Leseprobe Das Herz von Broom Park

Kapitel 1

Schottland 1814

Hazel MacAllen strich sich eine Strähne ihrer langen, dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Sie fröstelte, wickelte sich ihr Wolltuch noch etwas fester um die Schultern und steckte die Enden wieder in den breiten Ledergürtel über ihrem grünen Wollrock.

Es war ein kalter Tag. Viel zu kalt für Anfang Mai an der schottischen Westküste. Am Meer war es an diesem Tag besonders ungemütlich. Der böige Westwind trieb die Wellen weit in die Bucht und ließ den Kies am Strand mit einem ständig murmelnden Geräusch hin und her rollen. Ab und zu flogen kleine Flocken weißen Schaums durch die Luft, die von der Gischt leicht nach Salz schmeckten. Hazel blickte hinaus auf die wogende See mit den weißen Wellenkämmen, doch es war noch immer nichts von Colin und Alistair zu sehen. Seit dem frühen Morgen waren sie mit dem Boot draußen. Der Wind war über den Tag immer stärker geworden und die Möwen, die in kleinen Schwärmen über das Meer flogen, kamen nur mühsam gegen ihn an.

Hazel seufzte. Dann nahm sie das große Bündel Treibholz, das sie gesammelt hatte, auf ihre Schultern, als wöge es nichts. Seit ihr Vater vor sechs Jahren bei einem Sturm nicht vom Fischen zurückgekehrt war, hatte sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter zusehends verschlechtert und sie war kränklich und lebensmüde. So musste Hazel sich um den Haushalt kümmern, wenn ihre beiden Brüder mit dem Boot unterwegs waren – und das waren sie, außer an den Sonn- und Feiertagen, fast jeden Tag. Körperlich schwere Arbeiten waren ihr daher nicht fremd.

Sie ging ein Stück den Strand entlang und folgte dem schmalen Pfad, der hinauf zum Cottage führte. Das kleine, aus grauen Steinen gebaute Haus, lag am Fuße eines kleinen Hügels, hinter dem sich majestätisch die Berge der schottischen Highlands erhoben. Eine Steinmauer und ein paar Bäume schützten es vor Wind und Wetter und die beiden einzigen Fenster an der Vorderseite sahen manchmal aus wie zwei große Augen.

»Hast du sie gesehen?«, rief Fiona MacAllen von der blauen Tür aus, als sie ihre Tochter kommen sah.

»Nein, Mutter. Geh wieder ins Haus. Es ist zu kalt für dich.«

Hazel legte das Holzbündel neben der Tür ab und ging mit ihr hinein. Mrs MacAllen war erst achtundvierzig Jahre alt, ihr früher dunkles Haar war inzwischen fast grau und sie versteckte es unter einem Häubchen. In dem dämmrigen Haus, das durch eine Wand in zwei Räume geteilt wurde, war es wohlig warm. In der Feuerstelle des etwas größeren, rechten Raumes brannte ein Torffeuer. Er war gleichzeitig Küche und Wohnzimmer, und Colin und Alistair hatten dort ihre Betten. Der Qualm zog nur langsam durch den Kamin in dem mit grauem Schiefer gedeckten Dach ab. Ein Teil davon zog in den Raum und schwärzte die Decke.

Das Feuer war schon weit heruntergebrannt, aber es reichte Hazel, um sich die Finger zu wärmen. Sie schöpfte für sich und ihre Mutter einen Becher heißen Tee aus dem schwarzen Kessel, der an dem schwenkbaren Eisenhaken über dem Feuer hing. Hoffentlich würden ihre Brüder vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Taten sie das nicht, müsste oben auf dem Hügel die große Laterne angezündet werden, die ihnen den Weg nach Hause wies.

Nachdem sie ihren Becher geleert und drei bereits vorbereitete Brotlaibe in den gemauerten Backofen neben dem Kamin geschoben hatte, ging sie in den kleinen Stall hinter dem Cottage. Sie molk Bess, die einzige Kuh, die sie besaßen, fütterte die Hühner und Tommy, das Pony. Dann ging sie auf die Weide und sah nach den fünf Schafen und ihren Lämmern. Wieder im Haus, half sie ihrer Mutter bei der Zubereitung des Abendessens. Sie waren fast fertig, als sie draußen endlich Stimmen hörte. Kurz darauf erschien Alistair in der Tür. Er hängte seine nasse Jacke vor das Feuer und nahm sich eine Schale Eintopf aus dem Kessel. Er sagte kein Wort. Wie so oft. Hazel blickte ihn an und schüttelte den Kopf. Sie würde ihn nie verstehen. Seine braunen Augen, die sie aus einem braungebrannten, markanten Gesicht anblickten, waren wie die See an einem dunklen Tag im Winter: kalt und unergründlich. Seine ewige Unzufriedenheit konnte der ganzen Familie die Stimmung verderben. Wie anders war da Colin, dachte sie, und stellte eine weitere Schale für ihn auf den Tisch. Er war fast immer gut gelaunt und versuchte, das Beste aus seinem Leben zu machen. Im selben Moment flog auch schon die Tür auf und ihr zweiter Bruder kam herein. Hazel liebte ihn über alles. Er war sechs Jahre älter als sie. Im Gegensatz zu Alistair, der jetzt schon siebenundzwanzig war, behandelte Colin seine Schwester, die in einem Monat achtzehn Jahre alt werden würde, schon lange nicht mehr wie ein kleines Mädchen. Er schüttelte seine nassen, dunkelblonden Locken vor dem Feuer aus.

»Guten Abend, Mutter«, sagte er, küsste sie auf die Stirn und kam zu Hazel.

»Was gibt es Leckeres, Schwesterlein?«, fragte er kess.

Er legte ihr den Kopf von hinten auf die Schulter und blickte auf das vorbereitete Essen.

»Fischeintopf und frisches Brot«, lachte sie und drückte ihm einen Laib in die Hand.

»Was für ein scheußliches Wetter.« Colins blaugraue Augen blitzten übermütig. »Aber wir haben gut gefangen heute. Erst haben wir drei Lobster in den Körben gehabt und dann sind wir in einen Schwarm Makrelen geraten. Ich wette, die Lachse kommen auch bald.« Er lachte und die beiden Grübchen neben seinen Mundwinkeln wurden tiefer.

»Heißt das, wir fahren morgen mit dem Ponywagen zur Kirche?« Hazel warf einen erwartungsvollen Blick zu Alistair, als sie sich setzte.

Der nickte nur.

Sie beteten gemeinsam und aßen. Hazel war froh, dass ihre Brüder heil zurück waren, dankte Gott im Stillen dafür und auch, dass sie morgen nicht würde laufen müssen. Sie hasste es, wenn sie in aller Frühe zu Fuß hinüber ins Dorf gehen musste. Die verdammten Midges fraßen einen fast auf, wenn kein Wind ging und nur Colins Pfeifenqualm und der würzige Duft der Bog Myrtle, konnte, wenn man deren Blätter zerrieb, die Plagegeister vom Stechen abhalten. Außerdem würde sie so nach der Kirche schneller wieder zu Hause sein, und hätte mehr Zeit für sich am Nachmittag. Nach dem Mittagessen würde sie hinüber nach Broom Park gehen. Diese Aussicht war sehr erfreulich und Hazel summte beim Abräumen des Tisches eine Melodie. Sie träumte mit offenen Augen, als sie sich spät nach dem Essen neben ihre Mutter in das Bett im Nebenzimmer legte, während ihre Brüder noch die Netze und die Lobsterkörbe in Ordnung brachten.

Am Morgen fuhren sie alle mit dem Ponywagen ins Dorf. Alistair verkaufte den Fisch, bevor sie den Gottesdienst besuchten. Hazel lauschte der Messe in der kleinen, schmucklosen Kirche andächtig. Sie liebte die Art, wie der Reverend sprach. Seine Stimme war tief, er sprach langsam und mit Bedacht. Auch wartete sie immer sehnsüchtig darauf, dass endlich das Harmonium gespielt wurde. Sie mochte Musik, besonders die in der Kirche, wenn sich das Harmonium und der Gesang der Gemeinde vereinten. Diese Musik war so anders, als das, was Colin auf seinem Dudelsack spielte, fast wie aus einer anderen Welt. Noch als sie die Kirche verließen, hatte Hazel all die wunderbaren Klänge im Ohr, doch sie wurde jäh von der rauen Stimme eines Mannes unterbrochen, der sie vor dem Gotteshaus ansprach.

»Guten Morgen, Hazel.«

Sie drehte sich um und sah in ein schmales, unrasiertes Gesicht, das von strähnigen, braunen Haaren umrahmt wurde. Die beiden kalten, grauen Augen musterten sie ungeniert.

»Guten Morgen, Rory«, entgegnete Hazel schnippisch und wandte sich zum Gehen.

»Wie geht es dir?«, fragte er und folgte ihr.

»Gut, danke.«

»Du warst lange nicht im Laden. Willst du nicht mitkommen?«

Hazel schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken. Sie konnte diesen Campbell einfach nicht ausstehen.

»Nein, danke. Ich habe wirklich keine Zeit. Mutter will nach Hause und ich muss den Wagen fahren.«

»Zu schade. Wie wäre es mit nächster Woche?« Er vertrat ihr den Weg.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie zögernd. Sie konnte ihm nicht sagen, dass er sich zum Teufel scheren sollte.

 Er hatte nun mal den kleinen Laden im Dorf, und sie waren immer wieder darauf angewiesen, von ihm Kredit zu bekommen.

»Komm schon, Hazel, so ein hübsches Mädchen wie du braucht bestimmt etwas Neues«, scherzte er aufdringlich. »Ich habe schöne neue Haarbänder. Das wäre doch was für dich.«

Rorys Hand griff nach ihrem Haar und er ließ sich eine Strähne ihrer Locken durch die Finger gleiten.

Hazel spürte ein Würgen im Hals. Es widerte sie an, dass er sie angefasst hatte. Er verursachte bei ihr ein ähnliches Gefühl von Ekel, wie es im Herbst die dicken Spinnen taten, wenn sie ins Haus kamen.

»Ich denke drüber nach«, sagte sie hastig und lief aus dem Kirchhof.

Ihre Mutter saß schon auf dem Wagen und Hazel brachte Tommy mit einem Schnalzen zum Laufen. Sie sah nur noch, wie Rory mit Alistair sprach und die beiden sich in Richtung des Alehouse aufmachten, um sich das ein oder andere Bier zu gönnen.

Hazel aß nicht viel an diesem Mittag und verließ danach das Cottage. Der Sonntagnachmittag gehörte ihr, ihr ganz allein.

Sie nahm den Pfad, der sich von der kleinen Bucht, in der sie wohnten, den Hang hinauf durch die Heide und das Farnkraut nach Süden an der Küste entlangwand. Oben auf dem nächsten Hügel blieb sie stehen und betrachtete die Landschaft. Hinter ihr zogen sich die felsigen Berghänge steil hinauf und vor ihr reichte der Blick nach Westen weit den Loch Linnhe hinunter. Die weißen Segel eines Schiffes mit Kurs auf Fort William am Ende der tiefen Bucht leuchteten weithin sichtbar in der Sonne. Unten am Fuße der grünen Hügel, auf denen die Schafe weideten, klatschte das Meer weiß schäumend gegen die grauen Felsen. Das Castle Stalker, das auf einem winzigen Eiland im Meer lag, ragte mit seinem eckigen Turm trotzig in den Himmel. Es schien, wie die schroffen Gipfel der Berge auf der anderen Seite der großen Bucht, zum Greifen nahe. Im Westen erhoben sich die Berge der Isle of Mull und im Osten die höchsten Gipfel der Highlands. Sie atmete tief ein. Die Luft war klar und sauber nach dem gestrigen Sturm. Wenn der Sommer endlich käme, und die Heide anfangen würde zu blühen, würde es oben auf dem Hügel wieder betörend duften. Hazel hätte noch eine ganze Weile träumen können, doch es war fast eine Meile nach Broom Park und sie wollte so viel Zeit wie möglich an ihrem Lieblingsplatz verbringen.

Broom Park war ein altes, halb verfallenes Herrenhaus, das am Fuße eines von Ginster und Wald bewachsenen Hügels lag. Der Ginster am Waldrand zeigte schon die ersten Knospen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich alle Blüten öffnen. Dann würde er ganze Hügel weithin sichtbar in sattem Gelb leuchten. Als Hazel die hohe Steinmauer erreichte, die den Besitz umgab, spähte sie wie immer erst vorsichtig durch das Loch darin, bevor sie hindurchschlüpfte. Das Anwesen war schon lange verlassen, aber sie hatte immer Angst, es könnte doch jemand da sein. Außerdem hieß es, der Geist der alten Lady Denby, die sich vor mehr als zwanzig Jahren im Haus erhängt hatte, würde dort spuken.

Hazel ließ sich davon nicht abschrecken, und als sie niemanden sah, folgte sie zielsicher dem zugewachsenen Pfad unter den alten Bäumen und Rhododendren bis zum Haus. Das große zweistöckige Gebäude wurde von einem Dach mit mehreren kleinen Giebeln gekrönt. Die grauen Mauern waren von Efeu überwuchert, der sich ungehindert in die kaputten Fenster im oberen Stockwerk hineingewunden hatte. Viele der Fenster waren nur notdürftig mit Brettern verschlossen. Auch die große Tür zum Haus war früher vernagelt gewesen, aber jemand hatte sich schon vor langer Zeit Zugang verschafft. Hazel hatte keine Mühe, zwischen zwei Brettern hindurch in die Eingangshalle zu gelangen. Über dieser war das Dach teilweise eingestürzt. Balken und Dachschiefer lagen auf dem einstmals so prächtigen Boden aus schwarzem und weißem Marmor. Die Holzvertäfelung war nass geworden und wölbte sich von den Wänden. Auf der Treppe hatten sich in den Winkeln, wo der Wind etwas Erde angeweht hatte, bereits kleine Pflanzen angesiedelt. Hazel hatte es noch nie gewagt, die breite Treppe hinaufzugehen, aus Angst, sie könnte unter ihr einstürzen. Sie durchschritt die Halle eilig und ging auf der anderen Seite durch die große Tür, die nur noch halb in den Angeln hing.

Hier war ihr Paradies – der alte Ballsaal.

Er war noch vollständig erhalten und immer trocken. Die großen Fenster, die fast bis zum Boden reichten, waren verschmutzt, und das bisschen Sonne, das hindurchdrang, tauchte den Raum in ein sanftes, gelbliches Licht. In dem großen Raum hallte ihre Stimme wider, fast wie in der Kirche. Sie liebte es, hier zu singen und zu tanzen. Wie immer kehrte sie zuerst den Boden mit einem Ginsterbündel und entfernte die Blätter, die der Wind der letzten Woche hier zusammengeweht hatte. Sie legte das Bodenmosaik in der Mitte frei, das ein tanzendes Paar in altmodischen Kleidern und mit weißen Perücken zeigte. Dann ging sie hinüber zu dem alten Spiegel über dem Kamin und betrachtete sich selbst. Sie konnte sich hier in voller Größe sehen, wenn auch der Spiegel angelaufen und fleckig war. Nach einem Knicks vor ihrem Spiegelbild forderte sie sich selbst zum Tanzen auf. In ihrer Fantasie ertönte leise Musik und sie schloss die Augen. Hazel begann zu singen und sie stellte sich vor, der Saal wäre erfüllt mit Menschen in eleganten bunten Kleidern. Sie sah sich selbst durch die Menge in die Mitte des Raumes schreiten.

Sie war die Herrin von Broom Park.

***

Simon Denby zügelte sein Pferd. Er musterte das vor ihm liegende Haus kritisch. Es war im klassischen Baronial Style erbaut und die Fassade mit ihren wehrhaften kleinen Türmchen und Erkern und den zahlreichen kleinen Giebeln am Dach war sehr schön. Der weite Blick über das Meer, den er bereits genossen hatte, als er die Auffahrt entlanggeritten war, und den er jetzt auch vom Vorplatz aus hatte, war überwältigend.

Wenn es nur nicht so unangenehm kalt wäre, dachte er und rieb sich die Hände.

Er stieg ab, tätschelte den Hals seines Pferdes und band es an den Ast einer Eiche. Dann ging er zum Eingang hinüber. Ein paar Bretter fehlten, und die Tür dahinter war offen. Er zwängte sich durch das Loch zwischen den Latten, blickte sich um und schüttelte den Kopf. Die Halle war in einem desolaten Zustand und es würde ihn sicherlich einige tausend Pfund kosten, das Haus wieder zu dem zu machen, was es zu Zeiten seiner Großmutter gewesen war. Er musterte noch den Zustand der Vertäfelung, als er eine helle Stimme singen hörte. Einen Moment befürchtete er, es könne der Geist seiner Großmutter sein, doch er war Realist und ging dem Gesang nach. In der Tür zu einem großen Saal blieb er stehen. Was er sah, ließ ihn lächeln. Ein junges, ärmlich gekleidetes Mädchen sang und tanzte höchst anmutig allein durch den Raum. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Er wollte sie nicht erschrecken und räusperte sich leise.

Hazel schrie erschrocken auf, als sie den Fremden in der Tür bemerkte. Sie blieb wie versteinert stehen und starrte ihn an. Er war groß und schlank, hatte kurzes, dunkelblondes Haar und trug unter seinem langen Reitmantel einen elegant geschnittenen, schwarzen Anzug aus feiner Wolle und einen schwarzen Hut wie ein echter Gentleman.

»Du singst und tanzt sehr hübsch«, sagte der Fremde.

Hazel erwiderte nichts. Sie stand nur irritiert mit halb geöffnetem Mund da, unfähig, etwas zu sagen.

»Willst du mir nicht verraten, wer du bist, wenn du schon in meinem Haus tanzt?«

Sie erschrak. Sein Haus? Das kann nicht sein, dachte sie.

»Komm her«, forderte sie der Fremde freundlich auf und sie gehorchte zögernd.

Er sah sie forschend an und ihre Angst schwand, als sie seine weichen Gesichtszüge und den sanften Ausdruck in seinen warmen, blauen Augen sah.

»Nun, junges Fräulein, willst du mir nicht antworten?«

Er lächelte noch immer. Lachfältchen umrahmten seine Augen.

»Mein Name ist Hazel. Hazel MacAllen«, entgegnete sie scheu.

Sie bemerkte seinen musternden Blick. Seine Augen wanderten von ihren wilden, offenen Locken über ihre Kleidung bis hinunter zu ihrem fleckigen Rocksaum. Rasch versuchte sie noch, ihre ebenso verdreckten Schuhe darunter zu verstecken. Sie fühlte, wie ihre Hände schwitzten und ihre Wangen rot wurden.

»Ich bin Lord Simon Denby.« Er zog seinen Hut und verneigte sich leicht.

Hazel biss sich auf die Lippen und schluckte. Sie hoffte, er würde nicht bemerken, dass ihre Hände vor Aufregung auch noch zitterten.

»Du kommst wohl öfter hierher«, sagte Lord Denby und ging durch den Raum auf die Fenster zu.

»Jeden Sonntag«, antwortete sie leise.

»Soso.« Lord Denby musterte sie erneut aus der Entfernung.

»Das mit der Tür bin ich aber nicht gewesen. Es war schon so, als ich zum ersten Mal hier war.«

»Ich habe dir nichts vorgeworfen. Warum entschuldigst du dich also?« Er sah sie fragend an.

»Ich dachte, Sie sind vielleicht erzürnt, weil ich hier bin«, entgegnete Hazel, und hoffte, dass er es nicht war.

»Nein. Das bin ich nicht.« Er schmunzelte.

Sie sprach mit diesem harten Highland-Akzent, den er so mochte.

»Du kennst das Haus sicherlich gut. Willst du mir nicht alles zeigen?«

Ihr stockte der Atem. Ein Lord bat sie, ihm sein eigenes Haus zu zeigen! Sie zögerte kurz, doch der freundliche Ausdruck in seinen Augen ermutigte sie. »Ich kenne nur den Teil hier unten, aber den zeige ich Ihnen gern.« Sie strahlte ihn an und führte ihn in der ihr vertrauten, unteren Etage herum. Hazel fühlte sich so stolz, als wäre sie die Herrin des Hauses und nicht er.

»Es wird ein Vermögen kosten, das Haus wieder aufzubauen«, bemerkte Lord Denby beiläufig, als sie nach dem Rundgang wieder in der Halle ankamen. Er drehte seinen Hut in den Händen.

»Sie wollen es wieder herrichten?«, entfuhr es ihr entsetzt.

»Ja, das will ich. Mein Vater ist vor Kurzem verstorben und er hat unser Haus in Galloway meinem jüngeren Bruder hinterlassen. Ich habe zwar den Titel Lord Denby geerbt, aber ich muss dafür auch nach Broom Park zurückkehren. So hat es mein Vater verfügt.«

Hazel sagte kein Wort. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu, wandte sich um, und ließ ihn einfach stehen. Tief in ihrem Herzen spürte sie einen stechenden Schmerz. Sie rannte fast den ganzen Weg bis nach Hause und heiße Tränen liefen ihr über die Wange.

Er würde es ihr wegnehmen. Ihr Broom Park.

Hazel hatte nur Colin von ihrer Begegnung mit Lord Denby erzählt, doch bereits zwei Tage später wurde in der ganzen Gegend über nichts anderes mehr gesprochen, als darüber, dass die Denbys nach Broom Park zurückkehren würden. Viele hatten Angst, Lord Denby würde sie womöglich von ihrem Land und ihren Crofts vertreiben, so wie es die Großgrundbesitzer in Sutherland im Norden taten, um das Land für die Schafzucht zu nutzen. Clearences, Bereinigungen, nannten sie diese Vertreibung. Wenn die Leute sehr viel Glück hatten, erhielten sie etwas Geld und die Chance, nach Amerika zu gehen. Wenn nicht, wurde ihnen einfach das Dach über dem Kopf angezündet. Alistair hatte Bedenken, dass es auch in Appin bald soweit kommen würde.

Drei Wochen nachdem Hazel Lord Denby das erste Mal begegnet war, begannen im Herrenhaus die Renovierungsarbeiten. Hazel kam noch immer jeden Sonntag herüber und beobachtete von einem versteckten Platz aus, was gerade vorging. Mehr als drei Dutzend Männer arbeiteten ohne Rücksicht auf den Tag des Herrn.

Als Hazel das erste Mal nach zwei Wochen wiederkam, staunte sie. Das Herrenhaus war bereits vom Efeu befreit worden. Das kaputte Dach über der Halle war abgetragen und die Zimmerleute hatten einen neuen Dachstuhl aufgesetzt.

Woche für Woche gingen die Arbeiten von diesem Zeitpunkt an schneller voran. Das Haus erwachte aus seinem Dornröschenschlaf und nach vier Wochen zog Lord Denby ein, um die Arbeiten selbst zu überwachen. Nach zwei Monaten wurde auch der Garten entkrautet und neue Beete angelegt.

Als Hazel Ende Juli wieder an die Mauer kam, und durch ihren vertrauten Zugang wollte, war diese wieder aufgebaut und sie konnte nicht mehr hinein. Es war, als dürfte sie ihr eigenes Zuhause nicht mehr betreten. Sie wollte das nicht hinnehmen. Sie ging die Mauer entlang und suchte nach einer neuen Möglichkeit, ins Innere zu gelangen. Schließlich fand sie eine alte knorrige Eiche, deren unterste Äste dicht über dem Boden begannen. Eigentlich war sie ja schon zu alt für solche Albernheiten, aber darum scherte sie sich nicht. Sie raffte ihre Röcke zusammen und kletterte auf den Baum und von ihm aus auf die Mauer. Oben blickte sie nach links und rechts und jubelte leise. Nur ein Stück entfernt war auf der anderen Seite auch ein Baum, der ebenso gut zum Klettern war, wie die Eiche. Hazel balancierte auf der Mauer entlang und kletterte hinunter in den Park. Dort schlich sie unter den Bäumen dahin, bis sie das Haus sehen konnte. Irgendetwas schien passiert zu sein, denn plötzlich füllte sich der Platz vor dem Hauseingang, als sich eilig das Personal vor der Tür versammelte. Sie sahen alle so fein aus. Die Mädchen in schwarzen Kleidern mit weißen Schürzen und Häubchen und die Diener in dunklen Jacken mit feinen Westen darunter. Es waren an die zwanzig Hausangestellte. Hazel seufzte. Wenn sie wenigstens für die Denbys arbeiten könnte.

Ein leichtes Knirschen auf dem Kies der Einfahrt war zu hören und schließlich näherte sich eine Kutsche dem Haus. Hazels Augen verfolgten den von vier herrlichen Pferden gezogenen Wagen wie gebannt, als Lord Denby ausstieg. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie immer wieder an ihn denken müssen und sie beobachtete, wie er zwei Damen aus dem Wagen half. Die eine musste wohl seine Mutter sein. Die jüngere, blonde hielt Hazel für seine Schwester. Hazel folgte Lord Denby mit ihren Blicken bis alle im Haus verschwunden waren, und verließ den Park über den gleichen Weg, den sie gekommen war.

Der August kam. Hazel ging ihren täglichen Arbeiten zu Hause nach. Sie machte haltbaren Käse für den Winter aus der Schafsmilch, trocknete und räucherte Fisch und kochte die letzte Marmelade des Jahres aus den Beeren der Eberesche neben dem Haus. Da ihre Mutter wieder hustete, sammelte Hazel die letzten frischen Kräuter und machte ihr heiße Aufgüsse und Umschläge. Auch der kleine Garten verlangte jetzt intensive Pflege, damit die Ernte des Wintergemüses so gut wie möglich ausfiel.

Colin und Alistair waren dabei keine große Hilfe. Sie gingen neuerdings einmal in der Woche abends hinüber ins Dorf, wo sich die Männer im Alehouse trafen. Dort diskutierten sie über das, was Lord Denbys Anwesenheit für sie bedeutete. Hazel bekam von alldem nur das mit, was Colin und Alistair erzählten, und das war nicht viel. Wenn Lord Denby sie von dem Land vertreiben würde, auf dem ihr Cottage stand, würden sie wohl nach Amerika auswandern müssen. Alistair hatte einen Freund, der vor mehr als einem Jahr Schottland verlassen hatte. Dieser hatte im Frühjahr einen langen Brief geschrieben, den Alistair immer wieder las. Er war von dem Gedanken, nach Amerika zu gehen, geradezu besessen und er versuchte, die ganze Familie davon zu überzeugen, mit ihm zu kommen. Er sparte heimlich Geld dafür. Leider würde es noch eine ganze Weile dauern, bis es für eine Schiffspassage reichen würde. Außerdem hatte er genug Verantwortungsgefühl, um zu wissen, dass Colin allein Mutter und Schwester nicht würde ernähren können. Hazel interessierte das alles nicht. Sie wäre jetzt sowieso nicht mehr mit nach Amerika gegangen, denn sie hatte sich etwas anderes in den Kopf gesetzt.

Sie würde Hausmädchen bei den Denbys werden.

Seit sie sonntags nicht mehr nach Broom Park konnte, ging sie nach der Kirche heimlich zu Reverend Bain ins Haus. Sie hatte zwar die Sonntagsschule besucht, doch im letzten Jahr war Alistair der Ansicht gewesen, sie wäre zu alt und hätte genug gelernt und hatte es ihr kurzerhand verboten. Nun wollte Hazel wieder besser lesen und schreiben lernen. Die beste Gelegenheit unbemerkt zu lernen, war, wenn Colin und Alistair nach der Kirche ins Alehouse gingen, und Hazel nutzte diese Gelegenheit fleißig.

Zum Erstaunen des Reverends hatte sie eine sehr gute Auffassungsgabe und er erteilte ihr eine Art Privatunterricht, für die sich Hazel dann und wann mit ihrem hausgemachten Käse oder frisch geräuchertem Fisch bei ihm revanchierte. Hazel veränderte sich in diesem Sommer sehr. Sie achtete mehr auf ihre Kleider und ihr Haar und versuchte immer sauber und ordentlich auszusehen. Die schönsten Augenblicke waren für sie die, wenn der Reverend ihr gestattete, ein neues Buch aus dem Schrank zu holen.

Als Hazel Ende August wieder flüssig lesen konnte, war sie davon wie besessen. Sie verschlang die Bücher geradezu, egal welches Thema sie behandelten, auch wenn sie den Inhalt nicht immer ganz verstand. Wenn schönes Wetter war und ein leichter Wind ging, der die Midges vertrieb, stieg sie allein oben auf den Hügel hinter dem Pfarrhaus, der mit einem duftenden Teppich dichter blühender rosa Heide überzogen war. Hier oben konnte sie mit einem Buch in die Welt ihrer Träume entfliehen. Der Reverend hielt Hazel schließlich dazu an, bestimmte Bücher noch einmal zu lesen und sich alle Fragen, die sie hatte aufzuschreiben und er wählte die Bücher so aus, dass Hazel einen Überblick über die wichtigsten Wissensgebiete bekam. Plötzlich verstand sie auch, worüber sich die Männer Sorgen machten. Ihr ganzes Weltbild veränderte sich.

Es gab nicht nur ihr Cottage und das Dorf.

Die Welt war so groß. Es gab so viele Länder und Hazel schwor sich, alles zu tun, um so viel wie möglich davon zu sehen. Sie würde Hausmädchen bei den Denbys werden und irgendwann vielleicht nach London gehen und von dort … wer weiß wohin.

Ende August machte die Neuigkeit die Runde im Dorf, dass Lord Denby einen großen Ball geben würde. Es würden sicherlich noch Hilfen für die Küche gebraucht und Hazel bat Alistair um Erlaubnis, nach Broom Park gehen zu dürfen. Er stimmte zu ihrer eigenen Überraschung zu.

So stand Hazel eines Nachmittags vor dem Haupteingang und läutete an der Glocke neben der neuen, großen Eichentür mit den goldenen Messingbeschlägen.

Es wurde von einem Diener in Livree geöffnet, der sie abfällig musterte.

»Was willst du?«, fragte er barsch und ließ sie nicht ein.

»Ich möchte in der Küche helfen vor dem Ball.«

Hazel blickte ihn trotzig an.

»Geh dort hinten um die Ecke und an die Tür zum Küchentrakt. Frage nach Mrs Edwards. Vielleicht nimmt sie dich.«

Er knallte die Tür vor ihrer Nase zu und Hazel ging hinüber zu dem anderen Eingang.

Mrs Edwards war die Hausdame der Denbys. Sie war grauhaarig und rundlich mit kleinen, blauen Augen – und weitaus freundlicher als der Diener an der Tür. Sie nahm Hazel gern als Hilfe an und bat sie, da sie selbst niemanden aus dem Dorf kannte, ihr noch einigen Frauen zu benennen, die ebenfalls bei den Vorbereitungen mithelfen könnten. Als Hazel eine Stunde später wieder das Haus verließ, tanzte sie vor Freude die Auffahrt hinunter. Sie würde volle zwei Tage in Broom Park verbringen und in der Küche helfen. Sie war überglücklich.

Als sie das Tor durchschritten hatte und den Hauptweg eben verlassen wollte, um über den Küstenpfad nach Hause zu gehen, kam ihr ein Reiter entgegen. Es war Lord Denby. Seit jenem Tag in der Halle hatte sie ihn, außer am vergangenen Sonntag in der Kirche, nicht mehr von Nahem gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Jetzt zügelte er sein Pferd vor ihr und hielt an.

»Guten Tag, Mylord.« Hazel machte einen tiefen Knicks.

»Hazel MacAllen«, lachte er. »Wie geht es dir, junges Fräulein?«

»Sehr gut, Mylord. Danke.« Hazel strahlte ihn an und ihr Atem beschleunigte sich vor Aufregung. Sie hatte davon geträumt, ihm erneut zu begegnen. Nun war er hier. Und sie waren ganz allein. Sie spielte nervös mit ihren Haaren und hoffte gleichzeitig, er würde bemerken, dass sie diese neuerdings hochgesteckt trug.

»Was tust du hier?« Er beugte sich leicht zu ihr herunter.

Sie sah ein Funkeln in seinen Augen, das aus den kleinen Sprenkeln darin zu entspringen schien, und konnte sich seinem Blick nicht entziehen.

»Ich werde in der Küche in Ihrem Haus helfen.«

Hazel erhob ihren Kopf und straffte ihre Haltung. Ihre Augen weiteten sich. Er sollte sehen, dass sie stolz darauf war.

»Sehr gut. Ich hoffe, du kannst gut kochen«, sagte er, wohl wissend, dass sie wahrscheinlich nicht mehr tun würde, als das Gemüse zu putzen und die Hühner zu rupfen.

»Sie scherzen, Mylord. Ich kann zwar kochen, aber meine Fähigkeiten dürften wohl kaum für einen so erlesenen Geschmack wie den Ihren ausreichen«, antwortete sie fast ohne schottischen Akzent und wunderte sich selbst über die Worte, die sie gewählt hatte. Hatte sie so eine Antwort vielleicht in einem der Bücher gelesen?

»Wo hast du gelernt so zu reden?« Lord Denby blickte sie erstaunt an.

»Ich hatte Unterricht beim Reverend«, gestand sie nicht ohne Stolz.«

»Und wo willst du jetzt hin, Hazel?«, fragte er.

»Nach Hause. Ich muss das Essen vorbereiten für meine Brüder.«

Sie blickte ihm noch immer direkt in die Augen.

»Soll ich dich hinbringen?«

Ihr schoss das Blut in die Wangen und sie spürte wie sie im Gesicht erglühte. Was für geradezu unanständiges Angebot. Sie konnte es nicht fassen. »Sie sollten keine solchen Späße mit einem armen Mädchen wie mir treiben, Mylord.«

»Die Frage war durchaus ernst gemeint.«

»Sie würden mich mit dem Pferd zu unserem Haus bringen?«

»Das würde ich.«

»Also gut.« Sie konnte nicht widerstehen. Sie hoffte allerdings, dass niemand sie sehen würde.

Lord Denby stieg ab. Er hob Hazel auf sein Pferd, die innerlich bebte. Sie wusste, es war mehr als unschicklich, was sie im Begriff waren zu tun. Jedenfalls für eine Dame. Andererseits … sie war ja keine Dame. Nur eine Fischerstochter. In diesem Moment erschien ihr dieser Umstand von Vorteil. Sie wünschte sich so sehr, ihm nur einmal nahe zu sein. Er stieg hinter ihr in den Sattel. Seine Arme umfassten ihre Taille, während seine Hände die Zügel hielten, und sie konnte die Wärme seines Körpers spüren. Hazel betete, er würde nicht merken, wie sehr ihr Herz in diesem Augenblick raste.

Sie hielt sich an der Mähne des Braunen fest und sie ritten langsam den Pfad hinunter zur Küste entlang. Es war ein recht klarer Tag und Hazel erklärte Lord Denby all die kleinen Inseln vor der Küste. Die Kuppen der Berge waren von Wolken verhangen, aber die Sonne fand noch ausreichend Platz, um ihre goldenen Strahlen hinunter aufs Meer zu schicken. Zu dieser Tageszeit schien für eine Weile die ganze Bucht von Blau erfüllt zu sein. Das Meer, der Himmel, ja selbst die leicht grauen Wolken und die sonst grünen Wiesen schienen blau. 

Hazel blickte in die Ferne. Sie hoffte, Alistair und Colin wären noch etwas weiter draußen, und sie war froh, das kleine Segel nicht zu sehen. Sie bat Lord Denby, auf dem Hügel oberhalb des Hauses anzuhalten. Es war besser, das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Ihre Mutter würde sich sicherlich furchtbar aufregen, wenn sie ihre Tochter auf dem Pferd von Lord Denby sah. Hazel würde dieses Geheimnis für sich behalten und niemandem davon erzählen, dass sie es gewagt hatte, mit ihm auf einem Pferd zu sitzen.

Er half ihr herunter.

»Ich danke Ihnen, Mylord«, sagte sie, noch berauscht von ihren Gefühlen. »Das war herrlich.« Ihre Finger streichelten liebevoll den Hals des Tieres, als er wieder aufs Pferd stieg.

»Es war mir ein Vergnügen. Auf bald, Hazel«, lachte er, wendete das Pferd und ritt davon.

Sie blickte ihm nach und sah, dass er noch einmal anhielt bevor er den Wald erreichte. Schnell wandte sie sich um und rannte das letzte Stück zum Cottage hinunter. Er sollte nicht sehen, dass sie insgeheim darauf gewartet hatte.

Der Ball rückte näher und Hazel wusch am Bach neben dem Cottage ihre Sachen, die sie bei den Vorbereitungen in der Küche tragen wollte. Sie schrubbte die Wäsche auf der großen Schieferplatte in dem vom Moor braunen, kalten Wasser, bis ihre Finger schmerzten. Sie würde trotz der vielen Kernseife nie so sauber werden, wie sie es sich wünschte, doch sie sollte so sauber sein, wie es nur ging.

Schließlich kam der Freitag und Hazel ging morgens um fünf in der Dämmerung nach Broom Park. Sie war die Erste, die kam und Mrs Edwards fragte sie, welche Arbeit sie am liebsten verrichten wollte. Hazel freute sich über das Angebot. Sie entschloss sich, beim Backen zu helfen. Am Vormittag wurde der Teig angesetzt und die Laibe geformt und am Nachmittag wurden die Brote gebacken. Zudem wurden schon die Pasteten für das Fest gemacht.

Am Samstagmorgen war es ihre Aufgabe, das Gemüse vorzubereiten. Sie arbeitete mit Feuereifer und ihr Fleiß zahlte sich aus. Als alle anderen gegangen waren, bat Mrs Edwards sie, weiter mitzuhelfen, bis das Essen beendet war. Sie würde dafür noch einen Schilling erhalten. Das war mehr, als Alistair vor zwei Tagen für den Fisch bekommen hatte und Hazel würde vielleicht Gelegenheit haben, einen Blick auf all die feinen Ladys und Gentleman zu werfen, die zum Ball gekommen waren.

Schließlich wurde es Abend und Hazel hoffte, sie würde wenigstens eine freie Minute haben, aber man ließ sie nicht aus der Küche, bis sie sagte, ihr wäre schlecht und aus der Tür in den Hof rannte.

Es war ein relativ lauer Abend für diese Jahreszeit und Hazel sah, dass einige Gäste im Park waren. Sie schlich im Schutz der Bäume um das Haus herum, bis sie die großen hell erleuchteten Fenstertüren des Ballsaales sehen konnte, aus denen das Licht in den Park drang. Sie blieb unter einem Baum stehen. Broom Park war an diesem Abend so, wie sie es sich immer erträumt hatte. Da waren all die Leute. Die schönen Frauen in den prächtigen Abendkleidern und die Männer in ihren eleganten Anzügen. Aus dem Saal erklang die wundervollste Musik, die Hazel je gehört hatte. Die Klänge von Geigen, Flöten und Harfe vereinigten sich in völliger Harmonie. Sie ließ kein Auge von den tanzenden Männern und Frauen und bemerkte so nicht, dass sich jemand näherte.

»Gefällt es dir?«, fragte eine männliche Stimme, die sie sofort erkannte.

Hazel riss erschrocken die Augen auf und sah Lord Denby, der in einiger Entfernung im Halbdunkel neben ihr auf dem Rasen stand.

»Ich habe nie etwas Schöneres gesehen«, antwortete sie, blieb aber scheu unter ihrem Baum.

»Verzeihst du mir jetzt, dass ich das Haus wieder hergerichtet habe?« Er kam näher.

»Ich war Ihnen damals nicht böse. Ich hatte mir nur eingebildet, das Haus würde mir gehören, wenn ich allein hier war.« Hazel erwiderte sein Lächeln zögerlich.

»Gefällt dir die Musik?«, fragte er.

»Sehr«, entgegnete sie und beobachtete fasziniert, wie sich die Paare im Saal im Kreise drehten. Die Tänzer waren einander dabei so nah, wie Hazel es von den hiesigen Tänzen nicht kannte. Die Damen schienen in den Armen der Herren geradezu schwerelos über das Parkett zu gleiten. Sie wünschte sich in diesem Augenblich sehr, eine davon zu sein.

»Man nennt es Walzer«, erklärte Lord Denby. »Willst du lernen, wie man dazu tanzt?«

»Ich?«

Sie wollte eigentlich Nein sagen, doch er kam zu ihr, umfasste ihre Taille und nahm zu ihrer Verblüffung wie selbstverständlich einfach ihre rechte Hand in seine linke.

»Es ist ganz einfach. Sieh her. Ganz langsam. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei.«

Er zog sie mit sich und Hazel ließ sich voller Vertrauen von ihm führen. Sie tanzten einmal um den Baum herum. Hazel schwebte in seinen Armen über den Rasen, bis er innehielt. Sie blickte zu ihm auf und sah etwas in seinen Augen glimmen, das sie irritierte, weil es sich auf sie zu übertragen schien.

»Ich muss wieder in die Küche«, sagte sie hastig und lief davon.

Lord Denby blickte ihr grübelnd nach.

Hazel schrubbte in der Küche das dreckige Geschirr. Ihre Gedanken waren bei dem, was sie eben erlebt hatte. Als sie darüber nachdachte, liefen ihr Tränen über die Wangen und tropften in das Waschwasser. Sie würde niemals zu diesen feinen Leuten gehören. Aber war sie, wie Alistair behauptete, von Geburt an dazu verdammt, im höchsten Falle auf ein Leben als Dienstmagd zu hoffen? Verflucht noch mal – nein! Sie wollte mehr, viel mehr, und sie würde alles dafür tun. Sie würde nicht hier in der schottischen Einöde in einem kleinen Cottage enden und irgendeinem Kerl, den sie womöglich nur aus Geldnot heiraten würde, einen Haufen Kinder gebären. Nein!

Die Nacht verbrachte Hazel mit ein paar der anderen Mädchen im Heu über dem Stall von Broom Park. Als der Tag graute, nahm sie ihren Wollschal und ging den vertrauten Pfad entlang der Küste nach Hause. Sie war lange nicht bei Sonnenaufgang auf dem Hügel gewesen und sie setzte sich zwischen den Farn. Unten über dem Wasser und dem Land waberten leichte Nebelschwaden, die sich bereits auflösten und ganz langsam tauchte die Sonne die Spitzen der Berge auf der anderen Seite der Bucht in sanftes, rotgoldenes Licht. Für einige Minuten schien alles in intensivem Gold zu leuchten, bis die Sonne ganz über die Berge war.

Zu Hause bereitete sie das Frühstück aus Haferkeksen und Porridge für Colin und Alistair zu und ging dann hinüber in den Stall, bis Colin nach ihr rief. Die Familie brannte darauf zu hören, was sie zu erzählen hatte und Hazel berichtete alles ausführlich. Dass Lord Denby mit ihr auf dem Rasen getanzt hatte, verschwieg sie allerdings.

In den nächsten Wochen nach dem Ball sah sie ihn nur noch sonntags in der Kirche, wo er jedoch nie mit ihr sprach.

Der September ging mit viel Regen zu Ende, der kaum hörbar aber ständig wie ein feiner Schleier über der Landschaft hing. Der Oktober brachte die ersten schweren Herbststürme im Wechsel mit nassen, von Nebel verhangenen Tagen und damit wachsender Sorge um Colin und Alistair, wenn sie mit dem Boot draußen waren. Das Farnkraut und die Heide verfärbten sich zusehends braun und die einzige Zierde blieben die von Feuchtigkeit weißen Spinnennetze, in denen die Wassertröpfchen glitzerten.

Hazel sammelte die letzten Kräuter und hängte sie zum Trocknen im Haus auf. Die Kunst, Heilkräuter richtig einzusetzen, hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, die etwas gegen fast alle Leiden gewusst hatte: Coltsfoot gegen Husten, Tormentil gegen Entzündungen, Herb Robert zur Behandlung von Wunden und vieles mehr. Hazel ging sehr sorgfältig mit ihrem Wissen um. In diesem Jahr schrieb sie, zum Erstaunen ihrer Mutter, zum ersten Mal die Namen der Kräuter und Wurzeln auf kleine Zettel und hängte diese an die tönernen Töpfe, in denen sie nach dem Trocknen aufbewahrt wurden.

Der Winter kam rasch und bald waren die Gipfel der Berge vom ersten Schnee bedeckt. Mrs MacAllen verließ kaum noch das Haus, in dem das Feuer nun Tag und Nacht brannte. Hazel hatte gottlob mehr Treibholz gesammelt und Colin hatte mehr Torf gestochen, als in den Jahren zuvor. Diesen Winter würden sie hoffentlich nicht so frieren, wie im letzten. Von dem wenigen Geld, das Hazel auf dem Ball verdient hatte, hatte sie ein gebrauchtes Spinnrad gekauft. Colin hatte es wieder hergerichtet und Hazel hatte die Wolle der Schafe gesponnen, was so viel besser und schneller ging, als mit der einfachen Handspindel.

Sie hatte sie nach dem Spinnen mit Heidekraut grün gefärbt und nun strickte sie fleißig für jeden etwas Warmes. Jacken für sich und ihre Mutter und neue dicke Pullover für Colin und Alistair. Die beiden fuhren nach wie vor jeden Tag mit dem Boot hinaus. Aber sie brachten zu dieser Jahreszeit nur wenig Fisch mit nach Hause. Auch Lobster verirrten sich nicht mehr oft in die Fangkörbe.

Colin fluchte eines Abends, als sie beim Essen saßen: »Warum mussten die Denbys zurückkommen? All die Jahre hat sich kein Mensch um ihren Besitz gekümmert und jetzt haben sie einen Jagdaufseher. Es geht das Gerücht, es wäre Rory Campbell. Ausgerechnet jemand, den wir kennen. Ich kann nicht mal mehr ein Kaninchen fangen, ohne dass ich Angst haben muss, jemand könnte mich dabei erwischen.«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Wir werden schon an einen Braten kommen, Colin. Lass das nur meine Sorge sein«, erwiderte Alistair ruhig.

»Ihr wollt doch nicht etwa wildern?« Ihre Mutter schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.  

»Das haben wir immer getan, Mutter. Nur bisher hat sich niemand darum gekümmert«, entgegnete Alistair trocken.

»Ich verbiete euch, an so etwas auch nur zu denken!«

»Du brauchst im Winter ab und zu ein richtiges Stück Fleisch, Mutter. Deine Gesundheit ist angeschlagen genug.« Colin legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Ich will das nicht.« In den Augen von Fiona MacAllen spiegelte sich die pure Verzweiflung wider. Auf Wilderei stand noch immer die Todesstrafe.

»Nun, Mutter, wenn Colin sich nicht so eisern dagegen gewehrt hätte, dass wir in den Handel mit Kelp einsteigen, wären wir vielleicht heute nicht so arm.« Alistairs Augen blitzten seinen Bruder vorwurfsvoll an.

»Du weißt, dass der Kelp nur so lange ein gutes Geschäft ist, bis der Handelsbann gegen Frankreich aufgehoben ist. Napoleon ist geschlagen und sitzt auf Elba. Was glaubst du, wie lange sie den Handel noch sperren? Ein paar Jahre vielleicht, und alle, die auf den Kelp gesetzt haben, stehen dann vor dem Nichts.«

»Du solltest Politiker werden.« Alistair lachte verächtlich.

Als ihre Mutter schon schlief, hörte Hazel, wie sich Colin und Alistair weiter stritten und sich dann leise unterhielten.

»Ich werde in den nächsten Nächten ein paar Schlingen legen. Das wird niemand merken. Von den reichen Leuten geht bei diesem Wetter sowieso keiner vor die Tür«, sagte Alistair.

»Tu das, aber sag Mutter nichts davon«, antwortete Colin leise.

Eine Woche später brachte Alistair mit einem breiten Grinsen und zum Entsetzen der Mutter das erste Kaninchen mit. Hazel füllte es mit Brot und Kräutern und es schmeckte herrlich. Von da an gab es fast jede Woche einmal Fleisch. Alistair verwischte immer seine Spuren im Schnee, wenn er die Schlingen legte oder die Kaninchen nach Hause brachte. Niemand sollte wissen, wer der Wilderer war. Hazel hätte gern die kleinen warmen Felle aufgehoben und gegerbt, doch Alistair zwang sie immer, alle Reste zu verbrennen und die Knochen möglichst weit weg vom Haus zu vergraben. Eines Abends brachte Alistair ein riesiges Stück Fleisch mit. Es war eine ganze Hirschkeule.

»Der hatte sich mit dem Geweih wohl beim Fressen in der Schlinge verfangen. Gott sei Dank hat sie gehalten« lachte er, als er das Fleisch auf den Tisch knallte.

»Du bist verrückt«, sagte selbst Colin, als er es sah. Dann grinste er breit und fragte zu Hazels Entsetzen: »Wo ist der Rest?«

»Den hole ich morgen«, erwiderte Alistair, ohne zu sagen, wo er das Tier versteckt hatte.

Fiona MacAllen schwieg zu dem, was sie sah und auch Hazel biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass Alistair sie alle in Gefahr brachte. Ein falsches Wort von ihr hätte ihr wahrscheinlich nur eine Tracht Prügel eingebracht. So akzeptierte sie es einfach, bis sie an einem kalten Tag Ende November wieder am Strand war und Treibholz sammelte. Als sie draußen in der Bucht das kleine Segel des Bootes sah, winkte sie Colin und Alistair zu, lief zum Steg und wartete. Colin holte das Segel ein und Alistair ruderte das Boot das letzte Stück. Hazel fing das Seil auf, das Colin ihr zuwarf. Sie band das Boot an, als plötzlich vom Haus her ein angstvoller Schrei ertönte. Es war ihre Mutter. Hazel drehte sich um und rannte den Pfad hinauf. Colin und Alistair sprangen aus dem Boot und folgten ihr. Zwei Reiter waren vor dem Haus. Ein dritter Mann hielt ihre Mutter fest.

»Wir wissen genau, dass Ihre Söhne auf dem Land von Lord Denby wildern, Mrs MacAllen«, sagte der eine Reiter laut.

Hazel traute ihren Augen nicht. Es war tatsächlich Rory Campbell, der von Lord Denby zum Jagdaufseher gemacht worden war.  

Sie blickte Alistair an und zischte leise: »Habe ich nicht immer gesagt, dass er ein Widerling ist?«

»Jaja. Du hattest recht. Aber sei still jetzt.«

Alistair bedeutete Hazel, sich, wie schon Colin, hinter der Mauer, die das Haus umgab, zu ducken. Rory blieb auf seinem Pferd und schickte die beiden anderen Männer in das Cottage. Hazel hörte, dass sie dort alles durchsuchten. Ihre Mutter stand hilflos vor der Tür.

»Ich muss etwas tun«, sagte Hazel leise zu Colin. »Sie schlagen sonst alles kurz und klein.«

»Nicht!«, rief er leise, doch sie war schon aufgesprungen und lief hinüber zum Haus.

»Aufhören!«, schrie sie so laut sie konnte. »Aufhören!«

Die Geräusche im Haus verstummten und die Männer kamen heraus.

»Sieh mal an. Wen haben wir denn da?« Rory blickte sie forschend an.

»Lass meine Mutter in Ruhe, Rory!«, fauchte Hazel ihn an.

»Sollen wir uns lieber mit dir befassen, kleine Wildkatze?«, lachte er unverschämt.

»Verschwinde, oder ich werde mich bei Lord Denby über dich beschweren.« Hazel ließ sich ihre Angst nicht anmerken.

Die drei Männer lachten schallend.

»Beschweren will sie sich, bei seiner Lordschaft. Habt ihr das gehört?« Rory schlug sich lachend auf den Schenkel. »Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast?« Er grinste sie an.

»Einen Campbell, was sonst.« Hazel stemmte die Hände in die Hüften.

»Ja. Ganz recht. Und einen, der dir Manieren beibringen wird.«

Rory lenkte sein Pferd auf Hazel zu.

»Wie kannst du von Manieren sprechen und einfach in unser Haus eindringen? Schämen solltest du dich, Rory! Du warst einer von uns und jetzt bist du gegen uns und zerstörst die wenigen Dinge, die wir haben.« Hazel hob den Kopf.

»Sei froh, wenn wir dir nicht das Haus über deinem hübschen Köpfchen anzünden«, grinste Rory. »Das hättest du deinen Brüdern zu verdanken.«

»Wovon redest du?«, fragte Hazel und tat unwissend.

»Von den Kaninchen, die ihr mit Fallen jagt und von dem Hirsch, dessen Überreste die Hunde gefunden haben. Wenn ich nur die kleinste Spur davon in eurem Haus finde, sind deine Brüder dran.« Rory hielt Hazel seine Reitgerte vor die Nase.

»Macht weiter!«, wandte er sich an die beiden anderen Männer.

»Rory Campbell. Glaubst du wirklich, wir wären so dumm und würden irgendwelche Reste im Haus hinterlassen, wenn meine Brüder tatsächlich wildern würden?«

In Hazels Kopf rasten die Gedanken durcheinander. War sie damit vielleicht zu frech gewesen?

Rory sah sie mit einem durchdringenden Blick an.

»Hört auf!«, rief er den Männern zu. »Wir gehen.«

Die beiden kamen heraus und stiegen auf die Pferde.

»Also gut. Nur weil du es bist, Hazel. Aber ich warne dich. Ich bin auch nicht dumm und ich werde dafür sorgen, dass die Wilderei aufhört. Sag das deinen Brüdern!«, war das Letzte, was Rory sagte, bevor sie davonritten.

Fast hätte Hazel ihm nachgerufen: Versuch es doch, aber sie tat es nicht. Sie nahm ihre Mutter in den Arm und sie gingen hinein. Colin und Alistair kamen kurz darauf hinterher.

Es sah schlimm aus. Sie hatten die Betten auseinander gerissen, den Tisch umgeworfen und in den Vorratstöpfen herumgestochert. Colin fluchte. Alistair schleuderte seine Jacke voller Wut auf den Boden.

Ihre Mutter regte sich so über die ganze Geschichte auf, dass sie wieder ihren Husten bekam. Sie brauchte jetzt erst recht etwas Kräftiges zu Essen. Fisch allein reichte nicht aus und Colin und Alistair fingen zurzeit auch nicht viel. Es war wieder kälter geworden und in den Nächten schneite es oft leicht. Gottlob blieb der Schnee nahe der Küste meist nicht lange liegen und taute bis zum Abend weg. Nur die Berge hatten jetzt immer weiße Kuppen. Doch die Kälte und der Wind waren auch am Meer sehr unangenehm.

Am nächsten Sonntag ging Fiona MacAllen nicht mit zur Kirche. Während der Messe bemerkte Hazel, wie Alistair und Colin plötzlich verschwanden. Hazel wusste, was sie vorhatten und verhielt sich still. Als sie die Kirche nach der Messe verließen, wartete Hazel noch einen Moment vor der Tür. Sie wollte den Reverend fragen, ob sie wieder zum Lesen in sein Haus kommen dürfte. Während sie wartete, kam Lord Denby mit seiner Mutter aus dem Gotteshaus. Hazel ließ wie immer kein Auge von ihm, leider schien er sie nicht zu bemerken. Hazel musterte die alte Dame. Lady Denby war schon fast siebzig, weißhaarig und benutzte einen Stock mit einem Silberknauf als Gehhilfe. Sie hatte spät geheiratet und mit fast dreißig Jahren ihr erstes Kind geboren. Als sie aus der Kirche kam, wirkte sie alt und müde und die Kälte machte ihr, trotz des dicken Pelzmantels, den sie trug, sichtlich zu schaffen. Hazel beobachtete, wie die Denbys zu ihrer Kutsche gingen. Simon half seiner Mutter hinein und die Kutsche fuhr los.

Hazel wollte hinüber zum Reverend gehen, als sie Rory Campbell auf seinem Pferd ankommen sah. Er ritt auf die Kutsche zu und ließ den Kutscher halten. Hazel sah, dass er etwas an einem Strick hinter sich her durch den Schneematsch schleifte. Sie schrie auf.

Es war Alistair.

Rory hatte ihn erwischt. Hazel rannte aus dem Kirchhof auf ihren Bruder zu. Wo war nur Colin?

Rory sprach mit Lord Denby, der sich aus dem Fenster des Wagens beugte.

»Hier ist der Wilderer, von dem ich Ihnen erzählt habe, Mylord«, grinste Rory zufrieden.

»Campbell! Was soll das? War das denn nötig? Lassen Sie den Mann aufstehen. Egal was er getan hat, niemand wird hier so behandelt.«

Hazel rannte an der Kutsche vorbei zu Alistair, der am Boden lag und stöhnte. Sie kniete neben ihm und hatte Alistairs Kopf auf ihren Schoß gelegt. Sie streichelte sein verschrammtes Gesicht.

Lord Denby war derweil aus dem Wagen gestiegen und trat zu ihr.

»Kennen Sie den Mann, Miss MacAllen?«, fragte er sie ernst.

»Er ist mein Bruder.« Hazel blickte flehend zu ihm auf. Tränen rannen über ihre Wangen. So sehr sie Alistair und seine Launen manchmal ängstigten oder wütend machten … er war ihr Bruder und jetzt war er in Gefahr.  

»Ihr Bruder.« Lord Denby seufzte kaum hörbar.

»Stehen Sie auf, MacAllen«, sagte er streng.

Alistair stöhnte auf, als Hazel ihm auf die Beine half. Das halbe Dorf stand mittlerweile um sie herum.

»Sie wissen, welche Strafe auf das Wildern steht?«, fragte Lord Denby todernst.

Alistair nickte.

»Aber es ist Winter und es ist bald Weihnachten. Ich will daher Gnade vor Recht ergehen lassen, MacAllen. Sie sind Fischer, wenn ich recht informiert bin. Sie werden mir daher in den nächsten Monaten regelmäßig einen Teil Ihres Fangs abliefern. Vor allem Lobster möchte ich haben. Außerdem werden Sie Ihre Schwester in mein Haus schicken. Ich möchte, dass sie auf Broom Park arbeitet.« Lord Denbys strenger Blick ließ keinen Zweifel daran, dass das keine Bitte, sondern ein Befehl war. Alistair sagte kein Wort und biss sich auf die Lippen.

»Danke«, antwortete Hazel erleichtert und kniff Alistair in den Arm.

»Danke, Sir«, antwortete auch Alistair.

»Aber, Mylord. Sie wollen doch den Kerl nicht so einfach ohne Strafe gehen lassen?«, entrüstete sich Rory.

»Ich denke, Sie vergessen, wer hier das Sagen hat, Campbell. Gehen Sie, und wenn Sie wieder jemanden einfangen, dann schleifen Sie ihn nicht hinter sich her. Ich dulde so etwas nicht!« Lord Denby war sichtlich ungehalten und wurde laut.

»Jawohl, Mylord«, sagte Rory und warf Hazel und Alistair einen hassvollen Blick zu, als er davonritt.

Hazel blickte Lord Denby an und dankte ihm stumm. Sie konnte nicht glauben, was er eben gesagt hatte. Er wollte, dass sie nach Broom Park kam. Es war, als könnte er ihre geheimsten Gedanken lesen. Lord Denby stieg wieder in den Wagen und ließ den Kutscher fahren. Er sah Hazel noch an, als der Wagen an ihr vorüber rollte.

Die Leute um sie herum jubelten, kamen auf sie zu und klopften Alistair auf die Schulter. Ein paar Männer zogen ihn und Hazel mit sich Richtung Alehouse. Es war ein Triumph für sie alle. Es schien, als würde Lord Denby wirklich auf ihrer Seite stehen. Als sie ins Alehouse gehen wollten, kam Colin mit einem hochroten, verschwitzten Gesicht angerannt.

»Was ist passiert?«, rief er schon von Weitem.

Hazel lief ihm entgegen und fiel ihm glücklich um den Hals.

»Lord Denby hat Alistair gehen lassen«, lachte sie.

»Und er hat Rory zurechtgewiesen«, fügte Alistair hinzu.

»Das ist ein Grund zum Feiern«, lachte Colin und ging mit ins Alehouse.

Hazel blieb draußen. Frauen waren drinnen nicht erwünscht. Die Männer würden jetzt Bier und Whisky trinken und feiern. Sie seufzte und machte sich, wie die anderen Frauen, auf den Heimweg, um ihrer Mutter alles zu erzählen.

Colin und Alistair kamen erst am späten Nachmittag heim. Alistair war reichlich betrunken. Colin hatte sich Gottlob zurückgehalten. Sie stolperten beide lachend durch die kleine Haustür. Hazel blickte erschrocken von ihrer Strickarbeit auf.

»Schscht«, sagte sie leise. »Ihr weckt Mutter auf.«

Colin setzte Alistair auf einem Stuhl ab und kam zu ihr.

»Steh auf, Hazel. Dein Bruder will mit dir tanzen«, sagte er und zog sie etwas unsanft von ihrem Stuhl hoch.

»Du stinkst nach Whisky«, sagte sie entrüstet, als sie seinen Atem roch.

»Ich bitte um Verzeihung, Mylady«, lachte Colin und tanzte mit ihr um den Tisch herum.

Plötzlich gab es einem lauten Schlag.

»Hört auf!«, brüllte Alistair ungehalten. Er hatte mit der Hand auf den Tisch geschlagen.

»Sein kein Spielverderber, Alistair.« Colin runzelte die Stirn.

»Das ist kein Spiel. Komm her, Hazel!«, forderte Alistair.

Hazel ging zu ihm. Er sah sie mit leicht getrübten Augen an.

»Was ist denn?« Sie blieb vor ihm stehen und er fasste sie am Handgelenk. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sein Griff immer fester wurde.

»Was ist der Grund dafür, dass Lord Denby mich hat laufen lassen?« Seine Zunge war schwer.

»Ich weiß es nicht.« Sie tat unschuldig und unwissend. Es war doch auch nichts geschehen. Nichts, dessen sie sich hätte schämen müssen. 

»Wirklich nicht, Hazel? Bist du es vielleicht?«, lallte er.

»Ich? Wie meinst du das?«

»Du bist kein Kind mehr und sehr hübsch. Vielleicht ist Lord Denby an dir interessiert und du hast ihm schöne Augen gemacht.« Er zog eine ihrer Haarsträhnen hervor, hielt sie fest und blickte Hazel fragend an.

»Unsinn, Alistair.« Hazel entzog ihm empört Hand und Haare.

»Du wirst aber auf keinen Fall nach Broom Park gehen«, entschied Alistair rau. Er schien etwas wacher zu werden.

»Was? Aber genau das will ich doch. Ich möchte dort arbeiten!«, rief Hazel entsetzt.

»Vergiss es. Ich will nicht, dass du dich zur Hure dieses feinen Pinkels machst und genau das wirst du wohl werden.« Er stand auf und schwankte leicht.

Hazel holte aus, verpasste Alistair eine schallende Ohrfeige und ging erschrocken darüber ein paar Schritte zurück. Sie hatte es noch nie gewagt, die Hand gegen jemand anderen zu erheben. Zitternd stand sie da. Alistair öffnete die Schnalle an seinem Ledergürtel, nahm ihn ab und ging auf Hazel zu.

»Ich werde dich lehren, wie man Weiber behandelt, die ihren Bruder ohrfeigen«, sagte er bedrohlich.

»Nicht, Alistair!« Colin hielt ihn zurück. »Du hast sie provoziert. Lass sie in Ruhe oder ich verpasse dir noch eine Ohrfeige, die wird allerdings nicht so sanft ausfallen wie die von Hazel.« Er schob Alistair zurück auf seinen Stuhl.

»Ich gehe nach Broom Park, ob es dir gefällt oder nicht, und wenn du solche Dinge von mir denkst, will ich nicht länger deine Schwester sein«, sagte Hazel erbost.

Sie rannte aus dem Haus, knallte die Tür hinter sich zu und lief hinunter zum Strand. Der Wind war schneidend kalt und die kleinen Schneeflocken stachen wie Nadeln in ihrem Gesicht. Hazel bebte vor Wut. Ihr Entschluss stand fest und nichts und niemand würde sie davon abhalten.

Kapitel 2

Hazel schlief kaum in dieser kalten Nacht, in der der Sturm um das Haus heulte, und die Dachbalken laut ächzen ließ. Colin hatte noch lange mit ihr gesprochen, als Alistair bereits seinen Rausch ausschlief. Er hatte versprochen ihr zu helfen, Alistair zu überzeugen. Auch Colin war der Ansicht, dass es das Beste für sie alle war, wenn Hazel nach Broom Park durfte. Sie würde so regelmäßig Geld bekommen. Es wären nur ein paar Schilling im Monat, aber es würde reichen, um öfter Fleisch zu kaufen und die Wilderei hätte endlich ein Ende. Alistair wollte am nächsten Morgen nicht aufstehen. Colin musste ihn aus dem Bett werfen und ihn mit einer Ladung kaltes Wasser in die Realität zurückholen. Alistair war zu verkatert, als das Hazel wieder mit dem Thema des vergangenen Abends anfangen wollte, und Colin nickte ihr nur zu, als er mit ihm zum Boot ging. Hazel wusste, er würde alles klären.

Als ihre Brüder am Abend zurückkehrten, war Alistair noch immer mürrisch und er sprach wie immer kein Wort bis nach dem Essen.

»Wenn du in Broom Park arbeiten willst, geh«, sagte er barsch, als Hazel ihm die leere Schüssel wegnahm.

»Du bist also einverstanden?« Sie war skeptisch und legte die Stirn in Falten. Sollte Colin tatsächlich einen solchen Sinneswandel in so kurzer Zeit bewirkt haben? 

»Mir wäre es lieber, du würdest heiraten. Du bist weiß Gott alt genug. Wenn du nicht so stur wärst, hätte ich dich längst mit Rory Campbell verheiratet. Er hat mir schon vor ein paar Monaten gesagt, dass er an dir interessiert ist und dann wäre uns der ganze Ärger von neulich und der von gestern erspart geblieben. Ich denke, er hat es vor allem auf uns abgesehen, weil du nichts von ihm wissen willst.«

»So, es liegt also an mir?« Hazel schüttelte ungläubig den Kopf. »Allein, dass du dran gedacht hast, mich mit einem Campbell zu verheiraten … Wir sind MacAllens, Alistair, und wir gehören zu den MacDonalds. Hast denn gar keinen Familienstolz? Eher friert die Hölle zu, als dass ich einen Campbell heirate!«

Hazel war entrüstet. Kein Geld der Welt hätte sie dazu bewegen können jemals einen Kerl wie Rory Campbell zu heiraten. Auch ohne das, was er mittlerweile getan hatte.

»Herrje, fängst du jetzt auch noch an, auf dem alten Hass zwischen den Clans herumzureiten? Das Massaker im Glencoe ist über einhundert Jahre her! Du wirst heiraten und zwar bald. Ich werde schon jemanden für dich finden.«

»Und wer soll sich um Mutter kümmern, wenn ich seine Frau werde?« Hazel stemmte trotzig die Hände in die Hüften und ihre Augen funkelten Alistair an, der noch immer am Tisch saß.

»Ja. Ich weiß, dass wir jeden Schilling brauchen werden, den wir kriegen können, Hazel.« Alistair stand auf und kam auf sie zu.

»Von mir aus arbeite für die Denbys. Allerdings wirst du hier wohnen bleiben und jeden Tag zur Arbeit laufen. Mutter braucht dich zu sehr, als dass du auch noch auf Broom Park einziehen könntest wie die anderen Dienstboten«, sagte er bestimmt.

Hazel wäre ihm fast um den Hals gefallen vor Freude. In diesem Moment packte er sie fest um das Handgelenk.

»Und ich schwöre dir, Hazel, wenn Lord Denby dich anrührt, bringe ich ihn um«, fügte Alistair ernst hinzu. In seinen Augen stand eine Entschlossenheit, die Hazel Angst machte.

»Das wird er nicht tun«, antwortete sie, obgleich sie sich selbst nicht sicher war mit dieser Behauptung.

Am darauffolgenden Morgen stapfte Hazel noch im Dunkeln mit einer Laterne durch den Schnee hinüber nach Broom Park. Es war ein klarer kalter Tag und sie war froh, dass sie ihre neue, warme Wolljacke trug, die endlich fertig gestrickt war. Sie ging die Einfahrt nach Broom Park hinauf, bis das Haus zu sehen war. Ein herrlicher Anblick, wie es da inmitten des frisch verschneiten Parks im Mondschein lag. Kleine Rauchwölkchen stiegen aus fast allen Kaminen senkrecht in den Himmel und im Küchentrakt war schon Licht. Hazel freute sich auf die warme Küche und das freundliche Gesicht von Mrs Edwards. Sie ging direkt zur Hintertür und die Hausdame ließ sie ein.

»Guten Tag, Hazel. Wir haben uns schon gefragt, wann du kommst«, lachte sie freundlich und Hazel hatte das Gefühl, Mrs Edwards wäre noch ein wenig rundlicher geworden seit dem Ball im September.

»Mein Bruder wollte mich nicht gehen lassen«, entgegnete sie.

»Wärm dich ein bisschen auf.« Mrs Edwards schob sie vor den großen Herd und verließ die Küche. Hazel zog ihre Jacke aus und rieb sich ihre eisigen Finger.

Die beiden Küchenmädchen blickten sie kühl an und musterten sie abfällig. Sie schämte sich, als sie die Lederbänder um ihre Waden löste und die beiden Kaninchenfelle abnahm, die sie als Schutz im Winter über ihren Schuhen trug.

»Lass erst mal deine Hände sehen«, sagte Mrs Edwards, als sie wieder hereinkam.

Hazel zeigte ihre Hände vor. Sie waren zwar rot und rau aber sauber.

»Gut. Sehr schön. Du hast nicht vergessen, was ich dir das letzte Mal gesagt habe, als du hier warst.«

»Nein, Mrs Edwards.«

»Komm mit. Ich zeige dir, in welchem Zimmer du wohnen wirst.«

»Ich werde kein Zimmer brauchen, Ma’am.«

»Wieso denn nicht? Du wirst natürlich auch hier wohnen wie alle Hausangestellten.«

»Nein. Mein Bruder erlaubt es nicht und ich muss mich auch um meine Mutter kümmern.«

Mrs Edwards runzelte missbilligend die Stirn.

»Also gut. Dann muss es wohl so sein. Aber ich erwarte, dass du pünktlich da bist, jeden Morgen.«

»Das werde ich, Mrs Edwards.«

»Dann werden wir dich erst einmal ordentlich anziehen.«

Hazel folgte der Hausdame. Sie verließen die Küche und betraten einen Treppenaufgang, den Hazel früher nie bemerkt hatte. Es war die Personaltreppe, die sie bis hinauf unter das Dach führte. Hier waren auch die Zimmer für die Hausmädchen. Mrs Edwards zeigte ihr ein Zimmer, in dem noch ein freies Bett war. Das andere war von einem der anderen Mädchen belegt.

»Wenn du deinen Bruder noch umstimmen kannst, ist immer ein Platz für dich da«, erklärte die Ältere freundlich.

Dann betraten sie einen Raum, in dem nur sechs riesige Wäscheschränke standen. Mrs Edwards öffnete einen davon und holte ein schwarzes Kleid heraus, wie es alle Hausmädchen trugen. Aus einem anderen Schrank nahm sie noch eine weiße Schürze und ein Häubchen.

»Zieh das an, das müsste dir passen«, sagte sie und drückte Hazel die Sachen in die Hand.

Hazel fühlte den Stoff des Kleides. Es war aus feiner Baumwolle und viel weicher als ihr Sonntagskleid. Sie beeilte sich, das Kleid anzuziehen und die Schürze umzubinden, und ging hinaus in den Gang, wo Mrs Edwards auf sie wartete.

»Sehr schön, Hazel. Bis auf die Schleife.« Mrs Edwards öffnete die Bänder erneut und band eine perfekte Schleife auf Hazels Rücken. »Fühl sie einmal. So muss sie sitzen.«

Hazel tastete nach der Schleife.

»Jetzt lass mal deine Schuhe sehen.«

Hazel zog ihren Rock etwas nach oben.

»Dachte ich mir doch, dass sie nass sind. Die Personaltreppe kannst du damit hinauf gehen, aber im Haus kann ich dich so nicht herumlaufen lassen. Warte einen Moment.« Mrs Edwards verließ den Raum und kam mit einem Paar kurzer Schnürstiefel aus schwarzem Leder und mit kleinem Absatz zurück.

»Probier die mal an. Die müssten dir passen.«

Hazel zog ihre nassen Schuhe aus und schlüpfte in die Stiefel. Sie saßen wie angegossen.

»Sehr gut«, sagte Hazel und machte ein paar Schritte. »Aber ich kann sie nicht gleich bezahlen. Sie müssten Sie mir vom Lohn abziehen.«

»Ich schenke sie dir. Sie sind gebraucht und ich hatte sie schon eine ganze Weile aufgehoben.« Mrs Edwards lächelte freundlich.

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Natürlich kannst du. Sei kein Dummchen. Jetzt werde ich dir noch zeigen, wie du die Haare am besten aufsteckst und das Häubchen befestigst. Komm!« Die Hausdame ging wieder die Treppe hinunter und erläuterte auf dem Weg nach unten: »Du wirst noch ein zweites Kleid bekommen. Die Schürzen werden regelmäßig gewechselt. Dass die Sachen sauber und in Ordnung bleiben, darum hast du dich zu kümmern und ich rate dir, das sehr sorgfältig zu tun, denn Lady Denby kontrolliert alles einmal im Monat.«

Hazel nickte Mrs Edwards nur zu, als diese sich fragend nach ihr umsah. Im ersten Stock hing ein kleiner Spiegel an der Wand und ein Kamm und eine Bürste lagen auf einem Bord.

»Hier kannst du prüfen, ob du ordentlich aussiehst«, sagte Mrs Edwards und nahm die Bürste in die Hand. Sie löste die Kämme, die Hazel im Haar hatte, und steckte die braunen Locken rasch zu einer einfachen Frisur auf. Nur die kleinen Löckchen, die Hazels Gesicht umrahmten, konnte sie nicht bändigen. Hazel betrachtete sich im Spiegel, nachdem die andere Frau ihr das weiße Häubchen aufgesetzt hatte. Sie trauten ihren eigenen Augen nicht. Es war, als wäre sie plötzlich eine andere Person.

»Dann werden wir dich jetzt mal Lord Denby vorstellen«, sagte Mrs Edwards.

»Lord Denby?« Hazel traute ihren Ohren nicht.

»Ja. Seine Lordschaft hat gesagt, er will dich sehen, wenn du da bist. Und er hat bereits gefrühstückt, das heißt, wir können ihn stören. Komm jetzt.«

Hazel kniff sich so fest in die Wangen, dass es schmerzte und presste die Lippen immer wieder fest zusammen, bis sie dunkelrot waren. Sie folgte der Hausdame hinunter ins Erdgeschoss. Dort traten sie durch eine Tür in der Vertäfelung in einen langen schmalen Gang. Nachdem sie eine weitere Tür durchschritten hatten, standen sie in der Halle. Hazel konnte sich auch an diesen Gang nicht erinnern. Aber sie hatte, zu der Zeit als Broom Park noch im Dornröschenschlaf gelegen hatte, auch nie gewagt, die großen Räume zu verlassen. Sie blickte sich in der Halle um. Die Verwandlung war unglaublich. Die Holzvertäfelungen und die Treppe waren vollständig erneuert und goldfarben gerahmte Portraits und Landschaftsbilder zierten den Treppenaufgang. In der Mitte der Halle hing ein Kronleuchter herab. Nur der Fußboden aus schwarzem und weißem Marmor war noch derselbe.

»Komm schon. Du wirst noch genug Gelegenheit haben, dir alles anzusehen.«

Diese Worte rissen Hazel aus ihren Gedanken.

Mrs Edwards klopfte an einer Tür, von der Hazel wusste, dass sie früher in die alte Bibliothek geführt hatte. Sie hörte die Stimme von Lord Denby und Mrs Edwards bedeutete Hazel, ihr zu folgen.

Der Raum war immer noch eine Bibliothek. Allerdings waren die Regale erneuert worden und voller Bücher.

Lord Denby saß am Fenster in einem Lehnstuhl und las. Er blickte von seiner Lektüre auf, als die Frauen eintraten. Hazel hatte den Blick gesenkt. Sie wagte kaum, den stattlichen Mann anzusehen.

»Willkommen, Hazel«, sagte Lord Denby ruhig.

Sie machte einen Knicks, hob langsam ihren Blick und sah ihn an. Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, als er sie musterte.

»Ich hoffe, du empfindest es nicht als Strafe, dass ich dich als Ausgleich für die Wilderei deiner Brüder hierher bestellt habe«, sagte Lord Denby freundlich.

 »Nein, Mylord. Es war ehrlich gesagt schon länger mein Wunsch, auf Broom Park zu arbeiten.«

»Sie können gehen, Mrs Edwards«, bemerkte Lord Denby beiläufig, ohne die Augen von Hazel zu lassen.

 »Lass dich einmal ansehen.« Er lächelte und gebot ihr mit einer kleinen Geste, sich herumzudrehen, während Mrs Edwards den Raum verließ.

Hazel drehte sich im Kreis und ließ ihren Rocksaum tanzen.

»Hm, hm«, bemerkte Lord Denby zufrieden.

Sie senkte ihren Blick erneut. Ihm so nahe zu sein und das ganz alleine in einem Raum brachte sie noch immer durcheinander.

»Wie gefällt dir das Haus jetzt?«, fragte er weiter.

»Ich habe nur die Halle und diesen Raum hier gesehen.« Sie lächelte verschämt und wagte es, ihn wieder anzusehen.

»Willst du den Ballsaal sehen?«, fragte er schmunzelnd.

»Wenn Sie gestatten, Mylord.« Hazels Augen glänzten.

»Du hast mir das Haus gezeigt, als ich das erste Mal hierherkam. Jetzt will ich dir zeigen, was ich daraus gemacht habe.«

Er erhob sich und Hazel folgte ihm.

Ihr Herz bebte, als sie hinter ihm herging. Sie ließ kein Auge von ihm und betete, dass er sich nicht umdrehen und ihren Blick bemerken würde. Sie wusste selbst nicht, was sie über all die Gefühle denken sollte, die sie für ihn empfand.

»Schließ die Augen«, gebot er ihr, bevor er die große Tür zum Ballsaal öffnete.

Hazel fasste all ihren Mut zusammen und tat wie ihr geheißen. Sie hörte, wie er die Tür öffnete und dann fühlte sie, dass er ihre Hand nahm. Es war, als würde sie die Wärme seiner warmen, weichen Finger bis in ihr Herz spüren, als er sie in den Saal führte.

»Du kannst die Augen aufmachen«, sagte er sanft.

Hazel wagte es kaum. Sie atmete tief ein und öffnete ganz langsam die Augen. Was sie sah, war schöner, als sie es sich je erträumt hatte. Der Saal hatte bei dem Ball vom Garten aus schon wundervoll ausgesehen. Jetzt darin zu stehen, war unvergleichlich. Die großen Fenster waren sauber geputzt und das Licht durchflutete den Raum. Der große Spiegel über dem Kamin war nicht mehr matt, sondern klar und an den Wänden hingen große Bilder und Gobelins. Der Fußboden glänzte in der Sonne und das Tanzpaar auf dem Mosaik schien sich fast zu bewegen.

»Was sagst du?«, fragte Lord Denby und seine tiefblauen Augen sahen sie erwartungsvoll an.

»Es ist überirdisch schön, Mylord. Wenn ich ein Engel wäre, dann wollte ich hier wohnen, denn schöner kann es im Himmel nicht sein«, sagte Hazel leise ergriffen.

»Wo hast du nur gelernt, so zu sprechen? Ich kann kaum glauben, dass du noch dasselbe Mädchen bist, das ich im Mai hier gesehen habe.«

Er schüttelte den Kopf. Sie war wirklich das hübscheste Wesen, das er kannte und in dem schwarzen Kleid wirkte sie viel erwachsener.

»Reverend Bain hat mich unterrichtet, Mylord, und ich habe sehr viel gelesen«, sagte sie stolz.

»Du kannst lesen?« Er blickte sie ungläubig an.

»Ja, Mylord.« Hazels Herz setzte einen Moment aus und sie senkte den Blick, denn er schien nicht begeistert davon zu sein. Sie war so stolz, dass sie lesen konnte. Wieso fragte er das nur mit einem so eigenartigen Ton?

»Auch schreiben?«, fragte er weiter.

»Darin bin ich noch nicht so gut«, gestand sie leise. Sie konnte ihn doch nicht anlügen, oder es ihm verschweigen. Leicht beunruhigt wartete sie, was er dazu sagen würde.

»Du solltest es nicht jedem erzählen, die meisten der Angestellten im Hause können weder das eine noch das andere, Hazel, und sie könnten es dir neiden«, sagte er ernst aber freundlich.

»Ich werde Ihren Rat beherzigen, Mylord, danke.« Hazel fiel ein Stein vom Herzen. Er war in Sorge um sie. Um ihr Wohlergehen im Haus. Das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück.

Er schwieg und sah sie noch immer an. Der Blick seiner schönen Augen traf sie mitten ins Herz und sie wich ihm aus. Doch wegzusehen half nichts. Sie konnte seinen Blick spüren, fühlen, wie er auf ihr ruhte und wie ein Streicheln über sie wanderte. In der Stille des Raumes schlugen zwei Herzen überlaut.

»Geh jetzt«, sagte er mit einem Mal leise und drehte sich zum Fenster.

Hazel ging, ohne ein Wort zu sagen. In der Tür wandte sie sich noch einmal zu ihm um. Er stand noch immer am Fenster und wandte ihr den Rücken zu. Sie wollte zu ihm gehen. Sich an seinen Rücken lehnen, aber das war unmöglich.  

Von diesem Tag an kam Hazel Tag für Tag nach Broom Park. Es war ihr gleichgültig, wie sehr die Winterstürme ihr den Regen oder an besonders kalten Tagen den Schnee ins Gesicht trieben, und wie eiskalt ihre Finger und Füße wurden, wenn sie am Morgen den Pfad entlangging, solange am Ende das Haus auf sie wartete. Das Haus wo er war – Simon Denby. 

***

Die kurze Zeit bis Weihnachten verging rasch. Hazel lernte Lord Denbys Mutter kennen, wenn auch nur flüchtig, und sie hoffte jeden Tag darauf, ihn selbst zu sehen. Sie konnte ihn schnell am Klang seiner Schritte erkennen und kniff sich immer in die Wagen und biss sich auf die Lippen, wenn sie ihn kommen hörte. Er sprach nicht viel mit ihr, aber er hatte immer ein freundliches Wort und ein Lächeln für sie.

Hazel wurde sich bewusst, dass sie ihn liebte.

Er war so viel älter als sie, vierzehn Jahre, und zwischen ihnen lagen Welten – und doch liebte sie ihn. Sie liebte ihn mit der ganzen Reinheit ihres jungen Herzens und sie war so glücklich auf Broom Park, dass sie sich immer wieder selbst dabei ertappte, wie sie bei der Arbeit sang.

Bald kannte sie alle Räume im Haus. Im unteren Stock lagen neben dem Großen Saal die Bibliothek, der wie die Halle vertäfelte Speiseraum und der mit hellen Tapeten versehene Salon mit seinen großen Fenstern, von denen der Blick über den Garten und das Meer reichte. Hier stand auch ein Klavier und Lord Denbys Mutter hielt sich dort gerne auf. Ein paar Türen weiter gab es einen kleineren, gemütlichen Raum, in dem Lord Simon seinen Schreibtisch hatte. Der Raum wurde Tag und Nacht geheizt und die beiden Wolfshunde hatten Hazel einen gehörigen Schrecken eingejagt, als sie zum ersten Mal allein eingetreten war, und sich die riesigen Tiere von ihrem Schlafplatz vor dem Kamin erhoben hatten. Neben diesen Räumen befand sich auf dieser Etage nur noch der Übergang zum Küchentrakt.

In den ersten beiden Wochen zeigten ihr die anderen Hausmädchen, wie die Kamine gereinigt wurden und welche täglichen Arbeiten vom Betten machen bis zum Schuhe putzen in den einzelnen Räumen zu verrichten waren. In der dritten Woche nahm Mrs Edwards sie unter ihre Obhut. Von ihr lernte Hazel, wie das Silber poliert wurde, wie der Tisch für welches Essen zu decken war, welches Besteck für welchen Gang verwendet wurde, und wie man Geschirr und Bestecke mit der Hilfe langer Schnüre perfekt auf dem Tische ausrichtetet. Hazel war erstaunt, dass sie kaum in der Küche arbeiten musste. Sie hatte das Gefühl, dass Mrs Edwards sie gegenüber den anderen Hausmädchen bevorzugt behandelte und nach der vierten Woche hielt sie es nicht mehr aus. Sie fragte die Hausdame danach, als sie am Nachmittag allein im Speisesaal waren und den Tisch für das Dinner vorbereiteten.

»Wieso darf ich eigentlich all das lernen, was Sie mir beibringen, Mrs Edwards? Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass ich überhaupt aus der Küche herauskomme.«

»Nun, Hazel. Mir scheint, dass Lord Denby etwas für dich übrighat, denn die Anweisung, dich in der Haushaltsführung auszubilden und nicht im Küchendienst, kommt von ihm.«

Mrs Edwards richtete das Gesteck aus Tannenzweigen und roten Beeren in der Mitte des Tisches.

»Lord Denby hat es so gewünscht?« Hazel ließ das Messer sinken, das sie auf den Tisch legen wollte.

»Das hat er. Er sagte, ich soll dich unter meine Fittiche nehmen, und dir alles beibringen, was ich weiß.« Die andere sah ihr in die Augen. »Aber ich warne dich, Hazel. Egal was er für dich tut, mach dir keine Hoffnungen.«

»Hoffnungen. Worauf?« Hazel hielt dem kritischen Blick von Mrs Edwards stand.

»Du weißt, was ich meine. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie du ihm hinterherstarrst, wenn du dich unbeobachtet fühlst?«

Hazel blickte ins Leere. Sie schluckte betroffen.

»Lord Simon wird bald heiraten. Im Frühjahr. Er hat sich auf dem großen Ball im September verlobt«, sagte Mrs Edwards leise.

Hazel spürte, wie es sie im Halse würgte. Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in ihrer Brust aus. Er war verlobt und er würde heiraten. Das konnte nicht wahr sein. Sie legte langsam das Messer auf den Tisch und nahm dann das nächste, und das nächste, und das nächste. Sie sprach kaum noch, bis sie Broom Park am Abend verließ. Die Sonne war schon lange untergegangen und es war eisig kalt, als sie den Pfad nach Hause ging. Der Vollmond erhellte die ganze Bucht und das Meer und der Schnee glitzerten in seinem Schein. Hazel blieb auf dem Hügel über der Bucht stehen. Sie weinte. Was Mrs Edwards gesagt hatte, war wie der Stich eines Messers in ihrem Herzen. Sie liebte Lord Denby so sehr, obgleich er so viel älter war als sie, und sie ihn kaum kannte. Erst jetzt war ihr bewusst, dass sie immer das Gefühl hatte, ihre eigene Seele am Grunde eines tiefen Sees zu sehen, wenn sie in seine sanften Augen sah. Ihr wurde bewusst, dass sie, seit sie ihm das erste Mal begegnet war, einen Traum geträumt hatte, der sich nie erfüllen würde. Einen Traum, in dem er sie zärtlich in seine Arme nahm und sie küsste.

Als Hazel am nächsten Morgen nach Broom Park ging, war ihr so schwer ums Herz wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte an diesem Morgen geschwankt, ob sie gehen sollte, doch sie wollte lieber in der Nähe von Lord Denby sein, als ihn überhaupt nicht mehr zu sehen. Dieser Gedanke hatte sie die halbe Nacht wachgehalten, und sie wusste, dass es schlimmer wäre, ihn gar nicht mehr zu sehen, als ihm Tag für Tag zu begegnen und gleichzeitig zu wissen, dass es ihm gut ging. Sie sprach wenig an diesem Tag und nur Mrs Edwards ahnte, was der Grund für Hazels bedrückte Stimmung war.

Die Weihnachtstage kamen und Hazel ließ sich von all der Pracht, die das Haus in diesen Tagen entfaltete, ein wenig ablenken. Aber jedes Mal, wenn sie Lord Denby begegnete, wich sie seinen Blicken aus und verschwand so schnell sie konnte im Personaltrakt und dessen versteckten Gängen.

Am Neujahrstag durfte Hazel zum ersten Mal seit langer Zeit bereits zur Mittagszeit nach Hause gehen. Es war ein strahlend sonniger Tag. In der Nacht hatte es frisch geschneit und das Land war bis hinunter ans Meer mit einer dünnen Schneedecke überpudert. Der Schnee glitzerte im Sonnenlicht, nur hier und da unterbrochen von einem der grauen Felsen oder einem kahlen Baum. Das Meer war ruhig und von einem tiefen dunklen Blau, wie es dies nur an wenigen Tagen im Winter war, und ein leichter Wind trieb kleine Wolken über die Berge drüben auf Mull. Hazel schob das Wolltuch von ihren Haaren und genoss die Sonne und den Ausblick. Sie ging langsam den Pfad entlang, als sie hinter sich ein leises Geräusch hörte. Sie wandte sich um und sah Lord Denby zu Pferd hinter sich herkommen. Sie blieb nicht stehen.

»Ein frohes neues Jahr, Hazel«, sagte er, als er sie erreicht hatte.

»Danke, Mylord, das wünsche ich Ihnen auch«, erwiderte sie knapp, blickte ihn nur kurz an und ging immer weiter. Das Wissen um seine Verlobung lastete zu schwer auf ihrem Herzen und sie fürchtete sich davor, mit ihm von Angesicht zu Angesicht zu reden. Furcht, ihm länger in die Augen zu sehen, weil er dann vielleicht erahnen würde, was in ihr vorging.

»Was ist los mit dir?«, fragte er.

»Nichts, Mylord.« Sie versuchte ihre Stimme fest klingen zu lassen und doch konnte sie ihre Traurigkeit nicht verbergen.

»Nicht schwindeln, Hazel. Irgendetwas bedrückt dich. Du bist schon seit Weihnachten so still.« Er hielt sein Pferd an.

»Es ist nichts, wirklich.« Sie blieb stehen und fixierte den glitzernden Schnee unter ihren Füßen, um Lord Denby nicht ansehen zu müssen. In ihrem Inneren kämpfte sie dagegen, nicht in Tränen auszubrechen, denn danach war ihr eigentlich zumute.

»Sieh mich an, Hazel«, bat er sie erneut mit seiner, sanften warmen Stimme.

»Ich kann nicht, Mylord.« Hazel war der Verzweiflung nahe. Am liebsten wäre sie weggerannt, aber sie blieb stehen. Es war, als würde irgendeine unsichtbare Kraft sie festhalten.  

»Warum nicht?« Seine Stimme wurde fordernd und er ließ sein Pferd vor Hazel auf der Stelle tänzeln, damit sie nicht weiter ging.

»Weil ich es nicht will. Können Sie das nicht verstehen?« Sie schrie ihn fast an. Ihre Verzweiflung schlug um in Ärger. Warum zum Teufel ließ er sie nicht einfach in Ruhe?

»Nein. Hazel. Das kann ich wirklich nicht verstehen. Und ich werde ein weiteres Nein auch nicht akzeptieren.«

Er stieg ab und kam auf sie zu.

»Bitte gehen Sie, Mylord.« Hazel wandte ihm den Rücken zu.

»Ich möchte nur, dass du glücklich bist auf Broom Park, und es würde mich schmerzen zu wissen, dass du es nicht bist.« Er kam noch näher bis er dicht hinter ihr stand.

»Ich bin glücklich«, log sie und wusste selbst, dass ihre Worte nicht überzeugend klangen. 

Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Warum musste er sie so quälen? Sie liebte ihn, doch das konnte sie ihm nicht sagen. Niemals. Er war doch verlobt, und alles, was sie sich in den letzten Monaten in ihrer Fantasie so lebhaft ausgemalt hatte, war und würde ein Traum bleiben.

»Sieh mir in die Augen und wiederhole, was du gesagt hast.«

Er fasste sie sanft an der Schulter und drehte sie herum.

»Gehen Sie, Mylord. Ich bitte Sie. Wenn mein Bruder Sie hier sieht … Ich weiß nicht, was er dann tut.« Hazel sah flehend zu ihm auf. Sie kämpfte noch immer gegen das Wasser in ihren Augen und dagegen, von dem Schmerz tief in ihr übermannt zu werden.

»Er schlägt dich doch nicht?«, fragte er besorgt.

»Mich nicht«, sagte sie angstvoll und eine erste Träne fand ihren Weg über ihre inzwischen glühenden Wangen.

»Heißt das, du hast Angst um mich? Angst, dein Bruder könnte mir etwas tun?« Er klang jetzt ebenso besorgt wie Hazel selbst angesichts ihrer Tränen.

»Ich habe Angst, Mylord. Schreckliche Angst und ich flehe Sie an, gehen Sie!«, schluchzte sie leise.

»Ich werde nicht gehen, Hazel. Dies ist mein Land und ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich zu tun habe, auch wenn er so bezaubernd ist wie du.«

Hazel bebte. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubt es selbst zu hören. Er hatte ihr ein Kompliment gemacht. Hatte er das wirklich gesagt oder träumte sie nur? Plötzlich schien alles vergessen. Das furchtbare, klamme Gefühl in ihrer Brust war plötzlich verflogen. Und doch hatte sie Zweifel.  

Er schien es zu erraten.

»Habe ich dich entsetzt? Das tut mir leid, aber ich bin auch nur ein Mensch, Hazel. Ein Mann wie jeder andere und es gibt wohl keinen Mann, der nicht hingerissen wäre von der Art, wie du einen mit großen braunen Augen ansiehst, und von deinem lieben Wesen.« Er kam zu ihr und berührte zärtlich ihre Wange.

Hazel schob seine Hand langsam weg und schüttelte energisch den Kopf. Sie wandte sich um, atmete tief durch und versuchte, Ordnung in das Durcheinander in ihrem Kopf zu bekommen. Sie konnte nicht mehr klar denken. »Du magst mich doch, Hazel, ich weiß es«, sagte er leise.

»Sie werden im Frühjahr heiraten. Ist es nicht so?«, fragte sie mit einem Mal laut und sachlich.

»Woher weißt du das?«, fragte er überrascht und zog eine Augenbraue hoch.

»Von Mrs Edwards.«

»Es stimmt. Aber es ist eine Ehe, die meine Mutter eingefädelt hat. Ich kenne Alice kaum, geschweige denn, dass sie mir etwas bedeutet. Sie stammt aus bestem Hause, ist sehr gut erzogen und sie verfügt offensichtlich über alle Tugenden, die eine schöne Frau wie sie haben sollte. Ich mag sie, aber sie weckt keine tiefen Gefühle in mir.«

»Tiefe Gefühle?« Hazel lachte spöttisch auf und wandte sich von ihm ab. Was wusste er schon von tiefen Gefühlen? Dass man nicht schlafen konnte und nicht essen, dass man sich in einer Sekunde wie im siebten Himmel fühlte und in der nächsten wie in der tiefsten Tiefe des dunkelsten Abgrundes eines gebrochenen Herzens, weil man nur noch das Gesicht des Liebsten vor Augen hatte und nur noch an ihn denken konnte. Er, der so nahe war und doch so unendlich weit weg.

»Glaubst du etwa, ich bin dazu nicht fähig? Nur weil ich ein Lord bin und mich immer bemühen muss, die Beherrschung nicht zu verlieren? Du weißt nicht, wie es in meinem Inneren aussieht.« Seine Stimme klang traurig und müde und sein Blick wanderte hinaus auf das Meer wo er eine Weile auf dem Spiel der Wellen ruhte. Nichts außer der Brandung und dem Wind war zu hören.

»Verzeihen Sie, Mylord. Ich wollte Sie nicht verletzen.« Hazel berührte seinen Arm. Er empfand tatsächlich etwas für sie. Sie seufzte. Was sollte sie nur tun? Es war so hoffnungslos und trotzdem sehnte sie sich in diesem Moment unendlich danach, dass er sie schützend in seinen Armen hielt.

»Hazel. Wie soll ich es nur sagen?« Er legte seine Hand auf die ihre.

»Sie brauchen nichts zu sagen, Mylord. Es würde uns beiden nur wehtun«, sagte Hazel zu ihrer eigenen Verwunderung und ihre Augen sagten ihm, was ihre Lippen nicht zu sagen vermochten.

Seine Hand berührte wieder vorsichtig ihre Wange und diesmal ließ Hazel es geschehen. Seine Finger fuhren in ihre vollen weichen Locken und er zog sie zu sich. Sie schloss ihre Augen. Als sich ihre Lippen berührten und er sie küsste, fühlte Hazel, wie ihre Knie nachgaben und ihr heiß und schwindelig wurde. Sie ließ sich in seine Arme sinken und wurde von dem schönsten Gefühl durchströmt, das sie je empfunden hatte. Eine herrliche Wärme, die sich in ihrem Herz und ihrem ganzen Körper ausbreitete. Es war ein wundervoller Augenblick. Nichts stand zwischen ihnen in diesem Moment.

Als er sie losließ, taumelte Hazel nach hinten. Er hatte sie geküsst, wirklich geküsst, und es war unbeschreiblich schön gewesen. Doch plötzlich hatte sie Alistairs Stimme im Ohr: Ich werde nicht zulassen, dass du die Hure dieses feinen Pinkels wirst. Ich schwöre, ich bringe ihn um. Immer wieder und wieder wiederholte sich der Satz in ihrem Kopf. Sie blickte Lord Denby panisch an und versuchte Alistairs Worte aus ihren Gedanke zu verbannen, aber es ging nicht.

»Was hast du?«, fragte er sorgenvoll.

»Tun Sie das nie wieder! Bitte …«, sagte sie mit stockender Stimme.

»Aber ich …« Er verstand nicht, was plötzlich mit ihr los war.

Hazel drehte sich um und rannte den Pfad hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen, bis der Wald sie schützend umgab. Erst dort blieb sie stehen und lehnte sich kraftlos an einen Baum. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie war verloren. Ihr Herz gehörte ihm und doch fürchtete sie, dass ihre Gefühle nicht richtig waren. Was, wenn Alistair recht hatte? Wenn sie nur ein wenig älter und erfahrener wäre! Noch nie hatte sie einen Mann so geküsst. Sie selbst hatte es nie zugelassen. Sie wollte Lord Denby so gerne vertrauen, aber wollte er wirklich sie und nicht nur das, was alle Männer von Frauen wollten, wie ihre Freundinnen behaupteten?

Hazel glitt an den Stamm gelehnt in den Schnee. Wie um Gottes Willen konnte sie am nächsten Morgen wieder nach Broom Park gehen? Wie sollte sie das über sich bringen? Aber wenn sie nicht ginge, würde Alistair nach dem Grund fragen und Hazel kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass sie ihn nicht anlügen konnte, ohne dass er etwas merken würde. Aber wenn Alistair von dem Kuss erfahren würde oder es auch nur erahnen, wer wusste, wozu er dann fähig war. Hazel weinte, bis sie merkte, dass sie steif vor Kälte war. Mühsam stand sie auf und ging langsam nach Hause. Sie wischte sich das Gesicht mit Schnee ab um die Spuren ihrer Tränen zu verbergen und versuchte, sich möglichst ruhig zu benehmen.

Als sie durch die Tür ins Cottage trat, blickte sie in Colins vorwurfsvolles Gesicht und erschrak, als sie ihn im Kilt in der Küche sitzen sah.

»Wieso kommst du so spät? Hast du vergessen, dass wir alle ins Dorf wollten, um das neue Jahr zu feiern?« Er stand auf und kam auf sie zu.

Diese Frage und sein Anblick rissen Hazel abrupt aus ihren trüben Gedanken. Sie hatte es wirklich vergessen und sich noch am Vorabend so darauf gefreut.

»Das habe ich tatsächlich«, entgegnete Hazel. »Es war ein so aufregender Tag«, schwindelte sie und war froh, dass sie Colin dabei nicht ansehen musste.

»Alistair hat Mutter schon mit dem Wagen mitgenommen. Da du zu spät bist, müssen wir jetzt laufen.« Colin seufzte.

»Ich beeile mich.«

Hazel verschwand in ihrem Zimmer und holte ihre Sonntagssachen aus ihrer Kiste. Der lange Schal aus Tartanstoff im blau-rot-grünen Karomuster ihrer Familie war ordentlich zusammengelegt. Hazel streifte rasch das schwarze Sonntagskleid über, legte sich den Schal um, wie es Tradition war, und befestigte ihn auf ihrer linken Schulter mit dem Wertvollsten was sie besaß: der großen silbernen Spange, die schon ihre Großmutter getragen hatte.

Colin und sie beeilten sich sehr, doch sie brauchten mehr als eine halbe Stunde, bis sie endlich die Musik von Dudelsäcken hören konnten. Die Feier im alten Versammlungshaus der Clans war Tradition. Mitglieder aller Familien der Appin-Halbinsel trafen sich an diesem Tag. Es wurde gegessen, Unmengen getrunken und mit Musik und Tanz bis spät in die Nacht gefeiert. Es gab Wettstreite aller Art wie den des besten Dudelsackspielers oder den um den besten Schwertertanz und einen Ringkampf der stärksten Männer.

Das alte Versammlungshaus war ein großes aus Steinblöcken aufgebautes Gebäude mit einem aus grauen Schieferplatten gedeckten Dach. Colin öffnete Hazel die schwere Tür. Der Innenraum war nur ein einziger großer Raum, über dem sich das hohe aus dicken, geschwärzten Eichenbalken gezimmerte Dach erhob. Der gestampfte Lehmboden war mit großen Steinplatten belegt und nur an einer der Schmalseite befand sich ein hölzernes Podest, das sich über die ganze Breite des Raumes zog. Hier saßen sonst die Clanchefs und die Ältesten zusammen und von diesem Podest aus wurde auch Gericht gehalten. Am heutigen Abend diente das Podest als Bühne, auf der die Wettkämpfe ausgetragen wurden. Der Saal empfing sie mit wohliger Wärme und dem wunderbaren Geruch nach gebratenem Fleisch, der von dem riesigen Kamin an der anderen Schmalseite des Raumes herüberzog. Vier kräftige Männer drehten dort einen ganzen Ochsen über dem Feuer. Hazel blickte sich suchend nach Alistair und ihrer Mutter um. Alistair war nirgends zu sehen, doch ihre Mutter saß auf einer Bank an einem der Tische auf der anderen Seite und Colin ging mit Hazel hinüber.

»Da seid ihr ja endlich.« Fiona MacAllen blickte ihre Tochter sorgenvoll an. »Ich hatte schon Angst, dir wäre etwas zugestoßen.«

»Nein, Mutter, es ist alles in Ordnung«, entgegnete Hazel und hoffte, dass sie nicht merken würde, wie schwer ihr noch immer ums Herz war.

»Sie war wieder länger in Broom Park«, sagte Colin knapp. »Haben wir den Wettbewerb um den besten Dudelsackspieler verpasst?«

»Nein. Keine Sorge, Colin, der ist erst in ein paar Stunden.« Mrs MacAllen lachte Colin an. »Aber der Gesangswettbewerb fängt gleich an. Alistair hat dich schon angemeldet«, wandte sie sich an Hazel.

»Er hat mich angemeldet?«, fragte sie etwas entsetzt.

»Ja. Du wolltest doch teilnehmen, das hast du vor ein paar Wochen noch gesagt.«

»Vor einigen Wochen, Mutter, aber nicht heute.«

»Hazel, ich bitte dich. Du warst im letzten Jahr die zweite und Moreg Rawley ist dieses Jahr nicht da. Sie erwartet in wenigen Tagen ihr erstes Kind.«

Hazel dachte nach. Sie hatte den Wettbewerb völlig vergessen und ihr war, nachdem was geschehen war, auch nicht nach singen zumute, doch wenn sie es nicht tat, wäre dies ein Anlass für Spekulationen. Sie seufzte.

»Also gut. Ich werde singen. Aber erst muss ich etwas trinken. Ist das dort Alistairs Becher?«, fragte sie ihre Mutter, die nur nickte.

Hazel nahm den Becher und trank den Rest Ale in einem Zug. Es schmeckte köstlich und sie bedauerte, dass sie es nur zu besonderen Gelegenheiten trinken durfte.

»Wünsch mir Glück, Mutter«, lachte sie, ging durch die Menge hinüber zum Podest, an dessen Fuß Alistair mit ein paar Männern aus dem Dorf stand.

Hazel gesellte sich zu ihnen. Nur wenige von ihnen trugen den Kilt, denn obgleich das 1746 nach der Schlacht von Culloden von den Engländern verhängt Verbot, diese Kleidung zu tragen, bereits seit 1782 wieder aufgehoben war, war er noch nicht wieder ganz in Mode. Die Männer hatten sich an andere Kleidung gewöhnt und nur wenige wie Colin, die wirklich stolz auf Familie und Herkunft waren, und natürlich auch die Clanchefs, trugen den Kilt wieder an Feiertagen.

Nach einer Weile brachte ein Trommelwirbel die Menge im Saal zum Schweigen und der alte Clanchef der MacDougalls erhob oben auf dem Podium die Stimme: »Freunde. Es ist mir eine Ehre, wie in jedem Jahr, nun den Wettstreit um die beste Sängerin dieses Abends anzukündigen. Wir haben heute acht Bewerberinnen um diesen Titel, von denen sechs bereits im vergangenen Jahr beteiligt waren. Wie ihr wisst, dürfen diese Ladys nicht das gleiche Lied wie im Vorjahr vortragen. Die Bewertung erfolgt durch euch alle anhand des Applauses, den die Ladys erhalten, wenn sie nachher alle gemeinsam hier oben stehen. Aber ich will euch nicht länger warten lassen und bitte die erste Sängerin zu mir herauf.«

Er hatte in breitestem Gälisch gesprochen und die Menge applaudierte in freudiger Erwartung.

»Ich bitte Catriona Ferris, als Erste vorzutragen.«

Catriona hatte fuchsrotes Haar und ein derbes Gesicht. Sie war schon vierundzwanzig und mit einem der Arbeiter aus der Schiefermine in Ballachulish verheiratet. Sie hatte in den vergangenen drei Jahren schon einmal gewonnen, und Hazel hoffte, sie würden sie nicht nach ihr aufrufen, denn sie wusste um Catrionas schöne Stimme. Es war ein Gesangswettbewerb ohne Begleitung durch Instrumente und es war eine große Kunst, die gesamte Halle mit nur einer Stimme in andächtige Stille zu versetzen. Catriona schaffte es ohne Mühe. Sie sang For A’That, ein aufrührerisches Lied von Robert Burns. Hazel seufzte, als sie den begeisterten Applaus hörte. Die Worte, die Catriona vorgetragen hatte, waren das, was die Männer hören wollten in diesen Zeiten, doch Hazel fand, es hatte Catriona der Glaube an diese Worte gefehlt. Hazel selbst war sich noch immer nicht im Klaren, was sie vortragen würde. Sie wusste nur, wenn sie gewinnen wollte, musste es ein Lied sein, das aus ihrem Herzen kam.

Die anderen Mädchen kannte Hazel nur flüchtig. Aber sie alle waren keine Konkurrenz für Hazel. Schließlich kam endlich der Moment, als ihr Name aufgerufen wurde. Sie war die Fünfte. Das war gut. Besser mittendrin als am Schluss. Alistair hob sie auf das Podest und Hazel stellte sich in die Mitte. Sie hatte keine Angst vor all den Menschen, die zu ihr aufblickten. Schon zweimal hatte sie so vor ihnen gestanden. Dieses Mal fühlte sie sich sicherer und stärker als je zuvor. Sie dachte für einen Sekundenbruchteil an Simon, an den Kuss vorhin auf dem Hügel und an das Gefühl von Kraft und Stärke, das sie in all den Monaten empfunden hatte, seit ihr bewusst war, dass sie ihn liebte. Sie schloss die Augen und sang laut und kraftvoll das schönste Liebeslied, das sie kannte: My Love is like a Red, Red Rose.

Als sie geendet hatte, herrschte einen Moment lang noch absolute Stille im Saal. Hazel öffnete die Augen und starrte auf die Menge.

Hat es ihnen nicht gefallen?, schoss es ihr durch den Kopf, doch in dieser Sekunde brach ein schier unglaublicher Jubel los. Alistair kam auf das Podest gesprungen und Colin hinter ihm her. Sie nahmen Hazel auf ihre Schultern und bevor sie wusste, wie ihr geschah, trugen die beiden sie hinunter in den Saal. Es bedurfte eines erneuten Trommelwirbels, um die Menge wieder zur Ruhe zu bringen damit Duncan MacDougall wieder seine Stimme erheben konnte, um die nächste Sängerin anzukündigen. Hazel bekam von den anderen kaum noch etwas mit. Immer wieder kamen Männer und Frauen, um ihr zu gratulieren und ihr zu sagen, wie wunderbar sie gesungen hätte. Schließlich hatte die letzte Sängerin geendet und Colin brachte Hazel wieder zum Podest, damit sie sich mit allen anderen zur Bewertung aufstellen konnte. Die Frauen und Mädchen traten nacheinander vor, aber die Entscheidung war längst gefallen, und als Hazel an die Reihe kam, tobte der Saal wie die See im Sturm. Sie stand oben und nahm die Menschen vor sich kaum noch wahr. All das nur, weil sie gesungen hatte. Sie konnte es nicht fassen. Noch nie hatte sie sich so beachtet gefühlt wie in diesem Augenblick. Hazel dankte ihnen allen. Einen Preis gab es für sie nicht. Es war Ehre genug, wenn man gewonnen hatte. Als Alistair sie wieder von der Bühne hob, fühlte sich Hazel, als wäre sie zwischen all den Menschen und doch nicht dort. Erst als ihre Mutter sie in die Arme schloss und Hazel die Tränen in ihren Augen sah, wurde ihr bewusst, was dieser Wettbewerb bedeutete. Sie war nicht mehr nur die kleine Hazel MacAllen. Ab heute würde sich jeder an sie erinnern, zumindest bis zum nächsten Jahr, und man würde sie auf viele der nächsten Feste wie Hochzeiten oder andere Familienfeiern einladen, damit sie sang.

»Du hast so wunderschön gesungen, mein Kind. Ich bin so stolz auf dich«, sagte ihre Mutter und drückte Hazel fest die Hand.

Hazel und sah Colin und Alistair an, die neben ihr standen.

Wenn auch nur einer von ihnen geahnt hätte, was der Grund für die Kraft ihres Gesanges gewesen war. Sie lachte leise.

»Warum lachst du so eigenartig?«, fragte Colin und kniff sie in den Arm.

»Nichts, ich habe nur an etwas gedacht, und daran, dass ich jetzt feiern möchte.«

Sie fiel ihrem Lieblingsbruder um den Hals.

»Lass uns tanzen, Colin.«

Hazel zog ihn mit sich fort und sie verschwanden zwischen den Tänzern.

Colin gewann später am Abend noch den Wettbewerb um den besten Dudelsackspieler und es wurde eine lange Nacht.

Als Hazel am nächsten Morgen neben ihrer Mutter auf der mit Farnkraut ausgestopften Matratze erwachte, wusste sie nicht mehr, wie sie ins Bett gekommen war. Es musste sehr spät oder besser früh gewesen sein. Sie erinnerte sich dumpf, dass sie irgendwann sogar mit Rory Campbell getanzt hatte und sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran. Sie zog sich an und ging in die Küche, um das Frühstück zuzubereiten, aber es war schon alles fertig. Ein Topf Porridge hing über dem Feuer. Alistair und Colin waren nirgends zu sehen. Als Hazel die Tür öffnete, fiel ihr das gleißende Sonnenlicht ins Gesicht. Es war schon heller Tag und niemand hatte sie geweckt. Sie schrak auf. Sie musste doch nach Broom Park! Sie blickte in die Sonne, es musste schon fast zehn Uhr sein.

Hazel beeilte sich und verließ das Cottage, ohne etwas zu essen. Sie rannte den halben Weg durch den Schnee. Als sie durch die Hintertür in die Küche trat, glühten ihre Wangen hochrot und ihre Haare hingen ihr in wilden Strähnen ins Gesicht. Susan und Patricia, die beiden Küchenmädchen blickten sie todernst an und kicherten. Hazel wäre am liebsten im Boden versunken. Die beiden waren neidisch auf sie und daher nicht gut auf sie zu sprechen. Hazel ahnte nichts Gutes. Sie huschte rasch hinauf und zog sich um. Dann ging sie in den Speisesaal, wo sie den Tisch für den Lunch eindecken sollte, aber diese Arbeit war bereits erledigt. Mrs Edwards stellte eben die letzten Gläser an ihren Platz.

»Ich hoffe, du hast eine gute Entschuldigung für dein Zuspätkommen, Hazel.«

»Nein, Ma’am. Die habe ich leider nicht und ich kann Sie nur um Verzeihung bitten.« Hazel senkte den Blick.

»Ich wünsche, dass das nicht noch einmal vorkommt«, sagte die Hausdame streng. »Jetzt geh ins Kaminzimmer, Lord Denby will dich sehen.«

Hazel stand wie erstarrt.

»Geh schon. Worauf wartest du noch?«

Hazel drehte sich langsam um. Sie wollte nicht zu ihm gehen, aber sie musste.

Bedächtig ging sie durch die Halle und öffnete vorsichtig die Tür zum Kaminzimmer, als auf ihr Klopfen nicht geantwortet wurde. Die Hunde hoben schlaftrunken die Köpfe und ließen sie mit einem brummenden, knurrigen Laut wieder sinken, als Hazel eintrat. Lord Denby war nicht zu sehen, nur aus dem Lehnstuhl, der vor dem Kamin mit dem Rücken zur ihr stand, kräuselte sich eine kleine Rauchwolke in den Raum und es duftete nach Pfeifentabak.

»Komm herein, Hazel«, sagte die vertraute Stimme.

Hazel schloss die Tür hinter sich.

Lord Denby stand auf und legte seine Pfeife in den Aschenbecher.

»Setz dich.« Er bot ihr mit einer Geste an, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich halb auf die Ecke des Tisches.

Hazel sah zu ihm auf und versuchte, in seinen Augen zu lesen. Sie hatten einen traurigen Ausdruck.

»Ich möchte dich um Verzeihung bitten. Ich bin wohl zu weit gegangen gestern. Das ist mir heute Nacht bewusst geworden. Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Ich werde dir nie wieder zu nahe treten, das verspreche ich dir.«

Er hatte leise gesprochen.

»Nicht, Mylord, bitte. Es gibt nichts, was Ihnen verziehen werden müsste.« Hazel sah ihn direkt an. »Ich hoffe nur, dass Sie mich nicht wegschicken von Broom Park, denn das könnte ich nicht ertragen.«

»Nein, ich schicke dich nicht weg. Du kannst hierbleiben und arbeiten so lange du willst, freiwillig und nicht mehr als Schuldausgleich für die Wilderei deiner Brüder.«

»Ich danke Ihnen, Mylord.« Sie senkte den Blick. Ein eigenartiges Gefühl, wie ein Anflug von unendlicher Traurigkeit und doch gleichzeitig Erleichterung darüber, dass diese aussichtslose Situation so zu einem guten Ende kam. Es war besser so. Besser für sie beide.

Er stand auf und ging zum Fenster. Die Unterhaltung war beendet. Hazel schlich sich leise aus dem Raum.