wasser reichen. Auch nicht, was den Charme anging.
„Es ist unerträglich, wie ein Stück Fleisch behandelt zu werden – ohne Interesse daran, was wir denken oder fühlen“, sagte er in einem ruhigen, aber eindringlichen Ton. „Ich denke, das ist die schlimmste aller Beleidigungen: wenn ein Mensch nicht einmal der Neugierde für würdig befunden wird.“
So hatte Selina noch nie darüber nachgedacht, aber es stimmte.
„Und wenn ein Mensch es wagt, mehr sein zu wollen als nur ein hübsches Gesicht, dann gilt er als undankbarer Wicht, weil er zu viel will.“
Selina nickte energisch. „Für Sie ist alles so einfach“, äffte sie einige der Reden nach, die sie über sich hatte ergehen lassen müssen. „Worüber müssten Sie sich jemals Sorgen machen. Als ob hübsch zu sein bedeutet, dass der Rest des Lebens ohne Probleme, Kummer und Schmerz verläuft. Als ob das Aussehen einen davor bewahrt, aus seinem Zuhause geworfen zu werden.“
Sheltons Augen weiteten sich bei ihrer letzten Äußerung. Selina fragte sich gerade, ob sie zu weit gegangen war, als er nickte und rief: „Genauso ist es!“
Seine hohe Stimme zog missbilligende Blicke von einem älteren Ehepaar neben ihnen nach sich.
Selina und Shelton sahen zu dem finster dreinschauenden Mann und der Frau und tauschten einen Blick. Und dann – nachdem er sie aus der Hörweite des stirnrunzelnden Paares gewirbelt hatte – brachen sie beide in Gelächter aus.
Shelton schenkte ihr ein reumütiges Lächeln. „Es tut mir leid, wenn ich … mich übermäßig erregt habe.“
„Das muss es nicht. Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich es gebraucht habe, mit jemandem zu reden, der mich versteht.“
Er nickte weise. „Drängen Ihre Eltern Sie – erzählen sie Ihnen, dass es Ihre Pflicht ist, das Familienvermögen zu retten?“
Ihr Gesicht begann zu glühen. „Ich wage zu behaupten, dass ganz London von den schwierigen Verhältnissen meiner Familie und dem Anteil meines Vaters daran weiß.“
Shelton zuckte mit den Schultern. „Es spielt keine Rolle, wer Ihr Vater ist – alle Eltern sind gleich, wenn sie attraktive Nachkommen haben, die sie auf die Auktionsbühne bringen können.“ Er lehnte sich näher heran und senkte seine Stimme. „Ich habe Sie vorhin mit Chatham und Moncrieff tanzen sehen.“ Er warf ihr einen verschmitzten Blick zu. „Sie wurden vor allen anderen jungen Damen, die in diesem Jahr in die Gesellschaft eingeführt wurden, geehrt – zumindest sieht Moncrieff das so, und Chatham wahrscheinlich auch.“
„Der Duke of Chatham war eigentlich ein sehr aufmerksamer Tanzpartner“, sagte sie und fragte sich, ob sie sich das Aufflackern der Enttäuschung in Sheltons Augen bei ihren Worten eingebildet hatte. „Was Moncrieff betrifft … Nun, er ist nicht der Einzige, der sich geehrt fühlt. Meine Tante wird nicht müde, mich daran zu erinnern, dass er schon seit Jahren auf keiner dieser Veranstaltungen mehr getanzt hat.“
„Das ist wahr. Wahrscheinlich nicht mehr seit seiner ersten Saison, was länger her ist, als Ihre Geburt. Man kennt ihn als großen Kunstsammler. Ich wage zu behaupten, dass er auf der Suche nach einem Kronjuwel für seine Sammlung ist.“
Sie errötete unter Sheltons mitleidigem Blick, denn es stand zu befürchten, dass er recht hatte. Der Earl of Moncrieff war gut dreißig Jahre älter als sie und er hatte sie in einer Weise unter die Lupe genommen, wie man ein Schmuckstück oder eine Statue auf Fehler oder Mängel untersuchen würde.
„Er wird Ihnen einen Antrag machen“, sagte Shelton mit Bestimmtheit.
„Das ist kaum die Art von Bemerkung, die Sie mir gegenüber machen sollten, Mylord.“ Und es war gewiss nicht die Art von Bemerkung, die Selina hören wollte.
„Es tut mir leid, Mylady, aber – nun ja, es ärgert mich einfach, dass ein Mann wie Moncrieff jemanden wie Sie hofieren kann, während ich –“ Er brach ab und lachte selbstironisch. „Sagen wir einfach, dass wir beide in einer ähnlichen Situation sind, Lady Selina.“
Selina war nicht dumm. Sie wusste, dass Shelton damit sagen wollte, dass auch er des Geldes wegen heiraten musste. Angesichts seines Geständnisses fühlte sie einen Stich der Enttäuschung, konnte aber nicht sagen, dass sie überrascht war.
Er schenkte ihr ein entschlossenes, fröhliches Lächeln und sagte: „Nur weil unsere Wege in verschiedene Richtungen führen, heißt das nicht, dass wir nicht den Rest der Saison die Gesellschaft des anderen genießen können. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich aufheitern würde, zu wissen, dass es wenigstens eine Person gibt, die mich nicht ansieht, als wäre ich das menschliche Äquivalent eines Fasans, der gejagt, ausgestopft und aufgespießt werden muss.“
Selina lachte bei diesem bildhaften Vergleich. „Sie sind sehr, sehr ungezogen, so offen mit mir zu sprechen, Lord Shelton. Aber ich muss zugeben, dass es eine große Erleichterung ist, zu wissen, dass andere genauso fühlen wie ich.“
Das Lächeln, das er ihr schenkte, erwärmte sie durch und durch.
„Ich bin erfreut, eine Gleichgesinnte gefunden zu haben, Lady Selina. Wir müssen hier und jetzt beschließen, uns gegenseitig während des Rests der Saison zu unterstützen. Versprechen Sie mir, meine Freundin zu sein – egal, was andere über mich sagen?“
Die Warnung ihrer Tante flackerte in Selinas Kopf auf, aber sie wischte sie beiseite wie ein verirrtes Insekt.
„Freunde?“, drängte er und sah dabei so hoffnungsvoll aus, dass sie lachte.
„Freunde, Mylord.“
Er grinste, und plötzlich erschien der Ballsaal viel heller. Selina hatte ihren ersten Freund in London gefunden, jemanden, der sie um ihrer selbst willen mochte.
***
„Nun, meine Liebe“, sagte ihre Tante, als die Kutsche sie später am Abend nach Hause brachte, „du hast es genauso wunderbar gemeistert, wie ich es mir vorgestellt hatte. Du hast nicht nur mit Moncrieff getanzt, sondern sogar mit dem Duke of Chatham.“
Und auch mit Lord Shelton, dachte Selina vergnügt bei sich.
„Oh, es wäre die Kirsche auf der Sahnetorte, wenn du Chatham für dich gewinnen könntest, meine Liebe. Er ist der größte Gewinn auf dem Heiratsmarkt, seit sich die Tochter des Eisenhändlers den Marquess of Shaftsbury geschnappt hat.“ Ihre Tante machte eine pikierte Miene. „Das war die Verschwendung eines reizenden, charmanten und köstlichen Mannes. Es ist so schade, wenn sich ein attraktiver Mann opfern muss, weil seine Familie Geld braucht.“
Selina hielt das angesichts ihrer eigenen Umstände für eine ziemlich ironische Bemerkung, behielt ihre Meinung aber für sich. Verzweifelt versuchte sie, ihre Tante vom Thema Chatham abzulenken und sagte: „Shaftsbury? Hatte er nicht einen schrecklichen Unfall?“ Es war zwar nicht so, dass sie den Duke nicht mochte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit einem so furchtbar strengen und unglücklichen Mann verheiratet zu sein.
„Ja, das stimmt. Und Lady Shaftsbury ist bei demselben Unfall ums Leben gekommen“, sagte ihre Tante in einem nachdenklichen Ton. „Es ist fast ein Jahr her, dass er zum Witwer wurde. Ich frage mich, ob es möglich ist …“ Tante Ellen brach ab und ließ ihren Gedanken auf eine Weise unvollendet, an die sich Selina gewöhnt hatte.
Wenige Augenblicke später schüttelte sich ihre Tante und fuhr fort: „Aber kümmere dich nicht um Shaftsbury, meine Liebe. Wir müssen uns auf Chatham konzentrieren.“ Nachdenklich tippte sie sich mit dem Finger ans Kinn. „Ich werde herausfinden müssen, ob er nächste Woche zu Lady Shields venezianischem Frühstück geht. Wenn das der Fall ist, brauchst du etwas Neues zum Anziehen. Etwas in diesem Rosaton, der dir so gut steht.“
„Oh, Tante Ellen, Sie haben mir schon so viele Kleider geschenkt.“
„Nein, nein, ich bin fest entschlossen, etwas Neues zu kaufen, meine Liebe.“
„Vielen Dank, dass Sie mich nach London eingeladen haben und mir die Zeit hier so angenehm machen, Tante Ellen.“
Selina war ihrer Tante dankbar, aber so sehr sie die hübschen Kleider und die Besuche in all den prächtigen Häusern auch liebte, konnte sie nicht umhin, sich zu wünschen, sie könnte die Bälle und Partys mehr genießen. Die Wahrheit war, dass sie das alles ein bisschen … fade fand.
„Oh, papperlapapp. Es ist mir ein Vergnügen. Ich versichere dir, Selina, es ist mir eine Freude, dich in die Gesellschaft einzuführen.“ Das Lächeln ihrer Tante verblasste leicht, und Selina wusste, dass sie wahrscheinlich an Hyacinth dachte, Selinas ältere Schwester. Ihre Tante hatte kurzzeitig versucht, sie gesellschaftsfähig zu machen, bevor sie ihre Niederlage eingestanden und daraufhin Selina eingeladen hatte, Hys Platz einzunehmen.
Hy verabscheute jegliche Art von Gesellschaft und hatte Tante Ellen angefleht, ihr zu erlauben, als Begleiterin der Witwe Fitzroy zu dienen, einer ziemlich mürrischen alten Dame, die bemerkenswerterweise Gefallen an Selinas zurückhaltendem Geschwisterchen zu finden schien.
Tante Ellen war zwar hocherfreut, Hy los zu sein, aber sie wäre entsetzt gewesen, wenn sie jemals erfahren hätte, dass Hy jeden Abend, nachdem die Witwe zu Bett gegangen war, Männerkleidung anzog und sich aus dem Haus schlich, um in verschiedenen Spielhöllen Karten zu spielen.
Ihre Schwester war fest entschlossen, genug Geld zu gewinnen, um die Zinsen für das Darlehen zu begleichen, welches ihr Vater für Queen’s Bower – ihr Zuhause – aufgenommen hatte, bevor die Schuldeneintreiber ihnen das Haus wegnahmen und die Familie auf die Straße setzten.
Während Hy ihr Bestes tat, um sie alle vor einer Katastrophe zu bewahren – und dabei selbstlos jede Nacht auf den Straßen Londons ihr Leben riskierte –, war Selina entschlossen, ebenso ihr Bestes zu geben.
Sie verfügte nicht über die gleichen Fähigkeiten wie Hy oder ihre älteste Schwester Aurelia, die als Illustratorin arbeitete, aber sie besaß ein vermarktbares Gut: ihre Person.
So weh es auch tat, es zuzugeben, Lord Shelton hatte schmerzlich recht gehabt, als er gesagt hatte, dass er und Selina nicht füreinander bestimmt waren. Sie hatte kaum drei Monate Zeit, um das zu tun, wozu ihre Mutter sie ihr Leben lang erzogen hatte: sich gut zu verheiraten und ihre Familie vor dem Elend zu bewahren.
War eine Heirat des Geldes wegen Geldmacherei? Auf jeden Fall. Würde es zu einer großen Leidenschaft führen? Wahrscheinlich nicht. Aber eine Vernunftehe schloss Liebe nicht unbedingt aus – oder zumindest Zuneigung, nicht wahr?
Selina hoffte verzweifelt, dass dies der Fall war, denn sonst wäre es in der Tat eine düstere, unerträgliche Zukunft.
Kapitel 2
Drei Monate später
Wie um alles in der Welt konnte ein Mensch so viel weinen?
„Oh, meine liebe Selina!“, jammerte Tante Ellen. „Ich kann das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern. Ich muss deiner armen Mutter heute einfach schreiben. Wir haben keine Nachricht von Seiner Gnaden, dem Duke of Chatham, erhalten, und es ist klar, dass er kein Glück bei der Suche nach deiner bemitleidenswerten Schwester hatte.“ Sie brach wieder in Schluchzer aus, und Selina wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis ihre Tante wieder in der Lage sein würde, das Gespräch fortzusetzen.
Nicht, dass es irgendetwas zu sagen gegeben hätte, was nicht schon zu diesem Thema gesagt worden war.
Eigentlich war alles ganz einfach, wenn auch ziemlich schockierend: Hy war mitten in der Nacht weggelaufen, um das Leben eines fahrenden Glücksspielers zu führen, und der Duke of Chatham war Hy nachgereist vermutlich, um sie zu heiraten.
Selina war zuversichtlich, dass der Duke Hy finden und sie zur Vernunft bringen würde. Vielleicht würde es eine Weile dauern – Hy war sehr stur –, aber Selina war klar, dass der Duke ihre Schwester sehr mochte.
Nein, es war nicht Hys Zukunft, die sie beunruhigte.
Es war etwas, das ihre Schwester in dem Brief geschrieben hatte, den sie Selina hinterlassen hatte. Etwas über Lord Shelton.
Selina blickte auf das zerknitterte, tränenverschmierte Schreiben, welches auf dem Schreibtisch ihrer Tante lag. Es war eine stumme, aber eindringliche Erinnerung daran, wie das Leben innerhalb eines Augenblicks auf den Kopf gestellt werden konnte.
Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, die krakelige Handschrift ihrer Schwester noch einmal zu lesen, auch wenn sie den Brief inzwischen auswendig kannte.
Ein Teil – wie immer – sprang ihr förmlich ins Auge:
Ich habe gelogen, als ich Dir sagte, dass mich in meinen Nächten außer Haus niemand erkannt hat.
Der Duke erfuhr schon vor Wochen, dass ich eine Frau bin. Sein Cousin Shelton steht kurz davor, meine Identität aufzudecken, und wird dies dazu nutzen, den Duke zu beschämen.
Während Selina verständlicherweise schockiert war, als sie erfuhr, dass ihre Schwester nächtliche Treffen mit dem Duke of Chatham – dem begehrtesten Junggesellen in London – hatte, war sie auch noch eine Woche später über die Tatsache erschüttert, dass Shelton sich herablassen würde, den Duke zu erpressen.
Wie konnte er einem Mitglied seiner eigenen Familie so etwas antun?
Sie wusste, dass Shelton dringend Geld brauchte, und sie hatte durchaus Verständnis für seine Notlage. Aber seinen eigenen Cousin – und damit auch Selinas Schwester – zu beschämen, war das Verhalten eines skrupellosen Schurken.
Die Gerüchte über sein früheres Verhalten waren dir bekannt, aber du hast ihm erlaubt, dich in den letzten drei Monaten zu bezaubern. Du hast ihm auch erlaubt, dich zu bezirzen, damit du all diese Heiratsanträge ablehnst …
Selina biss die Zähne zusammen. Oh, lass mich einfach in Ruhe, flehte sie im Stillen. Das Letzte, woran sie denken wollte, war, dass sie – auf ihre eigene Art – genauso verachtenswert war wie Shelton. Sie war mit dem ausdrücklichen Ziel nach London gekommen, zu heiraten, um ihre Familie zu retten, aber sie hatte egoistisch ein Angebot nach dem anderen abgelehnt.
Weil du gehofft hast, dass ein Wunder geschehen würde und du stattdessen Shelton bekommen könntest. Und jetzt findest du heraus, dass er vielleicht nicht ganz so ist, wie er zu sein scheint …
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre elenden Grübeleien. Deacon, der einschüchternde Butler ihrer Tante, betrat den Raum mit einem Tablett, auf dem ein einziger Brief lag.
„Oh, was denn nun, Deacon?“, verlangte Tante Ellen mürrisch. „Sehen Sie nicht, dass unsere Familie trauert?“
„Es tut mir leid, Mylady, aber da ist eine Depesche für Sie.“ Deacon blickte stirnrunzelnd auf den ziemlich zerlumpt aussehenden Brief hinunter. „Offensichtlich ist dem Boten auf dem Weg ein Missgeschick passiert, sonst wäre der Brief schon früher hier eingetroffen.“
„Ein Eilbrief?“ Tante Ellen kreischte. „Nein, ich kann nicht noch eine weitere schreckliche Nachricht ertragen.“ Sie wandte sich an Selina. „Du musst ihn lesen, meine Liebe. Oder vielleicht wäre es besser, ihn einfach sofort ins Feuer zu werfen.“
Selina legte ihrer Tante die Hand auf die Schulter und drückte sie tröstend. „Es fühlt sich nicht richtig an, eine Depesche wegzuwerfen, ohne sie zuerst zu lesen.“
Tante Ellen stöhnte auf. „Nein, wahrscheinlich nicht. Dann öffne sie.“
Selina klappte den Brief auf, der tatsächlich schmutzig und zerrissen war.
Es standen nur drei Sätze auf der Seite. Sie las sie schnell und keuchte. „Ach, du meine Güte.“
Ihre Tante wimmerte. „Ich kann nichts mehr ertragen, Selina. Nicht noch eine –“
„Es ist die beste Nachricht, Tante Ellen. Hy und Chatham haben in einer kleinen Zeremonie in einer Stadt außerhalb von York geheiratet.“ Durch Freudentränen hindurch lächelte Selina in das fassungslose Gesicht ihrer Tante. „Unsere liebe, liebe Hy ist jetzt die Duchess of Chatham!“
***
Zehn Minuten und eine Heulorgie später schrieb Tante Ellen einen fröhlichen Brief an Selinas Eltern, um ihnen mitzuteilen, dass sie nun, dank ihr, einen Duke zu ihren nächsten Verwandten zählen konnten.
Selina konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die zurückhaltende, burschikose Hy hatte den Fang der Saison gemacht und die Familie vor dem Ruin bewahrt.
Sie hat getan, was du hättest tun sollen – was du hättest tun können, wenn du einen der Heiratsanträge angenommen hättest, die man dir gemacht hat.
Bevor Selina anfangen konnte, mit der tadelnden Stimme – die beunruhigende Ähnlichkeit mit der ihrer Mutter hatte – zu argumentieren, öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und wieder war es Deacon.
„Ja, ja, was ist denn nun schon wieder?“, fragte Tante Ellen abwesend und las noch einmal, was sie bisher geschrieben hatte.
Deacon räusperte sich. „Lord Shelton ist draußen. Er führt seine Pferde aus und möchte wissen, ob Lady Selina ihn auf einen Ausflug in den Hyde Park begleiten möchte.“
„Shelton“, wiederholte Tante Ellen mit großen Augen. „Was für eine Frechheit von diesem Schurken. Ich möchte, dass Sie hinausgehen und den Mann fortschicken, Deacon.“
„Aber Tante Ellen –“ Selina brach ab, als ihre Tante sich umdrehte und sie anfunkelte.
„Selina! Du kannst den Schurken nicht tatsächlich begleiten wollen? Er ist ein Erpresser.“
„Ich weiß, was Hy geschrieben hat, Tante. Aber verdient er nicht eine Gelegenheit, sich zu verteidigen und zu erklären?“
Ihre Tante hob daraufhin skeptisch eine Augenbraue.
„Es ist doch nur ein Ausflug in den Park“, fügte Selina hinzu, beschämt über die Verlegenheit in ihrer Stimme.
Ihre Tante warf ihr einen durchdringenden, schmaläugigen Blick zu, seufzte dann aber und machte eine abweisende Handbewegung. „Oh, ich nehme an, es wird nicht schaden.“ Ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „In der Tat kann dir nichts mehr schaden, da deine Schwester Chatham geheiratet hat.“ Sie machte eine scheuchende Bewegung. „Geh schon, geh schon. Aber lass dich von diesem Schurken nicht länger als eine Stunde aufhalten.“
„Natürlich nicht. Danke, Tante Ellen.“
Selina eilte die Treppe hinauf, um ihr neues Ausfahrkostüm anzuziehen. Obwohl es fast zwanzig Minuten dauerte, war das Selbstvertrauen, das sie empfand, wenn sie das hübsche korallenrote Kleidungsstück trug, die Zeit und die Verzögerung wert.
Als sie mit den passenden Sachen – Sonnenschirm, Handschuhe und Handtasche – ausgestattet war, atmete sie tief durch und machte sich auf den Weg nach unten. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf und in ihrer Brust machte sich vorsichtiger Optimismus breit.
Es war ein gutes Zeichen, dass Shelton gekommen war, um sie zu besuchen – zumindest dachte sie das. Es schien jedenfalls nicht das Verhalten eines schuldbewussten Mannes zu sein.
So enttäuscht Selina auch gewesen war, als sie Hys Bemerkung über Lord Shelton gelesen hatte, so konnte sie doch nicht ausschließen, dass Hy sich geirrt hatte. Immerhin hatte sich ihre Schwester in Bezug auf die Gefühle und Absichten des Duke of Chatham sich selbst gegenüber auch schrecklich geirrt, nicht wahr?
Selina war entschlossen, Lord Shelton die Chance zu geben, sich zu erklären, bevor sie ein Urteil über ihn fällte.
Wenige Minuten später begleitete einer der Stallknechte ihrer Tante sie zu Lord Sheltons Herrenkutsche. Obwohl sie Shelton seit Monaten mehrere Tage in der Woche gesehen hatte, fiel ihr nach wie vor auf, wie klassisch gut er aussah. Wie immer hatten seine lachenden blauen Augen und seine vollen, lächelnden Lippen etwas an sich, das sie zum Lächeln brachte.
„Danke, dass Sie mir Gesellschaft leisten, Mylady. Ich hatte schon befürchtet, Sie und Ihre Tante hätten die Stadt bereits verlassen, zusammen mit dem Rest der Gesellschaft. Ich bin so erfreut, Sie noch hier zu finden.“
Selina lächelte nur. Sie wollte ihn nicht ausfragen, bevor sie nicht außerhalb der Hörweite der Dienerschaft waren.
„Sind Sie bereit?“, fragte er, nachdem sie die Decke über den Rock ihres Kleides geschlungen hatte.
„Ja, Mylord.“
Er wandte sich an den Stallknecht. „Lassen Sie los.“
Selinas Herz hüpfte zusammen mit den Pferden, die die Straße hinunter in Richtung Hyde Park liefen.
Lord Shelton wandte sich ihr zu und lächelte, seine Augen funkelten. „Ich würde ja fragen, wie es Ihnen heute geht, aber Sie sehen blendend aus.“ Er schob seine Unterlippe vor. „Allerdings kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie nicht so glücklich aussehen, mich zu sehen, wie ich gehofft hatte.“
„Natürlich freue ich mich, Sie zu sehen, Mylord“, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln, das seinem eigenen an Glanz in nichts nachstand.
Er stieß einen melodramatischen Seufzer aus. „Den Heiligen sei Dank! Einen Moment lang habe ich mir Sorgen gemacht.“
Selina räusperte sich. „Es gibt allerdings ein paar Dinge, die ich Sie fragen möchte.“
Etwas, das beunruhigend nach Besorgnis aussah, flackerte über sein Gesicht, war aber im Nu wieder verschwunden. „Sie können mich alles fragen, meine Liebe – das sollten Sie inzwischen wissen.“
Bei seinen Worten verspürte sie einen Anflug von Erleichterung. Offensichtlich hatte sie seinen Gesichtsausdruck mit etwas anderem verwechselt.
Er bestätigte ihre Erleichterung, als er lächelte und sagte: „Bitte, seien Sie nicht schüchtern. Fragen Sie!“
„Es geht um meine Schwester“, sagte sie.
Ein Ausdruck von echter Verwirrung trübte seine perfekten Gesichtszüge. „Ihre Schwester? Kenne ich sie?“
„Sie kennen sie unter einem anderen Namen.“
„Welcher Name ist das?“, fragte er und lenkte die Kutsche an den Toren des Parks vorbei.
„Sie haben den Eingang verpasst“, sagte Selina.
„Wir nehmen einen weniger belebten Eingang, damit wir nicht von jedem Parkbesucher in ein Gespräch verwickelt werden, der uns anhalten und Ihre Schönheit bewundern will. Aber was sagten Sie über Ihre Schwester?“
„Sie kennen sie unter dem Namen Hiram Bellamy.“
Sheltons Hände ruckten an den Zügeln, sodass die Pferde – immer noch lebhaft und unruhig – scheuten. Er lockerte seinen Griff, drehte sich zu Selina um, die Stirn in Falten gelegt. „Es tut mir leid. Haben Sie gerade gesagt, Ihre Schwester heißt Hiram Bellamy?“
„Ihr Name ist Hyacinth, aber Hiram ist der Name, den sie benutzt, wenn sie sich als junger Mann verkleidet, um Karten zu spielen.“
Sheltons Lippen öffneten sich und er starrte sie an. Nach einem langen Moment gab er ein bellendes Lachen von sich. „Großer Gott. Sie meinen das ernst.“
„Ich meine es völlig ernst.“
„Lady Hyacinth Bellamy ist auch Hiram Bellamy?“
„Ja.“
Er blinzelte. „Und weiß Chatham, wer sie ist?“
„Ich glaube, er hat ihre Identität erst kürzlich entdeckt.“
„Verflucht noch mal.“ Er brach in schallendes Gelächter aus. „Das ist … das … das ist verdammt erstaunlich, ja, das ist es.“
Selina schnappte nach Luft. „Lord Shelton!“
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte er, aber er sprach die Worte achtlos aus. Seine Gedanken waren eindeutig woanders.
Sie fuhren einige Minuten schweigend weiter, während Selinas Gedanken um seine seltsame Reaktion kreisten. Warum hatte er gelacht?
Frag ihn nach der Erpressung, drängte eine Stimme in ihr.
Selina drehte sich zu ihm um, bereit, genau das zu tun, doch dann bemerkte sie sein böses Grinsen und fragte stattdessen: „Warum lächeln Sie so?“
„Weil Ihre überraschenden Neuigkeiten bedeuten, dass sich mein Cousin Ärger eingehandelt hat, nicht wahr?“
Selina mochte sein Grinsen nicht. Ganz und gar nicht. „Sie wussten, dass Hiram eine Frau ist.“
„Ja, natürlich wusste ich das“, sagte er, obwohl es nicht wirklich eine Frage gewesen war. Wieder sah er abgelenkt aus, als wären seine Gedanken bei etwas anderem.
Plötzlich wurde ihr unwohl, als hätte sie etwas Verdorbenes verschluckt.
Oder etwas Giftiges.
„Haben Sie den Duke erpresst und gedroht, allen von Hy – Hiram – zu erzählen, falls er Ihnen kein Geld gibt?“
Er warf ihr einen irritierten Blick zu. „Wer hat Ihnen das erzählt?“
„Haben Sie?“
Er zuckte mit den Schultern. „Erpressung ist so ein hässliches Wort. Möglicherweise habe ich … angedeutet, dass ich solch einen pikanten Leckerbissen für mich behalten würde, wenn mein Cousin mir etwas gäbe, sodass es sich für mich lohnt.“
„Mit anderen Worten, Geld.“
Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht und er runzelte die Stirn. „Ja, Geld.“
Sie schüttelte den Kopf, ihre Lippen kräuselten sich vor Abscheu. „Sie haben Ihren eigenen Cousin erpresst.“
Er runzelte die Stirn. „Ich glaube, mir gefällt Ihr Ton nicht, Mylady.“
Unter seinem harten Blick zuckte Selina zusammen, verblüfft darüber, dass er sie so kalt ansehen konnte. Sie war mehr als nur ein wenig erschüttert darüber, wie schrecklich sie sich in ihm getäuscht hatte.
Immer noch finster dreinblickend wandte er sich von ihr ab.
Aber es dauerte nicht lange, bis er sich ihr wieder zuwandte, schnaubte und ein weiteres Grinsen sein Gesicht erhellte. „Mein Gott, bei all diesen Geheimnissen, in die Ihre Schwester ihn verwickelt hat, steckt er aber in der Klemme, nicht wahr?“
Das Unwohlsein, das sie empfunden hatte, verwandelte sich in Wut, vor allem auf sich selbst, aber auch auf Shelton, der – so vermutete sie – genauso verkommen war, wie ihre Tante gesagt hatte. „Sie können sich diesen abscheulichen Ausdruck aus dem Gesicht wischen, Mylord, denn der Duke befindet sich keineswegs in der Klemme. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie gehofft haben, mehr Geld aus ihm herauszubekommen, werden Sie enttäuscht sein.“
Shelton lachte und warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Enttäuscht? Da bin ich anderer Meinung, Mylady. Chatham wird wahrscheinlich das Richtige für Ihre Schwester tun und ihr einen Antrag machen – wie könnte er das nicht? Aber Sie sind es, die mein Cousin heiraten will. Jeder hat es bemerkt. Chatham hat in den zehn Jahren seit dem Tod seiner Frau während einer Saison nicht mehr als einen Tanz mit einem Mädchen getanzt.“ Seine blauen Augen glitzerten voller Bitterkeit. „Sie sind diejenige, die er will, und jetzt kann er Sie verdammt noch mal nicht haben.“
„Sie könnten nicht falscher liegen, Mylord. Zufälligerweise sind die beiden verliebt“, sagte Selina. Vielleicht streckte sie die Wahrheit damit ein wenig, aber sie hoffte sehr, dass sie damit richtiglag. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt sie seinem Blick stand.
Shelton fiel die Kinnlade herunter. Sein Gesichtsausdruck befriedigte Selina aufs Äußerste. „Das kann nicht Ihr Ernst sein. Chatham ist verliebt in diese schlaksige …“
„Nehmen Sie sich in Acht, Mylord. Sie sprechen von meiner Schwester.“
Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu und lachte dann. „Tut mir leid, Kätzchen. Ich weiß, dass sie Ihre Schwester ist, aber sie ist kaum Sie, nicht wahr?“ Er musterte sie abschätzend mit seinen blauen Augen. „Um die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht überzeugt, dass Chatham Ihre Schwester heiraten wird. Obwohl ich nicht wüsste, wie er es vermeiden könnte.“
„Zufälligerweise will Seine Gnaden mich nicht und hat mich nie gewollt. Er ist eindeutig in der Lage, einen Menschen von Wert zu schätzen, wenn er einen trifft, und meine Schwester ist ein unbezahlbarer Schatz. Was Ihre Behauptung angeht, dass er sie nicht heiraten wird –“ Selina warf ihm einen süffisanten Blick zu und versetzte ihm dann den Gnadenstoß: „Meine Schwester und Ihr Cousin haben vor drei Tagen mit Sondergenehmigung geheiratet, also haben Sie auch in diesem Punkt Unrecht.“
Er starrte sie an und der Humor wich aus seinem Gesicht. „Sie lügen.“
„Ich lüge ganz sicher nicht.“
„Aber … wenn das der Fall ist, warum habe ich dann noch nichts davon gehört?“
„Ich wage zu behaupten, dass im Haus Seiner Gnaden eine Depesche auf Sie wartet. Der Bote hat sich offenbar verspätet. Meine Tante hat erst eine Viertelstunde vor Ihrer Ankunft bei uns davon erfahren.“
Er schüttelte den Kopf, die Lippen vor Schreck zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
Selina hatte fast Mitleid mit ihm. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass er zugegeben hatte, seinen eigenen Cousin erpresst zu haben, und verdrängte dieses Gefühl.
„Das ergibt keinen Sinn“, sagte er. „Sylvester hat mich bezahlt, damit ich mich von Ihnen fernhalte. Warum sollte er das tun, wenn nicht …“
Selina schnappte nach Luft. „Sie haben Geld genommen, um sich von mir fernzuhalten?“
Er zuckte mit den Schultern und warf ihr einen beschämten Blick zu. „Tut mir leid, Schätzchen, aber … es musste sein.“
Ungläubig schüttelte Selina den Kopf. „In den letzten drei Monaten haben Sie bei jeder Gelegenheit angedeutet, wie sehr Sie sich wünschen, wir könnten zusammen sein. Die ganze Zeit über haben Sie mich nur benutzt, um Ihren Cousin auszubremsen.“ Sogar während sie diese Anschuldigung aussprach, hegte sie noch einen Funken Hoffnung, dass sie sich irrte.
Mit einem lässigen Achselzucken tötete er auch diesen.
Statt reumütig oder schuldbewusst auszusehen, weil er ertappt worden war, sah er amüsiert aus. „Ach, Kätzchen, seien Sie nicht böse. So hat es angefangen, aber natürlich bin ich – nachdem wir so viel Zeit miteinander verbracht haben – in Ihren Bann geraten, wie all die anderen armen Schlucker.“
Er machte nicht einmal den Versuch, überzeugend zu klingen. Sie war ihm wirklich egal.
„Hören Sie auf, mich Kätzchen zu nennen, Sie widerlicher, verachtenswerter, unerträglicher –“
„Aber Sie sind ein Kätzchen“, erwiderte er und warf ihr einen abschätzigen, spöttischen Blick zu. „Sie tun so, als wöllten Sie, dass die Leute hinter Ihre Fassade blicken und Ihr wahres Ich erkennen. Aber Ihr flauschiges Äußeres ist Ihr wahres Ich. Sie sind weich und süß und lieben es, gestreichelt und verhätschelt zu werden, und alles, wovon Sie je geträumt haben, war, ein verwöhntes kleines Haustier auf dem Schoß eines reichen Mannes zu sein, nicht wahr?“
Angesichts des Giftes in seiner Stimme und der bösen, spöttischen Worte, die aus seinem Mund drangen, klappte Selina die Kinnlade herunter
Er wandte sich wieder der Straße zu. „Also, mein Cousin und Ihre Schwester“, sinnierte er ruhig, als hätte er nicht gerade Gift und Galle in ihre Richtung gespuckt.
Selina verschränkte die Arme, um sich davon abzuhalten, ihm eine Ohrfeige in sein abfälliges Gesicht zu geben. Ihre Wangen brannten vor Demütigung, als sie erkannte, wie dieser Mann sie zum Narren gehalten hatte – und wie leicht es ihm gefallen war.
Sie zuckte zusammen, als sie sich daran erinnerte, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, ihn zu sehen, wie sehr sie es genossen hatte, bei jeder Veranstaltung diese wenigen, kostbaren Minuten mit ihm zu verbringen. Wie idiotisch sie doch gewesen war, zu glauben, sie hätten etwas gemeinsam. Shelton hatte sie für die dumme Närrin gehalten, die sie war. Er hatte recht, sie war nichts weiter als ein Kätzchen.
„Ich weiß, was Sie getan haben, Mylord, aber ich verstehe immer noch nicht, wie Ihnen die Manipulation meiner Zuneigung in irgendeiner Weise hilft.“
Shelton seufzte. „Mein Cousin ist ein sehr reicher Mann und kontrolliert die Familienkasse. Wenn ich etwas von diesem Geld haben will, muss ich entweder tun, was er sagt, oder ich muss ihn dazu bringen, das zu tun, was ich will.“
„Wie wollten Sie mich denn benutzen, um Geld aus Ihrem Cousin herauszuquetschen?“
„Ich hatte vor, Sie so sehr zu kompromittieren“, – Shelton schnaubte amüsiert über Selinas entsetztes Keuchen –, „dass eines von zwei Dingen passiert wäre. Entweder hätte Chatham mir Geld angeboten, damit ich weggehe, er einspringen und Sie heiraten kann, oder er hätte mich bestochen, Sie zu heiraten. So oder so, ich hätte ihn sehr viel zahlen lassen.“ Er drehte sich um und schenkte ihr das Grinsen, das sie einst so charmant gefunden hatte. „Aber das ist jetzt alles egal, denn jetzt gibt es nur noch Sie und mich, mein schönes Kätzchen. Und das ist es, was Sie die ganze Zeit wollten, nicht wahr, meine Süße? Meine gutaussehende, charmante Person als Ehemann?“
Selina zuckte unter seinem wissenden, spöttischen Blick zusammen. Die Wahrheit traf sie mit der Wucht eines Hammers auf die Brust. Sie schnaubte ungläubig. „Sie mögen mich nicht einmal, oder? Sie haben mich nur benutzt.“
„Die Wahrheit ist, Kätzchen, dass ich Sie nicht genug kenne, um Sie zu mögen oder nicht zu mögen.“
Selina war so erzürnt – und so wütend über ihre eigene leichtgläubige Dummheit –, dass sie sich aus der Kutsche stürzen wollte.
Stattdessen sagte sie: „Das andere Mädchen, das London in Ungnade verlassen musste. Das war Ihre B–“
„Tsss, tssss“, schimpfte er, „ich glaube, es ist besser, wenn wir dieses Thema vermeiden.“
„Das kann ich mir vorstellen. Aber ich möchte wissen, was –“
„Es ist besser, wenn Sie sich nicht in Dinge einmischen, von denen Sie keine Ahnung haben.“ Er schenkte Selina ein Lächeln, das viel zu viele Zähne zeigte. Seine hübschen blauen Augen waren hart und ließen ihn nicht wie den unbeschwerten Charmeur aussehen, den sie kannte.
Selina schloss ihren Mund.
Er nickte. „Das ist weise, Mylady.“
Sie wandte sich von ihm ab und schäumte vor Wut.
„Ach, ärgern Sie sich nicht über mich, Kätzchen“, beschwichtigte er, und seine Stimme klang wieder freundlich.
Selina ignorierte ihn.
Er lenkte die Pferde in eine Straße, die noch schmaler war als die letzte. Und nicht im Geringsten vertraut.
Selina sah sich um und runzelte die Stirn. „Wohin fahren wir?“
„Ich dachte, wir könnten anhalten und eine Erfrischung zu uns nehmen – etwas, um Ihre zerrütteten Nerven zu beruhigen.“
„Schmeicheln Sie sich nicht ein“, erwiderte sie. „Meine Nerven sind völlig in Ordnung. Ich möchte nach Hause.“
„Alles zu seiner Zeit, Darling.“ Sein Gesichtsausdruck war nachdenklich und fast … verschlagen geworden.
„Ich möchte nach Hause“, sagte sie und ihre Stimme stieg eine Oktave höher. „Jetzt!“
Er nahm die Zügel in eine Hand, packte ihr Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. Seine Augen waren eisig blau. „Sie bleiben sitzen, halten den Mund und sind ein braves Mädchen.“ Er ließ seine Hand fallen. „Mein Cousin mag Ihre Schwester geheiratet haben, aber ich brauche immer noch Geld, Kätzchen, sehr viel Geld.“
Zum ersten Mal spürte Selina einen Stich echter Angst. „Was haben Sie vor?“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das einen Hauch von Bedauern enthielt. „Ich sehe keinen Grund, von meinem ursprünglichen Plan abzuweichen, nur weil Chatham verheiratet ist.“
„Ihr Plan? Sie meinen –“
„Ihren Ruf so gründlich zu kompromittieren, dass mein Cousin eingreifen muss? Ja, dieser Plan, Liebling. Er wird Sie natürlich nicht selbst heiraten können, um die Sache zu vertuschen. Aber er kann mich trotzdem dafür bezahlen. Ich habe im Schwan mit zwei Hälsen eine Postkutsche reserviert, und ich bringe Sie nach Rosewood, wo wir bleiben werden, bis Chatham meine Bedingungen erfüllt.“
Selina fiel es schwer, zu atmen. „Und was ist, wenn er sie nicht erfüllt?“
Er warf ihr einen unleserlichen Blick zu. „Daran sollten wir noch nicht denken, Kätzchen, hmm?“