Kapitel 1
L wie Luxus
Lollipop-Eis
Sein Kuss ist süßer als Apfelkucheneis.
Süßer als Zuckerstangeneis.
Heidelbeereis, Kirscheis und Mangoeis.
Wenn du dich entscheiden müsstest, wäre er deine Wahl.
»Hi Tom. Einen Moment bitte«, keuche ich ins Handy. Gleichzeitig versuche ich, auf dem glitschigen Boden mein Gleichgewicht zu halten, zerre den Rollkoffer hinter mir durch den Schneematsch, stemme mich dem Sturm entgegen und schütze mein Gesicht vor den piksenden Graupelstücken. Und weit und breit kein Taxi! Nur dunkle Nacht.
Vielleicht sollte ich einfach wieder umdrehen und mit dem nächsten Zug nach Hause ins garantiert schneefreie Berlin fahren.
Was für eine blöde Idee, eine Woche vor Weihnachten in die Berge zu wollen. Wo doch jedes Kind weiß, dass hier die Elemente toben!
Nur, vermutlich würden diese auch auf der Rückfahrt so weitertoben und meine Fahrtzeit damit verdreifachen. Der Hinweg war zumindest schon mal doppelt so lang wie geplant.
So ein Mist aber auch!
Apropos Mist. »Tom? Bist du noch dran?«
Warm brummt mir seine Stimme aus dem Handy entgegen, das ich fest auf mein Ohr drücke, um über das Sturmgetose hinweg überhaupt etwas zu hören.
»Lachst du mich etwa aus?« Vor Wut stampfe ich mit dem Fuß auf. Schwerer Fehler! Schneematsch spritzt mir bis zum Kinn. Urgh!
»Das ist alles deine Schuld!«
Tom lacht umso mehr. »Was genau ist es dieses Mal? Also ich meine, meine Schuld. Die Sache mit dem spontanen Besuch der Eismesse in Freiburg hast du dir selbst zuzuschreiben. Und dass wir noch kein Ziel für unsere Flitterwochen haben, liegt auch an dir. Den Schuh ziehe ich mir nicht an.«
Oha! Ich sehe Scheinwerfer näherkommen. »Moment!«, schreie ich ins Handy und kämpfe mich tapfer vor bis zur Kante des Gehweges.
»Taxi!«, brülle ich dem Auto entgegen, genauso wie ich es dutzende Male in einschlägigen New-York-Filmen gesehen habe.
Der Autofahrer kennt diese anscheinend nicht. Mit unverminderter Geschwindigkeit brettert er an mir vorbei und hinterlässt als Gruß eine nasskalte Pfützendusche, die meiner Hose so richtig den Rest gibt. Und mir.
Freiburg ist halt nicht New York. Und nicht jedes Auto, das aus dem dunklen Nichts auftaucht, ist ein Taxi.
»Bin wieder dran.« Unzufrieden mit mir und der Welt hocke ich mich auf den Koffer. Ist doch ohnehin egal, wenn ich hier einfriere. Merkt doch keiner. Wie es aussieht, verbringen sämtliche Freiburger ihren Abend lieber zu Hause in ihren kuscheligen Wohnungen, als mir Gastfreundschaft zu erweisen. Oder sie brettern blind für bedürftige Fußgänger mit ihren Autos durch die Gegend. Und Taxis haben sie offensichtlich auch noch nicht erfunden. »Schick mir ein Taxi!«
»Wird gemacht, mein Schatz. Mit Sahne oder Himbeerstreusel?«
Wie kann dieser Kerl im Angesicht meines Unglücks nur so fies sein? »Kannst du mich mal bitte ernst nehmen? Ich bin deine Verlobte!«
»Ach Sunny …«
»Du brauchst mir gar nicht kommen mit Sunny und deiner netten Stimme und deinem Seufzen und deinem Augenverdrehen. Ich höre das alles sehr genau. Und ich sehen es!«
Es ist kaum zu glauben, aber das grieselige Schneematschgegraupel wird noch dichter. Wäre ich bloß daheim geblieben, in meinem geliebten Schneeflöckchen, bei den Gästen meiner wunderschönen Eisdiele. Betone ich nicht immer wieder, dass sie – neben Tom natürlich – das wichtigste ist in meinem Leben? Dass ich nichts mehr liebe, als Eiskreationen zu zaubern und damit meine Gäste aus ihrem Alltag in eine kunterbunte Welt zu entführen? »Mir ist kalt und ich bin müde. Ich habe Hunger und mir tut der Hintern weh. Außerdem ist meine Hose nassgespritzt, meine Schuhe voller ekliger, grauer Schneepampe, und meine Mütze habe ich im Zug vergessen! Und du weißt, was das bedeutet! Alle, ich meine wirklich alle, sehen meine vermurksten roten Haare! Mein Zopf glimmt geradezu wie einer dieser Leuchtstäbe.«
Tom schweigt kurz. Vermutlich wird ihm meine jammervolle Lage jetzt erst richtig bewusst. »Komm schon, Sunny. Du lässt dich doch sonst nicht so leicht unterkriegen. Sieh dich noch mal richtig um, dann findest du bestimmt den Taxistand. Wie ich dich kenne, stehst du an irgendeinem Seitenausgang, weil dir dort die Tür besser gefallen hat.«
Da ich gerade selbst auf die Idee gekommen bin, in der Dunkelheit nach dem leuchtenden Schild des Taxistandes zu spähen, lasse ich Toms Kommentar mit der schöneren Tür unkommentiert. Immerhin hat diese Tür mit einem riesigen Plakat dazu eingeladen, den Schwarzwald von seiner romantischsten Seite zu erleben. Dass dahinter das kalte Grauen lag, hat leider nicht darauf gestanden!
In der Tat sehe ich links von mir Lichter, also nehme ich meine restliche Energie zusammen und stapfe in die entsprechende Richtung. »Das da vorn sieht aus wie ein Taxistand«, brumme ich ins Handy.
Tom atmet hörbar auf. »Na siehst du. Schließlich nimmst du selten den geraden Weg, wenn es einen vielversprechenden Umweg gibt.«
»Haha, sehr witzig! Ich stecke dich kurz ein!« Entnervt schiebe ich das Handy in die Jackentasche und zerre nun mit beiden Händen den Koffer, dessen Rollen sich immer stärker mit Schneematsch zukleistern.
Eine tröstliche Reihe von Taxis erwartet mich, und ich steuere auf das erste zu. Noch ehe ich die Beifahrertür öffnen kann, wird diese von einem Mann in einem dunkelgrauen Mantel aufgerissen. Für einen Augenblick fühle ich mich geschmeichelt, dass er mir die Tür aufhält, doch da ist der Kerl schon ins Taxi gestiegen und knallt sie mir vor der Nase zu.
Ich sehe sein Profil durch die Scheibe, während er dem Fahrer Anweisungen gibt.
Nein!
Mich packt ein Flashback und schleudert mich meilenweit zurück in eine Vergangenheit namens Manuel.
Heftig schüttele ich den Kopf. Nein! Das kann nicht sein!
Entsetzt sehe ich dem davonfahrenden Taxi hinterher. Mein Herz hämmert und jagt meinen Puls in die Höhe. Durch heftiges Zwinkern versuche ich, die Bilder zu verscheuchen, die sich aus der hintersten Ecke meines Gedächtnisses nach vorn zwängen.
»N’obe.«
Ein älterer Mann in altmodischer Chauffeuruniform steht plötzlich vor mir, tippt sich an die Schirmmütze und zeigt auf das Taxi hinter sich. Vor Schreck lasse ich meinen Koffer zu heftig los, und er landet mit einem dumpfen Aufprall im Schneematsch.
»Brauscht ei Taxi?«
Der Geist, den ich eben glaubte zu sehen, ist längst verschwunden, und doch sind meine Gedanken noch nicht ganz wieder im Hier und Jetzt. »Taxi?«
»Jo.«
Erst beim dritten Versuch gelingt es mir, den Koffer aufzurichten. Meine Finger sind zu steifgefroren, um sie vernünftig zu bewegen.
»Gehts da? Wem kehrsch du? Brauscht ei Hilf?«
Ich nicke dem Taxifahrer zu.
»Hogg di naa.« Er nimmt mir den Koffer aus der Hand und öffnet die hintere Wagentür. Aufatmend steige ich ein.
Wärme umfängt mich und es riecht angenehm nach den Ledersitzen, die tröstlich knarzen, als ich mich zurücklehne und mich wieder auf die Reihe bekomme.
So ein Quatsch, den ich mir da zusammenreime. Als würde ausgerechnet hier und nach hundert Jahren Manuel wiederauftauchen. Den Kerl habe ich so was von abgehakt, den gibt es quasi nicht mehr, ergo kann ich ihm auch nicht begegnen!
Ich atme tief durch und lande wieder in der Gegenwart. Oh Tom! Der Arme steckt ja noch in meiner Jackentasche. Meine Finger kribbeln vom Warmwerden, während ich das Handy herausfriemele.
»Soddele. Wo gehscht hi?« Der Taxifahrer lässt sich in den Fahrersitz plumpsen und dreht sich zu mir um.
Mein Freiburgerisch ist nicht ganz astrein, aber vermutlich möchte der Taxifahrer die Zieladresse wissen. »Moment«, vertröste ich Tom am Handy und gleichzeitig den Fahrer und suche nach dem Memo mit dem Hotelnamen.
»I triiz di nit.«
Verständnisvoll nicke ich und suche weiter. Irgendwo müsste es doch stehen. Ah, gefunden. »Ich möchte bitte ins Hotel Bellevue.« Mein Hochdeutsch ist glasklar und unmissverständlich, wobei mein Französisch auch nicht von schlechten Eltern ist, wie man unschwer an dem Wort Bellevue hören kann. Ein anderes Hotel als mit schöner Aussicht kommt ohnehin nicht infrage.
Der Taxifahrer grinst schief und tippt sich wieder an die Schirmmütze. »Des olde Bellwü is nit schlecht. I schaff di nuff.« Damit dreht er sich um, startet den Motor und fährt in die Schneegraupelei hinein, als würde er den ganzen Tag nichts anderes machen.
In dem Maß, wie mein Stresspegel sinkt, steigt auch wieder die Vorfreude auf die nächsten Vorweihnachtstage im Schwarzwald: die Eismesse, leckeres Essen, das volle Verwöhnprogramm im Hotel. Fast wünsche ich mir, Tom wäre mitgekommen und säße jetzt neben mir.
Aber einer muss ja ein oder besser beide Augen auf unsere Hochzeitsvorbereitungen haben, wenn wir in ein paar Tagen zu Weihnachten heiraten. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass es bald so weit ist. Es ist ein Traum, ein wunderschöner, erfüllender, übersprudelnder Traum!
Doch Teile des Traumes sind eingerissen und über all meiner Vorfreude schweben meine Selbstzweifel. Dabei wollte ich diesen entkommen, als ich gestern den Zug für heute nach Freiburg gebucht habe. Und ich werde diesen Zweifeln entkommen! Ich kriege das hin. »Sorry Tom, jetzt bin ich ganz für dich da.« Ich drücke das Handy fest an die Wange und hätte so gern, dass es Tom wäre, an den ich mich ankuscheln könnte.
»Dir scheint es ja wieder besser zu gehen.«
Dieses Mal wärmt mir Toms Lachen das Herz. Mir wird es bald wieder besser gehen. Ganz bestimmt. Ich muss nur mit mir ins Reine kommen. »Jep. Ich sitze endlich im Taxi, bin auf dem Weg ins Hotel und hoffentlich gleich da. Allzu weit dürfte es eigentlich nicht sein.«
»Ich leiste dir gern Gesellschaft. Nicht, dass sich der Taxifahrer noch deinetwegen verfährt.« Toms Stimme wird leiser, dann höre ich unsere Kühlschranktür zuschlagen. Keine andere rumst so wie sie.
»Bulette oder Käsewürstchen?«
Tom verschluckt sich beim Lachen und hustet. »Beides.«
»Iss doch wenigstens einen Salat dazu.«
»Ach? Und wie oft futterst du dein Eis mit Salat als Beilage?«
»Das ist etwas anderes! Eis ist per se ein Grundbedürfnis, und außerdem tüftele ich an ein paar schmackhaften Gemüsesorten. Ich glaube, morgen oder übermorgen findet auf der Eismesse sogar ein Workshop dazu statt.« Mmh, saftig grünes Salateis, mit einem Swirl aus tiefdunkelgrünem Kürbiskernöl. Da müsste doch etwas zu machen sein …
Ein Räuspern aus dem Handy unterbricht meine eisigen Gedanken. »Sag bitte nicht, du grübelst über Salateis nach. Wie ich dich kenne, kombiniert mit irgendeinem Delikatessöl?«
Ich schweige zustimmend, denn das famose Salateis in meiner Vorstellung wird nun noch getoppt von glänzendroten, süßen Granatapfelkernen. Vielleicht karamellisiert. Nein! Lieber pur. Mit Marcona-Mandelstückchen?
»Na gut. Ich esse dann mal weiter still meine Bulette, während du in deinem Eistunnel bist.«
Vermutlich lehnt Tom lässig am Kühlschrank, während er seine Bulette futtert. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Ich liebe diesen Kerl! Mit Haut und Haaren und mit oder ohne Bulette. »Willst du dich nicht wenigstens hinsetzen zum Essen?«
»Geht schon, danke. Außerdem habe ich heute genug auf dem Rad gesessen.«
»Du bist echt eine Tour gefahren? Bei dem Wetter?«
»Hier ist es trocken.«
»Aber eisig!«
»Und trocken.«
Ja, ja. Für den Rest gibt es die richtigen Klamotten.
»Für den Rest gibt es die richtigen Klamotten.«
Bingo. Ich kichere und schüttele den Kopf.
Erneut fällt die Kühlschranktür zu. »Apropos richtige Klamotten. Du hast echt deine schicke neue Mütze verloren? Das Ding, das du dir zu deiner brandneuen Haarfarbe gekauft hast?«
Laut atme ich aus. »Du brauchst das schick gar nicht so zu betonen. Die Mütze ist schick. Megaschick. Und sie passt perfekt zu meinen megaschicken Haaren.« Wenn sich das Zeug nur endlich mal wieder rauswaschen würde!
»Klar! Dieses Orange-Knallrot ist der Hammer. Das gibt einen fabelhaften Kontrast zu deinem Hochzeitskleid.« Toms Grinsen ist regelrecht zu hören.
Mein Herz pocht heftiger, und die Panik angesichts meines haarigen Farbunfalls kriecht in meinem Magen umher. »Ich wollte doch nur die perfekte Haarfarbe für unsere Hochzeit finden. Ich konnte doch nicht ahnen, wie unauswaschbar dieses Zeug ist.«
Tom antwortet mir nicht gleich. Er scheint das Debakel wirklich furchtbar zu finden, denn sonst nimmt er auch kein Blatt vor den Mund.
»Hallo?«, frage ich tapfer.
»Sunny, du hast die ideale Farbe für unsere Hochzeit. Egal ob du deine Haare karottenorange färbst oder eissalatgrün oder ob du dein wundervolles Blond trägst, du bist immer perfekt für mich. Und das solltest du auch für dich sein.«
Toms liebe Worte glätten etwas meine Haarpanik. »Ich liebe dich, Tom.«
»Ich dich auch. Obwohl du mich mit deinen knallroten Haaren momentan ein wenig verschreckst.« Trocken wie Saharasand rieselt Toms Neckerei aus dem Handy.
»Es sieht trotzdem gut aus! Irgendwie! Vielleicht nicht gerade auf meinem Kopf, aber bei irgendeiner anderen Frau bestimmt!«
»Bestimmt.« Tom lacht. »Die muss nur noch gefunden werden.«
»Da kann ich dir helfen. Auf der Packung der Tönung ist sie nämlich drauf!« Vielleicht war ja die falsche Tönungsflüssigkeit in der Packung. Genau! So wird es gewesen sein. Irgendein Unhold hat die Farben ausgewechselt. Definitiv. So als Aprilscherz im Dezember!
»Will ich wissen, was du gerade denkst?« Knurpsend beißt Tom in einen Apfel.
»Ich denke, dass du aufhören solltest, mir etwas vorzukauen, denn ich habe einen ganz undamenhaften Hunger. Wie du weißt, hat meine Fahrt doppelt so lang gedauert, und somit hatte ich nur die Hälfte an nötigem Proviant mit. Und den Speisewagen haben sie in Göttingen abgekoppelt, weil er defekt war!« Moment, nicht nur die Zugfahrt hat doppelt so lang gedauert, auch die Taxifahrt dauert schon ziemlich lange. So groß kann Freiburg doch gar nicht sein. Und warum fahren wir so viele Kurven und bergauf?
Mit einem Schlag verschwindet mein Hunger und macht einem üblen Gefühl Platz.
Ich versuche, stur geradeaus zu blicken und tippe dem Taxifahrer auf die Schulter. »Bitte, wohin fahren wir?«
»Insch Bellwü.«
Ich will noch einmal nachfragen, um ganz sicher zu gehen, dass wir nicht eher auf die Zugspitze fahren, doch entscheide mich dagegen.
»Tom, ich lege auf. Bis nachher«, würge ich noch schnell hervor und halte die Luft an. Atme, Sunny, atme. Tief ein und aus.
»Alles okay?«
Ich nicke, drücke fahrig auf die Austaste und krampfe die Finger um das Handy. Atmen und raussehen. Und dabei geflissentlich die Kurven ignorieren!
Dieses verflixte Hotel mit dem schönen Ausblick muss doch endlich auftauchen! Und wenn es einen hässlichen Ausblick hat, wäre mir das gerade auch völlig gleichgültig. Ich will endlich wieder ruhigen Boden unter meinen Füßen haben!
Kapitel 2
I wie Insgeheim
Ingwerapfel-Eis
Feuriger Ingwer, fruchtiger Apfel, umeinandergeschlungen in einem Bett aus sahnigem Mascarpone, unter einer Decke aus süßem Zimt.
Endlich hält das Taxi an, auch wenn es in mir weiter schaukelt. Vorsichtig lockere ich die verkrampften Schultern und lehne mich zurück, dabei schließe ich die Augen.
Schwerer Fehler. Hinter den Lidern dreht sich alles noch immer wild.
Oh, ich will nach Hause! In mein schönes, glattes Berlin, in mein schönes, warmes Bett, das wie ein Fels in der Brandung in meinem wunderschönen Schlafzimmer steht und kein Stück wackelt.
Mir ist übel. Ich habe in den Bergen schlicht und ergreifend nichts verloren!
Frische, eisige Luft trifft auf meine heißen Wangen, als der Taxifahrer die Tür neben mir öffnet. Er beugt sich zu mir herunter. »Wir sin do. Wülscht nit ausstige?«
Weder mag ich nicken noch den Kopf schütteln. Eigentlich möchte ich nur sitzenbleiben und weiter die herrliche Luft einatmen, die langsam meine Übelkeit vertreibt.
»Bischt green um de Zinken. Ha Nablsurre vo nufforn?«
Das Einzige, was ich an seinem schnellen Genuschel verstehe, ist das Fragezeichen am Ende des Satzes.
»Härrguottsäckli! I hol da de Lilli.«
Wie der Taxifahrer so dasteht, die Fäuste ineinander verknotet, die Augen kugelrund aufgerissen, die Mütze schief auf dem Haupt, muss ich nun doch lächeln. Er sieht zugleich besorgt und ängstlich aus, schwankt anscheinend zwischen mich auf den Arm nehmen und die Flucht ergreifen.
Mein Magen trudelt endlich aus, und sowohl das Innere des Taxis als auch der Fahrer selbst bleiben stehen, und zwar genau da, wo sie hingehören.
Auch die Hitze weicht aus meinem Körper, und ich fröstele endlich wieder so, wie es sich für diese eisigen Temperaturen gehört. Und wie es hier duftet!
Begierig sauge ich die Luft ein, als ich aussteige. Es ist der purste Eisduft, den ich mir vorstellen kann. Klar und frisch und umfangen von einer Energie, die alle Sinne berührt. Wie sich dieser Geschmack wohl auf der Zunge anfühlt?
Ich sehe mein Schneeflöckchen vor mir. Wie in Berlin meine Gäste bedächtig von mir erschaffene Eiswunder aus Bechern löffeln, die wie Schneekugeln geformt sind. Feierlich genießen sie die Reinheit des Eises, getragen von weicher Süße, während draußen wattebällchengroße Schneeflocken vom Himmel schweben. Wow! Die schreckliche Fahrt hat sich doch gelohnt!
Erleichtert strecke ich mich ausgiebig und blicke mich um. Viel kann ich durch das Schneegestöber nicht erkennen, doch immerhin sind es jetzt keine piksigen Graupelkörner mehr, sondern dicke Schneeflocken – groß wie Wattebällchen. Wie in meiner Vision.
Ich lächele den Taxifahrer an. »Es ist wunderschön.« Da fällt mein Blick über seinen bemützten Schopf auf das Hotel hinter ihm. Goldenes Licht aus den Fenstern ergießt sich in den Abend und lässt die Schneeflocken funkeln.
Die Doppelflügel der Tür aus Buntglasfenster öffnen sich, während wir darauf zugehen. Eine junge Frau in einem raschelnden, knöchellangen, schwarzen Rock mit weißer Bluse und Blumenmieder kommt uns entgegen und nimmt dem Taxifahrer meinen Koffer ab. Durch ihre riesige Siebzigerjahre-Brille strahlt sie mich an, als wäre ich der Mittelpunkt der Welt. »Guten Abend, herzlich willkommen im Hotel Bellwü. N’obe Albert.«
»N’obe Lilli. Ha da Karli no a Chriesiküache für mi?«
»Freili. Goo ni.«
An mich gewandt deutet der Taxifahrer eine leichte Verbeugung an und tippt sich an die Schirmmütze. »N’obe.«
Lilli rollt meinen Koffer in das Hotel, als ich das Schild neben dem Eingang lese. Merkwürdig. Ich fasse den Taxifahrer am Arm, damit er stehenbleibt, und tippe mit der anderen Hand auf meinem Handy herum. »Moment, Herr … Herr Taxifahrer.«
Da! Da steht es, der Name meines Hotels: Bellevue. Doch auf dem Schild neben dem Eingang steht: Bellwü. Die werden sich doch nicht so heftig verschrieben haben? Oder? Vielleicht ist es ja der Freiburger Dialekt.
Ich halte dem Taxifahrer das Handy hin. »Ich wollte in dieses Hotel, das Hotel Bellevue.«
Er nickt verstehend, wie mir scheint. »Bischt scho im richtigen Bellwü. I ha Firobe.« Damit tippt er sich erneut an die Mütze, nickt mir zu und verschwindet im Gebäude. Dort dreht sich Lilli um, lässt den Koffer mitten im Foyer stehen und kommt wieder auf mich zu. Wenn möglich, strahlt sie mit einem Mal noch stärker als vorhin, der funkelnde Weihnachtsbaum neben ihr verblasst regelrecht.
Und nun? Ich bin doch hier richtig? Oder nicht?
»Aber bitte, so kommen Sie doch herein.« Lilli schiebt ihre Brille hoch, die sofort wieder nach unten rutscht. »Es ist mir solch eine Ehre. Aber was plappere ich da, Sie sind bestimmt ganz im Geheimen hier. Oh, ich fasse es nicht.«
Sicherheitshalber drehe ich mich um, nicht, dass ich mich geschmeichelt fühle, und dann doch nicht gemeint bin. Das wäre peinlich. Aber hinter mir steht niemand. Nun gut, meine Familie und Freunde freuen sich auch meistens, mich zu sehen, warum also nicht Fremde.
Doch! Ich bin hier richtig. Ich werde sogar erwartet.
Lilli starrt mich an und schlägt die Hände vor dem blumenübersäten Mieder zusammen. »Wenn ich das den Bellwü-Schwestern erzähle. Wenn Sie mir bitte zum Empfang folgen wollen, nur für die nötigsten Formalitäten, den Rest mache ich dann selbst. Ich kenne mich ja aus mit solchen Diskretionen.« Sie zwinkert mir zu.
Etwas irritiert folge ich Lilli zum Empfang, der aus einem hölzernen Tresen besteht, kunstvoll übersät mit eingeschnitzten Fichten. Die Arbeit ist so fein, dass ich einzelne Nadeln an den Ästen erkenne.
Lilli tritt hinter den Tresen, und wieder scheint sie einzig und allein für mich auf dieser Welt zu sein. »Willkommen in unserem wundervollen Hotel Bellwü.«
»Bellevue wie das französische Wort bellevue oder wie das Schwarzwälder Wort dafür?« Ich suche das Namensschild auf ihrer Brust nach dem Hotelnamen ab, doch da steht nur Lilli Kiefer.
»Das Bellevue ist unten in der Stadt, wir heroben auf dem Berg sind das Bellwü. Hier wollten Sie doch her, oder?« Lillis Lächeln verrutscht, und für einen Moment glänzen ihre Augen hinter den Brillengläsern feucht. »Moment, bitte.« Sie taucht hinter dem Tresen ab, und es raschelt. »Doch, hier steht, Sie kommen ins Bellwü.«
Da sie beides gleich ausspricht, weiß ich nicht, welches Hotel sie meint. Aber ihrer Miene nach zu urteilen, mit der sie wiederauftaucht, meint sie dieses.
Und wenn ich das richtig verstehe, würde mein Bellevue bedeuten, wieder die ganze Strecke – die ganze kurvige Strecke – zurück in die Stadt zu fahren.
Ich bin im richtigen Hotel Bellwü! Definitiv! Was sind schon Namen, nichts weiter als Schall und Rauch. Und offensichtlich werde ich ja erwartet. Sogar extrem nett erwartet.
Lilli schnappt sich einen Füllfederhalter und zeigt damit auf ein Feld auf einem Formular. »Der Name reicht, den Rest mache ich dann schon. Welcher darf es denn sein?«
Schräg! Allerdings auch nicht schräger, als im falschen Hotel zu landen. »Susanna …«, sage ich vorsichtig.
»Ah, verstehe. Ganz nah bei der Wahrheit zu bleiben ist natürlich die beste Tarnung.« Schwungvoll schreibt sie mit royalblauer Tinte meinen Namen auf das Formular. Beim Nachnamen sieht sie mich neugierig an.
»Spatz?«, schlage ich vor. Ich weiß, ich weiß, mein Nachname klingt lustig und lädt zu allerlei Späßen ein, aber ich mag ihn.
Begeistert klatscht sie in die Hände. Nur gut, dass ihr Füller sehr hochwertig ist und keine Tintenspritzer auf ihrer schneeweißen Bluse unter dem Mieder landen. »Spatz, sehr gut. Einfach und effektiv. Dann hätten wir auch schon alles. Frau Spatz.« Sie zwinkert mir heftig zu, ehe sie meinen Nachnamen notiert. »Dann begleite ich Sie sehr gern auf Ihr Zimmer. Karl wird Ihnen gleich noch einen Nachtimbiss mit den besten Schwarzwälder Köstlichkeiten richten, wenn Sie wünschen.«
Kurz höre ich in meinen Magen hinein. Jep, Schwarzwälder Köstlichkeiten sind definitiv willkommen. »Das ist nett, danke.«
»Das ist doch selbstverständlich. Bei uns ist der Gast König. Oder eben Prinzessin.« Lilli kichert und zwinkert mir erneut zu.
Was soll ich dazu sagen – in meinem Schneeflöckchen ist es genauso. Und mal selbst der König oder die Prinzessin zu sein finde ich famos!
Lilli kommt um den Tresen herum und geht zu meinem Koffer.
»Moment, ich habe den Taxifahrer noch gar nicht bezahlt.« Mit noch immer kalten Fingern krame ich in meiner Hosentasche nach einem Geldschein. Meistens habe ich Glück und finde einen.
Sie winkt ab. »Sie sind natürlich eingeladen. Es ist uns eine Ehre und dem Albert ganz bestimmt auch.«
»Das geht nicht.« Kopfschüttelnd ziehe ich aus der Seitentasche des Koffers meine Geldbörse hervor. »Ich bestehe darauf.«
Lilli sieht mich für einen Moment ehrfurchtsvoll an, wodurch ihre Augen hinter der gigantischen Brille riesig erscheinen. Warum trägt sie dieses in jeder Hinsicht völlig unpassende Modell? Weder passt die Farbe des Gestells zu ihren braunen Haaren, noch der Stil zu ihrem langen, eingeflochtenen Zopf und schon gar nicht zu ihrem trachtenmäßigen Outfit aus weißer Bluse, Blumenmieder und langem, schwarzem Rock. Als hätte sie morgens nach dem Zähneputzen zur falschen Brille gegriffen.
»Sie sind wirklich anders als die anderen.«
Verwirrt schüttele ich den Kopf. Ich weiß, ich weiß, das haben mir schon viele Leute gesagt, aber nach fünf Minuten? Das ist in der Tat ein neuer Rekord.
»Ich lege Alberts Rechnung zu Ihren Hotelunterlagen, dann können Sie das in den nächsten Tagen ganz in Ruhe erledigen. Jetzt bringe ich Sie aber wirklich erst einmal zu Ihrem Zimmer. Es ist doch arg unhöflich von mir, Sie so lange herumstehen zu lassen, und das so spät am Abend! Die Bellwü-Schwestern dulden keine Nachlässigkeiten den Gästen gegenüber. Und ich auch nicht. Egal ob Kaiser oder Bettelmann.« Lilli schnappt sich meine Jacke, die ich mir über den Arm gelegt habe, sowie den Koffer und läuft in Richtung des altmodischen Paternosteraufzuges gegenüber der Eingangstür.
Wer oder was bitte sind diese Bellwü-Schwestern? Ich werde doch nicht in eine Art Sekte geraten sein? Klosternonnen schließe ich aus. Das Bellwü sieht eindeutig nach einem Hotel aus – einem wundervollen Hotel. Andererseits war ich noch nie in einem Kloster. Wer weiß schon, wie die heutzutage so eingerichtet sind.
Kloster oder Sekte?
Nein! Hotel. Basta.
Wieder kann ich nur den Kopf schütteln. Meine eigene Welt verwirrt mich schon oft genug, aber hier geht es noch bunter zu.
Im zweiten Stock steigen wir aus. Die Wände des Ganges sind mit honiggelbem Holz verkleidet, und auf dem Boden liegt ein waldgrüner Teppich, der die Geräusche unserer Schritte verschluckt. Selbst, wenn wir mit aller Kraft aufstampfen würden, wäre das sicher nur gedämpft zu hören.
Am Ende des Ganges sitzt vor einer Doppelflügeltür der traurigste Hund, den ich je gesehen haben. Ob das an den bodenlangen Schlappohren liegt, die ihm hin und wieder bestimmt im Weg sind? Oder eher an dem himmelblauen Wellensittich, der auf dem goldbraunen Hundekopf herum trippelt?
»Hi! Wer seid ihr denn?« Ich knie mich zu dem ungleichen Paar hinunter und lasse den Hund an meiner Hand schnuppern.
Lilli hält dem Vogel einen Finger entgegen, an dem er sogleich schnäbelt. »Das sind Herr Gustav und Vogerl.«
»Vogerl?« Ich blinzele zu Lilli hoch.
Sie nickt und lacht. »Der kam im Sommer durch das offene Fenster der Bibliothek spaziert und hat sich auf Herrn Gustavs Kopf niedergelassen. Vermutlich hat der ihn an sein Nest erinnert. Dort ist er dann gleich eingeschlafen.«
»Nein! Sie wollen mich veralbern?«
Lilli hebt die Hände. »Alles wahr! So wahr ich hier stehe.«
»Und seitdem sind sie ein Paar?«
»So ungefähr. Die beiden sind unzertrennlich. Als wir damals den Vogel von seinem Kopf nehmen wollten, hat er geknurrt. Herr Gustav hat bis dato in seinem ganzen Leben noch nicht geknurrt.«
Ein wenig pikiert sehe ich mich um. Irgendwo ist doch bestimmt eine versteckte Kamera aus dieser Dingsbums-Sendung. Und gleich springt der hyperaktive Moderator dazu aus einer Ecke und kringelt sich vor Lachen.
Nichts passiert.
Na gut, zugegeben, es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als man ahnt. Was weiß ich schon.
Noch immer skeptisch ziehe ich einen Flunsch und sehe dem Hund in die dunklen Schokoaugen. »Und warum sieht er so aus, als würde er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen?«
Lilli kniet sich neben mich und zieht aus einer versteckten Tasche ihres Rockes ein paar Maiskörner hervor, die ihr gleichermaßen Hund wie Vogel aus der Hand futtern. »Herr Gustav ist ein Basset Hound.«
Ich warte, doch Lilli spricht nicht weiter. Offensichtlich soll mich diese Erklärung aufgeklärt haben. Hat sie aber nicht. »Und? Basset Hounds sind immer traurig, weil?«
»Nein, die sind nicht traurig. Ganz im Gegenteil. Sie sehen nur wegen ihrer knautschigen Haut und den Schlappohren traurig aus. Zugegeben, unser Herr Gustav ist hin und wieder recht eigensinnig, aber tief in seinem Herzen ist er eine Frohnatur. Stimmts, Herr Gustav?«
Herr Gustav wackelt mit der Nase, während sich Vogerl zu einer blauen Kugel aufplustert. Ob das Zustimmung oder Widerspruch bedeuten soll, vermag ich nicht zu sagen. Zumindest sieht Herr Gustav sehr weise aus, wie er so dasitzt und uns anblickt.
»So, genug gekuschelt, ihr zwei. Danke, dass ihr unseren neuen Gast begrüßt habt.« Der Hund und Lilli erheben sich, und während Herr Gustav von dannen schreitet, öffnet Lilli mit einem altmodischen Schlüssel die Tür zu meinem Zimmer, die ebenso kunstvoll mit Schnitzereien verziert ist wie der Tresen im Foyer.
Überwältigt bleibe ich im Eingang stehen. Nein, es ist kein Zimmer. Es ist ein Gemach, ein Salon. Es ist einfach nur wow!
Dominiert wird es von einer Fensterfront, die eine ganze Wandseite einnimmt, sowie einem Kamin, der so hoch ist wie ich und in dem ein gemütliches Feuer knistert. Davor stehen in U-Form cremefarbene Sofas, die mir zuflüstern, mich hinzusetzen und alle Fünfe gerade sein zu lassen.
Ein leichter, frischer Duft nach Holz liegt in der Luft, vermischt mit den wunderbaren Aromen süßer Orangen und saftiger Mandarinen, die in einer Schale auf dem Tisch vor den Sofas angerichtet sind.
»Und hier entlang geht es zum Schlafzimmer mit dem angrenzenden Bad.« Lilli läuft am Kamin vorbei durch eine Tür, und ich folge ihr.
Ein Traum wird wahr! Ein Himmelbett groß wie eine Blumenwiese wartet auf mich, und ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht loszurennen und mich hineinzuwerfen. Auch hier flackert in einem Kamin ein gemütliches Feuer und wirft seinen warmen Schein in den Raum.
Aber es ist nicht meine Wahrheit, die diesen Traum wahr werden lässt. Etwas mit scharfen Zähnen zwickt mich dahin, wo mein schlechtes Gewissen zu Hause ist. Dieses Zimmer ist definitiv nicht für mich bestimmt, sondern für eine andere Person.
»Bitte sehr, das Badezimmer.« Lilli öffnet die Tür, aber auch hier, es ist kein Badezimmer, es ist ein Badesalon. Ein eigenes Badespa für mich allein!
Mir fehlen die Worte, aber nicht Visionen davon, wie ich hier ausgiebig dusche, mich schick mache und durch das Bad tanze.
Mal angenommen, ich gönne mir diesen Luxus. Nur für eine Nacht. Verwöhne mich selbst.
Halt! Dieses Verwöhnprogramm ist viel zu teuer für mich, um wahr zu werden! Und wie ich es drehe und wende, ich bin im falschen Hotel. »Lilli, ich glaube, ich bin im falschen Zimmer. Ich hatte ein einfaches Einzelzimmer gebucht. Allerdings mit schöner Aussicht.«
»Die schöne Aussicht haben Sie hier definitiv. Kommen Sie, schauen Sie bitte selbst.« Lilli läuft quer durch das Schlafzimmer zur Fensterfront, die ebenfalls eine ganze Wand einnimmt. »Wenn Sie morgen früh hinaussehen, werden Sie einen Anblick unserer wundervollen Bergwelt erleben, den Sie nie wieder vergessen werden. Dieser Ausblick ist mehr als schön, er ist atemberaubend.«
Momentan besteht er aus Dunkelheit und Millionen von Schneeflocken, die im warmen Licht tanzen, das aus dem Zimmer strömt. Das sieht jetzt schon wunderschön aus.
»Aber wo habe ich nur meine Gedanken? Ich bin immer so verliebt in unsere Zimmer, dass ich ganz vergesse, was ich eigentlich tun will.« Fröhlich lachend dreht sich Lilli zu mir um. »Sie machen sich jetzt frisch und ich rufe Karl an, damit er Ihnen etwas Feines zu essen heraufschickt. Sie sehen wahrlich müde aus.«
Oh ja, ich bin wahrlich müde. Eigentlich sogar viel zu müde, um etwas zu essen. Am liebsten würde ich mich so wie ich bin auf das Bett werfen und dösen. Allerdings klebt mir noch immer die nassgespritzte Hose an den Beinen, und meine Haare pappen mir im Gesicht. Eine Dusche in diesem Megabad wäre schon ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung.
Was solls. Selbst wenn sich morgen herausstellt, dass ich aus Versehen im falschen Zimmer gelandet bin, wird mich das schon nicht in den Ruin treiben. Und einmal eine Nacht in Luxus schwelgen, wer kann da schon nein sagen. Also ich mit Sicherheit nicht. Zumal ich neugierig bin auf diesen phänomenalen Ausblick, der mir soeben versprochen wurde. Wer wäre ich, wenn ich dieses Angebot ablehnen würde.
Und wenn die wirkliche Person ankommt, für die dieses Zimmer bestimmt ist? Ich sehe mich schon in Schimpf und Schande, nur in meinem Nachthemdchen, vom Hof gejagt. Einsam und verirrt in der Schwarzwälder Bergwelt. Gestrandet in einer Holzhütte fernab jeder Zivilisation, als Gesellschaft nur ein paar Ziegen und der Alm-Öhi.
Stopp! Falscher Film. Und außerdem! Um diese Zeit reist ohnehin niemand mehr an.
Hoffe ich. Wenn nicht, teilen wir uns einfach dieses Riesenbett.
Tief atme ich durch, straffe die Schultern und nicke Lilli zu. »Alles klar, wenn es nicht zu viele Umstände macht, reicht mir eine heiße Suppe und etwas Brot dazu.«
»Sehr gern.« Lilli schaut mich für einen langen Moment verträumt an und kramt in einer unsichtbaren Tasche ihres Rockes, dabei raschelt der feine Stoff und glänzt schwarzsilbern im Licht der Wandleuchter. Sie zieht ein Klapptelefon daraus hervor und zeigt damit auf das Bad. »Machen Sie sich gern frisch, ich kümmere mich um das Essen.«
Ehrfurchtsvoll gehe ich ins Bad und trete ans Waschbecken. Wie Seide fühlt sich die duftige Seife auf meiner Haut an, und ich wasche mir die Hände so gründlich wie noch nie. Dabei bin ich gründliches Händewaschen aus dem Schneeflöckchen gewohnt. Aber mit dieser Wunderseife ist es ein ganz eigenes Vergnügen. Mmh, wie meine Haut nach rotem Wildapfel duftet.
Während ich mir die Haare trocken rubbele, höre ich Lilli durch die offene Tür nebenan telefonieren. »N’obe Karli, kochest mi ei Flädlisubb und bringscht mi a Burebrot.«
Ich hoffe sehr, dass ich zum Abendessen wirklich eine Suppe und etwas Brot bekomme, auch wenn es sich nach etwas ganz Anderem anhört.
Ach, was solls. Wird schon gut gehen, bisher ist ja alles an diesem Hotel wunderbar. Zwar merkwürdig, aber wunderbar.
Lilli spricht jetzt leiser, und ich will selbstverständlich nicht lauschen, aber ich höre nun mal sehr gut. »Is fürs Sundig-Zimmer. Fü de Prinzessin. Weißt scho, die, die au koche kann.«
Kurz ist es leise, dann lacht Lilli. »Hast verschwitzt? Weischt eh, is de Prinzessin Susanna Leonore Karoline von Hollerburg!«