Kapitel 1
New York, New York
„Also richte ich mich vor ihm auf, sehe ihm direkt in die Augen und erkläre ihm zum gefühlt zehnten Mal, dass Neonfarben so was von out sind und dass er gefälligst in einer ruhigen Minute noch mal darüber nachdenken sollte, ob Raumausstatter wirklich der richtige Beruf für ihn ist.“
„Und dann hast du ihn gefeuert?“
„Und dann habe ich ihn gefeuert.“ Celia nippte mit eisiger Genugtuung im Blick an ihrer Cola Light, um gleich darauf den Kellner mit einer überspitzten Geste ihrer Hand zu sich zu rufen. Die bemerkenswerte Oberweite nach vorn gereckt, die Lippen zu einem perfekten Schmollmund geformt und eine Hand in der platinblonden Haarmähne sah sie ungeduldig dabei zu, wie der Kellner sich beeilte, an unseren Tisch zu kommen.
„Steak. Medium rare“, verlangte sie, ohne sich mit etwaigen höflichen Floskeln aufzuhalten, und reichte ihm mit spitzen Fingern die Speisekarte.
„Sehr gerne. Mit Ofenkartoffeln und grünen Bohnen oder lieber mit Süßkartoffeln und …“
„Nur Steak.“ Celia lächelte gekünstelt. „Danke.“
„Für mich bloß einen gemischten Salat“, bestellte Amber betont freundlich, als könnte sie so die beträchtliche Schroffheit unserer Freundin wettmachen. „Ohne Dressing, ohne Croutons, ohne Zwiebeln und ohne Brotbeilage“, verließ es ihre Lippen wie auswendig gelernt. „Nur das Grüne und die Sprossen. Vielen Dank.“
„Sehr gerne. Und Sie?“ Der junge Dunkelhaarige wandte sich an mich, immer noch erstaunlich gefasst und professionell. Offenbar war er schwieriges Publikum mit abstrusen Bestellwünschen gewohnt ‒ was in einem Drei-Sterne-Restaurant mitten in New York tatsächlich gar nicht mal so unwahrscheinlich war.
„Das Risotto bitte.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln reichte auch ich ihm die Speisekarte. „So, wie es darinsteht, ohne Sonderwünsche. Dankeschön.“
Als er sich mit einem höflichen Nicken und den galant eingesammelten Speisekarten von unserem Tisch entfernte, wandte Amber sich kopfschüttelnd an Celia. „Was hat der arme Junge dir denn bloß getan, dass du so von oben herab mit ihm redest?“
Der Kellner, eindeutig in unserem Alter, wenn nicht sogar ein wenig älter, war definitiv kein Junge mehr. Aber seit Amber mit einem Fünfundvierzigjährigen liiert war, zählte sie sich trotz ihrer erst vierundzwanzig Lebensjahre hin und wieder selbst zur mittelalten Generation, und man musste sie gelegentlich daran erinnern, dass die meisten Personen, die sie als Kids ansah, tatsächlich im selben Alter wie sie selbst waren. Sie handelte und sprach des Öfteren so, als zählte sie bereits wesentlich mehr Lebensjahre, war dabei jedoch nie gemein oder abwertend, sondern eher mütterlich und manchmal ein wenig belehrend.
„Gar nichts. Er hat mir gar nichts getan.“ Celia blickte sich überheblich im Restaurant um, kein Fünkchen der Reue auf der dezent geschminkten Miene und das schmale Kinn, wie immer, wenn sie angespannt war, leicht nach vorn gereckt. „Dieser Einrichtungskram stresst mich nun mal. Wandfarben wählen, Sofas kaufen, über den Bodenbelag entscheiden, Steckdosen quer oder hochkant …“ Sie seufzte schwer.
„Den Stress, Anfang zwanzig ein eigenes Haus einzurichten, hätte ich auch gerne mal“, gab ich zu bedenken.
„Ach du …“ Celia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du weißt genau, dass Mason dir in nicht allzu ferner Zukunft, sobald er dir seinen Ring an den Finger gesteckt hat, ein perfektes Haus bauen und ein perfektes Kind machen wird. Alles, was du willst, wann du es willst und wie du es willst.“
„Oh, hör auf, das immer zu sagen!“, verlangte ich kopfschüttelnd. „Mason hat sehr wohl einen eigenen Kopf. Außerdem ist nichts schlecht daran, seinem Partner Wünsche zu erfüllen. Er liebt mich nun einmal.“
Celia machte ein würgendes Geräusch, das uns ein paar schräge Blicke vom Nachbartisch einhandelte und exte ihre Cola Light, als würde es sich dabei nicht um ein kalorienfreies Softgetränk, sondern um hochprozentigen Alkohol handeln.
„Außerdem ‒ warum bestellst du Steak?“, lenkte ich vom Thema ab und zog die Nase kraus. „Warst du nicht gerade noch voll auf deinem Veganer-Trip?“
„Ich erinnere mich auch schwach an ein sehr tief ausgeschnittenes Top mit der Aufschrift Fleisch ist Mord“, merkte Amber an, die Nase leicht krausgezogen, als würde sie einen mittelschweren Verrat wittern. „Und du hast dich geweigert, mit uns an einem Tisch zu sitzen, weil wir Kuhmilch im Kaffee getrunken haben.“
„Jap. Das war drastisch“, stimmt ich ihr zu.
„Das war letzte Woche.“ Celia rümpfte die Nase, als hätten wir über eine längst verjährte Straftat gesprochen. „Jetzt bin ich Carnivore“, erklärte sie nach einer bedeutungsschweren Pause erhaben. „Ich esse nichts als Fleisch, Fleisch und wieder Fleisch. Und hin und wieder gibt es Milch, pure Butter und ein paar Eier.“
Amber sah aufrichtig angeekelt aus.
„Aber … wozu, zur Hölle?!“, fasste sie ziemlich gut zusammen, was auch ich mich gerade fragte.
„Fleisch beinhaltet alle Nährstoffe, die man zum Leben braucht“, antwortete Celia schlicht. „Was man von deinem Grünzeug nun nicht gerade behaupten kann, Amber“, erinnerte sie unsere gemeinsame dunkelhaarige Freundin an ihre vorhin aufgegebene Bestellung.
„Lass mich, ich bin auf Diät.“ Amber zog eine Schnute. „Ich muss in Form bleiben, wenn ich vermeiden will, dass Alistair sich irgendwann eine Jüngere oder Schlankere sucht.“
„Ein Grundschulkind meinst du?“, schloss Celia.
Ich prustete hinter vorgehaltener Hand. Celia hatte vollkommen recht ‒ eine noch jüngere Geliebte als Amber würde Alistair, Literaturprofessor und dreifach geschieden, mit Sicherheit nicht finden. Eine schlankere sowieso nicht. Mein Blick fiel just auf unsere Spiegelung im Fenster des Restaurants, hinter dem allmählich das New Yorker Nachtleben erwachte.
Wir waren drei unterschiedliche junge Frauen, die immer und überall aufzufallen schienen, was wahrscheinlich hauptsächlich Celias losem Mundwerk, aber auch unserer auffälligen und grundgegensätzlichen Optik zuzuschreiben war. Im harten Kontrast zur kurvigen, wohlproportionierten Celia und zu mir mit meiner flachen Oberweite und einer kaum sichtbaren Hüfte, trug Amber Kleidergröße 34, hatte endlos lange, schlanke Beine, ein pralles B-Körbchen und einen beneidenswert straffen, muskulösen Bauch vorzuweisen, von dem sich selbst so manch engagierter Fitnesstrainer noch eine Scheibe abschneiden konnte. Celia trug voller Stolz eine platinblonde, obligatorisch mit ihrem heißgeliebten Glätteisen präparierte Mähne, die ihr fast bis zum Po reichte, während Amber ihre volle, schwarze Haarpracht den asiatischen Wurzeln ihrer Mutter zu verdanken hatte. Ich hingegen trug meine naturkupferroten Haare zu einem kinnlangen Bob geschnitten, dessen Spitzen ich alle acht Wochen professionell vom Friseur meines Vertrauens stutzen ließ.
So unterschiedlich wir auch waren, so gleich waren wir auch. Celia, einundzwanzig Jahre jung und reich von Geburt an, jagte immer dem neusten Ernährungstrend hinterher und hielt von Männern in Führungspositionen und ernsthaften Beziehungen genauso wenig wie von Menschen, die versuchten, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun hatte. Sie war das Paradebeispiel einer verwöhnten New Yorker Göre, flirtete für ihr Leben gern und neigte zur Eifersucht und Theatralik. Amber hingegen war sanfter, mit ihren vierundzwanzig Jahren die Älteste im Bunde und seit ich sie kannte immer auf der Suche nach einem echten Mann, wie sie selbst es nannte. Hatte er keine grauen Haare an den Schläfen, wollte sie ihn nicht.
Was uns verband, war die Liebe zu New York, der Hang zum Perfektionismus und die Uni, die wir gemeinsam, wenn auch in drei unterschiedlichen Studiengängen, besucht hatten. Big City Life von Mattafix plätscherte angenehm im Hintergrund und zauberte mir ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht.
„Träumst du, Nora?“ Celia schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht herum und beförderte mich unsanft zurück in die Gegenwart.
„Geht‘s dir gut, Schatz? Hast du genug getrunken heute?“ Amber deutete mütterlich auf das bisher unangerührte Glas Zitronenlimonade, das vor mir stand.
„Alles bestens“, beeilte ich mich zu sagen und setzte ein Lächeln auf. „Ich bin bloß müde. Der Walter-Auftrag birgt mehr Arbeit als gedacht. Allein das Catering …“
Celia und Amber warfen mir synchron warnende Blicke zu.
„Wir wollten doch heute nicht über die Arbeit sprechen“, erinnerte Amber mich und schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Du sollst den Abend genießen. Und das Essen.“
„Und die Gesellschaft“, ergänzte Celia.
„Du bist Eventmanagerin durch und durch, Nora, das wissen wir.“ Amber seufzte. „Aber du kannst nicht 24/7 arbeiten, an die Arbeit denken und darüber reden. Entspann dich mal.“
„Tut mir leid, Mädels, ich verliere kein Wort mehr darüber. Versprochen.“ Mit der rechten Hand deutete ich an, meinen Mund abzuschließen und den Schlüssel durch das Innere des Restaurants zu werfen.
„Gutes Kind“, lobte Amber.
„Sie ist nur ein Jahr jünger als du“, erinnerte Celia sie.
„Nicht mental.“ Amber ließ sich nicht belehren und lächelte nach wie vor, bis der Kellner erschien und einen großen Teller Salat vor ihr abstellte. Obwohl man sich in der Küche sichtlich bemüht hatte, ihre wenigen erwünschten Zutaten hübsch zu arrangieren, bot das Ganze einen etwas trostlosen Anblick.
„Lecker. Dankeschön“, bemühte sie sich tapfer zu bleiben, während ihr Blick nicht ohne Neid über Celias anschließend serviertes Steak und mein üppiges Risotto huschte.
Nachdem wir eine Weile lang schweigend gegessen hatten, legte Celia die Gabel beiseite und tupfte sich mit ihrer Serviette den Mund ab. Ihr Lippenstift hielt bombenfest. Sollte er auch, denn immerhin hatte er fast zweihundert Dollar gekostet.
„Am Freitag hat Dexter Geburtstag“, brummte sie, die Mundwinkel nach unten gezogen.
„Was schenkst du ihm?“, erkundigte ich mich.
„Was ich ihm schenke?!“ Celia sah mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, ihm ganz spontan eines ihrer Organe zu spenden. Hübsch verpackt und mit einer Samtschleife umwickelt.
„Ja. Immerhin ist er dein Bruder“, half ich ihr auf die Sprünge.
Amber nickte zustimmend, die Gabel, auf der ein paar Blätter Feldsalat aufgespießt waren, abwartend vor dem Mund innehaltend.
„Er ist ein verdammtes Arschloch“, erinnerte Celia uns Nase rümpfend und machte sich wieder über ihr Steak her.
„Er wird acht!“, empörte Amber sich.
„Man kann auch mit acht ein Arschloch sein. Ich habe schon Babys kennengelernt, die Arschlöcher waren“, behauptete Celia mit nach vorn gerecktem Kinn.
„Oh mein Gott.“ Amber ließ ihre Gabel sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.
„Mum und Dad zwingen mich, bei Dexters Feier dabei zu sein“, fuhr Celia unbeeindruckt fort und sprach den Namen ihres Bruders aus, als würde sie über eine hochansteckende Krankheit reden, die Eiterblasen und explosiven Durchfall verursachte. „Ich soll ihm gratulieren und mit den Gästen For He‘s a Jolly Good Fellow singen und so weiter. Und ihn im Mittelpunkt stehen lassen!“ Sie schüttelte sich angewidert.
Dass man sie nach dreizehn Jahren als Einzelkind zur großen Schwester gemacht und somit entthront hatte, hatte sie ihren Eltern bis heute nicht verziehen. Nach wie vor war sie felsenfest davon überzeugt, dass ihre Mutter bloß aus dem Grund schwanger geworden war, um sie dafür zu bestrafen, dass sie sich dem damals aufgebrummten Hausarrest widersetzt hatte.
„Ich weiß gar nicht, was du hast.“ Amber hatte wieder zur Gabel gegriffen, um erneut den Kampf mit ihrem trockenen Salat aufzunehmen. „Ich liebe meine Geschwister und hätte als Kind immer gerne noch mehr gehabt.“
„Du warst ja auch nie reich“, schloss Celia, als wäre das die einzig logische Erklärung.
Amber und ich tauschten einen knappen Blick.
„Nein, ernsthaft …“ Celia seufzte und schob das Ministück Steak, das sie aufgespießt hatte, lustlos auf dem Teller herum, wobei es feuchte, hellrote Spuren hinterließ. „Menschen sind nicht dazu gemacht, ihre Eltern und die Aufmerksamkeit und das ganze Zeug, das sie besitzen, zu teilen. Echt nicht. Sei froh, dass du keine Geschwister hast, Nora.“ Sie zögerte kurz. „Hast du doch nicht, oder?“
Plötzlich hoben beide den Blick und sahen mich direkt an. Ich hatte es bisher immer geschickt vermieden, über meine Kindheit und Familie zu sprechen, und wenn das Gespräch doch mal darauf kam, abgelenkt, Gegenfragen gestellt oder Standardantworten gegeben. Glücklicherweise sprachen sowohl Celia als auch Amber unheimlich gern über sich selbst.
„Nope“, antwortete ich ausweichend und mied den Blickkontakt zu beiden. „Sag mal, Amber, hat Alistair eigentlich noch Kontakt zu dieser aufdringlichen Studentin?“
„Hör mir bloß auf!“ Amber schnaubte, legte die Gabel zum wiederholten Male beiseite und setzte zu einer Hasstirade an, die Celia mit interessierter Miene und eifrig kauend verfolgte. Während ich bloß mit einem Ohr zuhörte und hin und wieder nickte, den Kopf schüttelte oder Hm machte, um nicht unaufmerksam zu wirken, fiel mein Blick erneut auf meine Spiegelung in der Fensterscheibe. Herausgeputzt saß ich da, mit meinem frisch gestutzten Bob, dem dunkelblauen Hosenanzug mit offenem Blazer und diesen sündhaft teuren hohen Schuhen, die ich mir vorigen Monat gegönnt hatte. Die Sommersprossen in meinem Gesicht hatte ich mit Concealer überdeckt, meine hellblauen Augen mit Wimperntusche und einem schmalen Lidstrich versehen.
Ich sah nicht einmal mehr annähernd aus wie das Mädchen, das vor fünf Jahren nach New York gekommen war, und die beiden jungen Frauen, mit denen ich an einem Tisch saß und die ich seit zwei Jahren meine Freundinnen nennen durfte, hatten keinen blassen Schimmer davon, wer ich einst gewesen war. Sie wussten weder, wo ich herkam, noch wer ich vor New York gewesen war. Sie wussten nichts über mich ‒ und das sollte sich, wenn es nach mir ging, auch nicht so schnell ändern.
Kapitel 2
Der Brief
Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, die Hand grübelnd am Kinn und in tiefer Hocke neben dem Wohnzimmertisch kauernd, bot ich ein Bild, das die meisten Männer beim Betreten ihrer Wohnung wahrscheinlich überrascht hätte. Nicht jedoch Mason. Schweigend hängte er seine Jacke an die Garderobe, steckte seine Schuhe fein säuberlich in den Schuhschrank und betrat das Wohnzimmer, um sich zu einem kurzen Begrüßungskuss zu mir herunterzubeugen.
„Worum geht‘s? Die Vase?“, erkundigte er sich gelassen.
„Die Obstschale“, entgegnete ich, ohne den Blick davon abzuwenden. „Ich habe das Gefühl, sie ist zu … leer. Es sieht absolut komisch aus, wenn man das Wohnzimmer betritt. Ist mir direkt aufgefallen vorhin.“
„Zu leer.“ Mason nickte, als würde er genau verstehen, was ich meinte, dann deutete er auf den Inhalt besagter Schale. „Das sind … sechs Äpfel, vier Bananen und ein paar grüne Trauben“, zählte er auf.
„Es geht nicht um die Menge, sondern um die Auswahl. Um die Zusammenstellung“, erklärte ich mit einem unterdrückten Seufzen. „Das sieht … weiß nicht … spartanisch aus. Und zu farblos. Ich glaube, ein paar Orangen würden darin gut wirken. Dafür ein paar Äpfel weniger. Und vielleicht eine Rebe dunkler Trauben als Kontrast zu den grünen, was meinst du?“
Mason nickte bedächtig und besah sich die Obstschale, als würde er sich ernsthaft vorstellen, wie sie mit den zusätzlichen Früchten, von denen ich gesprochen hatte, aussehen würde. Er hätte mir sagen können, dass es Unsinn war, was ich da redete und dass er keine Orangen mochte, während ich sie nicht einmal vertrug und schlimme akute Nesselsucht davon bekam. Aber er kannte mich nach drei Jahren Beziehung gut genug, um es nicht zu tun.
„Möchtest du, dass ich das Obst kaufen gehe?“, bot er geduldig an.
„Das würdest du tun?“
„Du weißt, ich würde alles für dich tun“, beharrte er.
Kurz zog ich in Erwägung, das Angebot anzunehmen, dann wurde mir bewusst, dass er nach einem langen Tag im Job vermutlich ebenso müde und erschöpft war wie ich. „Nicht nötig, danke“, winkte ich schweren Herzens ab. „Das erledige ich einfach morgen in der Pause.“
„Sicher?“
Ich blickte zu Mason auf und wusste, wie glücklich ich mich für das Verständnis und die Liebe in seinen dunkelblauen Augen schätzen konnte. Trotz aller Erschöpfung und Unlust wäre er ohne ein weiteres Wort meinerseits sofort in seinen Wagen gestiegen und losgefahren, um Orangen und dunkle Trauben zu besorgen und wahrscheinlich hätte er mir sogar noch Blumen mitgebracht.
„Vollkommen sicher.“ Ich nickte.
„Alles klar.“ Erleichtert wirkend streckte er sich. „Dann gehe ich jetzt duschen. Kommst du mit?“
„Ich muss hier noch ein bisschen aufräumen“, wich ich mit einem Wink Richtung Wohnzimmer aus.
„Bedauerlich.“ Auf dem Weg zum Badezimmer knöpfte Mason sein Hemd auf, zog es aus und warf mir noch einen letzten Blick über die Schulter zu. „Wirklich bedauerlich.“
Als er frisch geduscht, nur mit einem weißen Handtuch um die Hüften bekleidet und feuchten dunklen Haaren zurück ins Wohnzimmer kam, war ich immer noch dabei, selbiges aufzuräumen. Ich nannte es nur so, dabei war es eigentlich etwas anderes. Um aufgeräumt zu werden, musste ein Raum erst mal unordentlich sein, und dazu ließ ich es nie kommen. Stattdessen verschob ich Dekoartikel, sortierte Bücher nach Farben und arrangierte Vasen und Kerzen immer wieder auf ein Neues, bis sie am für mich perfekten Platz standen ‒ was durchaus manchmal einige Zeit in Anspruch nehmen konnte und mir in dieser Konstellation am Folgetag nicht mehr zwangsläufig gefallen musste.
Mason blieb im Türrahmen stehen und wartete geduldig, bis ich die kleinen Reste der Trockenblumen, die ich aus ihrer Vase genommen und darin neu angeordnet hatte, mit der einen Hand in die andere gefegt und in den Müll befördert hatte.
„Kommst du?“, fragte er, als ich mich, die Hände in die Hüften gestemmt, nachdenklich im Raum umsah. „Es sieht alles perfekt aus. Ich denke, wir können jetzt schlafen gehen.“ Seine Tonlage hatte etwas Beruhigendes, Väterliches an sich, ohne zugleich belehrend zu sein.
„Komme sofort.“ Ein letztes Mal glitt mein Blick durch den Raum, als würde die Obstschale von selbst drei Zentimeter weiter über den Tisch rücken können und somit komisch aussehen oder als würden die Bücher plötzlich ein Eigenleben führen und sich farblich untereinander mischen. Nichts davon geschah. Es sah immer noch perfekt, clean und modern aus.
„Sorry. Ich habe die Dinge eben gern unter Kontrolle.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln trat ich an ihm vorbei ins Bad, in dem noch der Wasserdampf in der Luft lag und für ein tropisches Klima sorgte.
„Ich weiß.“
„Und dich stört das nicht?“, erkundigte ich mich bestimmt zum hundertsten Mal, während ich mir meine Zahnbürste nahm.
„Warum sollte es?“ Mason folgte mir ins Badezimmer und schüttelte, den Blick auf mein Spiegelbild gerichtet, den Kopf. „Ich muss als Architekt so viel Verantwortung übernehmen, Menschen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben und Arbeitsabläufe kontrollieren, da bin ich ganz froh, dass ich das zu Hause nicht auch noch zu tun brauche. Außerdem hat jeder Mensch seine Macken und Schwächen.“
Du nicht, dachte ich insgeheim.
Ich putzte mir die Zähne, spuckte den Schaum ins Waschbecken und nahm einen Schwamm zur Hand, um es ebenso schnell zu reinigen, bevor ich meinen Verlobten im Badezimmerspiegel aufmerksam musterte.
Mason war groß, einen guten Kopf größer als ich sogar ‒ trotz meiner nicht gerade kleinen 175 cm Körpergröße. Das war das Erste, was mir bei unserem Kennenlernen vor drei Jahren aufgefallen war. Die dunkle Kurzhaarfrisur, die intensiven dunkelblauen Augen und die attraktiven Grübchen waren mir erst beim zweiten Blick ins Auge gefallen. Mason war wie ich ein Arbeitstier durch und durch, übergenau, diszipliniert und intelligent. Aber er war auch der geduldigste und aufopferungsvollste Mensch, dem ich je begegnet war, und es verging kaum ein Tag, an dem ich mich nicht fragte, welch ein Glück ich eigentlich hatte, einen Partner wie ihn an meiner Seite zu wissen.
„Träumst du?“ Mason tippte mir sanft auf die Schulter. Erst jetzt fiel mir auf, dass er mir meine Cremetube entgegenstreckte.
„Danke.“ Mit routinierten Bewegungen öffnete ich die Tube, gab ein wenig Creme auf meine Arme, meinen Hals und mein Gesicht und verrieb alles zügig.
„Es ist wieder schlimmer geworden. Du hast Stress“, stellte er fest und deutete auf meine Armbeugen, in denen die Neurodermitis für großflächig gerötete, trockene Hautstellen gesorgt hatte.
„Ich weiß.“ Kopfschüttelnd stellte ich die Tube zurück in den Badezimmerschrank und verrieb den Rest aus meinen Händen auf dem Dekolleté. „Der Walter-Auftrag ist größer als ich dachte. Allein das Catering …“ Ich unterbrach mich selbst, ehe ich richtig loslegen und mich über den Caterer, den pingeligen Mr. Walter mit seinem Sprachfehler und die völlig ungeeignete Location, die er aber unbedingt haben wollte, auslassen konnte. Kopfschüttelnd sah ich meinem ernst dreinblickenden Spiegelbild in die Augen.
„Alles gut. Erzähl es mir.“ Mason legte die Hände auf meine Schultern, drehte mich sanft um und betrachtete mich aufmerksam. „Was ist mit dem Catering?“
„Gar nichts.“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das verdirbt uns jetzt bloß die Laune.“
„Aber du kannst gerne …“, setzte er an.
„Ich will jetzt nicht reden.“ Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und presste meine Lippen auf seine, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ohne mich von ihm zu lösen, zog ich meinen Blazer aus und nahm ihm das Handtuch weg, das er um die Hüften getragen hatte, bevor ich ihm bedeutete, mir ins Schlafzimmer zu folgen.
Am nächsten Morgen prasselte Regen an das Schlafzimmerfenster. Wie immer schlug ich die Augen bereits einige Minuten vor dem Klingeln des Weckers auf und ging im Kopf die To-Do-Liste des Tages durch, ehe ich aufstand, um zu duschen. Die Tage wurden allmählich dunkler und kürzer. Der Herbst hatte den Sommer vertrieben und Kälte, Nässe und ein grauer Himmel standen seit einer Weile wieder auf der Tagesordnung.
Ich hüllte mich in meinen Bademantel, föhnte mir die Haare und ging in die Küche, in der mich Mason bereits mit einem Kuss und dem obligatorischen grünen Smoothie erwartete. Es war noch nicht einmal sechs Uhr und draußen war es stockdunkel. Mit unseren Handys und zwei gut gefüllten Gläsern in der Hand nahmen wir am kleinen Küchentisch Platz, um die Minuten vor dem Job miteinander verbringen zu können. Während wir in synchronen Bewegungen unsere Smoothies tranken, checkten wir in einvernehmlichem Schweigen unsere Mails, zukünftige Aufträge und To-Do-Listen.
„Gestern war übrigens ein Brief für dich im Briefkasten“, erinnerte Mason sich just, lehnte sich nach hinten und klaubte einen schmalen weißen Umschlag mit krakeliger Handschrift darauf von der Arbeitsfläche, den er neben der Kaffeemaschine deponiert hatte.
„Ach ja?“ Mit gerunzelter Stirn nahm ich ihn entgegen und las die Adresse des Absenders. Auf einmal verursachte der bloße Geruch des grünen Smoothies Übelkeit in mir. Entschieden schob ich das halb leere Glas von mir, den Blick nach wie vor auf den Umschlag gerichtet. Meine Hände begannen zu zittern.
„Von wem ist er?“, erkundigte Mason sich.
Ich schaffte es nicht, ihm zu antworten. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht die richtigen Worte gefunden, um ihm zu erklären, was es mit dieser Adresse auf sich hatte, weshalb mir plötzlich so übel war und dass ich ihm einen Großteil meiner Vergangenheit verschwiegen hatte. Die ganze, um genau zu sein.
„Zeig mal her.“ Sichtlich besorgt über meine plötzliche Verschwiegenheit griff er über den Tisch, nahm mir den Umschlag aus der Hand und ließ seinen Blick über die krakelig geschriebenen Zeilen huschen. „Little … was? Was steht da?“
„Little Goldcoast.“ Meine Stimme klang hohl. Ich räusperte mich leise. „Da steht Little Goldcoast.“
Kapitel 3
Eine Einladung mit Folgen
„Sie leben?! Deine Eltern leben?“ Mason starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren, während er in seine Schuhe schlüpfte und sich den navyblauen Mantel überwarf, den ich ihm zum letzten Jahrestag geschenkt hatte und der ihm so hervorragend stand.
„Ja.“ Mit einem gefühlt faustgroßen Kloß im Hals nickte ich und zog meinen schwarzen Übergangsparka sowie meine Stiefeletten an.
Wir waren drauf und dran, die Wohnung zu verlassen, um pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen und unseren Jobs nachgehen zu können, doch der unerwartete Brief hatte einige offene Fragen zwischen uns aufgeworfen, für die vor allem für Mason noch Klärungsbedarf bestand.
„Das hättest du mir doch sagen können.“ Seine Stimme war mit einem zutiefst vorwurfsvollen Unterton belegt, und er fügte hinzu: „Sagen müssen. Was habe ich getan, dass du mir so etwas verschweigst? Was haben sie getan, dass du mir bei unserem zweiten Date erzählt hast, sie wären tot und du würdest nicht über sie reden wollen? Ich dachte, du bist eine Waise! Ich habe das immer geachtet und respektiert, Nora. Ohne Wenn und Aber, ohne Fragen … und so dankst du es mir?“ Obwohl er auffallend ruhig und gefasst sprach, konnte ich seine Enttäuschung aus jeder einzelnen Silbe heraushören.
Ich senkte den Blick. Nichts, was ich hätte sagen können, hätte die Lüge wettgemacht, die ich seit Jahren aufrechterhielt. Eine, die so überzeugend war, dass sogar ich selbst sie manchmal glaubte. Es war leichter, jene Person zu sein, die ich nun war, wenn alles, was hinter mir lag, als tot und vergessen galt. Unsicher strich ich mir mit den Händen die ohnehin schon glatten Haare platt und biss mir auf die Unterlippe, während Masons Schweigen wie ein anhaltender Vorwurf zwischen uns in der Luft hing.
„Haben sie … dich schlecht behandelt?“, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille, und der vorwurfsvolle Unterton in seiner Stimme wich allmählich einem mitleidigen. Das war typisch Mason: Er suchte Gründe für meine Lüge, versuchte, eine logische Erklärung für mein Verhalten zu finden.
Immer noch schweigend schüttelte ich den Kopf.
Mein Verlobter gab ein Schnauben von sich, dann öffnete er die Haustür. Unsicher hob ich den Blick.
„Ich muss los. Lass uns heute Abend darüber sprechen“, sagte er betont ruhig und drückte mir trotz der angespannten Stimmung einen Kuss auf die Stirn.
Wie ferngesteuert nickte ich, verließ ebenfalls die Wohnung, stieg die Treppen hinab und setzte mich in mein Auto, einen weißen Hybrid-Kleinwagen mit auffälligen Sitzen in Wildlederoptik. Während Mason wie an jedem Morgen mit seinem schwarzen Sportwagen nach links fuhr, blieb ich eine Weile reglos hinter dem Steuer sitzen und raste nicht direkt postwendend in die entgegengesetzte Richtung. Mit klammen Fingern zog ich den zerknitterten Umschlag aus meiner Handtasche, nahm den Brief heraus und las die Worte darauf zum wiederholten Mal.
In Trauer nehmen wir Abschied von Florentine Harrison. In Dankbarkeit möchten wir ihrer gedenken und laden herzlich ein, mit uns auf dem Friedhof Abschied zu nehmen. Die anschließende Trauerfeier findet im engsten Kreis statt. Das Leben endet, die Liebe nicht.
Darunter waren das Datum, die Adresse und eine Telefonnummer zum Kontaktieren angegeben. Florentine sollte heute in einer Woche beerdigt werden.
Von einem plötzlichen Brechreiz gepackt, riss ich die Fahrertür auf und erbrach mich direkt auf den Bordstein. Eine kleine Lache halb verdauten grünen Smoothies sickerte in den Kanal. Eine ältere Dame, die just in diesem Moment ihren Zwergpudel an der langen Laufleine an dieser Stelle spazieren führte, warf mir einen zutiefst angewiderten Blick zu. Weitere Menschenmassen strömten vorbei, wie es im Großstadtleben nun einmal so üblich war, und machten einen Bogen um meine geöffnete Wagentür. Einige bedachten mich mit neugierigen oder angeekelten Blicken, die meisten jedoch waren in ihre Handys vertieft und schlurften wie Zombies an mir und meinem Erbrochenen vorbei, ohne jegliche Notiz davon oder von überhaupt irgendetwas zu nehmen. Schnell zog ich die Wagentür wieder zu und beeilte mich, mein Auto aus der Parklücke zu manövrieren und mich in den morgendlichen Stadtverkehr einzufädeln.
Auf dem Weg zur Agentur machte sich eine innerliche Zerrissenheit in mir breit. Ich hatte Florentine, die ältere Schwester meines Vaters, nie besonders gemocht, und dass sie tot war, konnte mir keine einzige Träne entlocken ‒ abgesehen davon, dass ich sowieso seit über fünf Jahren keine vergossen hatte. Weder vor Trauer noch vor Zorn oder Rührung. Nicht einmal Masons Antrag, bei dem er selbst feuchte Augen bekommen hatte, hatte daran etwas ändern können. Nora Harrison weinte nicht. Niemals.
Entschieden faltete ich den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Little Goldcoast konnte mich, gelinde gesagt, am Arsch lecken. Es würde niemanden wundern, wenn ich nicht zu dieser Beerdigung erscheinen würde. Doch allein die Absenderadresse auf dem Umschlag hatte Wunden in meinem Inneren aufgerissen, von denen ich geglaubt hatte, sie längst überwunden zu haben.
Was, wenn ich, um endgültig damit abschließen zu können, tatsächlich nach Little Goldcoast zurückkehren musste? Wenn es der Vergangenheit ihren Schrecken nehmen würde, erneut hinzufliegen und mit dem Kapitel abzuschließen, das ich für beendet gehalten hatte?
Nein. Kopfschüttelnd hielt ich an einer roten Ampel. Nichts würde mich dorthin zurückbringen. Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Haut sich über meinen Fingerknöcheln spannte. Meine Eventmanagement-Agentur, Mason, unsere bis ins kleinste Detail perfekt eingerichtete Wohnung, das Großstadtleben in New York und unsere Hochzeit, für die es zwar noch keinen fixen Termin gab, die wir jedoch schon bis ins kleinste Detail planten ‒ das war, wer ich war. Wer ich sein wollte. Und die einzige Person, die mich hätte vom Gegenteil überzeugen und zurück an den Ort meiner Kindheit hätte holen können, war seit fünf Jahren tot.
„Du bist schon zu Hause?“ Überrascht bemerkte ich Masons Mantel an der Garderobe. Außerdem roch die Wohnung nach seinem Aftershave. Ein frischer, klarer Zitrusduft, der seine Anwesenheit verriet.
„Ich konnte mich nicht gut konzentrieren heute.“
Mein attraktiver Verlobter saß mit einer Espressotasse in der einen und seinem Handy in der anderen Hand im Wohnzimmer auf dem Sofa und blickte ertappt drein, als ich den Raum betrat. Mit einem sichtbaren Schlucken stellte er die Tasse auf einem schicken türkisfarbenen Untersetzer auf dem Couchtisch ab und sah mir in die Augen.
„Der Bauleiter hat alles im Griff und die Entwurfsplanung für das neue Projekt ist dem Auftraggeber vorgelegt worden, da kann ich gerade sowieso nur abwarten. Außerdem …“ Er machte eine kurze Pause. „Außerdem habe ich mit deiner Mutter telefoniert.“
„Du hast was?!“ Ich schrie die Worte beinahe heraus, so fassungslos war ich.
„Die Nummer steht neben der Adresse auf der Einladung“, erklärte Mason, als wäre das die Antwort auf meine Frage. „Sie ist nett.“
Mit einem Gefühl der Betäubung setzte ich mich neben ihn auf die Couch, legte mir mein Handy auf den Schoß und starrte ihn ungläubig an. Ich hatte den Brief in der Mittagspause, als ich das gerade gekaufte Obst nach Hause gebracht hatte, achtlos auf den Stapel unserer aktuellen Post in der Küche gelegt. Er hatte sich trotz seiner physischen Leichtheit schwer angefühlt und ich hatte ihn nicht länger mit mir herumtragen wollen. Nun wurde mir klar, dass es ein Fehler gewesen war, ihn nicht in die Papiertonne geworfen zu haben.
„Sie ist nett?“, wiederholte ich, und ein hohl klingendes, unfrohes Lachen kam mir über die Lippen, das sich so gar nicht nach mir anhörte.
„Ja.“ Mason nickte, völlig unbeeindruckt von meiner Aufregung. „Und sie schien sich sehr zu freuen, mich am Telefon kennenzulernen, denn überraschenderweise wusste sie nicht einmal von meiner Existenz. Oder sollte ich sagen, natürlich wusste sie nichts davon? Ich wusste schließlich auch nicht von ihrer.“
Ich stand so abrupt auf, dass das Handy, welches auf meinem Schoß gelegen hatte, zu Boden fiel. „Ich fasse nicht, dass du dich in mein Leben eingemischt hast!“, begehrte ich auf.
„In dein Leben?“ Mason klang verletzt. „Tut mir leid, Nora. Ich dachte, es wäre unser gemeinsames.“
„Das verstehst du nicht“, stöhnte ich.
„Dann erklär es mir.“
„Das will ich aber gar nicht! Ich will nicht, dass du meine Vergangenheit kennst! Wir brauchen diese Vergangenheit nicht, wieso kommt das bei dir nicht an? Was wir brauchen, ist die Gegenwart, Mason, das Hier und Jetzt!“ Erschöpft sank ich zurück in die Polster, klaubte das Handy vom Boden auf und legte es neben mich. „Ich werde nicht hingehen“, fügte ich ebenso leise wie scharf hinzu.
„Wovor hast du Angst?“ Sein forscher Blick aus intensiv blauen Augen schien mich regelrecht zu durchbohren.
„Angst?“, wiederholte ich, vielleicht eine Spur zu bissig. „Ich habe keine Angst, Mason! Ich habe vor rein gar nichts Angst, wie du weißt. Ich will einfach nicht. Abgesehen davon habe ich keine Zeit für solche Dinge.“
„Solche Dinge wie … den Tod eines nahen Verwandten?“ Mason sah mich an, als wäre ich eine Fremde. „Ich finde, du solltest es tun. Offenbar gibt es einiges, womit du an diesem Ort ins Reine kommen musst. Ich könnte dich begleiten, wenn du möchtest.“ Ganz behutsam, als fürchtete er, dass ich wie ein verschrecktes Tier reagieren könnte, legte er mir eine Hand auf den Oberschenkel. „Es gefällt mir nicht, dass du so abblockst. Ist etwas vorgefallen in Little … Dingsda, was dich traumatisiert hat?“
„Little Goldcoast.“ Ich biss die Zähne aufeinander und schüttelte zögernd den Kopf. „Es ist nichts vorgefallen, nein. Es ist einfach bloß eine öde kleine Stadt mit öden kleinen Menschen, zu denen ich schon lange nicht mehr gehöre. Du solltest froh sein, dass ich dort weg bin.“
„Das bin ich“, beteuerte Mason. In seinen Augen lag so viel Verständnis, dass ich beinahe ein schlechtes Gewissen bekam. „Schließlich hätten wir uns sonst nicht kennengelernt. Aber ich bin auch für Klarheit. Deine Wurzeln liegen dort und …“ Das Klingeln seines Handys, begleitet von einem unangenehm durchdringenden Vibrationsgeräusch, unterbrach ihn mitten im Satz. Mason verdrehte die Augen und bedachte mich mit einem knappen, entschuldigenden Blick, als er den Anruf annahm.
Seufzend lehnte ich mich zurück. Wir kannten es beide nicht anders ‒ unsere Jobs standen an erster Stelle, und wenn das Handy klingelte, musste alles andere warten. Auch die Beziehung.
Zu meiner Überraschung streckte er jedoch mir sein Handy entgegen, nachdem er einige knappe Worte mit dem Anrufer gewechselt hatte.
„Ist für dich“, erklärte er, ebenfalls erstaunt klingend. „Er … er sagt, er hat die Nummer von deiner Mutter bekommen, nachdem ich sie angerufen habe.“
Sprachlos starrte ich erst ihn, dann das Handy und schließlich wieder ihn an. Meine Kopfhaut, Beine und Fingerspitzen prickelten jäh, als wäre ich drauf und dran, ohnmächtig zu werden. In gefühltem Zeitlupentempo hielt ich mir das Handy ans Ohr und hauchte ein kaum hörbares, fragendes Hallo hinein.
„Nora.“ Ich erkannte seine Stimme bereits nach den ersten beiden Silben, auch wenn sie dunkler und etwas rauer klang als früher. „Ich bin‘s. Ich habe gehört, du kommst nach Hause.“