Kapitel 1
Happy Birthday
Sehr geehrte Miss Graham,
im Namen des gesamten Abercrombie Verlags bedanke ich mich für Ihren freundlichen Brief.
Was die Kontaktdaten von Miss Lilianna angeht, muss ich Ihnen in diesem Zuge jedoch leider mitteilen, dass wir nicht dazu befugt sind, diese weiterzugeben, da wir die Privatsphäre unserer Autorinnen und Autoren stets respektieren und schützen. Gerne können Sie Ihre Fanpost aber an uns schicken – wir leiten diese zeitnah und zuverlässig weiter.
Des Weiteren tut es mir von Herzen leid, dass Ihnen die aktuellen Romane von Suri Lilianna nicht mehr in jener Art und Weise zusagen, wie die Royal-Lovers-Reihe es getan hat, welche, wie Sie so schön beschrieben haben, Ihr Leben verändert hat.
Ich kann Sie diesbezüglich jedoch beruhigen: Ihre Sorgen, dass Miss Lilianna unter Depressionen leidet, einer Gehirnwäsche unterzogen oder von uns durch einen minderwertigen Ghostwriter ersetzt wurde, sind völlig unbegründet. Laut unseres Kenntnisstandes erfreut sich unsere geschätzte Autorin sowohl körperlich wie auch mental bester Gesundheit, und auch ihre Bücher befinden sich nach wie vor auf vielen unterschiedlichen Bestsellerlisten, sodass wir Ihnen versichern können, dass deren Qualität nach Royal Lovers nicht gelitten hat.
Vielleicht kann Die Sonne bei Nacht Ihr Interesse wecken? Der gemütliche wie humorvolle Sommerroman erscheint am ersten Juli diesen Jahres und hält einen Protagonisten bereit, der Ihrer männlichen Lieblingsfigur Jace O‘Kelly gar nicht so unähnlich ist. Teilen Sie uns bitte gerne frühzeitig mit, wenn Sie ein signiertes Exemplar mit Farbschnitt erhalten möchten, da diese immer schnell vergriffen sind.
Zu Ihrer letzten Frage: Sicherlich haben Sie Verständnis dafür, dass wir nicht die Möglichkeit haben, ein geheimes Meet & Greet zu organisieren, selbst dann nicht, wenn Sie – ich zitiere – als Kind im selben Dorf wie die Abercrombies gewohnt haben und deshalb fast zur Familie gehören, es tausendprozentig keiner Menschenseele erzählen und ganz bestimmt mit ins Grab nehmen werden. Auch die von Ihnen selbst formulierte, mitgesendete und bereits unterzeichnete Verschwiegenheitsklausel ändert daran zu meinem Bedauern nichts. Unser Vertrag mit, und unsere Treue zu den Autorinnen und Autoren erlauben diesbezüglich keinerlei Ausnahmen.
Bitte sehen Sie die beigelegten Charakterkarten und den exklusiven Taschenkalender mit den anstehenden Veröffentlichungen unserer Verlagsbücher als Zeichen unserer Wertschätzung.
Mit freundlichen Grüßen
Samuel Dawson
Abercrombie Verlag
Enttäuscht aufstöhnend ließ ich den Brief sinken und legte meine Stirn auf der Schreibtischkante ab. Es war so klar gewesen, und dennoch hatte ich insgeheim die Hoffnung gehegt, den Verlag mit meinem Brief überzeugen zu können. Immerhin hatte ich mehrere Stunden meines Lebens für diesen seitenlangen und äußerst euphorischen Wunsch geopfert, der mich dem Traum, meiner Lieblingsautorin im wahren Leben zu begegnen und ihr all die wichtigen Fragen zu stellen, die mir auf der Seele brannten, bedeutend näherbringen sollte. Wie sollte ich denn ohne ihre Hilfe jetzt jemals herausfinden, was ich tun musste, um genauso glücklich, verliebt und perfekt zu werden wie Catherine Beaumont und Jace O‘Kelly es waren?
„Und Nervenzusammenbruch Nummer 3724.“ Harvey zog das U vom Und übertrieben in die Länge, raschelte mit der Chipstüte, die er heimlich in die Wohnung geschmuggelt hatte, und steckte sich laut vernehmlich eine Handvoll Kartoffelchips mit Bacon-Geschmack in den Mund, deren penetranter Gestank schon die Luft erfüllte. Eine Weile lang durchdrangen seine zufriedenen, nur hin und wieder von ruhigen Atemzügen unterbrochenen Kaugeräusche das Kinderzimmer, in dem wir saßen, während ich meine Stirn nach wie vor auf der Schreibtischplatte ruhen ließ. Dann traf mich völlig unerwartet etwas am Kopf, von dem ich ziemlich sicher war, dass es eine Walnuss war.
„Aua, verdammt Tori!“ Mit tränenden Augen richtete ich mich auf und rieb mir über die Stelle am Hinterkopf, an der ich getroffen worden war. Unmittelbar neben einer der Rollen meines Schreibtischstuhls lag die verräterische Nuss und schaukelte sogar noch leicht hin und her.
„Nervenzusammenbruch Nummer 3724 erfolgreich abgewendet“, erklärte Tori zufrieden, ehe sie sich mit Unschuldsmiene an mich wandte. „Und woher genau willst du wissen, dass ich das war? Im Zweifel für den Angeklagten, nicht wahr?“ Alle Viere von sich gestreckt auf meinem Sitzsack unter der Dachschräge liegend, musterte sie mich mit unbedarftem Blick.
„Weil er …“, ich deutete auf Harvey, „… Chips isst und du …“, ich zeigte auf den Nussknacker und die Keramikschüssel voller dunkelbrauner Schalenteile zu ihren Füßen, „… Nüsse! Außerdem würde Harvey so was niemals tun.“
„Ach, aber ich?“ Tori schüttelte in gespielter Empörung den Kopf, sodass ihre kurzen schwarzen Haare hin- und hergewirbelt wurden.
„Ja, das würdest du … eindeutig“, entgegnete ich, klaubte die Nuss vom Boden auf und warf sie zurück, doch meine beste Freundin schnappte sie gekonnt und mit völlig unbeeindrucktem Gesichtsausdruck direkt aus der Luft, ohne sich auch nur minimal vom Sitzsack fortzubewegen.
„Du vergisst wohl wieder, dass ich eine begnadete Handballerin bin“, erinnerte sie mich.
„Erzähl mir mehr, sobald es Quidditch ist.“ Ich zuckte mit den Schultern, knüllte den Brief vom Abercrombie Verlag zu einer festen Papierkugel zusammen und beförderte diesen mit einem grimmigen Fingerschnipsen in den Papierkorb.
„Quidditch? Ist das nicht was zu essen? So eine Art deftiger Kuchen, oder?“, warf Harvey ein und schob sich die Brille mit dem Zeigefinger hoch auf den Nasenrücken.
„Du meinst wohl Quiche, Blödmann“, lachte Tori, dann deutete sie auf den Papierkorb. „Was ist passiert? Plant wieder irgendein Autor den Tod deines Lieblingscharakters? Müssen wir dich wieder davon abhalten, eine Petition zu starten, die verlangt, dass ein ganzes Buch umgeschrieben wird?“
Harvey lachte, und ich stöhnte gepeinigt auf.
„Erinnere mich nicht daran“, verlangte ich, das Gesicht vor Scham in den Händen verborgen. „Ich war noch jung und …“
„… brauchte das Geld?“, ergänzte Tori.
Wieder brachen beide in Gelächter aus.
„… war ziemlich verliebt in Sirius Black“, verbesserte ich ungerührt. „Dieses Mal geht es um etwas völlig anderes. Die Autorin von Royal Lovers schreibt in der letzten Zeit ganz anders. Als … als hätte man sie durch jemand anderen ersetzt. Diese ganze mitreißende, wilde, rohe, perfekte Romantik fehlt, wegen der ich ihre Art zu schreiben so gemocht habe.“
„Menschen ändern sich nun mal, Jenna“, erklärte Tori ungerührt. „Auf der ganzen Welt und aus den verschiedensten Gründen. Das ist nichts Neues oder Ungewöhnliches. Vielleicht hat sie sich scheiden lassen oder jemanden kennengelernt. Oder sie ist in die Wechseljahre gekommen und hat ihre Ansichten geändert.“
„Aber warum muss ausgerechnet Suri Lilianna sich verändern?“, seufzte ich. „Ich bin mir sicher, dass etwas anderes dahintersteckt als so eine banale Scheidung oder Hormonveränderung! Es ist doch gut möglich, dass sie in einer Lebenskrise steckt und dringend Hilfe braucht oder … oder irgendein Geheimnis verbirgt, das sich langsam seinen Weg an die Oberfläche bahnt, weswegen sie sich plötzlich völlig anders verhält.“ Tief Luft holend fügte ich hinzu: „Vielleicht hat sie einen geheimen Zwilling wie in Band drei, als Catherine sich im Wald verirrt hat, sich ihren Knöchel bricht und den Kompass während des schlimmen Unwetters verliert, weil der böse Stiefonkel von … “ Ich unterbrach mich mitten in meinem Redefluss, da meine Freunde mich mit ihrem obligatorischen Jenna-spinnt-mal-wieder-Blick ansahen.
„Ich habe jedenfalls beim Verlag nachgefragt, ob es ihr gutgeht und ob man eventuell ein Meet & Greet mit ihr vereinbaren könnte“, schob ich etwas leiser hinterher, was das Ganze recht verharmlosend zusammenfasste.
„Hast du nicht!“, stöhnte Tori auf.
„Hat sie. Du kennst sie doch.“ Harvey steckte sich gänzlich unbeeindruckt eine weitere Portion Chips in den Mund, wobei eine ganze Menge kleiner bis mittelgroßer Krümel auf mein Bett bröselte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um mir einen Kommentar zu verkneifen. Leider war das Zimmer nicht das größte und Sitzgelegenheiten demnach spärlich gesät.
„Und was haben sie dir geantwortet?“, erkundigte Tori sich mit einem Blick, der verriet, dass sie die Antwort darauf eigentlich schon kannte.
„Dass ich sie am Arsch lecken kann“, erklärte ich frustriert. „In freundlichere Worte verpackt und mit ein paar echt hübschen Charakterkarten als Trost, aber der Kontext war derselbe.“
„Arschlöcher“, schloss Tori geradeheraus.
„Wie schade, tut mir leid für dich.“ Harvey bedachte mich mit aufrichtiger Empathie, bevor er sich wieder seiner Chipstüte zuwandte.
„Ist nicht so wichtig“, log ich und machte eine wegwerfende Handbewegung. „So was wirft mich nicht aus der Bahn. Ich bin eine erwachsene Frau.“
„Die immer noch in ihrem Kinderzimmer wohnt“, ergänzte Tori, während sie eine weitere Walnuss knackte.
„Die wieder in ihrem Kinderzimmer wohnt“, korrigierte ich sie eingeschnappt. „Vorübergehend.“
„Und die trotz ihres abgeschlossenen Literaturstudiums für einen Mindestlohn im Buchladen um die Ecke jobbt, weil sie nicht weiß, was sie aus ihrem Leben machen will“, fügte Harvey hinzu.
„Und sich weigert, Männer zu daten, weil sie immer noch nicht verkraftet hat, dass ihr Ex ein Arsch ist, sodass sie lieber für nicht existente männliche Hauptfiguren aus Büchern schwärmt.“
„Und schon mal im Krankenhaus war, weil sie mit einem Buch in der Hand eine nasse Stelle am Boden übersehen hat, gestürzt ist und sich das Handgelenk gebrochen hat.“
„Und das Paradebeispiel dafür ist, dass Disneyfilme unserer Generation eine unrealistische Vorstellung von Liebe vermittelt haben.“
„Ist ja gut, ist ja gut …“ Kopfschüttelnd brachte ich die beiden zum Schweigen. „Ihr müsst mich ja wirklich sehr lieben, so wie ihr über mich redet.“
„Tun wir“, stimmte Tori mir zu und erhob sich wenig elegant vom Sitzsack.
„Sehr“ nickte Harvey kauend. „Gerade weil du so ein Freak bist. Wir sind der Club der Freaks, und du bist unsere Vorsitzende. Du bist wie … wie Belle aus Die Schöne und das Biest.“
Noch ehe ich mich über diesen schmeichelhaften Vergleich mit der hübschen, singenden und Bücher liebenden Disney-Prinzessin freuen konnte, legte Tori mir ihre Hand auf die Schulter.
„Eher wie diese verrückte Meerhexe von Arielle“, machte sie Harveys schöne Worte mit einem unschuldigen Lächeln zunichte.
Was ich in ihren Augen ausgerechnet mit der herzlosen Ursula gemein hatte, sollte ich nicht mehr erfahren, denn genau in diesem Moment öffnete sich die Zimmertür, und das Gesicht meiner Mutter erschien im Türspalt. Schweigend glitt ihr Blick über den Chips essenden Harvey auf meinem Bett über Tori, deren Hand immer noch auf meiner Schulter lag und schließlich auf das Chaos am Boden. Deutlich sichtbar mahnte sie sich innerlich zur Ruhe - immerhin hatte ich Geburtstag - und atmete dann tief ein und wieder aus.
„Wolltet ihr nicht eigentlich … irgendwohin gehen?“, erkundigte sie sich nach etwas, was ich so eindeutig nie gesagt hatte.
„Die Buchhandlung hat schon geschlossen und …“, setzte ich an.
„Ich spreche nicht von der Buchhandlung, Jenna Hope Graham. Ich spreche von Clubs, Diskotheken, Cocktailbars …“, zählte sie an den Fingern ab.
„Tabledance Bars“, ergänzte Tori trocken.
„Irgendwas, was Spaß macht“, verlangte meine Mutter und ignorierte den Kommentar meiner Freundin geflissentlich. Nach zehn Jahren Freundschaft zwischen uns war sie inzwischen immun gegen jegliche Arten von Tori-Sarkasmus.
„Aber Cara, wir haben Spaß“, beharrte ich verzweifelt. Ich sprach meine Mutter mein ganzes Leben lang nur mit ihrem Vornamen an. Anderenfalls, und so hatte sie es mir schon als Kleinkind gepredigt, wäre sie sich alt vorgekommen.
„Jenna, Schätzchen, glaub mir, das hier …“, vielsagend deutete sie auf alles, was sich im Zimmer befand, unter anderem auch auf meine Freunde, „… ist kein Spaß. Wollen wir nicht einfach Sushi essen gehen?“
„Ich mag kein Sushi“, erinnerte ich sie vorsichtig.
„Jeder mag Sushi.“ Schnaubend schüttelte sie den Kopf. „Ich verstehe dich nicht, Jenna. Du hast Geburtstag. Du bist jetzt vierundzwanzig Jahre alt. Als ich in deinem Alter war …“
„Ich weiß, ich weiß …“ Genervt verdrehte ich die Augen. „Da warst du schon verheiratet und hattest zwei Kinder.“
„Ja, und hätte alles darum gegeben, meinen Geburtstag in einem Club, einer Diskothek oder einer Cocktailbar verbringen zu können“, behauptete sie, ihre Ansprache mit einem bestärkenden Nicken unterlegend. „Mit einem bisschen Alkohol, guter Musik, netten Gesprächen und anschließendem Ausschlafen am nächsten Morgen. Und? Konnte ich das?“
„Konntest du nicht.“
„Und wieso konnte ich das nicht?“
„Weil du dich um deine Familie gekümmert hast.“
„Richtig. Damit du es mal besser hast als ich. Also nutz diese Möglichkeit doch bitte.“
Resigniert senkte ich den Blick. Es hatte wenig bis gar keinen Sinn, meiner Mutter meine Auffassung von Spaß näherzubringen, das wusste ich. In den letzten vierundzwanzig Jahren war mehr als deutlich geworden, dass ihre sich von der meinen gravierend unterschied und dass es unwahrscheinlich wäre, dass sie in irgendeiner Art und Weise Einsicht zeigen würde, was dieses Thema betraf. Dass ich die Vorstellung von einer eigenen kleinen Familie, einem beschaulichen Heim und gemütlichen Filme- und Spieleabenden viel spannender fand als jene, nachts um die Häuser zu ziehen, brauchte ich gar nicht in den Mund zu nehmen.
Als ich zehn Jahre alt gewesen war, hatten wir die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen. Dabei hatten wir meinen älteren Bruder und meinen Dad zurückgelassen. Seitdem hatte ich wieder und wieder erfahren dürfen, dass sie glücklicher gewesen wäre, wenn ich mich, da ich ihr durch meine Geburt schon ihre Jugend versaut hatte, zu einer Zweitversion ihrer selbst entwickelt hätte. Sie genoss ihr Leben als attraktive Singlefrau, verdrehte gerne Männern den Kopf und liebte nichts mehr als ausufernde Shoppingtouren, Wellnessurlaube und wilde Abende mit ihren Freundinnen, während ich … nun ja … das genaue Gegenteil davon war.
„Jenna!“ Cara schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht. „Träumst du etwa wieder?“
Erschrocken fuhr ich zusammen. Wann genau war sie vom Türrahmen ins Zimmer gekommen? Kopfschüttelnd stellte sie einen Wäschekorb mit frisch gewaschener, gefalteter Kleidung auf meinem Bett ab und bemühte sich dabei, ausreichend Abstand zu Harvey und den Chipskrümeln zu halten.
„Macht irgendwas“, startete sie einen letzten Versuch und blies sich eine lange dunkle Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem hohen Zopf gelöst hatte. „Es ist Jahrmarkt in der Stadt. Das wäre doch was für dich, nicht wahr?“ Dabei sah sie mich voller Verzweiflung an, als würde ich nicht bloß entspannt mit meinen Freunden dasitzen, sondern mit einer Nadel im Arm und einer Flasche Hochprozentigem an den Lippen in der Gosse liegen. Jenna, die Ungewöhnliche. Jenna, die Verträumte. Jenna, das Sorgenkind. All das und mehr hatte ich sie schon über mich sagen hören.
„Ein Jahrmarkt“, wiederholte ich langsam, als müsste ich tatsächlich darüber nachdenken.
Cara nickte zustimmend.
Unmengen an Fremden, Lärm, Trubel und schreiende Menschen, die in Achterbahnen und Karussells durch die Luft geschleudert wurden – klang scheußlich.
„Klar, gute Idee“, log ich stattdessen, was mir ein siegesgewisses Lächeln meiner Mutter, aber auch skeptische Blicke meiner beiden besten Freunde einhandelte.
„Sehr gut.“ Cara klatschte zufrieden in die Hände. „Dann treffen wir uns in zehn Minuten unten. Ich fahre euch hin. Und Harvey, Schätzchen …“ Ihr Blick glitt über sein Gesicht, über die Chipstüte in seiner Hand und wieder zurück. „Dir ist bewusst, dass das für deine Haut ganz und gar nicht gut ist?“
„Cara …“, stöhnte ich ungläubig. Als ob er nicht selbst wusste, dass er Pickel hatte.
„Ich meine ja bloß …“ Abwehrend hob sie die Hände. „Also, in zehn Minuten unten?“
„In zehn Minuten unten.“ Ich rang mir ein Lächeln ab, das nicht lange hielt und exakt in dem Moment aus meinem Gesicht verschwand, als sie die Tür hinter sich schloss.
„Gott, deine Mutter hasst mich.“ Harvey, dem ihre Worte offensichtlich den Appetit verdorben hatten, knüllte die Chipstüte zusammen und zog eine Grimasse. Er war ein wenig blass um die Nase geworden – und das, wo er ohnehin eher bleicher Natur war. Wenn es jemanden gab, vor dem er sich fürchtete, dann war es Cara.
„Sie ist nicht zufrieden damit, dass ihre Tochter Außenseiter als Freunde hat“, stimmte Tori ihm mit kraus gezogener Nase zu, unbeeindruckt eine Walnuss nach der anderen knackend.
„Sie ist nicht zufrieden damit, dass ich ich bin“, entgegnete ich seufzend.
„So langsam sollte sie sich aber damit abfinden, dass du eben Jenna bist – und nicht Cara zwei Punkt null.“ Tori schüttelte den Kopf.
„Ist doch egal“, tat ich unbekümmert und erhob mich von meinem Schreibtischstuhl.
Nachdenklich ließ ich meinen Blick durch den kleinen Raum gleiten, der innerhalb der letzten vierzehn Jahre wahrscheinlich weitaus weniger Veränderungen durchgemacht hatte als die meisten anderen Kinderzimmer. Nachdem ich ein Jahr lang mit meinem damaligen Freund zusammengelebt hatte, war ich zu Caras Bedauern vor etwa zehn Monaten zurückgekehrt und hatte mich als Übergang in meinem ehemaligen Kinderzimmer eingerichtet, das zum Glück noch nicht ganz leergeräumt gewesen war.
Ich hatte keine Rosa-, Schwarz- oder Fangirl-Phase durchlebt und auch zu keinem Zeitpunkt mit viel Leidenschaft und noch mehr Klebeband Poster von One Direction oder Billie Eilish an die Wände geklebt. Stattdessen waren bloß die Anzahl der Regale und die der Bücher gewachsen. Von Letzterem wesentlich mehr als Erstere noch zu tragen vermochten. Sie waren überall: auf dem Schreibtisch, auf der Fensterbank, auf dem Nachttisch. Manchmal fühlte ich mich wie Maggie aus Tintenblut, und dann wurde mir wieder klar, dass ich erwachsen war und nicht bloß keinen Vater hatte, der Buchfiguren aus Büchern herauslesen konnte, sondern einfach generell keinen. Zumindest keinen, der mich in seinem Leben haben wollte.
„Na dann los“, ermunterte ich mich, strich meine überschulterlangen braunen Haare glatt, die ich am Morgen noch gewaschen hatte, und nahm die Türklinke in die Hand.
„Juhuu.“ Harvey gab sich nicht einmal Mühe, seine Enttäuschung darüber zu verbergen, das gemütliche Bett und Zimmer verlassen und unter Menschen gehen zu müssen. Während er einer Walnuss von Tori auswich, kehrte er die letzten Chipskrümel von der Matratze auf den Boden und schob sie mit dem Fuß unter den Bettkasten.
„Vielleicht wird es ja gar nicht mal so schlimm.“ Tori schlang mir einen Arm um die Schulter und knuffte mir aufmunternd in die Seite. „Irgendwas sagt mir, dass das noch ein magischer Geburtstag wird.“
Kapitel 2
Jahrmarkt
Drei Dinge, die ich an Jahrmärkten nicht mochte, fielen mir bereits unangenehm auf, während wir uns noch auf dem Weg vom Parkplatz zum lautstarken, blinkenden Getümmel befanden ‒ die Unmenge Menschen, die sich dort aufhielt, der Lärm, den sie verursachten und das Gefühl, das es in mir auslöste, mittendrin zu sein. Ich mochte weder das Großstadtleben noch das Aufeinandertreffen vieler unterschiedlicher Personen. Hektik und Ansammlungen waren nichts für mich. Vielmehr war ich für Ruhe und wenige entspannte Kontakte, bei denen ich ganz ich selbst sein konnte. Dass es wenig Sinn hatte, dies meiner Mutter zu erklären, hatte ich bereits mit zehn Jahren erkannt. Sie hatte so lange darauf bestanden, dass ich mich schon daran gewöhnen, ja, es sogar lieben würde, dass ich mir das im Teenageralter schließlich sogar selbst eingeredet hatte.
Mit fröhlicher Miene stapfte sie voraus, während ich zwischen Harvey und Tori hinterher schlurfte und hoffte, dass wir bald wieder zu Hause sein würden.
„Sieh mal, Schätzchen, eine Geisterbahn!“, versuchte Cara mich zu begeistern und wedelte wild mit dem Arm in Richtung einer nicht gerade vertrauenswürdig aussehenden Ansammlung von Schienen, über denen ein Horrorclown mit schauriger Grimasse vor und zurück wippte. Passend dazu drangen grünlicher Nebel, Kettenklirren und Schreie aus dem Inneren, das hinter einem klappernden Tor lag.
„Nope. Lieber esse ich meine eigenen Schuhe“, raunte ich Tori zu.
Doch Cara ließ sich nicht davon abbringen, mich auf jede noch so kleine Attraktion aufmerksam zu machen, welche ihrer Meinung nach zum Highlight meines Geburtstags werden könnte.
„Schau mal, eine Achterbahn!“
„Wow, ein Kettenkarussell!“
„Ein Riesenrad, Jenna, ein Riesenrad!“
„Wer hat Lust auf eine Runde Autoscooter?“
„Da gibt‘s Zuckerwatte! Wollt ihr welche?“
„Wenn ich weiter den Kopf schüttle, bekomme ich noch Muskelkater im Nacken“, brummte ich, während sie einige Meter vorlief, um freudestrahlend auf einen Stand zu deuten, bei dem man mit Pfeilen auf rote Luftballons werfen konnte. Eine große Gruppe junger Leute, vielleicht in meinem Alter oder sogar etwas jünger, stand lachend davor, während ein blonder Kerl mit Lederjacke sein Bestes gab, seiner weiblichen Begleitung zu imponieren. Ohne Berührungsängste stellte Cara sich dazu und lächelte alle freundlich an.
„Ich bin definitiv bei der Geburt vertauscht worden“, ächzte ich.
„Würde ich dir sofort glauben, würdest du nicht wie ein Klon von ihr aussehen“, gab Harvey mit echtem Bedauern in der Stimme zu bedenken.
„Sie versucht, durch dich das Leben zu leben, das sie in deinem Alter nie leben konnte“, spielte Tori wie schon so oft die Hobby-Psychologin und schüttelte abschätzig den Kopf. „Sie hat so früh geheiratet und Kinder bekommen, dass sie wohl immer das Gefühl hatte, etwas zu verpassen.“
Ein Ballon platzte, und ich zuckte zusammen. Der blonde Kerl triumphierte und Cara gratulierte ihm zu seinem guten Wurf. Seufzend ließ ich meinen Blick über all die Fahrgeschäfte, Fressbuden und Menschen, die offensichtlich alle mehr Spaß hatten als ich, gleiten. Plötzlich fühlte ich mich undankbar.
„Vielleicht sollten wir wenigstens eine Zuckerwatte essen“, schlug ich vor. „Und mit …“, mein Blick glitt suchend über die furchteinflößenden Achter- und Geisterbahnen, bis er am wenig gruseligen Riesenrad hängenblieb, „… dem da fahren.“ Da musste man sich zumindest keine Sorgen um Horrorclowns oder Schnelligkeit machen. Bloß um die Höhe.
„Ich würde jetzt gern Call of Duty spielen“, seufzte Harvey, was ihm einen warnenden Blick von Tori einbrachte.
„Aber noch lieber gehe ich mit euch und Cara auf den Jahrmarkt“, korrigierte er sich wenig überzeugend. „Und fahre mit euch Riesenrad und esse Zuckerwatte.“
„Alles, was du an deinem Geburtstag gerne machen möchtest“, ergänzte Tori und betonte das Du, als würde sie wieder auf die unterschwellige Steuerung meiner Mutter anspielen, die derweil dem jungen Blonden immer noch verzückt beim Pfeile werfen zusah.
Ich zuckte mit den Achseln. Geburtstage empfand ich seit jeher als Last, nicht als Geschenk. Cara hatte mir schon früh erklärt, dass es eigentlich die Mutter sein müsste, die man an dem Tag feiert – immerhin war sie es gewesen, die etliche Jahre zuvor siebzehn Stunden lang in den Wehen gelegen hatte. Ich hatte nichts getan, außer mich gebären zu lassen. Ich verband meinen Geburtstag damit, dass sie für mich putzen, Besuch empfangen, Geschenke bezahlen und Unternehmungen planen musste, während ich gefälligst dankbar und demütig zu sein hatte. Dabei hätte mir, seit ich denken konnte, ein gekaufter Kuchen und ein ruhiger Abend gereicht. Oder ein Disneyfilm, eine Kuscheldecke, ein heißer Tee und eine Schüssel Popcorn.
Während Tori rechts von mir vor sich hin philosophierte und Harvey zu meiner Linken nur ab und an einige Kommentare einwarf, blieb mein Blick an etwas hängen, das aussah, als gehörte es nicht hierher. Zwischen all den lauten, blinkenden, großen Fahrgeschäften voller schreiender und aufgekratzter Menschen befand sich ein Zelt in abgenutzt schwarzer Farbe, vor dem ein Holzschild in den Boden geschlagen worden war. Madame Hekate verkündete es in fein säuberlichen Lettern, an denen jedoch, wie am Zelt, auch schon der Zahn der Zeit genagt hatte, Wahrsagerin, Seherin, Visionärin, Prophetin – heute nur zehn Dollar pro Sitzung. Ihr Glück wartet bereits.
„Ich glaube, das will ich machen“, hörte ich mich sagen und steuerte unbewusst auf diesen Ruhepol inmitten des Chaos zu. Es war fast, als würde ich magnetisch davon angezogen werden.
„Alles, Schätzchen, meinst du das Riesenrad oder die Raupe oder … oh.“ Cara hatte entdeckt, was mein Interesse geweckt hatte und nickte mit einer Mischung aus Enttäuschung, gezwungenem Lächeln und Hätte-ich-mir-ja-denken-können im Blick.
„Eine Wahrsagerin, Jenna? Wirklich? Für so einen Humbug willst du mein Geld ausgeben?“
„Wahrsagerin, Seherin, Visionärin und Prophetin.“ Ich nickte.
„Das klingt ziemlich abgefahren“, kam Tori mir zu Hilfe und schüttelte mit einer harschen Kopfbewegung ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Wie in diesem schrägen Kinofilm, in dem sich anfangs zwei Mädels die Zukunft voraussagen lassen und am Ende alle von Geistern verfolgt und absolut bestialisch ermordet werden.“
Cara schloss kurz die Augen und atmete tief durch.
„Könnte aufregend sein“, schaltete sich nun auch Harvey ein, während er jedoch ein wenig angespannt wirkte und meine Mutter kaum ansehen konnte. „Ich habe letztens erst ein Video auf TikTok gesehen, wo so eine Prophetin …“
„Wie auch immer.“ Cara fächelte sich mit der Hand Luft zu, als wären es nicht frühlingshafte zwanzig, sondern hochsommerliche vierzig Grad, und zog einen Zehn-Dollar-Schein aus der Tasche. Mit einem „Alles, was dich glücklich macht“ überreichte sie ihn mir.
„Danke.“ Ich rang mir ein Lächeln ab. „Wollt ihr mitkommen?“
„Oh, ich verzichte.“ Tori hob abwehrend die Hände und blickte drein, als hätte ich sie zu Kaffee und Kuchen mit dem Teufel höchstpersönlich eingeladen.
„Scheint ziemlich eng da drin“, gab Harvey ihr recht.
„Ich fahre lieber eine Runde Riesenrad“, antwortete auch Cara mit zielgerichtetem Blick in Richtung des riesigen Fahrgeschäfts, in dessen oberstem Korb gerade eine Gruppe kreischender und lachender Teenagermädchen ihren Spaß hatte.
Mit einem tiefen Atemzug wandte ich mich dem geheimnisvollen Zelt zu. Prompt stellte sich mir die erste Frage: Wie klopfte man an, wenn es nichts zum Anklopfen gab? Einen kurzen Moment lauschte ich angestrengt, konnte jedoch nicht hören, ob sich gerade jemand drinnen befand, den ich womöglich stören könnte. Viel zu laut war das Chaos drum herum. Also gab ich mir einen Ruck, steckte meine Hand in die horizontale Öffnung des Zeltes, schob sie ein Stück weit zur Seite und schlüpfte durch den entstandenen Spalt hinein.
Im Inneren war gerade so viel Platz, dass zwei normal gewachsene Personen, ein kleiner Tisch und die beiden blauen flachen Sitzkissen, die beidseitig vor selbigem lagen, Platz fanden. Es roch nach Lavendel und Kamille, aber nicht direkt nach Pflanzen, wie sie in der Natur vorkamen, sondern eher wie ätherische Öle, die ein wenig zu großzügig eingesetzt worden waren.
Der Lärm des Jahrmarkts drang etwas gedämpfter ins Innere des Zeltes, was ich sowohl als angenehm als auch als überraschend empfand, schließlich waren dessen Wände nicht gerade dick.
Ich hatte mir im Voraus keine Gedanken darüber gemacht, wie eine gewöhnliche Wahrsagerin auszusehen hatte, doch nach einem einzigen Blick war mir klar: Madame Hekate war ein Paradebeispiel dafür. Sie trug ein auffälliges knallrotes Gewand und ein Seidentuch in derselben Farbe um den Kopf, welches im Stirnbereich in einem goldenen Band endete. An jedem ihrer Finger steckte mindestens ein Ring, dazu trug sie übergroße Ohrringe, hatte stark geschminkte Augen, und ihr roter Lippenstift hatte sich in vielen Fältchen um die Mundwinkel bereits abgesetzt. Sie war Anfang, vielleicht Mitte sechzig und bewegte sich von der Aura her irgendwo zwischen weise und verrückt. Mit stechendem Blick musterte sie mich, als ich zaghaft in ihr Zelt trat.
„Ähm … hallo“, brachte ich hervor und wedelte in Ermangelung passenderer Worte mit dem Geldschein. „Ich würde gerne einen Blick in die Zukunft kaufen.“
Einen Blick in die Zukunft kaufen? Peinlich berührt biss ich mir auf die Unterlippe. Warum war meine Zunge bloß immer schneller als mein Gehirn?
„Ich meine … wenn Sie gerade frei sind“, setzte ich betont höflich hinzu, strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte.
Doch Madame Hekate erwiderte mein Lächeln nicht. Stattdessen wandte sie sich umständlich nach hinten, zog etwas hervor, das wie ein übergroßes Geschirrtuch aussah, legte es vor sich auf dem Tisch ab und entfaltete es, sodass eine Glaskugel zum Vorschein kam. Ohne auf irgendeine Art und Weise Notiz von mir zu nehmen, ließ sie anschließend ihre Hände mit kreisenden Bewegungen über die Kugel gleiten, wobei sie sie jedoch nicht direkt berührte. Dabei summte sie leise und monoton vor sich hin. Sie schien absolut konzentriert bei der Sache zu sein. Hatte sie vielleicht gar nicht richtig mitbekommen, dass ich das Zelt betreten und sie angesprochen hatte, sondern vorhin vor lauter Konzentration einfach bloß durch mich hindurchgesehen?
„Soll ich vielleicht später wiederkommen?“, schlug ich eingeschüchtert vor.
„Du bist eine gefangene Seele.“ Die Stimme der Hellseherin klang viel klarer als erwartet, sodass ich irritiert die Stirn runzelte. Irgendwie hatte ich etwas anderes erwartet. Etwas Weicheres, Verträumteres.
„Ich?“, fragte ich nach einer Weile des Zögerns, obwohl wir beide eindeutig die einzigen im Zelt waren.
„Du suchst nach Antworten, die dir niemand bisher zu geben vermochte.“ Wieder und wieder gestikulierte sie mit ihren Händen über der Glaskugel, während ihr Blick durch mich hindurchzugleiten schien.
Ich schluckte. Woher wusste sie das? Konnte sie das überhaupt wissen? Instinktiv war ich einen Schritt näher an sie herangetreten, so nah, dass uns nur noch der Tisch und die davor liegenden flachen Sitzkissen trennten. Nachdenklich nahm ich diese näher in Augenschein. Hatte sie mich eigentlich dazu aufgefordert, mich zu setzen? Wahrscheinlich nicht direkt. Aber galt es nicht als unhöflich, dass ich stehen bleiben musste, während sie selbst saß und mit mir sprach? Ohne weiter darüber nachzudenken, ging ich in die Knie und kauerte mich in einer Art Schneidersitz auf das Kissen.
„Du fragst dich, wann und wo du endlich dein Glück finden wirst.“ Madame Hekate legte ihre Hände nun endlich gänzlich auf die Kugel, wobei sie jeden Finger einzeln senkte und dabei mit ihren Nägeln ein klackerndes Geräusch verursachte ‒ ob gewollt oder unbewusst war mir nicht ganz klar. „Du fragst dich, was du tun musst, um das zu werden, was du immer schon sein wolltest – du selbst. Dein Sehnen nach Liebe ist laut, es schreit förmlich. Du willst gesehen werden, willst wachsen, willst lieben.“
„Das ist richtig“, brachte ich leise hervor, obwohl ich mir sicher war, dass sie meine Bestätigung gar nicht brauchte. Sie wirkte von ihrem Tun recht überzeugt.
Im nächsten Moment glaubte ich, etwas in der Kugel zu sehen. Ganz kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde, schien sich etwas darin bewegt zu haben. Wie eine zarte Nebelschwade. Oder hatten die Gase der ätherischen Öle mir bereits derart das Hirn vernebelt, dass ich halluzinierte?
„Du musst dahin gehen, wo deine Wurzeln sind“, hauchte die Wahrsagerin, den Blick so intensiv auf die Glaskugel gerichtet, als würde sie ganze Welten darin sehen. „Da, wo du hergekommen bist, wartet dein Glück.“
Im nächsten Moment klärte sich ihr Blick und mit der Grazie einer Balletttänzerin, die nebenbei auch Trickbetrügerin war, zog sie mir den Zehn-Dollar-Schein aus der Hand. „Danke, der Nächste bitte!“
„Ich … das war’s?“ Verunsichert starrte ich sie an. „Wollen Sie nicht die Linien in meiner Hand lesen oder so?“
„Nicht nötig.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich weiß, was ich gesehen habe. Glaub mir, wenn du eine Antwort auf deine Fragen suchst und nicht nur diese beantwortet haben möchtest, sondern auch Liebe und dich selbst finden willst, dann befolge meinen Rat. Und jetzt geh.“ Sie wedelte mit ihrer Hand Richtung Ausgang. „Geh und finde all das.“
Verdattert wie sprachlos rappelte ich mich auf, warf ihr noch einen letzten fragenden Blick zu und stolperte aus dem Zelt. Sofort empfing mich wieder der charakteristische Lärm des Jahrmarkts, der mir durch Mark und Bein ging, während Madame Hekates Worte sich in meinem Kopf wiederholten.
Ich entdeckte Cara einige Meter vom Zelt entfernt, völlig vertieft in ein Gespräch mit zwei Männern, die sie wahrscheinlich von der Arbeit her kannte. Oder sie hatte sie ganz schamlos und direkt angesprochen … beides war möglich. Harvey und Tori hatten sich kaum vom Fleck bewegt, und man sah ihnen deutlich an, dass sie lieber woanders wären. Als sie mich erblickten, setzten beide ein Lächeln auf.
„Und? Hat sie dir eine glänzende Zukunft, Reichtum und Liebe vorausgesagt?“, zog Tori mich auf.
„Nicht ganz.“ Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken, ehe ich kurz zusammenfasste, was bei der schrägen Wahrsagerin passiert war.
„Gute Taktik“, musste Harvey zugeben.
Tori schüttelte den Kopf, dann hielt sie mit skeptischem Blick inne. „Warte … du glaubst den Scheiß doch nicht, oder?“, fragte sie alarmiert.
„Ich … keine Ahnung.“ Unsicher nahm ich eine Haarsträhne und zwirbelte sie zwischen den Fingern. „Was, wenn etwas dran ist? Woher hätte sie denn sonst so viel über mich wissen können?“
„Jenna, das sind Standardsätze!“ Tori stöhnte ungläubig auf. „Jeder mit einem klein wenig Menschenverstand und Kreativität kann sich da hinsetzen, eine wichtige Miene machen und dir irgendeinen Unsinn prophezeien.“
„Kann schon sein“, gab ich zu. „Andererseits … was, wenn es doch stimmt?“
„Wenn du in der Kleinstadt, in der du die ersten zehn Lebensjahre verbracht hast, die wahre Liebe findest?“
„Und die Antworten auf all meine Fragen und mich selbst?“, ergänzte ich mit erhobenem Zeigefinger.
„Logisch. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
„Selbst wenn nichts dran ist …“, schaltete sich Harvey ein, „… es wäre immerhin eine Reise wert. Du sagst doch immer, wie sehr du es bedauerst, deinen Bruder nicht besser zu kennen.“
„Vergiss aber nicht, dass dort, wo ihr Bruder lebt, auch ihr Vater ist“, ergänzte Tori nachdenklich. „Der, zu dem sie seit vierzehn Jahren kaum Kontakt hat und dem sie mit Sicherheit nicht über den Weg laufen will.“
„Auch wieder wahr.“ Harvey kratzte sich am stoppligen Kinn, sichtlich gewillt, mir bei der Problembewältigung zu helfen. „Vielleicht sollte sie es lieber doch lassen.“
Hin- und hergerissen blickte ich von einem zum anderen. Es wäre verrückt, nach all den Jahren Little Goldcoast wieder zu besuchen, vor allem, wenn der Auslöser eine schrullige alte Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt war. Doch hatte ich mich nicht schon lange insgeheim nach einer Veränderung gesehnt und mir immer vorgenommen, allem eine Chance zu geben? Ich seufzte. Wenn das Schicksal mir doch nur ein Zeichen geben würde …
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, vibrierte das Handy in meiner Hosentasche. Stirnrunzelnd zog ich es hervor und erstarrte, als ich den Namen auf dem Display sah.