Kapitel 1
Thea
Wer zur Hölle war der Erste, der Seegras gesehen und sich dabei gedacht hatte ›Oh, das sieht aber lecker aus‹? Denn ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, was an schleimigen grünen Algen appetitlich sein sollte.
Es war nicht so, dass ich kein großer Fan von Meeresfrüchten war. Im Gegenteil, ich liebte Garnelen und Tintenfisch. Meine beste Freundin Elena war diejenige, die sich weigerte, sämtliche Schalentiere auch nur anzufassen. Sie hasste es, wie sie aussahen, wie sie rochen und allein die Vorstellung, sie zu essen. Mir war das alles egal. Aber dieses Grünzeug …
»Warum müsst ihr nur so … schleimig sein?«, fragte ich niemand Bestimmten, während ich vorsichtig ein paar davon aus ihrem Wasserbad holte und zum Abtropfen in ein Sieb tat. Der penetrante Geruch nach Meerwasser hätte nett sein können – wenn er nicht von dem Essen gekommen wäre, das ich in ein paar Minuten würde herunterwürgen müssen. Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen trocknete ich den Rest der eingeweichten Algen. Erst dann warf ich einen Blick auf die Uhr über dem breiten Kücheneingang und runzelte die Stirn.
Marc war spät dran.
Normalerweise kam er jeden Tag pünktlich um 12:30 Uhr nach Hause, um seine Mittagspause mit mir zu verbringen. Zumindest hatte er das in den letzten sechs Wochen getan. Das war schließlich der Grund, warum ich gerade in meiner Küche stand und Suppe mit schleimigen Algen zubereitete, anstatt etwas zu essen zu holen, das weder grün noch gesund war und auch nicht so roch, als hätte es ein Fischkutter gerade auf meinen Teller geladen.
Ich war leicht zufriedenzustellen. Ich mochte Pizza. Wenn es dann noch Extrakäse und ein paar scharfe Chiliflocken oben drauf gab, dann war ich wirklich glücklich.
Oh, und eine Diät-Cola. Oder zwei. Oder vielleicht drei.
Okay, vielleicht war ich also nicht gerade ein Vorbild für gesunde Ernährung, aber wer könnte es mir verübeln? In meiner Branche zählte jede Minute. Ich arbeitete mindestens sechs Tage die Woche, rannte quer durch die Stadt und erfüllte Aufträge, von denen einer seltsamer als der andere war.
Diese Begonien müssen genau denselben Blauton wie die Papiertaschentücher haben!
Der Kuchen muss glutenfrei, laktosefrei und vegan sein. Und vergiss bloß die zusätzliche Schokoladenglasur oben drauf nicht!
Mein perfektes Kleid muss sich anpassen können. Es soll lang für die Zeremonie sein, mittellang für die Fotos und kurz zum Tanzen!
Hach, ja. Und all das im Namen der Liebe.
Oh, ich vergötterte meinen Job. Ich wollte mir mein Leben gar nicht ohne ihn vorstellen. Und ich liebte Hochzeiten. Bräute allerdings … nicht ganz so sehr. Für die Arbeit mit Bridezillas brauchte ein Mädchen nun mal seine Kohlenhydrate, oder? Das war nachvollziehbar. Zumindest für die meisten Menschen. Für Marc … nicht ganz so. Schon bei unserem allerersten Date hatte er mich angesehen, als hätte ich ein Eichhörnchen ermordet, als ich mich für ein Steak mit Pommes anstatt für einen Salat entschieden hatte. Für jeden anderen wäre das wohl eine typische Red Flag gewesen. Aber für mich war es okay. Marc war es wert gewesen.
In dem Moment, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich sofort eine Verbindung zu ihm gespürt. Etwas in mir hatte Klick gemacht, und ich wusste, dass er der Mann war, auf den ich gewartet hatte. Anders konnte es doch nicht sein, oder? Nach zwei Fehlschlägen allein in diesem Jahr musste er der Mann sein, der es wert gewesen war, das durchzumachen. Gut, das hatte ich bei meinen anderen Beziehungen auch gedacht. Ich war nicht gerade ein Beziehungsprofi, und das war offensichtlich. Meine Erfolgsbilanz war mies.
Aber ich mochte ihn wirklich. Marc war gut aussehend und erfolgreich. Und er schien mich auch zu mögen, sonst hätte er mich schließlich nicht um ein zweites Date gebeten.
Und jetzt waren wir sechs Wochen zusammen, und es lief super. Zumindest, wenn er nicht zu spät kam. Noch einmal sah ich auf die Uhr, aber die Zeit hatte sich nicht auf magische Weise zurückgedreht. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und runzelte die Stirn, als ich eine Nachricht von Marc bemerkte, die nur wenige Minuten zuvor eingetroffen war. Warum hatte er nicht einfach angerufen? Stattdessen hatte er eine Sprachnachricht geschickt. Der Fluch der modernen Technologie, wenn man mich fragte.
Meine Finger zitterten leicht, als ich die Play-Taste drückte.
»Hey, Thea!« Seine Stimme klang atemlos und irgendwie … ausgelassen? »Ich wollte dir nur sagen – sei still, Babe, lass mich das hier nur schnell fertig machen.«
Babe? Eine dunkle Vorahnung schnürte mir die Luft ab, und das Atmen fiel mir immer schwerer. Ein weibliches Kichern im Hintergrund verstärkte das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. »Weißt du, die letzten sechs Wochen waren wirklich schön, aber –«
»Mach schon, Marc«, unterbrach ihn die weibliche Stimme in einem jammernden Tonfall. »Willst du dir nicht dein Dessert holen?«
Übelkeit stieg in mir auf, als ich langsam zu begreifen begann, was hier passierte. »Nun, weißt du, es hat Spaß gemacht, oder?«, fuhr Marc fort und sprach plötzlich viel schneller. Es war eindeutig, dass er es eilig hatte.
»Maaarc«, klagte die Frau erneut, und am liebsten hätte ich mein Handy gegen die Wand geworfen, nur um sie zum Schweigen zu bringen.
»Aber weißt du, die Sache ist –«
»Schatz, das Eis schmilzt«, mischte sich die Frau aus dem Hintergrund wieder ein, und mit jeder Sekunde wollte ich diese Nachricht weniger zu Ende anhören. Aber ich musste. Ich brauchte die Gewissheit, dass er gleich das sagen würde, was ich befürchtete.
»Fuck, okay, ich komme gleich.«
»Beeil dich!«
»Okay, okay. Wie auch immer, weißt du, wir hatten Spaß und alles, aber, Thea … Die Sache ist die, du bist nicht wirklich das, wonach ich suche, weißt du? Aber hey, es war nett. Und wir sehen uns doch, oder? Ich meine, wir sind Nachbarn und so. Nur, na ja, nicht mehr als das, weißt du? Also, ja. Das wollte ich nur kurz loswerden. Wir sehen uns! Ich komme, Babe!«
Damit endete die Sprachnotiz und ließ mich fassungslos zurück.
Was. Zur. Hölle?
Ich starrte die Suppe an, als wäre sie an allem schuld, und war nahe dran, sie gegen die Wand zu werfen.
Diese blöde, schleimige, grüne Algensuppe.
Dieser heuchlerische, betrügerische, nichtsnutzige Hurensohn!
Eine Träne lief mir über die Wange, und ich wischte sie wütend weg. Wie konnte ich ihm hinterherweinen? Er verdiente meine Tränen nicht. Weder meine Tränen noch meine Zeit noch diese verdammte Algensuppe.
Das änderte jedoch nichts an dem Gefühl, als wäre mein Herz zum wiederholten Male in seine Einzelteile zersprungen. Hatte ich Anzeichen übersehen und mich einfach wieder kopfüber in etwas gestürzt, das ja doch nie eine Zukunft gehabt hatte?
Mit einem Knurren nahm ich die Schüssel und leerte den Inhalt, ohne nachzudenken, in der Spüle aus. Die grüne Suppe vermischte sich mit dem schmutzigen Geschirr, das ich seit Tagen abwaschen wollte, und bildete eine ekelhaft schleimige Masse.
Genau wie mein verdammtes Leben.
Ich ließ mich auf den Küchenstuhl sinken und versuchte, die Schluchzer in Schach zu halten, aber ich hatte keine Chance. Meine Schultern zitterten vor Anstrengung, während ich heulte wie ein Schlosshund.
Er hatte recht. Die letzten sechs Wochen hatten Spaß gemacht. Wir hatten eine tolle Zeit gehabt. Und wie immer hatte sich mein Kopf in Millionen Was-wäre-wenn-Szenarien verstrickt.
Was, wenn er der Eine war?
Was, wenn das hier der Jackpot war?
Was, wenn ich endlich den Mann gefunden hätte, auf den ich immer gehofft hatte?
Ich hätte es besser wissen müssen. Natürlich hätte ich es besser wissen müssen. Aber mein Herz war schon immer zu optimistisch gewesen. Wie auch nicht? Die Liebe war buchstäblich mein Job.
Es spielte keine Rolle.
Nichts davon spielte eine Rolle.
Es spielte keine Rolle, dass er sich ein wenig über mich und meine Ernährung geärgert hatte.
Es spielte keine Rolle, dass seine Stimme manchmal ein wenig herablassend geworden war, auch wenn es nie genug gewesen war, um mich wirklich zu treffen.
Es spielte keine Rolle, dass ich den ganzen Tag zuvor überhaupt nichts von ihm gehört hatte und seine Ausrede gewesen war, dass er bei einem Meeting war.
Es spielte keine Rolle. Jetzt nicht. Nicht mehr.
Nicht jetzt, da ich wusste, was wirklich los war. Jetzt war alles so schmerzhaft offensichtlich.
›Es ist in Ordnung, Thea. Du wirst einen Besseren kennenlernen. Es gibt da draußen den perfekten Mann für dich. Nur eben nicht dieser.‹
Die Worte meiner Mutter, die sie mir bereits in der Highschool mehr als einmal tröstend zugemurmelt hatte, gingen mir durch den Kopf. Und der verletzte, zynische Teil von mir hielt das mittlerweile alles für Unsinn. Wenn es den perfekten Mann für mich gab, warum hatte ich ihn noch nicht getroffen? Meine Firma veranstaltete etwa fünfundzwanzig Hochzeiten im Jahr und fast siebzig Prozent der Bräute waren jünger als ich. Ich hätte inzwischen mindestens eine eigene Hochzeit haben sollen.
Dass das bisher noch nicht eingetroffen war, hatte einen einfachen Grund.
Ich war eine Niete, wenn es um Männer und Beziehungen ging. Eine hoffnungslose Romantikerin in einer Welt voller Pragmatiker und Opportunisten.
Das Vibrieren meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Eine Erinnerung daran, dass sich meine Mittagspause dem Ende neigte und ich zurück an die Arbeit musste. Zurück in eine Welt voller Liebe und Freude. Und zurück in eine Welt voller glücklicher Paare.
Ich seufzte.
Jetzt war nicht die Zeit für Selbstmitleid. Es war an der Zeit, die fröhliche Thea zu spielen. Die, deren Herz nicht gerade zum dritten Mal in diesem Jahr gebrochen worden war.
***
Drei Stunden später bereute ich es aus tiefstem Herzen, mich nicht einfach krankgemeldet zu haben. Nicht, dass das wirklich eine Option gewesen wäre. Als selbstständige Hochzeitsplanerin zu arbeiten, bedeutete eben genau das – selbst und ständig arbeiten, trotz der Unterstützung, die ich dank meiner Mitarbeiter hatte.
Ich saß an meinem Schreibtisch, einen Stapel ungeöffneter Briefe vor mir. Normalerweise mochte ich es, personalisierte Dankesbriefe zu schreiben. Normalerweise. Heute hätte ich sie jedoch liebend gern zerrissen und daraus ein paar Konfettibomben für Marc gebastelt. Der Gedanke an das Chaos, dass die kleinen Papierfetzen in seiner blitzsauberen Wohnung hinterlassen würden, hob meine Mundwinkel ein klein wenig.
»Hier«, sagte Mandy, unsere neue Praktikantin, und schob mir eine Pralinenschachtel entgegen. »Die sind vom Brautpaar der letzten Hochzeit.«
»Oh«, brachte ich hervor und zwang mich zu einem Lächeln. Zucker war gut. »Danke schön.«
»Geht es dir gut?«, fragte sie und setzte sich auf die Kante meines Schreibtischs. Ganz offensichtlich hatte sie nicht vor, mich innerhalb der nächsten Minuten allein zu lassen. Nicht, dass ich etwas gegen Gesellschaft hatte. Normalerweise. »Du scheinst ein wenig … niedergeschlagen zu sein.«
»Mir geht’s gut«, entgegnete ich, den Blick auf den Stapel Briefe vor mir gerichtet. Obwohl die entsprechende Hochzeit für uns aus wirtschaftlicher Sicht ein großer Erfolg gewesen war, verfluchte ich das Brautpaar in Gedanken dafür, so einen großen Bekanntenkreis zu haben. Hätten sie nicht einfach nur ein paar Freunde haben können und fertig? Der Gedanke, jedem Absender zu versichern, wie unfassbar glücklich das Paar war und wie sehr es sich über die Glückwünsche freute, erschien mir in diesem Moment wie eine unmögliche Aufgabe. Ich konnte ja nicht einmal meine Angestellten überzeugen, dass es mir gut ging, zumindest wenn ich Mandys zweifelnden Blick richtig deutete.
»Wirklich? Du siehst nämlich aus, als hättest du geweint. Geht es um einen Typen?«
Für einen Moment schloss ich die Augen und zwang mich dazu, tief durchzuatmen. Es hatte keinen Sinn zu lügen. »Ja.«
»Ich wusste es! Wer ist es? Dieser Lackaffe?«
»Wen meinst du?«
»Dieser Lackaffe. Ich habe euch beide ein paarmal zusammen gesehen. Ich wollte nicht zu viel reininterpretieren, aber na ja, ihr saht aus wie ein Pärchen. Und kein glückliches.«
Trotz meines inneren Aufruhrs schnaubte ich. »Wir waren kein Paar. Nicht wirklich. Offenbar hatten wir nur ein bisschen ›Spaß‹. Das hat er zumindest gesagt.«
»Arschloch«, murmelte sie, griff sich den Brieföffner und schlitzte den obersten Briefumschlag auf. Dabei fiel ihr eine ihrer knallpinken Haarsträhnen ins Gesicht, die sie sich wieder hinters Ohr strich. Obwohl ich meine roten Haare mochte, bewunderte ich Mandy für diese mutige Farbe. Überrascht war ich auf jeden Fall nicht gewesen, als sie keine drei Wochen nach ihrem Praktikumsbeginn mit der neuen Frisur im Büro aufgetaucht war. Von den Overknee-Stiefeln in Lackoptik bis zu den kurzen pelzbesetzten Mäntelchen legte es alles an Mandy darauf an, aufzufallen.
»Warum hattest du überhaupt ›Spaß‹ mit ihm?«, fragte sie mich nun.
Stirnrunzelnd sah ich ihr dabei zu, wie sie den Brief entfaltete und dann beiseitelegte, ehe sie sich den nächsten griff. »Was meinst du?«, fragte ich verwirrt. »Er sieht gut aus und ist erfolgreich. Warum hätte ich keinen ›Spaß‹ mit ihm haben sollen?«
»Gegenfrage: Wie oft hat er sich nach deinem Arbeitstag erkundigt? Oder angeboten, dich irgendwie zu unterstützen? Hat er dir je das Gefühl gegeben, mit all deinen Problemen zu ihm kommen zu können?«, wollte Mandy in herausforderndem Ton wissen. Als ich spürte, wie meine Wangen sich erhitzten, nickte sie. »Das dachte ich mir. Und ich wette, er bügelt sogar seine Unterhosen, oder?«
Sogar seine Socken, doch das behielt ich besser für mich. »Er hat viel zu tun, da erwarte ich gar nicht, dass er … egal. Außerdem arbeitet er in einem Büro, da muss er ordentlich aussehen«, machte ich einen schwachen Versuch, ihn zu verteidigen.
»Oh?« Sie hob eine feingezupfte Augenbraue. »Irgendwo Interessantes?«
Ich räusperte mich. »In der Poststelle«, nuschelte ich, und meine Wangen wurden noch heißer.
»O ja, da sind gebügelte Unterhosen wirklich wahnsinnig wichtig«, gab Mandy spöttisch zurück. »Warum bist du mit ihm ausgegangen?«
»Ich … Er schien die richtige Wahl zu sein.« Die unerwartete Frage warf mich aus der Bahn. Das ganze Gerede von ›Spaß‹ hatte mich in Sicherheit gewogen, nur damit Mandy sich unbemerkt an die harten Themen herantasten konnte.
»Schien? Aber er war es nicht wirklich?«
»Offenbar nicht«, brummte ich. »Hör mal, ich bin wirklich nicht in der Stimmung, darüber zu reden, okay? Es ist eben passiert, und damit hat es sich.«
»Okay.« Ich kannte Mandy mittlerweile gut genug, um zu erkennen, dass sie noch mehr sagen wollte. Aber was auch immer es war, sie behielt es für sich, und dafür war ich ihr dankbar. So sehr ich sie auch mochte, ich hatte keine Lust, einer einundzwanzigjährigen Praktikantin meine Beziehungsprobleme zu erklären.
»Also«, fragte sie nach ein paar Minuten des Schweigens, »was ist der nächste Schritt?«
»Was meinst du?«
»Der nächste Schritt. Wie geht es jetzt weiter? Du weißt schon, nach dem Lackaffen.«
»Ich … weiß es nicht«, gab ich zu. »Momentan bin ich mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen nächsten Schritt gibt.« Das war nur die halbe Wahrheit. Es war nicht so, dass ich Marc tatsächlich geliebt hatte. Ich mochte ihn, und ich hatte mir mehr erhofft – viel mehr, wenn ich ehrlich mit mir selbst war. Aber während ein Teil von mir dem nachtrauerte, was wir hätten haben können, war der Rest von mir bereits auf bestem Weg, ein neues Traumschloss hoch oben in den Wolken zu bauen. Traumprinz unbekannt, Stellenausschreibung hochgeladen.
»Natürlich gibt es den«, entgegnete Mandy empört. »Das ist doch der ganze Sinn beim Daten. Du gehst einfach raus, triffst jemand Neuen und zack, fertig. Der nächste Schritt.«
Ich lachte kopfschüttelnd.
»Du hast leicht reden. Du bist jung. Die Männer werfen sich dir an den Hals.«
»Tun sie nicht«, gab Mandy ebenfalls lachend zurück. »Und selbst wenn. Das wäre auch egal. Das sind nicht die Richtigen für mich. Ich bin wählerisch. Das solltest du auch mal probieren.«
»Was?« Verwirrt kniff ich die Brauen zusammen, während ich versuchte, ihren Worten zu folgen.
»Wählerisch zu sein. Hör auf, dich auf den Erstbesten einzulassen. Nimm nicht einfach irgendeinen Typen, nur weil du denkst, das wäre die richtige Entscheidung. Nimm den Mann, der dein Herz hüpfen lässt oder so was in der Art. Und wenn das nicht klappt, dann war er nicht der Richtige. So einfach ist das.«
Nachdenklich starrte ich auf den langsam kleiner werdenden Stapel Briefe vor mir. Während ihrer kleinen Rede hatte Mandy einen nach dem anderen geöffnet, die Zeilen überflogen und ihn auf einen anderen Stapel gelegt. Ich fragte mich, ob das nur die jugendliche Naivität war, die aus ihr sprach. Würde sie in ein paar Jahren anders denken? Stirnrunzelnd musterte ich sie, musste mir dann jedoch eingestehen, dass das eher unwahrscheinlich war. Mandy war zu unabhängig, zu stolz und hatte seit dem Tag, an dem ich sie kennengelernt hatte, älter gewirkt, als sie eigentlich war. Vermutlich war das der Grund, weshalb ich sie und nicht eine der anderen Bewerberinnen eingestellt hatte.
Nach mehreren Augenblicken des Schweigens stellte ich schließlich die Frage, die mir die größten Bauchschmerzen bereitete: »Aber was ist, wenn man nie den Richtigen findet?«
»Dann findest du ihn eben nicht.« Mandy zuckte mit den Schultern.
Fassungslos starrte ich sie an. Die Idee, nie den Richtigen zu finden, war … niederschmetternd. Trotz all der Trennungen, die ich in diesem Jahr durchgemacht hatte, war ich stolz darauf, sagen zu können, dass ich es immer noch für möglich hielt, meinen Seelenverwandten zu finden. Auch wenn sich Marc als Arsch entpuppt hatte. Es würde etwas dauern, bis ich wieder so weit war, aber ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass Dating nur wieder in einem Kreis aus Hoffnungen und Niederschlägen, falls – oder eher wenn – es mal wieder nicht klappte, enden würde. Aber einfach zu akzeptieren, dass ich nie jemanden finden würde …
»Ist das nicht wie … aufgeben?«, fragte ich vorsichtig.
»Nee. Es ist eher eine bewusste Entscheidung.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das passt einfach nicht zu mir. Ich bin Optimistin. Schon immer gewesen. Ich glaube, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Selbst die scheinbar unlösbaren.«
»Und das ist toll«, stimmte mir Mandy zu. »Aber was ist die Alternative? Einfach jeden einzelnen Kerl willkommen heißen, der durch die Tür kommt und dir am Ende das Herz brechen wird?«
»Mmh, wer weiß? Vielleicht treffe ich heute den Mann meiner Träume. Er könnte genau in diesem Moment durch die Tür kommen und hinreißend und freundlich und süß sein. Er wird ein Gentleman sein und mich mit dem Respekt behandeln, den ich verdiene.«
Mandy verdrehte die Augen, aber ich achtete nicht auf sie. Ich war zu beschäftigt damit, die Tür zu beobachten.
»Und er wird die schönsten blauen Augen haben. Wie das Meer. Oder der Himmel. Und sie werden aufleuchten, wenn er mich sieht. Und er wird sich wahnsinnig in mich verlieben. Genau wie ich in ihn. Und wir werden den Rest unseres Lebens zusammen verbringen, alt werden und glücklich und verliebt sein. So, wie es sein sollte.«
»Wenn du das sagst«, schnaubte Mandy und erhob sich. »Sei einfach nicht enttäuscht, wenn –«
Bevor sie ihren Satz beenden konnte, wurde es auf dem Flur vor meiner Bürotür laut. Nur Sekunden später preschte ein grau-weißer Hund mit babyblauen Augen herein und direkt auf mich zu.
»Dixon!« Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, als der Hund seine Pfoten auf meine Oberschenkel legte, um sich nach oben zu drücken, und versuchte, mein Gesicht abzulecken. Lachend vergrub ich meine Hände in seinem dicken Fell, bevor ich Mandy ansah. »Siehst du? Ich habe dir ja gesagt, ich würde einen Mann mit den schönsten blauen Augen finden!«
»Ich glaube, unsere Definitionen von ›Mann‹ gehen etwas auseinander«, antwortete Mandy trocken, woraufhin ich noch mehr lachen musste.
»Ach, komm schon. Dixon ist süß! Nicht wahr, Dix? Ja, du bist so ein guter Junge!«
Der Hund bellte und wedelte dabei so heftig mit dem Schwanz, dass sein ganzer Körper wackelte.
»Siehst du? Er liebt mich. Was meinst du, Kumpel? Du wirst der Mann meiner Träume sein, nicht wahr? Und wo ist eigentlich deine Besitzerin, Dix? Hast du sie auf dem Weg nach oben verloren, oder konntest du es einfach nicht erwarten, mich zu sehen?«
»O Gott. Du bist verrückt geworden.« Mandy schüttelte den Kopf.
»Unsinn.« Grinsend kraulte ich den Hund hinter den Ohren.
»Wenn du meinst. Ich werde jetzt wieder an die Arbeit gehen.«
Ich lächelte Mandy zu. »Alles klar. Aber würdest du die Briefe mitnehmen? Ich habe dafür heute einfach keinen Kopf.«
»Kein Problem«, sagte sie und griff sich sowohl den Stapel mit den bereits geöffneten als auch die wenigen ungeöffneten Briefumschläge. »Viel Spaß mit deinem Mann. Vielleicht wird er dich endlich zum Abendessen ausführen.«
»Wenn nicht, gibt es Pizza. So oder so ist es eine Win-win-Situation.«
»Wenn du das sagst.« Lachend verließ sie mein Büro. Nur Sekunden später stand eine rotgesichtige, verschwitzte Carly, die Fotografin meiner kleinen Wedding Planner Agentur, keuchend in meiner Tür. Augenblicklich rannte Dixon zu seiner Besitzerin und schlängelte sich zwischen ihren Beinen hindurch. Trotz des Stichs, den ich bei seinem Verlust verspürte, musste ich über seine Albernheiten grinsen. »Man könnte meinen, er hätte dich seit Ewigkeiten nicht gesehen.«
»Du kennst Dixon doch. Er übertreibt gern. Tut mir leid, dass er dich gestört hat. Ich habe keine Ahnung, wie er diesmal abgehauen ist.«
Ich winkte ab. »Dixon ist hier immer willkommen, das weißt du doch.« Mit dem Husky hatte ich zumindest ein männliches Wesen in meinem Leben, das mich schätzte, auch wenn ich ahnte, dass ich mir seine Liebe eher mit den Snacks in meiner Schreibtischschublade erkauft hatte als dank meiner Persönlichkeit. Aber wen interessierten schon solche Details?
Kapitel 2
Owen
Der hartnäckige Kopfschmerz, der mich bereits seit dem Aufwachen begleitete, dachte selbst nach drei Flaschen Wasser und vier Tassen starkem Kaffee nicht daran, zu verschwinden. Meine Augen brannten, während ich auf den Computerbildschirm starrte und versuchte, den Vertrag zu lesen, den einer meiner Kunden geschickt hatte. Soweit ich das beurteilen konnte, war es ein ziemlich normaler Vertrag. Das Problem war, dass der Bildschirm vor meinen Augen verschwamm und ich die einzelnen Buchstaben kaum erkennen konnte.
Stöhnend schloss ich für ein paar Sekunden die Lider und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Ich musste mich konzentrieren und weiterarbeiten. Aber das Hämmern in meinem Kopf hörte nicht auf, und je länger ich hier saß, desto mehr ließen die Schmerzmittel nach, die ich vor ein paar Stunden genommen hatte.
Das einzige Gute war, dass heute keine Meetings anstanden, sodass mich niemand in diesem Zustand sehen würde. Ich hasste es, nicht fit zu sein. Es fühlte sich wie eine Schwäche an.
Aber auch das würde vorbeigehen. Ich würde im Handumdrehen wieder auf den Beinen sein. Dass die Kopfschmerzen in letzter Zeit immer häufiger kamen, ignorierte ich bewusst.
Zum Glück klingelte in diesem Moment mein Handy. Ohne auch nur auf den Namen des Anrufers zu schauen, nahm ich ihn an. »Was?«
»Haben Sie meine E-Mail gesehen?«
Seufzend verdrehte ich die Augen. »Hallo, Mara. Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Und wie geht es Ihnen?«
»Großartig, was ist jetzt mit meiner E-Mail? Haben Sie sie gesehen?«
»Manchmal frage ich mich, warum ich Sie eingestellt habe«, brummte ich ohne Schärfe.
»Weil ich die Beste in dem bin, was ich tue. Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Ja, ich habe Ihre E-Mail gesehen«, antwortete ich pflichtschuldig.
»Und?«, hakte meine Assistentin nach, als es offensichtlich wurde, dass ich nichts weiter dazu sagen würde.
»Und was?«
Mara stöhnte. »Ich habe Ihnen in der E-Mail eine Frage gestellt! Was möchten Sie Noah zur Hochzeit schenken?«
»Warum muss ich ihm überhaupt etwas schenken?«
»Weil er einer unserer besten Kunden ist und Sie zur Hochzeit eingeladen wurden, auch wenn Sie abgesagt haben.«
»Natürlich habe ich abgesagt, schließlich –«
»Sind Hochzeiten nur für eine Sache gut, und das ist die daraus resultierende Steuerersparnis, ich weiß, ich weiß. Aber Sie müssen ihm trotzdem etwas schenken.«
Das Hämmern in meinem Kopf verstärkte sich, und ich rieb mir seufzend die Schläfen. »Also schön, dann schenke ich ihm Geld. Er kann es für die unvermeidbare Scheidung beiseitelegen.«
»Sie sind unglaublich.«
Obwohl Maras Tonfall deutlich machte, dass das nicht positiv gemeint war, konnte ich nicht widerstehen. »Danke.«
»Das war kein Kompliment. Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt versucht habe.«
»Ich bin Immobilienmakler, kein Hellseher, also kann ich Ihnen das auch nicht genau beantworten«, gab ich trocken zurück. »Aber wenn ich raten müsste, dann vermutlich deshalb, weil Sie auch nicht gewusst haben, was Sie ihm besorgen sollen.«
Mara seufzte frustriert. »Das weiß ich wirklich nicht. Ich meine, er und Teresa sind ein junges Paar, aber Noah ist schon so erfolgreich. Ich habe keine Ahnung, was sie möglicherweise brauchen könnten.«
»Warum ist Ihnen das überhaupt so wichtig?«
»Ich möchte einfach, dass sie sich wertgeschätzt fühlen.« Beinahe konnte ich Maras trotzigen Gesichtsausdruck vor mir sehen. Obwohl uns mehrere Hundert Kilometer Luftlinie trennten – sie lebte in Dublin, ich zurzeit in London – und wir uns nie persönlich trafen, hatte es in den letzten Jahren mehr als genügend Videogespräche gegeben, um ihre Miene auch während unserer Telefonate einschätzen zu können.
»Schicken Sie ihnen einfach einen Gutschein.«
»Aber das ist so unpersönlich«, jammerte Mara.
»Dann kaufen Sie irgendetwas und schicken es den beiden mit einer Nachricht von mir. Problem gelöst. Wenn es sonst nichts mehr gibt, werde ich zurück an die Arbeit gehen. Bis später.«
Ich wartete nicht auf ihre Antwort, legte auf und schob das Handy in meine Hosentasche. Die Kopfschmerzen waren nun mit voller Wucht zurück, schlimmer als zuvor, und alles, was ich wollte, war, mich hinzulegen und für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Aber das würde ich nicht. Das konnte ich nicht. Ich war nicht umsonst mit neunundzwanzig Jahren einer der erfolgreichsten Makler in Großbritannien. Ich hatte keine Zeit, es ruhig angehen zu lassen, und schon gar keine Zeit, krank zu sein.
Seufzend schnappte ich mir ein paar Aspirintabletten und schluckte sie zusammen mit den letzten Schlucken meines mittlerweile kalten Kaffees hinunter.
»Du schaffst das«, murmelte ich und wandte mich wieder dem Vertrag zu. Keine zehn Minuten später begann mein Handy wieder zu vibrieren. Ich zog es aus der Hosentasche und drückte die Antworttaste.
»Was?«
»Gute Neuigkeiten! Ich habe das perfekte Geschenk gefunden.«
»Hurra.«
Mara ließ sich von meinem trockenen Tonfall nicht beeindrucken. »Gern geschehen. Ich habe es gerade gekauft. Und das Beste daran? Es ist kein Gutschein!«
»Ich kann meine Freude kaum zurückhalten«, sagte ich monoton.
»Das merke ich, aber keine Sorge, ich behalte die Quittung, damit Sie im Fall der Fälle Ihr Geld zurückbekommen.«
»Ich bin gerührt, wirklich.« Ich seufzte und rieb mir erneut über die Schläfen. Wenn nur endlich diese verdammten Kopfschmerzen verschwinden würden …
»Das sollten Sie. Ich …« Sie hielt inne. »Sie haben wieder Kopfschmerzen, oder?«
»Nein«, entgegnete ich prompt und versuchte dabei, den stechenden Schmerz hinter meinen Schläfen zu ignorieren.
»Sicher?«
»Worum geht es hier, Mara? Ich habe zu tun.«
»Ich versuche nur zu helfen, okay?«
»Sie helfen mir nicht, indem Sie mich alle fünf Minuten anrufen!«
»Sie könnten einfach Danke sagen.«
»Und Sie könnten lernen, mich in Ruhe zu lassen und mich meine Arbeit machen zu lassen. Manche Anrufe könnten auch einfach nur eine Mail sein. Ich lege jetzt auf.«
»Sie werden das Geschenk lieben, Owen. Warten Sie nur ab.«
»Das bezweifele ich«, murrte ich und beendete den Anruf. Meine schlechte Laune an Mara auszulassen, war nicht fair, das wusste ich selbst. Sobald ich mich wieder mehr wie ich selbst fühlte, würde ich mich bei ihr entschuldigen. Zuerst musste ich jedoch etwas gegen diese Kopfschmerzen unternehmen.
Mit einem Stöhnen erhob ich mich. Vielleicht würde ein Spaziergang helfen. Und ein Tapetenwechsel. Neunzig Prozent meiner Zeit verbrachte ich entweder in dem Büro, das ich in der Innenstadt Londons angemietet hatte, oder in dem meiner Wohnung. Beinahe sämtliche Vorgänge waren digitalisiert, sodass der Kundenkontakt praktisch nur noch per Mail und Videoanruf lief und Besichtigungstouren ebenfalls virtuell durchgeführt wurden. Das war nicht nur zeitsparend, sondern auch praktisch, da es bedeutete, dass ich von nahezu überall auf der Welt arbeiten konnte.
Auch London war nur eine Zwischenstation, und ich spürte die Rastlosigkeit bereits wieder in meinen Knochen. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch in Berlin gewesen, aber aus irgendeinem Grund hatte es mich zurück nach Großbritannien gezogen.
Ein letztes Mal ließ ich den Blick durch den Raum schweifen, in dem sich außer einem schlichten weißen Schreibtisch und einem deckenhohen, abschließbaren Schrank nichts weiter befand. Mehr als das brauchte ich nicht. Das hier war nichts weiter als ein Ort, um Kunden zu empfangen, falls persönlicher Kontakt unumgänglich war. Mittlerweile fand ich die Möglichkeit ganz nett, an einem anderen Ort zu arbeiten, und der Ausblick auf die Themse war ebenfalls nicht zu verachten. Nur der Kaffee aus dem Automaten auf dem Flur war absolut grauenhaft, weshalb ich meine gelegentlichen Spaziergänge meistens mit einem Abstecher zum nächsten Coffeeshop verband.
Auf dem Weg nach unten begegnete ich glücklicherweise niemandem. Sobald ich nach draußen auf den belebten Bürgersteig trat, wandte ich mich nach rechts und schlängelte mich zwischen den anderen Passanten hindurch. Zum Glück war der Tag warm und die Nachmittagssonne blitzte vereinzelt durch die Wolkendecke. Immerhin etwas.
Die Schlange vor dem Café war länger als gewöhnlich für diese Tageszeit, und während ich wartete, scrollte ich auf meinem Handy durch die Nachrichten. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie eine ältere Frau mit einem schreienden Kleinkind kämpfte, was nicht unbedingt dazu beitrug, meine Kopfschmerzen zu lindern.
Seufzend hob ich den Kopf und drehte ihn von einer Seite zur anderen, in dem Versuch, die Verspannungen rund um Nacken und Schultern zu lösen. Dabei fiel mein Blick unwillkürlich auf das dunkelrote Haar der Frau vor mir. Die Farbe erinnerte mich an die schweren Samtvorhänge in der Wohnung, die ich in der vergangenen Woche verkauft hatte, satt und verheißungsvoll. Das war der einzige Grund, warum ich, als sich die Schlange endlich vorwärtsbewegte, ihre Bestellung mitbekam. Sie orderte irgendein süßes Getränk, dessen Namen ich nicht zuordnen konnte. Innerlich schauderte ich bei der Menge an Zucker, die darin wahrscheinlich enthalten war. Immerhin dauerte es nun nicht mehr lange, bis ich endlich meinen üblichen schwarzen Kaffee mit zwei Extra-Shots bestellen konnte. Ohne Zucker.
»Name?«
»Owen.« Diese Besessenheit mancher Coffeeshops, unbedingt die Namen auf die Becher zu schreiben, würde ich nie verstehen.
»In Ordnung, dauert ’n Moment.« Der Barista ging zur Seite, wo die Getränke serviert wurden.
Ich ging hinüber, wo die Frau von eben bereits wartete. So, wie sie ihr Gewicht immer wieder von einem Fuß auf den anderen verlagerte und ständig einen Blick auf ihre Fitnessuhr warf, war es offensichtlich, dass sie es eilig hatte. Als zwei große To-go-Becher auf die Theke gestellt wurden, wartete sie nicht einmal, bis unsere Namen aufgerufen wurden, bevor sie sich einen davon schnappte und aus dem Café stürmte, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her. Kopfschüttelnd sah ich zu dem Barista und griff nach dem zweiten Becher. Während ich den Laden in etwas gemäßigterer Geschwindigkeit verließ, trank ich den ersten Schluck.
Fast hätte ich ihn wieder ausgespuckt. Zuckrige Süße breitete sich in meinem Mund aus, und ich verzog angeekelt das Gesicht.
»Das ist kein Kaffee«, stellte ich fest und starrte auf das abstoßende und zugleich unschuldig aussehende Getränk in meiner Hand. Fast zur gleichen Zeit hörte ich jemanden in meiner Nähe heftig husten. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich die Frau, die ein paar Sekunden zuvor aus dem Laden geeilt war.
»O mein Gott, das ist ja widerlich.«
»Nun, ich würde sagen, das kommt davon, wenn man Kaffee stiehlt«, sagte ich trocken, woraufhin ihr Blick auf mich fiel.
»Stehlen?«, stieß sie empört hervor. »Ich habe nicht –«
»Doch, haben Sie«, unterbrach ich sie und hielt ihr ihr eigenes Getränk hin.
»Das war ein Versehen! Außerdem – wer trinkt bitte schön gern Teer?«
»Wer trinkt gern puren Zucker?«, gab ich, ohne mit der Wimper zu zucken, zurück. »Außerdem ist Ihr Getränk offensichtlich das mit Ihrem Namen darauf.«
»Ich werde das nicht bezahlen«, murrte sie, griff aber trotzdem nach ihrem Becher.
»Das hatte ich auch nicht erwartet. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss zurück an die Arbeit.«
Sie hatte bereits den Mund geöffnet, doch ich kümmerte mich nicht weiter darum. Kurzerhand drehte ich mich um und machte mich auf den Rückweg in mein Büro. Immerhin hatte die frische Luft meinem Kopf gutgetan, sodass ich noch etwas zustande bringen würde.
***
Das Halbdunkel und die sanfte Jazzmusik im Nostalgia waren die perfekte Kombination, um einen stressigen Tag ausklingen zu lassen. Mit seinem Zwanzigerjahre Interieur war der Club einer meiner liebsten. Es war nicht der neueste und bei Weitem nicht der beliebteste Ort in der Stadt, aber dafür war er ruhig. Und es gab eine ausgezeichnete Auswahl an Whisky.
Nach dem heutigen Tag war es genau das, was ich brauchte.
»Ein Glas Glenmorangie 1984 on the rocks«, sagte ich und setzte mich an die Bar.
»Kommt sofort«, antwortete der Barkeeper und griff bereits nach einem Glas.
Ich legte die Unterarme auf der Theke ab und versuchte, mich zu entspannen. Es war schon spät, und der Club war etwa zur Hälfte gefüllt, die meisten waren Stammgäste. Das Nostalgia war nicht gerade ein Touristenmagnet, obwohl einige Leute immer noch dachten, dass der Club ein angesagter Ort mit ›krasser‹ Musik sei, was hauptsächlich an seinem irreführenden Internetauftritt lag.
Aber bis auf diese Ausnahme kam ich gern hierher. Die Atmosphäre war angenehm, und es gab nicht viele Orte, an denen ich es schaffte, nicht an die Arbeit zu denken.
»Bitte sehr.«
»Danke.« Ich nickte dem Barkeeper zu und schob ihm einen Geldschein hin, ehe ich nach dem Glas griff. »Stimmt so.«
Die bernsteinfarbene Flüssigkeit brannte leicht in meiner Kehle, und ich seufzte zufrieden.
Ich nahm einen weiteren Schluck und genoss die Trägheit, die sich in meinem Körper ausbreitete. Ein guter Drink konnte aus einem miesen Tag noch einen mittelmäßigen machen.
»Guten Geschmack haben Sie da, Sir.«
Ich brummte nur zur Antwort.
»Gibt’s einen Anlass? Oder feiern Sie nur das Ende des Tages?«, erkundigte der Barkeeper sich beiläufig, während er mit einem Lappen über die Theke wischte.
»Ich habe nichts zu feiern«, antwortete ich und warf ihm einen Blick zu. Erst jetzt fiel mir auf, wie wenig der Mann hierher passte. Er konnte nicht viel jünger als ich sein, vielleicht zwei oder drei Jahre, doch sein punkiges Aussehen ließ mich älter fühlen, als ich eigentlich war. Kopfschüttelnd sah ich wieder hinab auf mein halbvolles Glas. »War nur ein langer Tag. Ein sehr langer Tag.«
»Ja, das seh ich«, gab er mit schief gelegtem Kopf zurück.
Automatisch setzte ich mich etwas aufrechter hin. »Was soll das heißen?«
»Nichts, nichts. Nur, dass Sie … angespannt wirken.«
»Sind Sie jetzt mein Therapeut?«, fragte ich scharf.
»Nur der Kerl, der die Getränke serviert«, erwiderte der Barkeeper seelenruhig.
»Dann machen Sie keinen guten Job«, sagte ich und kippte den Rest Whisky runter. »Noch einen.«
Seine Brauen hoben sich, als er den Blick von meinem Gesicht zu dem leeren Glas wandern ließ. »Okay, okay. Da ist jemand kein Fan von Smalltalk.«
»Nicht, wenn er erzwungen wird.«
»Ja? Welche Art Konversation bevorzugen Sie dann?«
»Wenn ich reden wollte, wäre ich nicht hierhergekommen«, knurrte ich beinahe.
»Ah«, murmelte der Barkeeper und goss mehr von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in mein Glas. »Ich nehm an, Sie sind einer dieser Typen.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?« Langsam, aber sicher ging mir der Kerl wirklich auf die Nerven.
Er zuckte mit den Schultern und schob mir das nun volle Glas wieder zurück. »Einer dieser Einzelgänger.«
»Und wenn dem so wäre?«
»Ich weiß nicht. Sie seh’n nicht so aus, das ist alles.«
»Ach ja?«, presste ich hervor.
»Jap. Der Anzug, der Haarschnitt. Die Art, wie Sie da sitzen.« Mit der Hand machte er eine allumfassende Geste. »Nope, Sie sind definitiv nich’ der Typ dafür. Und Sie sind definitiv auch kein One-Night-Stand-Typ. Also nehm’ ich an, es geht um Ihre Freundin. Hab ich recht?«
Ich schnaubte. Er konnte kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein. »Falsch.«
»Eine Ehefrau also.«
Nun lachte ich wirklich. »Absolut nicht.«
Der Barkeeper warf mir einen wissenden Blick zu. »Vielleicht ist das das Problem.«
»Mein Familienstand geht Sie nichts an.«
»Vermutlich nich’«, gab er grinsend zurück. »Aber was soll ich sagen? Ich bin so was wie ein hoffnungsloser Romantiker.«
Ich erwiderte nichts. Irgendwann würde der Kerl schon begreifen, dass ich an keinem Gespräch interessiert war.
»Ach, kommen Sie schon, es is’ ja nicht so, als ob ich vorhabe, Sie zu stalken. Ich versuche hier nur, ein Gespräch zu führen.«
»Und, wie läuft das so?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
Die Mundwinkel des Barkeepers zuckten. »Nicht besonders. Aber die Nacht ist noch jung. Noch eine Runde?«
»Warum nicht?« Ich zuckte mit den Schultern, und er füllte mein Glas erneut. Anschließend ging er, um einen anderen Gast zu bedienen.
Mit einem Seufzen ließ ich den Kopf hängen. Zumindest mir selbst gegenüber musste ich zugeben, dass mich das Gespräch ein wenig abgelenkt hatte. Nicht genug, um ihn zurückzurufen, aber immerhin ein wenig.
Denn in einer Sache hatte der Kerl recht. Es war ein langer Tag gewesen.
Ein langer Tag mit zu viel Gerede über Hochzeiten und zu vielen Anfragen ›glücklicher Pärchen‹ auf der Suche nach ihrem ersten gemeinsamen Zuhause.
Aber das gehörte zum Leben als Makler dazu. Vor allem seit Mara mich davon überzeugt hatte, dass ich eine Social-Media-Präsenz brauchte. Nicht, dass ich das bestreiten würde. Ihre Statistiken machten deutlich, dass wir vierzig Prozent mehr Umsatz machten, seit sie sich für mehr Marketing eingesetzt hatte. Aber es war trotzdem anstrengend.
Ich hatte gerade mein Glas erneut geleert, als sich jemand neben mich setzte.
»Noch einen Drink, Sir?«
»Machen Sie zwei daraus«, sagte eine weibliche Stimme. Ich warf einen Blick zu meiner Rechten und musterte die schlanke Brünette in ihrem kurzen schwarzen Kleid. Ihre grazilen Finger mit den langen, rot bemalten Nägeln spielten mit ihrer Handtasche, als sie sich an die Bar lehnte und ihr beeindruckendes Dekolleté zur Schau stellte.
»Na, hallo«, sagte sie lächelnd und leckte sich über die Lippen.
Unwillkürlich wurde mein Blick von dieser Bewegung angezogen, und mein Blut machte sich auf den Weg in die unteren Regionen meines Körpers. Hallo, Ablenkung Nummer zwei. »Hi.«
»Wie heißt du, Hübscher?«
Langsam hob ich eine Braue. »Ist das wirklich wichtig?« Obwohl ich nicht aktiv nach weiblicher Gesellschaft suchte, ergriff ich die Gelegenheit für einen One-Night-Stand, wenn sie sich ergab. Sex und Sport halfen, einen klaren Kopf zu behalten, etwas, das ich mehr schätzte als alles andere.
Sie lachte, was ein hohes, unangenehm schrilles Geräusch erzeugte. »Du hast recht. Groß, dunkel und mysteriös mag ich ohnehin am liebsten. Also … was führt dich hierher?«
»Der Alkohol«, gab ich trocken zurück und musste mich zurückhalten, nicht die Augen zu verdrehen. Ihre Anwesenheit und der Alkohol in meinem Blut hatten den Appetit in mir geregt, und wenn sie sich praktisch auf einem Silbertablett anbot … nun, dann würde ich nicht Nein sagen.
»Warum überrascht mich das nicht?« Sie kicherte. »Du siehst ein wenig angespannt aus.«
Warum musste das heute jeder kommentieren? »Ach ja?«
»Ja. Ich könnte da ein wenig Abhilfe schaffen. Was meinst du?«, fragte sie und beugte sich zu mir, sodass ich ihr Dekolleté nun unmöglich übersehen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte.
Ich zögerte ein paar Sekunden, allerdings nur, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie mich mit ihren Reizen überzeugt hatte.
Der Barkeeper schob mir ein frisch gefülltes Glas hin, und ich griff danach, trank es in einem Zug aus und stand dann auf.
»Du hast recht, ich bin wirklich angespannt. Lass uns zu mir fahren.«
Kapitel 3
Thea
Die Sonne war schon untergegangen, als ich mich endlich dazu durchrang, die Nummer meiner besten Freundin Elena zu wählen. Der Rest des Tages war – trotz des Vorfalls im Coffeeshop – ohne größere Probleme vergangen, und ich hatte es geschafft, alle Gedanken an Marc zu verdrängen.
Aber jetzt, da ich zu Hause war, nur wenige Meter von seiner Wohnung entfernt und mit dem Meeresgeruch immer noch in der Luft, war es unmöglich, nicht an ihn zu denken. An uns.
An die Zeit, die wir zusammen verbracht hatten.
An die Zukunft, die wir niemals haben würden.
An die Tatsache, dass ich einmal mehr mein Herz sinnlos verschenkt hatte.
Wie konnte es sein, dass ich seit der Uni immer wieder an die falschen Männer geriet, ein Luftschloss nach dem anderen baute und jedes Mal wieder enttäuscht wurde?
Seufzend schaute ich auf das Display meines Handys, auf dem bereits Elenas Kontakt angezeigt wurde. Mein Magen zog sich zusammen, als ich an das Gespräch dachte, das vor mir lag.
Unglückliches Timing und das Gefühl, eine absolute Versagerin in Liebesdingen zu sein, hatten dazu geführt, dass ich meiner besten Freundin seit Monaten nichts von den Männern erzählt hatte, mit denen ich ausgegangen war. Aber das wollte ich heute ändern. Das musste ich endlich.
Mein Daumen schwebte immer noch über der grünen Taste, als ein Anruf einging. Unwillkürlich hoben sich meine Mundwinkel.
Elena. Manchmal kam es mir vor, als hätten wir eine telepathische Verbindung.
»Hey, El«, begrüßte ich meine beste Freundin und bemühte mich, so fröhlich wie möglich zu klingen. Ich hatte nicht vor, mit der Tür ins Haus zu fallen.
Sobald sie anfing zu reden, wusste ich allerdings, dass ich wieder einmal schweigen würde. Sie klang so aufgeregt, dass sie meine Niedergeschlagenheit nicht bemerkte. So war es schon immer gewesen, und ich war froh, dass Elena ihre Begeisterungsfähigkeit nie verloren hatte. Und ich würde einen Teufel tun und ihr diese gute Laune nehmen.
»O mein Gott, Thea, du wirst nicht glauben, was passiert ist! Er hat mich gefragt! Er hat mich tatsächlich endlich gefragt!« Ihre Aufregung war selbst durch das Telefon deutlich spürbar, und unwillkürlich zupfte ein Lächeln an meinen Lippen.
»Und? Was hast du gesagt?« Das war eine rhetorische Frage. Elena hatte seit Monaten darauf gewartet, dass ihr Freund ihr endlich einen Heiratsantrag machte.
»Ja natürlich!«
Ein freudiges Quietschen drang aus meinem Mund, obwohl ich nichts anderes erwartet hatte. »Herzlichen Glückwunsch, El«, sagte ich sanft, und am liebsten wäre ich sofort zu ihr gefahren, um sie zu umarmen. Ein warmes Gefühl durchströmte mich bei dem Gedanken daran, wie viel Glück meine beste Freundin hatte. Ich gönnte es ihr von Herzen.
»Ich kann es kaum glauben! In ein paar Monaten werde ich Mrs Nathan Scott sein. Ich hatte schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass er mich noch fragen würde.«
»Als ob«, entgegnete ich augenverdrehend. »Nathan vergöttert dich.«
»Ja, nun, trotzdem, du weißt, was ich meine. Wir sind schon so lange zusammen und … ich war mir einfach nicht mehr sicher.«
»El, Süße, er ist ein Kerl. Die sind manchmal ein bisschen langsam. Vor allem, wenn es ums Heiraten geht.«
»Was du nicht sagst.« Sie kicherte. »Gott, ich kann es nicht glauben. Thea, ich werde heiraten!«
»Ich freue mich riesig für dich, El.« Ich hoffte, dass Elena das leichte Zittern in meiner Stimme nicht bemerkte. Das warme Gefühl in meinem Bauch wurde nach und nach von eisiger Kälte ersetzt. Den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet blinzelte ich einige Male hektisch, um die Tränen zu vertreiben, die mir über die Wangen zu laufen drohten. Unmöglich konnte ich El jetzt noch von Marc oder einem der anderen erzählen. »Du wirst eine wunderschöne Braut sein.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ich weiß es. Nathan wird seine Augen nicht von dir lassen können.«
»Aw, du bist die Beste. Apropos – du wirst meine Hochzeit doch planen, oder? Niemand kennt mich so gut wie du, und ich vertraue niemand anderem, dass es so wird, wie ich es mir vorstelle. Und das Budget ist auch kein Problem, dafür hat Nathan gesorgt.«
Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, und ich hatte Schwierigkeiten zu atmen. Mein Mund wurde trocken, und nervös leckte ich mir über die Lippen. Das war bei Weitem nicht das erste Mal, dass wir darüber sprachen, dass ich die Planung von Elenas Hochzeit übernehmen sollte. Seit wir während unserer gemeinsamen Zeit an der Uni beste Freundinnen geworden waren, hatten wir immer wieder von der perfekten Hochzeit geträumt. Und noch bevor ich meine Wedding Planner Agentur A Series of Fortunate Events eröffnet hatte, hatte mich Elena gebeten, ihre Hochzeit irgendwann einmal zu planen, weil sie so von meinen Ideen und Konzepten begeistert war.
Als Elena Nathan kennengelernt hatte, war es offensichtlich gewesen, dass die beiden irgendwann heiraten würden. Welche Zweifel Elena diesbezüglich auch gehabt haben mochte, ich war mir dessen immer sicher gewesen. Sie waren perfekt füreinander, und ich freute mich wirklich für meine beste Freundin. Aber trotz aller Misserfolge in meinem Liebesleben hatte ich nicht damit gerechnet, noch immer single zu sein, wenn der Tag kommen würde.
»Thea? Bist du noch da?«
»Äh, ja. Ich bin hier, sorry. Natürlich übernehme ich die Planung, das ist doch selbstverständlich!« Schließlich war El meine beste Freundin, und niemand, mit Ausnahme vielleicht von Nate, kannte sie so gut wie ich. Ich würde dafür sorgen, dass ihre Hochzeit und alles darum herum perfekt sein würde. »Hast du schon irgendwelche –«
»Ja!«, unterbrach sie mich mit vor Aufregung erhobener Stimme. »Wir werden zurück in meine Heimatstadt ziehen und alle Feierlichkeiten sollen dort stattfinden.«
Ich wollte gerade mein Notizbuch und einen Stift holen, den ich immer in meiner Nachttischschublade hatte, hielt bei ihren Worten jedoch mitten in der Bewegung inne. »Deine Heimatstadt? Du meinst dieses Hundert-Seelen-Kaff an der Küste? Du machst Witze, oder? Was ist mit deinem Job? Und Nathans?«, fragte ich ungläubig.
»Upper Hillford, und mittlerweile sind es mehrere Hundert Seelen! Und was Nate betrifft: Als Softwareentwickler erledigt er den Großteil seiner Arbeit ohnehin an seinem Laptop, also spielt es keine Rolle, wo er lebt. Mein Dad möchte seine Stunden in der Werkstatt … runterschrauben.« Sie prustete. »Verstehst du, weil er doch Mechaniker ist und …«
Ich verdrehte die Augen, konnte mir aber ein kleines Schnauben nicht verkneifen. »Schon klar, El.«
Sie räusperte sich. »Nun, wie auch immer. Wir haben jedenfalls immer darüber gesprochen, dass ich die Werkstatt übernehme, wenn er den Job nicht mehr machen kann oder will. Es ist perfekt!«
»Ja«, erwiderte ich leise. »Perfekt.«
»Findest du, es ist eine schlechte Idee? Denn ich hatte überlegt, meine Eltern zu bitten, mir das Cottage zu vermieten. Du weißt schon, das, in dem wir mal übernachtet haben? Früher haben wir es ›Die pinke Lady‹ genannt, weil Mum es über und über mit rosa und violetten Blumen verziert hat. Gott, sah das schön aus.« Elena klang sehnsüchtig, und ich wusste, es hatte nicht nur mit dem Cottage zu tun. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben, kurz nachdem wir fertig mit der Uni gewesen waren, und sicher vermisste El sie noch immer.
»Ich erinnere mich. Es war das direkt an den Klippen.«
»Genau«, bestätigte Elena.
»Und du willst für immer dorthin ziehen? Nicht nur für die Hochzeit?« Die Worte brannten in meinem Mund, als hätte ich etwas Scharfes verschluckt. Der Gedanke, meine beste Freundin nicht mehr regelmäßig zu sehen, tat so weh, dass ich das Gefühl hatte, mich gleich übergeben zu müssen. Auch wenn wir jetzt an den entgegengesetzten Enden Londons lebten, befanden wir uns immerhin noch in derselben Stadt. Upper Hillford war mehrere Stunden entfernt. Elena war nicht nur meine beste Freundin, sie gehörte für mich zur Familie. Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich sonst niemanden mehr, dem ich so nahe stand. Ich mochte meine Kolleginnen, aber Elena war die Einzige, die mich wirklich kannte. Ich hatte keine Ahnung, was ich ohne sie tun sollte.
»Ja. Wir werden in ein paar Wochen umziehen. Nate sucht schon nach einem Haus, weil wir natürlich nicht ewig in dem Cottage bleiben können. Ich darf nicht einmal eines der Angebote sehen, es soll eine Überraschung sein.«
»Wow«, antwortete ich leise.
»Es ist ein großer Schritt, ich weiß. Aber ich bin so aufgeregt! Du … du freust dich doch für mich, oder? Ich weiß, dass wir uns dann nicht mehr so oft sehen können, aber wir können telefonieren und skypen und –«
»Ich freue mich für dich, El«, unterbrach ich sie hastig, bevor sie mir all die Änderungen aufzählen konnte, die auf mich, auf uns, zukommen würden. »Das tue ich wirklich. Du verdienst all das und mehr.«
»Danke, Süße. Das bedeutet mir viel. Also, die Hochzeit. Was denkst du? Glaubst du, es wird funktionieren, sie in Upper Hillford zu veranstalten?«
Ich schluckte schwer, ehe ich mich zusammenriss. Das hier war Elena, meine beste Freundin. Ganz gleich, welche Zukunftspläne sie hatte, ich würde dafür sorgen, dass sie alles bekam, was sie sich wünschte, selbst wenn es mir das Herz brach. »Auf jeden Fall. Du wirst die Hochzeit deiner Träume bekommen. Ich habe schon einige Ideen. Sag mir einfach Bescheid, auf welches Datum ihr euch geeinigt habt, und ich werde mich um alles kümmern. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Wir möchten zuerst eine Verlobungsparty. So eine Mischung aus Verlobung und ›Willkommen zurück in Hillford‹, weißt du, was ich meine? Glaubst du, das geht?«
»Das kriegen wir hin.«
In der nächsten Stunde sprachen wir über das Budget, die grobe Gästeliste und Els Vorstellungen. Schon während der Uni hatten wir damit angefangen, Ideen für unsere jeweiligen Hochzeiten zusammenzutragen, daher kannte ich das meiste und wusste, womit ich arbeiten musste. Das Einzige, was mich wirklich überraschte, war das Datum.
»Die Verlobungsfeier soll in sechs Wochen stattfinden?«, fragte ich verdutzt, und der Stift, mit dem ich mir gerade alles in mein übervolles Notizbuch eingetragen hatte, blieb mitten in der Luft stehen.
»Jap! Bis dahin sind Nate und ich umgezogen, und es wäre der perfekte Beginn eines neuen Kapitels, findest du nicht?«
»Sicher«, murmelte ich, immer noch überrumpelt.
»Super, dann ist das geklärt. Und jetzt erzähl, wie war dein Tag? Entschuldige, ich habe dich noch gar nicht danach gefragt.«
Ich schluckte und zwang mich zu einem Lächeln. Ich würde ihren perfekten Tag nicht mit Marcs Sprachnachricht ruinieren. Es war schlimm genug, dass er meinen ruiniert hatte. »Mein Tag war … gut«, log ich. »Du weißt schon, das Übliche. Anstrengende Braut, teilnahmsloser Bräutigam.«
El gluckste. »Also nichts Besonderes? Keine Nachricht von Mr Geheimnisvoll?« Vor meinem inneren Auge konnte ich sie förmlich mit den Augenbrauen wackeln sehen.
»Äh, eine, aber es war nur Small Talk, nichts Besonderes«, log ich und hasste mich ein wenig dafür, meine beste Freundin anzulügen. Mr Geheimnisvoll war der Spitzname, den wir meinem neuen Freund vor einigen Monaten gegeben hatten. Das war die einzige Beziehung aus den letzten Monaten, von der ich El erzählt hatte. Ben hatte mich damals jedoch gleich zu Beginn gebeten, die zwischen uns noch geheim zu halten, was ich respektiert hatte. Als ich dann jedoch herausgefunden hatte, dass er mich mit einer anderen betrog und es Elena erzählen wollte, hatte sie ihre Schwangerschaft verkündet. Damals hatte ich es nicht übers Herz gebracht, ihre gute Laune zu zerstören, und als sie kurz darauf eine Fehlgeburt hatte, wollte ich sie nicht auch noch mit meinen Problemen belasten. Irgendwie war das Ganze dann zu einem Selbstläufer geworden.
El seufzte enttäuscht. »Okay, ich wollte nur sichergehen.«
»Danke dir. Wir sprechen uns später, okay? Liebe Grüße an Nathan. Und noch mal herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich so für euch.«
»Danke schön. Hab dich lieb!«
»Ich dich auch«, murmelte ich, legte auf und ließ das Handy sinken.
Mit einem tiefen Seufzer starrte ich auf das Display. Ich konnte mein Spiegelbild auf der schwarzen Oberfläche kaum erkennen. Tränen ließen meine Sicht verschwimmen, während sich die Gedanken in meinem Kopf im Kreis drehten.
Ich hatte das Gefühl, als würde mein Leben auseinanderbrechen.
Ich war allein, single und allein. Meine beste Freundin verließ die Stadt und zog mehrere Hundert Meilen weit weg. Und obwohl ich mich für sie freute, wünschte sich der egoistische Teil in mir, dass sie bleiben würde.
Meine Brust zog sich eng zusammen, und das Atmen fiel mir schwerer.
Alles war perfekt für sie.
Ihr Verlobter war unglaublich.
Ihre gemeinsame Zukunft war vielversprechend.
Ihr ganzes Leben war wunderbar.
Sie hatten eine schöne Beziehung, und sie würden heirateten, eine Familie gründen und zusammen alt werden.
Währenddessen saß ich hier allein und ertrank zugegebenermaßen in Selbstmitleid. Doch in diesem Moment konnte ich nichts dagegen tun.
Mit einem Kloß im Hals versuchte ich ein Schluchzen zu unterdrücken.
Ohne Erfolg.
Tränen strömten mir übers Gesicht, und je mehr ich versuchte, sie wegzuwischen, desto schlimmer wurde es.
Plötzlich fühlte sich die Stille in meiner Wohnung erdrückend an. Es war zu ruhig. Ich musste mich ablenken, und zwar schnell.
Arbeit. Auch, wenn ich single war und wahrscheinlich allein sterben würde – geht’s noch ein bisschen dramatischer, Thea? –, konnte ich mich immer noch nützlich machen. Ich würde dafür sorgen, dass meine beste Freundin die beste verdammte Hochzeit bekommen würde, die ich je ausgerichtet hatte.
Da ich immer noch mein Arbeitsoutfit trug, beschloss ich, trotz der späten Stunde zurück ins Büro zu gehen, um ein bisschen zu recherchieren. So dicht an Marc war ich mir sicher, ohnehin nicht viel Schlaf zu bekommen, also konnte ich die Zeit auch sinnvoll nutzen.
***
Drei Stunden und jede Menge Recherche später musste ich zugeben, dass ich mich ein wenig in Upper Hillford verliebt hatte. Seit ich mit Elena befreundet war, hatte ich sie nur einmal in ihre Heimatstadt begleitet. Das lag vor allem daran, dass Elena damals heilfroh gewesen war, dem Kleinstadtleben zu entfliehen und ihre Freiheit zu genießen.
Ich erinnerte mich nur an Kleinigkeiten über diesen einen Urlaub, den wir in ebenjenem Cottage, der pinken Lady, verbracht hatten. Es war gemütlich gewesen, keine Frage, aber für mein neunzehnjähriges Ich hatte es zu viele neugierige Nachbarn und zu wenig Nachtleben gegeben. Aber ich erinnerte mich gut an die Küste, weil es das erste Mal gewesen war, dass ich den Ozean gesehen hatte.
Meine Eltern waren durch und durch Stadtmenschen gewesen, die völlig in ihrer Arbeit als Kurator und Galeristin aufgingen. Auch wenn die Familienzeit nicht zu kurz gekommen war, hatte es nicht viele Urlaube gegeben, die wir zusammen verbracht hatten. Ich konnte mich an Bustouren durch Edinburgh, Museumsbesuche und Führungen durch Verliese und alte Gebäude erinnern.
Nichts davon war mit dem langweiligen Urlaub in Upper Hillford zu vergleichen.
Aber das war damals gewesen.
Jetzt, zehn Jahre später, hatte der Ort eine ganz andere Wirkung auf mich. Die Bilder, die ich auf der Website der Stadt fand, hätten genauso gut Postkartenmotive sein können, und das Setting war perfekt für eine Märchenhochzeit. Je mehr ich sah, desto aufgeregter wurde ich. Ich konnte es kaum erwarten, dorthin zurückzukehren und es selbst zu sehen. Das alles mit den Augen einer älteren Thea zu sehen, die die Schönheit und Behaglichkeit des Ortes endlich wertschätzen konnte.
»Wow, schau dir das an«, flüsterte ich an niemand Bestimmten gerichtet, als ich durch eine Fotogalerie scrollte. »Das ist unglaublich. Kein Wunder, dass El ihre Hochzeit dort feiern will. Diese Aussicht!«
Ich konnte das Gefühl, das die Fotos in mir weckten, nicht einmal ansatzweise beschreiben. Die Stadt sah so anders aus als das kleine Dorf, an das ich mich erinnerte.
Es schien, als wäre sie seit meinem letzten Besuch tatsächlich gewachsen. Sie war größer, heller, einladender und die Fotos absolut atemberaubend. Direkt an der nordenglischen Küste gelegen wirkte das Städtchen geradezu malerisch. Die Straßen waren mit Wimpeln und Blumen dekoriert, und jeder Laden hätte direkt aus einem Liebesroman stammen können. Die meisten Häuser standen eng beieinander, sodass die Menschen sich bloß aus dem Fenster lehnen mussten, um ihre Nachbarn zu begrüßen. Selbst auf den Fotos war das Gefühl von Behaglichkeit und Zusammenhalt deutlich zu spüren, etwas, das es hier in London schon lange nicht mehr gab.
Das Rathaus sah aus wie eine kleine Burg mit seinen hohen Mauern und dem Türmchen. Direkt daneben stand eine hübsche Kirche im gotischen Stil, deren Glockenturm den des Rathauses weit überragte.
Und dann war da noch der Ausblick.
Hinter den Klippen aus Kalkstein erstreckte sich die Nordsee, so weit das Auge reichte. Schaumbesetzte Wellen trafen auf einen kleinen Sandstrand, und obwohl ich Upper Hillford nur einmal besucht hatte, konnte ich das Meeresrauschen dennoch auf Anhieb hören.
Je länger ich durch die Bilder scrollte, desto überzeugter war ich, dass dies tatsächlich der perfekte Ort für eine Hochzeit war. Allerdings gab es so viele schöne Bilder, dass es unmöglich war, auf Anhieb eine perfekte Location für die Verlobungsparty und die Hochzeit auszuwählen.
Zumindest dachte ich das, bis ich auf ein Foto eines gemütlichen Bed and Breakfast stieß. Efeuranken hatten das zweistöckige Haus gerade so sehr überwuchert, dass es märchenhaft und nicht heruntergekommen aussah. Die weiße Fassade war mit Grün und Blau umrahmt, und die Holzfensterrahmen waren in einem sanften Gelb gestrichen, was einen Hauch von Wärme hinzufügte.
Das Gebäude selbst war förmlich in die Klippen gebaut worden, sodass man direkt auf das Meer hinuntersehen konnte. Trotzdem hatte es einen großzügigen Garten, in dem es Hollywoodschaukeln und sogar eine kleine Feuerstelle gab. Im Hintergrund war die Kimmlinie, der nautische Horizont, zu sehen, die sich nach beiden Seiten erstreckte. Es war, als wäre es für Els Hochzeit erschaffen worden.
»Ivy Cottage«, las ich, während ich auf den Link klickte.
Eine Seite wurde geöffnet und eine neue Reihe Bilder geladen. Es gab keine Worte, um die Schönheit des Ortes zu beschreiben.
»Das ist es«, beschloss ich. »Das ist der perfekte Ort für eine Märchenhochzeit. Es ist absolut perfekt.«
Es war schon weit nach Mitternacht, aber ich war zu aufgeregt, um zu schlafen. Ohne nachzudenken, griff ich nach meinem Handy und wählte Elenas Nummer. Es klingelte nur dreimal, bevor ihre schläfrige Stimme durch den Lautsprecher drang. »Thea?«
»El, bist du wach? O mein Gott, es ist unglaublich, du musst dir das ansehen!«
»Was? Was ist los?«
»Ich hab sie gefunden! Die Location für eure Verlobungsparty. Vielleicht sogar die Hochzeit selbst! El, sie ist perfekt. Es gibt ein Bed and Breakfast. Du wirst dich in dem Moment verlieben, in dem du es siehst, versprochen!«
»Baby, ich bin mir ziemlich sicher, dass das schon passiert ist«, erklang Nathans schläfrige Stimme aus dem Hintergrund, und Elena lachte.
»Sorry, konnte nicht widerstehen.«
»Ach, sei ruhig«, kicherte sie. Dann hörte ich ein raschelndes Geräusch.
»El? Bist du noch da?«
»Ja, entschuldige, ich bin hier. Gib mir einen Moment, ja? Ich bin gleich wieder da.«
»Kein Problem. Ich schicke dir ein paar Fotos, damit du sie dir ansehen kannst.«
»Mach das. Gib mir nur eine Minute.«
Während ich einige der Bilder zusammensuchte und Elena schickte, hörte ich im Hintergrund leises Rascheln und das Schließen einer Tür, ehe Elena wieder am Telefon war.
»Tut mir leid, Nate wollte mich nicht gehen lassen. Er ist manchmal einfach zu süß.« Sie gab ein entrücktes Seufzen von sich, und ich zwang mich dazu, nicht das Gesicht zu verziehen. Ich gönnte ihr das Glück, und wenn Elena mir die Neuigkeit vierundzwanzig Stunden früher erzählt hätte, dann wäre ich sicherlich ebenso ausgeflippt. So, wie die Dinge jetzt standen, fühlte sich mein Herz jedoch zu wund für solche Gefühle an, und selbst die offensichtliche Liebe meiner besten Freundin nur aus zweiter Hand zu erleben, schmerzte.
»Kein Problem«, sagte ich leichthin und konzentrierte mich wieder auf die Fotos auf meinem Computerbildschirm.
»Also, was hast du gefunden?«
»Die perfekte Location für euch, das Bed and Breakfast, von dem ich eben schon gesprochen habe.«
»Oh! Ivy Cottage, natürlich! Ich wusste nicht einmal, dass es das noch gibt.«
»Du kennst es? Blöde Frage, natürlich, du bist ja dort aufgewachsen. Wie auch immer, die Besitzerin ist eine Frau namens … Mrs Stone? Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich sie morgen anrufen und –«
»Stone? Mirabel Stone?«, unterbrach El mich.
»Jaaa?«, erwiderte ich vorsichtig. »Warum? Ist sie … ist das nicht gut?«
»Nein! Nein, gar nicht, ich war nur überrascht, das ist alles. Sie muss mittlerweile … über achtzig oder so sein.«
»Äh, keine Ahnung. Sie sieht zumindest nicht älter aus als fünfundfünfzig.«
»Wer weiß, wie alt das Foto ist«, gluckste Elena. »Aber erzähl weiter.«
»Okay, also es gibt noch ein paar andere Locations. Aber …«
»Aber?«
»Ich bin mir zu neunundneunzig-Komma-neun Prozent sicher, dass es Ivy Cottage sein wird. Sobald ich es gesehen habe, habe ich es gewusst. Da wirst du heiraten.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ich werde es mir natürlich noch mal vor Ort ansehen, falls die Bilder veraltet sind, aber wenn es sich nicht allzu sehr verändert hat, dann … ja, ich bin ganz sicher. Schau dir die Fotos an, die ich dir geschickt habe.«
»Wow«, murmelte sie nur ein paar Sekunden später. »Wow, das ist … genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich habe mich nicht einmal an das B&B erinnert, aber jetzt, da ich die Bilder sehe, ist es offensichtlich, dass ich daran gedacht habe. Wie machst du das nur immer, Thea?«
Ich grinste. »Ich kenne dich eben.«
»Ich weiß schon, warum ich unbedingt dich als Hochzeitsplanerin wollte. Ich wünschte, ich könnte dich umarmen!«
Ich lachte. »Geh lieber zurück ins Bett und umarme Nathan. Geh schon, bevor er noch denkt, wir würden Telefonsex oder so haben.«
»Als ob.« Ich konnte Elenas breites Grinsen beinahe vor mir sehen. »Aber du hast recht, ich muss wirklich ins Bett. Wir reden morgen über den Rest, ja?«
»Klar«, antwortete ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Ich rufe Mrs Stone morgen an und sag dir Bescheid, sobald ich mehr weiß.«
»Klingt super. Danke, Thea. Aber du solltest auch ins Bett gehen, ja?«
»Ja, Mama«, neckte ich sie, und als mein Blick diesmal auf die Fotos des B&B fiel, durchfuhr mich wieder diese kribbelige Aufregung. »Gute Nacht, El.«
»Nacht, Süße.«
Mit einem Grinsen beendete ich den Anruf und schloss meinen Laptop. Diese Hochzeit würde perfekt werden. Ich würde dafür sorgen, dass sie absolut –
Ein Gähnen unterbrach meine Gedanken und erinnerte mich daran, wie spät es war. Mit den Gedanken immer noch im malerischen Upper Hillford machte ich mich auf den Heimweg. Ich war so abgelenkt, dass ich zuerst gar nicht bemerkte, dass ich im Aufzug meines Wohnhauses nicht allein war. Nur am Rand nahm ich das ineinander verschlungene Paar wahr, das anscheinend ebenfalls nicht mitbekam, dass es Publikum hatte. Erst als eine vage vertraute Stimme »Marc!« keuchte, wurde mir klar, was hier gerade passierte.
Ich hob den Blick, nur um ihn, mit seinem blonden Haar und dem zu perfekt geformten Gesicht, zu sehen. Alles, was ich den ganzen Tag versucht hatte zu vergessen. Nur, um ihn jetzt beim Rummachen mit einer Brünetten zu treffen.
Er hatte eine Frau bei sich. Definitiv diejenige, mit der er die Mittagspause verbracht hatte, nachdem er mit mir Schluss gemacht hatte. Per Sprachnachricht.
Er schenkte mir nicht einmal einen Blick.
Als ob ich gar nicht existierte.
Als ob nichts passiert wäre.
Als ob wir Fremde wären.
Als ob ich ihm egal wäre.
Ich starrte sie mit offenem Mund an, bis sich die Türen öffneten.
»Sorry«, murmelte ich, als ich praktisch vor der Szene floh und sie dabei anrempelte.
Es war mir egal, ob das Paar aus dem Aufzug stieg oder nicht. So schnell ich konnte, ging ich zu meiner Wohnung. Ich wollte so weit wie möglich von ihm entfernt sein.
Erst als die Tür hinter mir verschlossen war, wagte ich endlich zu atmen. Meine Brust hob sich, und ein Schluchzen entwich mir. Nein, Marc war nicht die Liebe meines Lebens, aber nichtsdestotrotz fühlte ich mich mit einem Mal benutzt. Benutzt und weggeworfen. Ich hatte gedacht, dass sich zwischen uns etwas Ernstes entwickeln könnte, aber ich hatte mich getäuscht – mal wieder. Dieser Gedanke schmerzte beinahe noch mehr.
Und die Vorstellung, das zu sehen, ihn jetzt jeden Tag zu sehen … Ich konnte das nicht. Nicht jetzt. Nicht so kurz nach der Trennung. Ich brauchte Abstand, dringend.
Ohne lange darüber nachzudenken, zog ich mein Handy aus der Tasche und schaute auf die Webadresse des B&B, das ich zuvor gespeichert hatte. Ich hatte ohnehin vorgehabt, mir Ivy Cottage persönlich anzusehen. Auf ein paar Tage früher oder später kam es nun auch nicht an.