Leseprobe Das kleine Bed & Breakfast der Träume

Kapitel 1

Bardowie, Schottland

„Whisky, mein lieber Bruder, ist mehr als flüssiges Gold. Es ist eine Lebensphilosophie, eine Kunst.“ Ich fuhr mir grinsend durch mein wild gelocktes Haar und sog den holzigen Duft der Fässer ein, in denen unser Whisky seit Jahren lagerte. Ed und ich befanden uns im Lagerraum neben der Destillerie, der einem Kellergewölbe ähnlich ist. Die Mauern waren robust, die Luftfeuchtigkeit und Temperatur konstant, und die Luftzirkulation einwandfrei – wichtig für den Reifungsprozess. Die Fässer waren ordentlich gestapelt, um den Platz sinnvoll zu nutzen. Seit ich denken konnte, vergötterte ich diesen Ort, auch wenn es die Frage aufwarf, ob es toxisch war, sein Herz an Whisky zu verlieren. Aber das hier war ein echter Familienschatz.

Schon als kleines Mädchen hatte ich mich heimlich in diesen Lagerraum geschlichen, wenn alle anderen beschäftigt waren. Ich hatte meine kleinen Hände auf das Holz gelegt und die Augen geschlossen, um die Geschichten zu erträumen, die jeder einzelne Tropfen erzählen könnte. Meine Mum hatte mich oft erwischt und mir schmunzelnd erklärt, wie wichtig die Lagerung und Pflege der Fässer seien. Diese Erlebnisse meiner Kindheit und Jugend hatten in mir eine unermessliche Leidenschaft für Whisky entfacht, die nie wieder erlosch.

Bis heute endete jeder Abend vor dem Laptop, wo ich klammheimlich die neuesten Berichte über Whiskyproduktion durchforstete. Fermentationstechniken, Destillationsmethoden, neue Rezepturen, aber auch Statistiken und Verkaufszahlen. Die Cloud in meinem Kopf war voll mit Ideen, Skizzen und Formeln, die ich ausprobieren wollte und Fakten, über die ich Infos sammelte. Ich war ganz und gar ein Workaholic.

Ed lachte und tätschelte mir freundschaftlich die Schulter. „Du hast schon immer eine besondere Beziehung zu diesem Ort gehabt. Erinnerst du dich noch, wie du mir in der Grundschule erzählt hast, dass du eines Tages die beste Whiskyfrau Schottlands werden würdest?“

Ich nickte kichernd. „Und das habe ich immer noch vor. Jeden Abend verbringe ich Stunden damit, nach Möglichkeiten zu suchen, unsere Methoden zu verbessern und neue Aromen zu kreieren.“

Er schüttelte den Kopf und ein verwegenes Grinsen huschte über seine Lippen.

„Debbie, du und deine Experimente. Hast du überhaupt irgendwann mal Zeit für etwas anderes?“

„Wenn es darum geht, den besten Whisky zu kreieren, ist keine Anstrengung zu groß.“

„Ich stimme dir zu, mit jedem Wort. Whisky ist ein Geschenk Gottes. Und schottischer Whisky ist ein Geschenk der Schotten an die Welt.“ Wir lachten, während wir die Fässer auf Lecks und Schäden prüften. Jede noch so kleine Delle konnte den Geschmack unseres Whiskys verändern – und unsere Eltern, Mathew und Ivy Gregory, duldeten keine mangelhafte Qualität. Die Destillerie namens Bruadarach, was „visionär” bedeutet, hatte sich einen guten Namen gemacht. Die Anlage lag an einem Flussufer, nicht weit von Glasgow entfernt. Meine Eltern stammten aus den schottischen Highlands. Als die Destillerie vor über 40 Jahren zum Verkauf angeboten wurde, schlugen sie zu, ohne Destillateure zu sein. Sie sehnten sich danach, etwas aufzubauen, das ihre eigene Zeit überdauern würde. Ein Lebenswerk. Die beiden liebten Whisky, was für Schotten beileibe nicht ungewöhnlich war, und so kam eines zum anderen, was ich sehr bewunderte. Mum stammte aus einer Bauernfamilie auf der Insel Skye, und Dad war Metzger aus Dundee. Ihre Wandlung faszinierte mich immer wieder. Sie gaben ihr altes Leben für einen gemeinsamen Traum auf, unwissend, ob sie es schaffen würden. Bereut hatten sie es nie. Ich strich gedankenverloren über eines der Fässer und fühlte das raue Holz unter meinen Fingerspitzen. „Dieses Fass ist in Ordnung“, murmelte ich. „Es fühlt sich fest und stabil an.“

„Ist es feucht?“, wollte Ed wissen. „Dad meinte, wir sollen darauf achten.“ Ich zuckte die Achseln. „Vielleicht minimal feucht“, erwiderte ich. „Ich werde es aber auf jeden Fall notieren und weitergeben, je früher wir schwarze Schafe aufspüren, desto besser, oder?“

Ed nickte. Er war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem sympathischen Lächeln, das seine Augen zum Leuchten brachte. Sein rötliches Haar war meist leicht zerzaust, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen und er hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase. „Du wärst eine gute Destillateurin, Debbie“, bemerkte mein Zwillingsbruder stolz. Damit hatte er natürlich recht. Ich lebte für diese Passion sowie das damit verbundene Handwerk und Lebensgefühl, welches die Freude an der Arbeit in mir auslösten. Doch auch wenn ich überzeugt davon war, einen guten Job zu machen, so hatte alles im Leben seine Schattenseiten. Mit zusammengepressten Lippen dachte ich an eine Aktion zurück, die noch nicht allzu lange her war und mich beinahe den Job gekostet hätte. Ich half an besagtem Tag meinem Bruder mit der Gerste, als dieser einen Anruf bekam und ganz plötzlich wegen eines Wasserschadens zu seiner Wohnung musste. Wenig später holperte und polterte die Anlage und ich ahnte, dass sie die gesamte Produktion stilllegen würde, wenn ich nicht sofort handelte. Ich hätte abwarten, oder zumindest Michael, der im Nebengebäude war, um Hilfe bitten sollen. Aber das schreckliche Geräusch, knirschend und absolut nichts Gutes verheißend, zwang mich regelrecht dazu, auf eigene Faust zu handeln. Ich dachte, mich auszukennen, schließlich hatte ich bei Michael und Ed dutzende Male zugesehen. Vor meinem inneren Auge malte ich mir bereits aus, wie ich die Anlage im Alleingang wuppen und als Dank und Anerkennung einen festen Job in der Produktion – und weg vom Papierkram – ergattern würde, während ich dort herumschraubte und diverse Knöpfe drückte … ein fataler Fehler! Ich hatte nämlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte und richtete dadurch nur noch mehr Schaden an. Scheinbar hatte ich wichtige Verbindungen gekappt, die sich nicht mehr herstellen ließen. Es war ein Fiasko.

Ed, mit dem mich eine Art Telepathie verband, die nur wir beide verstanden, schien mal wieder meine Gedanken zu lesen und holte mich in die Gegenwart zurück: „Aber nach der Sache mit der Anlage hege ich meine Zweifel, dass man dich im Augenblick dort gerne sieht.“ Ich schnaubte. Die Anlage … eine Angelegenheit, die ich lieber wieder verdrängte. Denn in der Tat war ich die geborene Whiskyfrau. Wenn dieser Begriff kein Berufstitel war, konnte ich nur hoffen, dass er eines Tages maßgebend für alle Frauen sein würde, die diesen Beruf ausüben wollten. Ich hatte das Gespür, den richtigen Riecher und das notwendige Geschick, mich eine Kennerin und somit eine Whiskyfrau zu nennen. Das Destillieren war bis heute eine Männerdomäne, doch den Kerlen stand ich in nichts nach.

„Ich kann das echt nicht mehr hören,“ sagte ich schließlich. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber ich habe daraus gelernt. Ich liebe die Produktion, und ich bin mir sicher, dass ich dorthin gehöre.“

„Ich weiß, Debbie.“

Während ich bei einem der Fässer eine Geruchsprobe durchführte, entnahm Ed ein paar Reihen weiter Geschmacksproben und übertrieb es dabei mal wieder. Er hatte ein Faible für Whisky und trank lieber zu viel als zu wenig. Aber wer konnte es ihm verübeln? Es war unsere Passion. Wir hatten das Aroma quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Während Ed von einem Fass zum nächsten tingelte, konzentrierte ich mich auf den intensiven Geruch unseres Hauswhiskys, der in den Fässern seit elf Jahren reifte und bald in Flaschen abgefüllt würde. Der Duft war warm und erdig. Leichte Rauchnoten vermischten sich mit gesägtem Holz, dann folgten Muskatnuss und Nelke. Ich hielt inne. Da waren noch mehr Aromen: süße Äpfel, fruchtige Birnen und ein Hauch Lavendel. Das Lavendelaroma, für das unser Whisky bekannt war, zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich schnupperte weiter und vernahm Honig, Vanille und Karamell. Obwohl unser Whisky vollkommen war, ließ mich der Gedanke nicht los, dass noch mehr möglich wäre.

„Und? Bist du zufrieden, Ed?“, fragte ich und sah über die Schulter. Er bejahte und grinste schief. Das gedimmte Licht des Lagerhauses ließ sein rötliches Haar sanft schimmern. Ed war mehr als nur mein Bruder. Er war mein Seelenverwandter. Ich liebte ihn, wie man nur seine Geschwister lieben konnte.

„Hmm, … ich habe noch einige Fässer vor mir. Wie sieht es bei dir aus? Kannst du überhaupt noch etwas verkosten? Du wackelst ja jetzt schon wie ein Kuhschwanz“, scherzte ich.

„Vergiss bitte eines nicht, Schwesterherz – ich bin ein echter Schotte. Und echte Schotten trinken nie zu viel Whisky.“

„Aye, das würde ich nie vergessen.“

 

Später am Abend trafen wir uns zum Teammeeting im Büro meines Dads – eine Tradition vor Feierabend. An diesem Donnerstag waren neben meinen Eltern und Ed auch Michael, ein langjähriger Angestellter, anwesend. Wir zwei verstanden uns prima und waren auf derselben Wellenlänge.

In den Meetings ging es stets um die Themen Tagesrückblick, Qualitätskontrolle und Sicherheit. Diese Aspekte waren notwendig, aber gähnend langweilig. In zweiter Linie brach meistens ein Streit zwischen meinen Eltern und mir aus – zur Belustigung von Michael und Ed, die es mochten, dass ich meine eigene Meinung vertrat. Doch sie ergriffen nie das Wort für mich.

„Wie oft wollt ihr das noch durchkauen?“, fragte ich und versuchte, nett zu klingen, was mir jedoch nicht gelang. „Jeden Tag die gleichen Dinge zu besprechen ist doch sinnlos.“

„So läuft das nun mal in einem Unternehmen, Debbie. Wir stehen für gleichbleibende Qualität, ohne Überraschungen …“ Da war mein Stichwort!

„Ihr steht dafür ein, das verstehe ich. Aber was spricht gegen neue Geschmacksrichtungen, Führungen, eine Revolution?“

„Geht diese Diskussion schon wieder los?“ Mum verdrehte die Augen und ihr streng gebundener Pferdeschwanz unterstrich ihre abwehrende Haltung. Sie hatte grüne Augen, schmale Lippen und eine hohe Stirn.

„Ehrlich, ich verstehe euer Problem nicht …“

„Debbie!“, unterbrach mich mein Dad harsch. „Keine Diskussionen! Wir machen nicht bei Trends mit, nur weil halb Schottland plötzlich Sirup in Whiskys kippt. Wir stehen für echte Qualität. Wenn du eines Tages Destillateurin sein möchtest, solltest du das verinnerlichen! Keine Experimente!“

„Halb Schottland? Sirup? Du hast ja keine Ahnung, Dad. Du hörst mir nicht mal zu! Das ist keine Schnapsidee. Das ist eine Revolution. Wir müssen mit der Zeit gehen. Es geht mir nicht darum, das Sortiment zu verändern, sondern es zu erweitern.“

„Es reicht!“ Dad schrie mich nun an, weil ich mal wieder meine Meinung vertrat, und Mum lächelte freundlich, als wäre nichts geschehen. Zwischen meinem Vater und mir gab es in letzter Zeit immer häufiger Reibereien. Wir stritten uns auf Teufel komm raus, oftmals wegen Nichtigkeiten. Inzwischen brauchte es nicht mehr viel, um ihn auf die Palme zu bringen. Vielleicht war ich nicht gerade nachgiebig, aber ich war es leid, wie abwertend sie meiner Meinung gegenüberstanden. Ich hatte nichts gegen Traditionen, es war schließlich ihr Betrieb. Aber was sprach gegen eine Anpassung an den Zeitgeist? Michael blinzelte mir friedfertig zu.

„Nun, kommen wir zurück zum Thema. Unsere Sicherheitsstandards übertreffen …“ Als Dad anfing, von Sicherheit zu predigen, schalteten meine Ohren auf Durchzug. Es war ja doch immer wieder dieselbe Leier. Und wie er da so stand, mit einer gewissen Eleganz, dem grauen Bart und den kräftigen Schultern, nahm ich ihm seine Einstellung zum Einhalten alter Traditionen zwar ab, doch es ärgerte mich, wie verbissen er war. Und genau das strahlte er auch aus. Stocksteif lehnte er an seinem Schreibtisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Und der war mal Metzger? Und Mum? Sie lauschte jedem seiner Worte wie ein kleiner Hund. Wir waren grundverschieden, bis auf die Hände und die weichen Gesichtszüge, die sie mir vererbt hatte.

Es dauerte noch etwa dreißig Minuten, bis meine Eltern das Büro verließen. Zurück blieben Ed, Michael und ich. Die Jungs sahen mir an, dass ich nicht zu Scherzen aufgelegt war, weshalb jeder stoisch seine Arbeit verrichtete, ohne mich anzusprechen. Trotz Feierabend waren wir oft noch stundenlang im Büro beschäftigt. Personalmangel. Ed sortierte müde Etiketten, Michael warf einen Blick auf die Bestellungen, und ich saß auf dem Beistelltisch vor der Ledercouch, beobachtete die Jungs und fragte mich, wie lange ich es hier noch aushalten würde. Wie könnte ich meinen Wunsch, Whiskyfrau zu werden, weiterverfolgen, wenn ich mich nicht einbringen durfte? Ich hatte meine Lehre zur Buchhalterin abgeschlossen, aber inzwischen war ich 22 Jahre alt und eine erwachsene Frau! Ganz abgesehen davon nervte die schlechte Stimmung. Ich hätte nur zu gerne erfahren, was in Dad vor sich ging.

Das Büro der Destillerie mochte ich. Die massiven Eichenmöbel, die meine Eltern mit dem Kauf übernommen hatten, waren altmodisch, aber sie spiegelten die Geschichte des Unternehmens wider. Ein massiver Schreibtisch stand im Mittelpunkt des Raumes, übersät mit Unterlagen, dahinter ein protziger Chefsessel – der Platz meines Dads. Ich sah mich nicht an diesem Tisch sitzen. Obwohl ich meinen Job in der Destillerie liebte, der eine Mischung aus Büroarbeiten und Whiskyfrau war, hatte ich kein Interesse daran, die Firma eines Tages weiterzuführen. Ed würde das bestimmt ganz wunderbar machen.

Vielleicht sollte ich aufhören, meine Ideen einzubringen, wenn es sowieso aussichtslos war, etwas zu bewirken. Ich dachte hin und wieder daran, den Job zu wechseln – niemand konnte mich zwingen, hierzubleiben. Aber dieser Gedanke fühlte sich wie Verrat an. Von Anfang an war ich involviert. Mein halbes Leben hatte ich in der Destillerie verbracht, hegte zahlreiche Erinnerungen und Erfahrungen. Und auch, wenn meine Eltern die Tonangebenden waren, so war es keine Frage, dass dieses Gebäude zu mir gehörte, wie das Salz ins Meer. Ich stand zwischen den Stühlen. Wie würde mein Weg aussehen? Meinen Kindheitstraum, Floristin zu werden, hatte ich längst begraben. Aber die Erinnerung daran zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Obwohl ich ein rauer Typ war, konnte ich gut mit Blumen umgehen, hübsche Gestecke binden und auf diese Weise meiner Fantasie freien Lauf lassen. Das wusste ich, weil ich mich oft darin versucht hatte.

„Ich gehe jetzt nach Hause“, sagte ich mit Blick auf meine Smartwatch, die 22:13 Uhr anzeigte.

„Ähm … soll ich dich vielleicht nach draußen begleiten?“, fragte Michael und lächelte zaghaft. „Ich bin für heute auch fertig“, fügte er rasch hinzu.

Stumm hob ich die Schultern. Warum nicht? Er war zwar ein paar Jahre älter als ich, aber wir verstanden uns sehr gut und begegneten uns auf Augenhöhe. Er hatte diese natürliche, sympathische Art, die es einfach machte, ihn zu mögen. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob da mehr zwischen uns war. Ein Kribbeln im Bauch, ein Funkenflug, wenn wir uns ansahen. Eine gewisse Sommernacht im Vorjahr bestärkte meine Vermutung. Aber ich würde ihn wahrscheinlich nie daten. Ich hätte Angst, unsere Freundschaft zu riskieren.

Michaels Haar war für einen Schotten ziemlich dunkel. Er trug es verwuschelt, was ihm schmeichelte. Seine grünen Augen zogen mich in ihren Bann, weshalb ich Augenkontakt mied, um mich nicht darin zu verlieren. Noch nicht einmal mein Cousin Charlie aus Cornwall hatte eine solche Augenfarbe, und dieser war bekannt dafür, den Ladys weiche Knie zu bescheren. Und obwohl sogar Ed meinte, dass zwischen Michael und mir ein unsichtbares Band bestand, war ich nicht daran interessiert, unsere Freundschaft wegen einer Beziehung aufs Spiel zu setzen. Never. Abgesehen davon waren nicht genug Gefühle vorhanden, außer vielleicht Bewunderung und Hochachtung für seine Arbeit. Kollegial eben. Ich streckte mich ausgiebig, ehe ich meine Sachen packte und mich von meinem Bruder verabschiedete.

„Okay, dann bis morgen, Ed. Mach nicht mehr so lang, aye?“ Er nickte abwesend. Wahrscheinlich würde Ed wieder auf seinem Feldbett im Büro übernachten und noch bis spät in die Nacht arbeiten. Draußen war es bis auf die Notbeleuchtung stockdunkel. Ich konnte lediglich Michaels Umrisse wahrnehmen, dafür hörte ich seinen sanften Atem und roch sein Deo, eine Mischung aus Wald und Gletschereis, die mich irgendwie beruhigte.

„Ich finde es mutig, wie du deine Meinung vertrittst, Debbie. Immer und immer wieder.“

„Dann kannst du dich ja künftig dafür einsetzen, dass meine Ideen endlich umgesetzt werden.“ Ohne sein Gesicht zu sehen, wusste ich, dass er lächelte.

„Du weißt doch, dass ich mich ungern einmische. Ich arbeite schon so lange für deine Eltern …“

„Du traust dich nur nicht, eine Meinung zu haben, weil du Angst hast, sie könnten dich genauso angehen wie mich, stimmts?“, beendete ich seinen Satz.

„Hmm … aber das alleine ist es nicht. Ich werde anständig bezahlt, und es gehört nicht zu meinen Aufgaben, meine Chefs infrage zu stellen. Das gibt nur Ärger.“

„Du bist also ihr Fähnchen im Wind?“ Ich grinste.

„Nein, Debbie. Ich bin ihr Angestellter. Und als solcher halte ich mich aus gewissen Dingen raus. Auch wenn ich mich gerne einmischen würde. Ich finde deine Ideen nämlich inspirierend.“ Wir kamen am Parkplatz vor unseren Autos zum Stehen.

„Hast wahrscheinlich recht. Es wäre nur schön, wenn jemand hinter mir stehen würde. Von Ed brauche ich das nicht zu erwarten. Er mag es zwar, dass ich sage, was ich denke, aber in dieser Sache kommt er ganz nach meinem Dad.“

„Ich stehe hinter dir, Debbie. Immer. Wahrscheinlich könnte ich mich sogar für dich einsetzen, ohne Angst zu haben, den Job zu verlieren. Aber ich bin nicht in der Position, mich aufzuspielen. Versteh das nicht falsch, okay?“ Ich sah seine weißen Zähne im Scheinwerferlicht aufblitzen, als ich meinen Wagen öffnete.

„Ohne dich wäre der Laden aufgeschmissen. Sie kündigen dich nie im Leben.“ Ich räusperte mich. „Aber du hast recht. Das ist mein Ding, und du musst dich nicht auf meine Seite stellen. Ich schaff das schon.“

„Sicher, dass es nicht zwischen uns steht?“

„Na klar“, murmelte ich.

„Und darum bitte ich dich – bleib so, wie du bist. Denn genau das mag ich an dir, Deborah Gregory.“ Danke für das Kompliment. Aber vermutlich waren es genau diese Eigenschaften, die mich immer wieder in Schwierigkeiten brachten.

Kapitel 2

St. Ives, Cornwall, 2010

Cornwall, an der südwestlichen Spitze Englands, war eine Region von beeindruckender Schönheit. Die dramatischen Klippen, die aus dem Atlantik aufstiegen und von rauschenden Wellen umspült wurden, waren ebenso sehenswert wie die Sandstrände, eingebettet in felsigen Buchten. Doch es war nicht nur die Küste, in die ich mich in jungen Jahren schockverliebt hatte. Der Stiefbruder meines Dads, Gilbert O’Sullvian, bewohnte mit seiner Familie ein edles Anwesen auf einem Hügel nahe der Stadt. Das Herrenhaus war einst Teil seines Erbes gewesen und in St. Ives einzigartig. Dieses Gebäude war bei jedem Cornwall-Besuch mein Höhepunkt, was nicht zuletzt an seinen Bewohnern lag. Obwohl es der Familie O’Sullivan an nichts fehlte, waren sie bodenständige Menschen geblieben, was ich schätzte. Gilbert plante, einen Laden in St. Ives zu eröffnen, der sich auf Handarbeiten aus angeschwemmtem Treibgut spezialisieren sollte. Die Idee, Müll weiterzuverwenden, fand ich interessant. Aber ob sich das je umsetzen ließ?

„Willkommen, Willkommen. Wir hoffen, ihr hattet eine gute Anreise …“, flötete Onkel Gilbert bei unserer Ankunft überschwänglich. Während meine Eltern gemeinsam mit Ed das Herrenhaus betraten und sich von den O’Sullivans kulinarisch verwöhnen ließen, wollte ich lieber draußen mit meinem Cousin Charlie spielen. Wir verstanden uns blendend. Er hatte es nämlich, ebenso wie ich, faustdick hinter den Ohren und war ein echter Lausbub. Die Sonne hing tief am Horizont, als Charlie und ich uns in einer versteckten Ecke des Gartens trafen, weit weg von den wachsamen Augen unserer Eltern. Unsere Geheimtreffen waren mittlerweile eine liebgewonnene Tradition geworden, jedes Mal mit einem Plan oder einem weiteren Streich, der nur darauf wartete, von uns ausgeführt zu werden.

„Weißt du, was wir brauchen, Debbie? Einen Geheimcode!“, schlug Charlie euphorisch vor. „Für den Fall, dass wir uns schnell verständigen müssen, ohne dass die Großen uns verstehen.“

Ich nickte begeistert. Die Idee eines Geheimcodes klang aufregend. „Und vielleicht auch ein Versteck“, fügte ich hinzu, „ein richtiges Hauptquartier für unsere Operationen.“

Charlie kicherte. „Operationen klingt so topsecret. Ich mag’s! Wir könnten vielleicht den alten Schuppen hinter dem Haus nutzen. Niemand geht dort hin.“

Wir sammelten Decken und einige Kisten, die wir als Tische und Stühle benutzen konnten. In unserer Zuflucht, die nur von Spinnweben und dem gelegentlichen Besuch einer Katze gestört wurde, fühlten wir uns wie die Anführer einer geheimen Welt. „Okay, unser erstes großes Ziel“, flüsterte Charlie, als wir uns auf unseren provisorischen Möbeln niederließen, „wir müssen die Mauer hinter dem Haus erkunden. Es gibt Gerüchte über versteckte Gänge und wertvolle Schätze.“ Seine Worte ließen mein Herz schneller schlagen.

„Schätze?“, hauchte ich, mein Geist gefangen von Bildern glitzernder Münzen und Artefakte. „Obwohl es Onkel Gilbert verboten hat?“

Charlie nickte eifrig. „Genau das macht es doch so spannend. Sie ist alt und gefährlich, sagen die Erwachsenen. Doch ich sage, sie steckt voller Geheimnisse und Möglichkeiten.“

„Du hast recht“, flüsterte ich zurück. „Wir müssen herausfinden, wo der Schatz versteckt ist.“ Unsere Verschwörung wurde mit einem Handschlag und Spucke besiegelt, was unser gegenseitiges Vertrauen bekräftigte. Jeder von uns beiden wusste, dass wir auf den anderen zählen konnten, egal was passieren würde. „Wollen wir sofort los?“, fragte mich der Wuschelkopf mit den grünen Augen. Er war einen Kopf größer als ich, aber das bedeutete nicht, dass er mir intellektuell überlegen war. Wir beide waren das sogenannte „Duo infernale“ und für unsere Eltern ein wahrlich gefürchtetes Gespann, das für Unfug und Ärger stand. Das lag daran, dass wir am liebsten gegen jede uns auferlegte Regel verstießen. Denn wenn etwas verboten wurde, zog es Charlie und mich wie magnetisch an und wir wollten es erst recht ausprobieren. Verboten war auch die Steinmauer hinter dem Anwesen der O’Sullivans, welche bestimmt Unmengen von Schätzen verbarg. Die Mauer war wahrscheinlich noch älter als das Anwesen selbst, aber längst nicht so intakt und instandgehalten. Einige der Steine waren lose und wackelten wie Milchzähne. Moos und anderes glitschiges Gewächs wucherten wie eine Decke über den hohen Steinwall und verliehen ihm eine mystische Aura. Und wer wären Charlie und ich gewesen, wenn wir nicht darauf herumgeklettert wären? Das hatten wir natürlich zuvor schon einige Male getan und wir ließen uns auch an diesem Tag, dem Tag der Schatzsuche, nicht davon abhalten. „Aye, ab zur Mauer!“, entgegnete ich kühn und ehe ich mich versah, rannten wir schon hinter das Haus und kamen keuchend vor der Steinwand, die mich um mindestens zwei Meter überragte, zum Stehen. Es war ein Anblick, der uns einen Nervenkitzel bescherte. Mit aufgeregten Augen und pochenden Herzen blickten wir auf das alte Gestein, das ein Wäldchen hinter sich verbarg. Ob dort der Schatz vergraben lag? Die Erde unter meinen Füßen und der Geruch des Mooses vermittelten mir ein Gefühl von einem Abenteuer, das laut rufend nach mir verlangte. „Bist du bereit?“ Noch während er mich das fragte, erklomm Charlie mutig die ersten Steine. Ich nickte eifrig. „Es ist verdammt rutschig, pass auf“, hörte ich ihn ächzen, doch das hielt mich nicht davon ab, ihm schnellstmöglich zu folgen. Mein 8-jähriges Ich war einfach viel zu neugierig gewesen. Das feuchte Moos unter meinen Händen machte es schwierig, Halt zu finden, weshalb ich meine Finger tief hineinkrallen musste, um nicht zu fallen. „Du hast es gleich geschafft“, ermutigte mich Charlie, der mit überkreuzten Beinen lässig auf der Mauer saß. Ich hangelte mich geschickt zu ihm nach oben und zog mich – völlig aus der Puste – das letzte Stück hoch. Dort angekommen gaben wir uns grinsend ein High five. Der Ausblick von der Mauer war fantastisch. Wir sahen nicht nur das Wäldchen hinter und die Rückwand des Hauses vor uns, sondern auch St. Ives und in der Ferne sogar das Meer. „Ich bin oft hier oben. Es ist mein absoluter Lieblingsort.“ Charlie hob die Beine an und machte sich auf der Mauer lang. Sein Blick galt den Baumkronen auf der anderen Seite. Was er wohl schon wieder ausheckte? Ob er eine Ahnung hatte, wo der Schatz vergraben lag?

„Ich weiß. Aber nach dem Schatz hast du noch nie gesucht?“ Er schüttelte den Kopf. Vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich meinen Onkel toben, als er uns im Vorjahr auf der Mauer sitzen sah, die angeblich viel zu unsicher und deshalb lebensgefährlich war. Wir mussten ihm versprechen, nicht mehr hinaufzuklettern, aber die Sache mit dem Schatz hatte unsere Meinung geändert. „Dad meinte, wenn er mich nur noch ein einziges Mal hier oben sieht, sorgt er dafür, dass die Mauer wegkommt. Es ist aber bestimmt nicht so einfach, wie er sich das vorstellt. Denkmalschutz und so.“

Ich legte den Kopf schief. „Denkmal, was?“

„Ach, vergiss es, Debbie-Baby.“

„Ich bin kein Baby!“ Ich schmollte. „Ich bin schon 8!“

„Na und? Ich bin 11. Du weißt ja nicht mal, was Denkmalschutz bedeutet.“

„Tzz“, murrte ich und ohne weiter nachzudenken, boxte ich Charlie in die Seite. Dann geschah etwas, das ich nicht beabsichtigt hatte. Er versuchte zwar, das Gleichgewicht zu halten, doch es war zu spät. Charlie stürzte von der Mauer und purzelte in das dichte Gestrüpp unterhalb der Steine, das direkt an eine Baumgruppe grenzte. Zum Glück landete er einigermaßen weich, trotzdem brach er sich ein Bein. Einen Schatz fanden wir an diesem Tag nicht, dafür musste Charlie nach dem Sturz stationär ins Krankenhaus und sogar operiert werden. Dass es anschließend eine Menge Ärger gab, erklärt sich von allein. Ich pflückte ihm als Entschuldigung einige Tage später ein paar Blumen, die ich in irgendeinem Vorgarten fand. Es handelte sich um Kamelien, Margeriten, Lupinen und Fuchsien, wie ich im Nachhinein von meiner Mum erfuhr, während sie mich lautstark ausschimpfte und verbittert darauf hinwies, dass ich die Blumen unerlaubt aus einem fremden Garten gerupft hatte. All das blieb mir lebhaft in Erinnerung, denn an diesem Tag band ich meinen ersten Strauß und spürte tief in meinem Herzen, dass ich nicht nur Talent, sondern Leidenschaft dafür hatte. Ich weiß noch, dass ich mich damals fragte, ob ich jemals eine Blumenfrau werden würde. Mit dem Alter wurde mir klar, dass es eigentlich „Floristin“ heißt, aber wie hübsch ist bitte die Bezeichnung Blumenfrau? Ich konnte ja nicht ahnen, dass aus der kleinen Blumenliebhaberin einmal eine Whiskyfrau werden würde … oder aber nicht einmal das.