Kapitel 1
Den Briefkastenschlüssel zwischen die Zähne geklemmt, steige ich die schmale Treppe in die erste Etage hinauf und sortiere die Post, die ich eben entgegengenommen habe. Sogar unterschreiben musste ich dafür – das musste ich noch nie. Zwischen Werbung, zwei Rechnungen und einem Schreiben meines Stromanbieters sehe ich das Logo meiner Hausverwaltung.
Sofort schnürt sich meine Kehle zu.
Okay, keine Panik!
Das muss nicht gleich was Schlimmes bedeuten.
Wahrscheinlich geht es wieder um die Reinigung des Treppenhauses, die wir Mieter manchmal ein wenig schleifen lassen, oder sie kündigen einen Handwerker an. Das Gebäude ist so marode, dass hier ständig was kaputt geht. Die Handwerker würden sich hier eine goldene Nase verdienen.
Ich atme tief durch und versuche, das Kribbeln in meinem Inneren zu ignorieren, das immer dann ausgelöst wird, wenn ich Post der Hausverwaltung bekomme. Als ich sehe, dass der Brief per Einschreiben kam, muss ich schlucken.
Würde man einen unwichtigen Brief per Einschreiben versenden?
Nein, würde man nicht!
Und schwupps ist da wieder dieses Herzklopfen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich hier gerade eine folgenschwere Nachricht in den Händen halte. Mit der freien Hand schließe ich die Tür meines Ateliers auf und werde von der Sonne geblendet, die durch das kleine Fensterchen in der Tür strahlt. Hätten die Türen diese Fenster nicht, würde man im Flur in absoluter Dunkelheit stehen. Die Lampen sind seit Ewigkeiten kaputt.
Das Türblatt schabt über den Boden, während ich sie öffne, und ich durchquere mein Atelier, das um diese Uhrzeit im Mai sonnendurchflutet ist, öffne das bodentiefe Fenster und trete auf die Feuerleiter nach draußen. Einen Quadratmeter habe ich Platz.
Hoffentlich besänftigen mich die Strahlen der Maisonne bei was auch immer sich in diesem Umschlag befindet. Je schneller ich es hinter mich bringe, desto besser. Wahrscheinlich ist es die Nebenkostenabrechnung. Vor der gruselt es mich jedes Mal. Ich stopfe den Umschlag in die Hosentasche und schüttelte das Schreiben auf.
Kündigung des Mietverhältnisses zum 31.12.
Einen Moment steht die Welt still und ich starre auf die Betreffzeile. Die haben mir mein Atelier gekündigt? Das ist ein schlechter Witz, oder?
Das kann nicht sein! Das ist mein Arbeitsplatz und ich bin seit fünf Jahren treue und pünktlich zahlende Mieterin! Man hat keinen Grund, mich zu kündigen!
Fassungslos schnappe ich nach Luft und mein Blick huscht so schnell über den Text, dass ich den Inhalt kaum fassen kann.
… Bausubstanz marode … Sanierung notwendig … alle Mieter müssen für die Zeit des Umbaus ausziehen. Räumung zum 31.12. … haben Priorität für die Anmietung der neuen Räumlichkeiten …
Ich verstehe nur Bahnhof und lese das Ganze erneut. Nach wie vor kommt nicht alles in meinem Hirn an. Lediglich die Tatsache, dass ich meinen Arbeitsplatz verlieren werde, schreit so laut, dass alle anderen Gedanken übertönt werden.
Aus der Brusttasche meiner Latzhose ziehe ich mein Handy und gebe die Nummer der Hausverwaltung ein. Wahrscheinlich ist das alles nicht so schlimm, wie es mir vorkommt. Ich muss mir von der Verwaltung direkt anhören, was geplant ist. Bestimmt reagiere ich über – darin bin ich gut.
»Hausverwaltung Dorton.« Die Dame am anderen Ende des Telefons klingt freundlich, aber bestimmt und ein bisschen, als hätte sie mit meinem Anruf gerechnet.
»Hallo, Holly Philipps hier«, sage ich atemlos und schüttele den Brief wieder auf, »ich habe das Keramikstudio in der …«
»Ja, Sie sind nicht die Erste, mit der ich heute telefoniere.« Die Dame klingt gelangweilt. Was erwartet sie? Dass die Mieter dieses Gebäudes nicht anrufen, wenn sie eine solche Nachricht erhalten?
»In Ihrem Schreiben steht was von einer Kündigung, wegen Renovierung …«
»Das ist richtig. Die Bausubstanz ist marode und die Brandschutzbestimmungen sind nicht mehr aktuell. Wir kommen um eine Sanierung nicht herum. Muss alles entkernt werden und die Mieter raus.« Sie klingt so gelangweilt, als würde sie einen öden Bericht vorlesen.
Meine Finger klammern sich um das Telefon. »Und wenn die Renovierung fertig ist …«, ich räuspere mich, »können die Mieter wieder in ihre Räumlichkeiten einziehen?« Das stünde uns doch zu, oder nicht? Ich kenne mich im Mietrecht nicht aus, aber es wäre fair, wenn man uns für die Zeit der Renovierung rausschmeißt, dass wir danach wieder einziehen dürfen.
»Ja, die Mieter haben das Recht, sich die neuen Räumlichkeiten als Erste ansehen zu dürfen, und bei Interesse werden sie bevorzugt. Pro Quadratmeter kosten die Räumlichkeiten 35 Pfund. Dafür gibt es brandneue Studios.«
35 Pfund?!
Vor Schreck fällt mir beinahe das Handy aus der Hand.
Mein kleines Atelier hat fünfzehn Quadratmeter, das wären dann … 525 Pfund Miete! Das kann ich mir nie im Leben leisten!
»Gut, danke für die Information«, sage ich mit fester Stimme und beende das Gespräch, bevor ich gleich in Tränen ausbreche.
525 Pfund pro Monat, das sprengt meinen finanziellen Rahmen. Ich bin Keramikerin und arbeite nicht an der Börse! Ich müsste doppelt so viele Tassen im Monat verkaufen als bisher, um den Betrag zusammenzubekommen. Oder die Preise hochschrauben. Das klappt nicht. Niemand bezahlt für eine Tasse von mir 50 Pfund. Obwohl ich bei Instagram eine ganz ordentliche Fangemeinde habe. Was nutzen mir achttausend Follower, wenn sie sich meine Bilder angucken, aber kein Geld ausgeben?
Eben schien mir die Sonne wärmend ins Gesicht und ich fühlte mich optimistisch und guter Dinge. Jetzt ist sie zwar nach wie vor warm, aber die Gemütlichkeit ist verschwunden. Was ein Brief ausrichten kann.
Seit fünf Jahren bin ich in diesem kleinen Atelier eingemietet. Es ist mein zweites Zuhause geworden. Mit zusammengebissenen Zähnen sehe ich in mein Reich. Die fertig getöpferten Tassen in dem Rollwagen – bereit, im Ofen zu Keramik gebrannt zu werden –, die ganzen Farbtöpfchen, die neben dem Arbeitstisch stehen, die unzähligen Pinsel, die Töpferscheibe, die gelagerten Materialien unter dem Tisch und der Brennofen in der Ecke. In den vergangenen Jahren ist ein Werkraum entstanden, den ich mir unmöglich woanders vorstellen kann. Hier ist es perfekt, hier bin ich eingespielt, hier bin ich in der Lage, konzentriert zu arbeiten, und es ist unvorstellbar, wie ich das an einem anderen Ort schaffen soll.
»Wie soll das gehen?«, schimpfe ich und pfeffere den Brief einmal quer durch das Atelier. Die Nachricht zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Solche Entscheidungen sind unfassbar frech: Da sitzen wohlhabende Immobilienfutzis an ihren Schreibtischen und beschließen, dass hier saniert werden muss. Ist denen klar, dass man nicht leicht etwas Neues findet? Wir befinden uns in London.
London – die Stadt, in die alle wollen, die Kunst und Kultur predigt, aber kaum Platz dafür bietet. Ich hatte unfassbares Glück, dieses Atelier bekommen zu haben, und ich bezweifle, dass ich das wieder haben werde. Es wäre wie ein Sechser im Lotto. Und ich kenne niemanden, der im Lotto gewonnen hat.
Einen Moment bleibe ich draußen stehen, lasse meinen Arbeitsraum auf mich wirken und schwanke zwischen Verzweiflung und Optimismus. Bis zum Ende des Jahres …
Das sind sieben Monate. Holly, es wird doch möglich sein, einen Werkraum innerhalb von sieben Monaten zu finden. Das ist kein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich mich gleich an die Arbeit mache, stehen die Chancen gut.
Der hölzerne Drehhocker vor dem schmalen Schreibtisch knarzt, weil ich mich schwungvoll darauf fallen lasse. Normalerweise benutze ich den Computer nur, um Bestellungen zu machen oder Rechnungen zu schreiben. Jetzt rufe ich Google auf und suche nach Räumlichkeiten, die man mieten kann. Ich muss mir schnellstens einen Überblick über den aktuellen Immobilienmarkt verschaffen – wobei ich ahne, dass es schwer wird. London platzt aus allen Nähten. Das weiß die ganze Welt.
Die Suche nach »Künstlerateliers London« ergibt keine Ergebnisse. Auch leere Büroräume finden sich nicht – außer, ich möchte gleich dreihundert Quadratmeter mieten. Seufzend streiche ich mir über das Gesicht und verteile Lehmstaub im Auge, den ich an den Händen hatte. Fluchend reibe ich mit dem Handballen, bis mein Auge nicht mehr brennt, dafür bestimmt aussieht, als hätte ich einen Heulkrampf gehabt. Gut, sicher bekomme ich den heute noch, wenn das so weitergeht.
Nachdem ich mehrere Onlineseiten für Immobilien geöffnet und zwei Stunden gesucht habe, muss ich mit Ernüchterung feststellen, dass es keine Ateliers gibt, die zu mir passen. Entweder liegen sie weit außerhalb meines Budgets oder in einem Keller, was für mich nicht infrage kommt, weil es bei mir staubig ist und ich lüften muss. Ratlos sitze ich auf dem Töpferhocker, drehe mich im Kreis und ärgere mich darüber, dass ich heute nichts geschafft habe. Der Brief hat alles durcheinander geworfen. Eigentlich wollte ich die Tassen fertig bemalen und am Nachmittag den Brennofen anschmeißen. Über den Onlineshop habe ich neue Bestellung reinbekommen und die müssen heute noch raus.
Aber unter diesen Umständen fehlt mir die Inspiration und ich bin sicher, dass man das meinen Tassen ansehen würde. Für gewöhnlich sind sie bunt und versprühen gute Laune. Ich arbeite mit verschiedenen Farbtechniken und jede von ihnen sieht individuell aus, außer ich gestalte ein komplettes Service, dann passt alles zusammen. Aber dafür fehlt mir jetzt die Kreativität.
Wie lange ich mich im Kreis drehe, sowohl gedanklich als auch körperlich, weiß ich nicht. Irgendwann reißt mich ein Klopfen aus meiner Trance.
»Ja?«
»Holly, hast du das Schreiben auch bekommen?« Mein Nachbar Phil steht in der Tür. Heute trägt er eine Jeans. Für gewöhnlich trifft man ihn in einem Bademantel an.
Seine Kunst ist ein wenig … speziell.
Seine Hände sind voller Farbspritzer und sie halten denselben Brief, der zu meinen Füßen liegt. Ich kann nur nicken.
»Das können die nicht machen. Wo sollen wir denn hin? Ist denen bewusst, wie viele wir sind?« Phil macht eine ausladende Geste mit den Armen.
Das ganze Gebäude hat mehrere Ateliers und Werkstätten. Insgesamt sind wir sechzehn Parteien. Fotografen, Maler, ein Schreiner, Phil mit seiner Kunst, eine Goldschmiedin, ein Start-Up für handgenähte Babykleidung und ich. Holly von CC – CuteCups.
»Nein, ich glaube nicht, dass es ihnen bewusst ist«, seufze ich, stehe auf und gehe zur Kaffeemaschine. »Willst du einen?«
»Gerne, ich brauche was für meine Nerven«, antwortet Phil und setzt sich auf meinen Hocker. »Ich wollte gerade anfangen zu malen, da fiel mir auf, dass ich keine Kondome mehr habe. Ich wollte kurz zur Drogerie und bin auf dem Weg nach unten am Briefkasten vorbei …«
»… und jetzt ist dein Tag gelaufen?«, beende ich seinen Satz.
Phil nickt. »Total.«
Da kann ich nur zustimmend nicken und fülle Wasser in die Maschine sowie Milch in den Milchaufschäumer.
»Was sollen wir machen?«, fragt er und klingt so verloren, wie ich mich fühle, weshalb ich nur mit den Schultern zucken kann. »Vielleicht können wir uns eine Räumlichkeit teilen, wenn wir was finden.«
Ich wiederhole meine Geste. Ja, theoretisch wäre das möglich.
»Du hast keine Lust, oder?«
»Doch, schon«, sage ich schnell, gebe dann zu: »Aber wir machen vollkommen verschiedene Sachen. Du malst und brauchst eine staubfreie Umgebung. Die ist bei mir absolut nicht gegeben. Meinst du nicht, dass wir einander im Weg wären?«
Phil zuckt mit den Schultern. Er hat was von einem hilflosen Hundewelpen. »Wenn ich die Wahl hätte, kein Atelier oder eines mit ein bisschen Staub, dann würde ich Zweiteres nehmen. Du nicht?«
Natürlich. Besser Abstriche machen, als keinen Arbeitsplatz zu haben. »Schon.« Die Maschine surrt, nachdem ich auf den Knopf gedrückt habe, und wenig später stelle ich zwei Tassen auf den Arbeitstisch. Nachdenklich trinken wir unseren Kaffee und jeder hängt seinen Gedanken nach. Der Brief, der auf dem Tisch zwischen uns liegt, scheint zum Damoklesschwert geworden zu sein, das über unseren Köpfen schwebt.
»Der Tag hätte so schön sein können.« Ich nicke zum Fenster, durch das die Sonne noch immer scheint, der ich aber nichts mehr abgewinnen kann.
»Sagt man nicht, nach Regen kommt Sonnenschein?« Phil lächelt mutig und seufzt. »Holly, ich bin mir sicher, dass wir das hinkriegen. Wir haben noch genug Zeit, um etwas zu finden.« Er setzt die Tasse an – es ist eine in himmelblau mit stilisierten Genitalien. Passt zu Phil und seiner Kunst. Kurz betrachtet er das Motiv, grinst dann amüsiert und steht auf. »Wir schaffen das, da bin ich sicher. Und ich werde jetzt voller Motivation an die Arbeit gehen. Das wird schon.« Phil klopft mir auf die Schulter, stopft den Brief der Hausverwaltung in die Hosentasche und zwinkert mir zu. »Ich gehe Kondome kaufen. Ohne kann ich nicht weiterarbeiten.«
»Viel Spaß dabei«, wünsche ich und ringe mir ein Lächeln ab.
Zusammen mit Phil ein Studio betreiben – es wäre eine Lösung. Den Raum muss man erst mal finden. Während ich die Tassen wegräume, surrt mein Kopf.
Zur Ablenkung könnte ich mich wieder auf die Suche machen, stattdessen schneide ich einen Streifen Ton vom Vorratsklumpen ab. Er ist viel zu fest und ich lasse meine Wut an ihm aus, indem ich ihn mit voller Wucht auf den Holztisch klatsche, damit er weich und geschmeidiger wird. Umständlich, weil ich es nicht schmutzig machen will, setze ich mir das Headset auf, wähle die Nummer meiner Freundin Zoe und schalte die Töpferscheibe ein. Ich brauche Ablenkung, sonst komme ich aus der Gedankenspirale nicht heraus.
Wütend klatsche ich den Ton erneut auf die Töpferscheibe und drücke das Pedal nach unten. Surrend setzt sie sich in Bewegung und mit kraftvollen Handgriffen fange ich an, den Klumpen zu formen, während in meinem Ohr das Freizeichen piept. Es dauert nicht lange, bis Zoe rangeht.
»Holly, ich hab nur kurz Zeit, hab gerade Mittagspause und muss auf den Kopierer warten. Ist es wichtig?« Sie klingt ein bisschen im Stress. Zoe arbeitet in einer Grundschule hier im Stadtviertel. Ein Wunder, dass sie um diese Uhrzeit ans Telefon gegangen ist. Normalerweise rufe ich sie nicht an, wenn sie arbeitet, aber gerade weiß ich nicht, mit wem ich sonst reden soll, und ich versuche mich in einer Kurzfassung.
»Mir wurde das Atelier gekündigt. Bis zum Ende des Jahres.« Beim Sprechen bricht mir fast die Stimme weg. Es auszusprechen, macht das alles realer.
»Was? Wieso das? Hast du die Miete nicht bezahlt?« Meine beste Freundin klingt vollkommen fassungslos. Sie kennt und liebt mein Atelier, hilft immer wieder, wenn ich etwas auf- oder umbauen will, und besucht mich gern auf eine Tasse Tee.
»Natürlich nicht. Das Haus muss saniert werden und die Mieter sollen in der Zeit ausziehen. Können danach wieder einziehen, wenn wir doppelt so viel Miete zahlen.« Ich packe den Ton fest an, so dass er mir zwischen den Fingern hindurch quillt.
»Das ist ja scheiße. Was willst du jetzt machen?« Zoe klingt ernsthaft betroffen. Sie liebt meine Tassen. Ich glaube, ihr komplettes Kollegium in der Schule ist damit ausgestattet.
»Ich muss mir was Neues suchen …«
»Das ist in London ein Ding der Unmöglichkeit, Holly«, wirft sie ein.
»Ja, das ist mir bewusst und es macht die Sache nicht besser.«
»Hör zu, ich muss Schluss machen, der Drucker wird frei, aber ich komme heute Abend vorbei und dann quatschen wir, ja? Vielleicht ist uns bis dahin eine Lösung eingefallen.«
»Machen wir. Bis später, Zoe.«
Mit einem Knopfdruck beende ich das Gespräch und malträtiere dann weiter den Ton, der sich vor mir auf der Töpferscheibe dreht, wässere ihn und sehe, wie die Wand vor mir zusätzliche Tonspritzer abbekommt. Egal, hier wird sowieso bald frisch gestrichen.
Am frühen Abend verlasse ich das Atelier. Das Töpfern hat mich ein wenig abgelenkt, doch eine Lösung ist mir nicht eingefallen. Wie auch, ich kann mir schließlich keine neuen Räumlichkeiten aus dem Ärmel schütteln. Gerade schließe ich die Tür ab, als mein Nachbar Pete aus seinem Fotostudio tritt, das sich schräg gegenüber von mir befindet. Normalerweise ist er eine Frohnatur, der durch seine roten Haare und die Sommersprossen immer aussieht, als käme er frisch aus den Highlands. Heute ist Pete allerdings recht farblos. Seine Haare wirken stumpf und die Sommersprossen gräulich.
»Hast du das Schreiben auch bekommen?«, fragt er und in seinem Gesicht lese ich dieselbe Hoffnungslosigkeit, die mich umtreibt. Ich nicke und er seufzt: »Und? Schon eine Idee, was du machen wirst?«
»Keine Ahnung. Ich habe online nach Ateliers gesucht, aber es ist unmöglich, etwas Bezahlbares zu finden. Vielleicht tue ich mich mit Phil zusammen, sollten wir was finden, was für uns einzeln zu groß ist. Aber ob man überhaupt was findet …« Pete nickt und reibt sich über das Gesicht.
Ich habe ihn nie gefragt, wie alt er ist, aber ich schätze ihn auf Ende Fünfzig. In dem Alter ist man noch weniger scharf auf den Stress. Die Vermieter wissen gar nicht, was sie uns damit antun. Hätte man nur schon viel früher Sanierungen vorgenommen. Mal hier eine Wand neu verputzt, dort ein Rohr ausgetauscht, dann wäre nicht alles gleichzeitig kaputt gegangen und würde uns diese Situation ersparen.
»Ich werde mich wahrscheinlich bei einem Kumpel einmieten, der auch Fotograf ist und die meiste Zeit auf Reisen. Mir tut es für die anderen Mieter leid. Wir sind fast zwanzig Leute, die jetzt wieder auf dem freien Markt etwas suchen und in Konkurrenz zueinanderstehen werden.«
Damit spricht er aus, was mir Angst macht. Wir werden alle zeitgleich etwas Vergleichbares suchen. Sicher werde ich bei der ein oder anderen Besichtigung Leute treffen, die ich aus diesem Gebäude kenne, und wenn aus Nachbarn plötzlich Konkurrenten werden, ist das keine schöne Aussicht. Dass Pete bereits eine Alternative gefunden hat, ist beneidenswert. Leider kenne ich niemanden aus meinem Handwerk, mit dem ich mir ein Keramikstudio teilen könnte. Die Regenwolke über meinem Kopf wird immer größer. Unglaublich, was ein Brief alles ausrichten kann und obwohl Pete verspricht, die Augen aufzuhalten, muntert es mich nicht auf.
***
»Man könnte meinen, du hast Liebeskummer«, sagt Zoe zur Begrüßung, als sie am Abend vor meiner Tür steht und ich geöffnet habe.
In eine kuschelige Decke gewickelt, die Haare durcheinander, weil ich sie mir mehrfach gerauft habe, verquollene Augen und ein Eis am Stiel in der Hand, trifft ihr Vergleich ins Schwarze. Ich sehe nicht nur so aus, ich fühle mich auch so.
»Ich wurde ja auch verlassen.« Schniefend trete ich beiseite und lasse sie in die Wohnung. Je länger ich über die Situation nachdenken konnte, desto schlimmer fand ich sie. Das Atelier ist mein Baby und die Tassen meine Leidenschaft und ich sehe aktuell keine Möglichkeit, den Job weiter betreiben zu können, wenn ich keinen Arbeitsplatz habe. »Es ist scheiße«, heule ich und lasse mich gegen Zoe fallen, die mich in den Arm nimmt und lächelt. Wahrscheinlich mache ich in ihren Augen viel zu viel Drama, weil ich schon jetzt den Teufel an die Wand male. Aber sie hat ja auch einen festen Arbeitsplatz an der Schule. Obwohl wir schon so lange befreundet sind und sie meinen Job und die damit verbundene Unsicherheit kennt, hundertprozentig nachvollziehen wird sie es nie können. Man muss den Weg gegangen sein, um ihn zu fühlen.
»Male nicht alles so schwarz«, sagt sie, schließt die Wohnungstür und zieht mich ins Wohnzimmer. »Komm, wir suchen mal online ein bisschen rum. Vielleicht siehst du nur den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
»Es gibt keine Bäume. London ist abgeholzt«, werfe ich miesepetrig ein und falle neben ihr auf die durchgesessene Couch.
»Ach, Quatsch, das glaube ich nicht. Es gibt immer eine Lösung. Wir werden was finden. Ich kann mich im Kollegium umhören, sicherlich kennt jemand irgendwen, der einen Raum zu vermieten hat. Bestimmt ist alles nur eine Frage von Connections.«
Woher meine Freundin diese positive Einstellung hat, wüsste ich gern. Ich wünschte, ich könnte die Situation genauso sehen. Aber über meinem Kopf schwebt noch immer diese dunkle Wolke. Und dadurch schaffe ich es binnen einer Stunde, Zoe mit meiner schlechten Laune anzustecken. Spätestens nachdem wir auf sämtlichen Immobilienportalen nach Räumen gesucht haben, die meinen Kriterien entsprechen, erkennt auch sie den Ernst der Lage.
»700 Pfund für zehn Quadratmeter? Sind die denn alle bekloppt?«, schimpft sie und schließt die Anzeigen, die wir in den vergangenen fünfundvierzig Minuten gefunden haben.
»Ich sage doch, London ist abgeholzt. Willst du ein Eis? Das hilft nicht, aber es beruhigt.«
»Ja, bitte, sonst kriege ich ’ne Meise. Das kann ja nicht wahr sein!«
Noch immer in meine Decke gewickelt, tappe ich in die Küche, nehme das Eis aus dem Gefrierfach und lasse mich dann wieder neben Zoe auf die Couch fallen.
Mit zwei kleinen Magnum sitzen wir ratlos im Wohnzimmer und starren auf die geöffnete Immobilienseite auf meinem Laptop.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist«, gibt Zoe zu und knabbert an der Schokolade. »Wenn das wirklich so schwer ist, musst du auf jeden Fall vorarbeiten, um deinen Onlineshop ein bisschen am Laufen zu halten. So kämst du ein wenig über die Runden, falls du eine Zeit ohne Werkstatt auskommen müsstest. Dann kannst du wenigstens noch Geld verdienen.«
Das ist eine gute Idee, auch wenn es das schlimmste Szenario überhaupt wäre. Eine Handwerkerin ohne Werkstatt ist wie ein Hipster ohne iPhone. Das geht nicht.
»Ja, wahrscheinlich werde ich das machen müssen, sonst sitze ich bald auf dem Trockenen.« Ich schiebe mir den Rest des Eises in den Mund und schlucke die Tränen hinunter, die mir wieder die Kehle zuschnüren. Ich kann jetzt hier rumsitzen, Eis essen und heulen – oder ich kann versuchen, das Beste aus meiner Situation zu machen.
Egal, wie hoffnungslos sie auch scheint.
»Du musst in jedem Fall die Werbung ein wenig ankurbeln, damit dein Onlineshop noch besser läuft. Wenn du es schaffst, dir dadurch eine gute Basis zu schaffen, beruhigt das sicherlich ein bisschen. Und du hast dann mehr Budget für ein neues Atelier, was hoffentlich wieder neue Türen öffnet«, schlägt Zoe vor und ich kann nur hoffen, dass sie recht hat.
Kapitel 2
»Wow, was haben Sie denn vor?«, fragt der Lieferant und wuchtet mehrere Packungen Ton aus seinem Transporter.
»Arbeiten. Viel arbeiten«, erkläre ich gut gelaunt und unterschreibe den Lieferschein auf dem Klemmbrett.
»Na, dann viel Erfolg dabei«, sagt er anerkennend, reckt den Daumen nach oben und klettert wieder in seinen Wagen.
Vor mir auf der Treppe zum Eingang des Gebäudes liegen fünfzehn Pakete Ton.
Gut, vielleicht habe ich ein wenig übertrieben, als ich die Bestellung aufgegeben habe, aber normalerweise verbrauche ich zwei Pakete pro Woche. Somit könnte ich einen Produktionsvorsprung von viereinhalb Monaten erreichen. Ob das genug ist, um die Zeit ohne Atelier zu überbrücken? Keine Ahnung. Einen Versuch ist es wert. Kurz zücke ich mein Handy, öffne den Instagram-Account von HollysCuteCups und filme eine Story.
»Zeit zum Arbeiten. Es steht eine ganze Menge auf dem Plan. Ich suche ein neues Studio. Kennt jemand einen Raum, den ich mieten könnte? Gerne circa zwanzig Quadratmeter mit Fenster und Tageslicht. London Peckham und Umgebung.«
Vielleicht meldet sich ja ein Follower und hat einen Tipp für mich, das wäre großartig. Für irgendwas muss Social Media ja gut sein. Nachdem ich das Handy wieder in der Tasche meiner Arbeitshose verstaut habe, packe ich das erste Paket und werfe es mir über die Schulter.
Während ich eine Ladung nach der anderen die Treppen hinaufschleppe, rechne ich im Kopf aus, wie viele Tassen ich daraus herstellen könnte. Dann überschlage ich den Lagerplatz, den es dafür benötigt. Und stelle fest, dass ich mir damit ein ziemliches Ei gelegt habe. Wo sollen denn über tausendzweihundert Tassen lagern, wenn ich kein Atelier mehr habe?
Zu Hause geht nicht. Obwohl ich dann eine Touristenattraktion aus meiner Wohnung machen könnte: Größte Tassensammlung Londons. Wenn ich dafür Eintritt verlange, würde das zumindest für kurze Zeit meine Miete tragen. Obwohl ich weiß, dass dieser Gedanke sinnlos ist, spinne ich ihn weiter, bis alle Pakete die Treppe hochgetragen und dort unter den Arbeitstisch gelagert sind.
Die Idee der Tassensammlung hat ein Gutes: Ich entwickele neue Designs, damit das Museum mehr Abwechslung bietet.
Da meine Ideen selten auf Papier, sondern direkt beim Töpfern entstehen, lege ich gleich los. Während nebenbei ein Hörbuch läuft, versuche ich, der Kreativität freien Lauf zu lassen und auszublenden, dass meine Tage hier gezählt sind.
Eine Tasse nach der anderen erhält auf der Töpferscheibe ihre Grundform und im Brennofen stehen die getrockneten Exemplare. Sobald der voll ist, werfe ich den Ofen für den ersten Schrühbrand an. Dadurch bekommt der Ton seine Festigkeit und danach kommt der beste Teil der Arbeit: das Bemalen. Obwohl ich den Job schon eine Weile mache, flashed es mich jedes Mal, dass die Farben in den Töpfchen anders aussehen als am Ende, wenn sie im Brennofen mit dem Material verschmolzen sind. Zoe bewundert mich immer dafür, dass meine Tassen farblich so gut zusammenpassen, obwohl ich eigentlich nie wissen kann, was dabei herauskommt. Tatsächlich sind die schrillsten Exemplare genau auf die Art und Weise entstanden, denn gerade am Anfang kannte ich mich damit nicht aus, habe blind in die Farbkiste gegriffen und daraus meinen Stil entwickelt, den meine Kunden so lieben. Hoffentlich kann ich weiterhin so kreativ sein und meinen Beruf ausüben. Das Töpfern hat mich meine Sorgen für einige Momente vergessen lassen, und doch brechen sie immer wieder wie Wellen über mir herein und verursachen mir Bauchschmerzen.
Am Abend stelle ich die letzten Tassen zum Trocknen in das Holzregal und wasche meine Schüsseln und Schwämmchen in dem kleinen Waschbecken in der Ecke aus. Mittlerweile dämmert es draußen und ich freue mich auf den Feierabend. Bevor ich das Licht ausschalte, werfe ich einen letzten Blick auf das Regal, das schon jetzt so vollgestellt ist, dass ich morgen ein Platzproblem habe. Ich muss dringend Stapelboxen kaufen, sonst versinke ich in den nächsten Tagen in Tassen.
Bevor ich den Heimweg antreten kann, verpacke ich die Onlinebestellungen, damit die Pakete morgen auf die Reise gehen können. Wie immer dauert das länger als geplant, weshalb ich meine Werkstatt wieder einmal später als geplant verlasse.
Auf dem Weg zum Bus ziehe ich das Handy aus der Tasche und rufe Zoe an, von der ich zwei verpasste Anrufe angezeigt bekomme.
»Hey, ich war bis eben im Atelier und habe getöpfert, was gibt’s?«
»Ich habe mich heute mit einem Kollegen über deine Situation unterhalten, er kennt wohl jemanden, der gerade einen Studioplatz zu vergeben hat. Ich habe deine Nummer weitergegeben und er meldet sich bei dir, wenn der aktuelle Interessent abspringen sollte«, berichtet Zoe begeistert.
Wie süß von ihr! Ich könnte vor Rührung weinen und kann nur hoffen, dass der Kontakt für mich zum Vorteil sein wird.
»Sag mir auf jeden Fall Bescheid, wenn er sich gemeldet hat und was dabei rauskam, ja?«
»Mach ich. Ich habe heut auf Instagram auch mal gefragt, ob jemand einen Tipp für mich hat. Vielleicht ergibt sich da auch was.«
»Das ist eine gute Idee. Für irgendwas müssen die Sozialen Medien ja gut sein. Ich drücke dir die Daumen, Holly.«
»Danke. Vielleicht wird das ja doch einfacher, als ich es mir gerade vorstelle. Ich melde mich auf jeden Fall, wenn sich was ergibt. Zoe, ich muss Schluss machen – der Bus kommt.« Weil ich ungern in öffentlichen Verkehrsmitteln telefoniere, beende ich das Gespräch rasch und steige in den stickigen Bus.
Unterwegs google ich weiter nach Studios, Künstlerwerkstätten und Ateliers, doch nach wie vor sind die Ergebnisse ernüchternd. Entweder horrend teuer, unfassbar weit weg oder zu groß. Ich glaube, auf die Onlinebörse kann ich nicht zählen. Vitamin B wird da wohl eher ein guter Weg sein. Also schreibe ich in meinen WhatsApp-Status eine kurze Meldung, dass ich ein Studio suche und für jeden Hinweis dankbar bin. Mehr kann ich nicht tun und das fühlt sich so verdammt hilflos an.
Normalerweise kann man immer was an einer Situation ändern oder sie zumindest in eine Richtung lenken, aber bei diesem Thema sind mir die Hände gebunden. Ich kann schließlich weder in meiner Wohnung töpfern, weil die kaum größer als mein Atelier ist, noch kann ich ein neues Atelier herzaubern.