Leseprobe Das Leuchten der Wellen

Kapitel 1

Alana wollte sich gerade die Haare föhnen, als es an der Tür klingelte.

Das war mal wieder so typisch. Sie schlang ein Handtuch um ihre tropfenden braunen Haare und lief zur Haustür. In diesem Moment klingelte es zum zweiten Mal.

„Ich komme ja schon“, murrte sie.

Als sie den Drücker betätigte, ging unten die Haustür auf und ein lang gezogenes „Pooossst“ erscholl aus dem Hausflur.

Na toll, und dafür rannte sie extra zur Tür. Den Postboten hätte auch einer ihrer Nachbarn hereinlassen können.

Dennoch beschloss sie, direkt nach unten zu gehen und ihre Post zu holen. Sie wickelte sich ihren Handtuchturban fester ums Haar und ging die Treppe hinab zu den Briefkästen. Sie nahm das Bündel heraus und eilte hastig nach oben, denn im Flur war es eisig kalt.

Sie warf die Briefe und die Werbung auf den Wohnzimmertisch und ging dann ins Badezimmer, um sich ihre Haare zu föhnen. Angeblich war es ja besser, lange Haare an der Luft trocknen zu lassen, aber dann sah sie aus irgendeinem Grunde so aus, als hätte sie diese seit Wochen nicht gewaschen.

Nach dem Föhnen legte sie sich ihre Kellnerinnen-Uniform heraus und beschloss, noch ein bisschen in dem neuen Liebesroman zu lesen, den sie gestern begonnen hatte.

Es war idiotisch, denn sie wusste natürlich, dass all diese Romane nur Fantasieprodukte eines Autors waren, aber sie fühlte sich sofort besser, wenn sie in eine der romantischen Welten eintauchte. Unwillkürlich träumte sie davon, sich ebenfalls an einem so wunderschönen Ort wiederzufinden, wie zum Beispiel in den Nikolas-Sparks-Romanen, die fast immer in North Carolina spielten. Wenn man dort in dieser wunderschönen Gegend lebte, nur einen Steinwurf entfernt zum Strand und wunderschöne Sonnenaufgänge betrachten konnte, würde das Leben doch automatisch viel rosiger sein, oder? Selbst wenn man allein war und einen furchtbaren Job hatte, so wie sie, würde man sich allein dadurch aber schon viel besser fühlen.

Und dann natürlich die Liebesgeschichten in den Romanen! Sie wünschte sich so sehr, dass sie so etwas auch einmal erlebte. Einmal würde ihr schon reichen. Aber wenn sie realistisch war, musste sie sich doch eingestehen, dass es so eine Liebe wohl nicht gab. Man musste heutzutage wahrscheinlich schon zufrieden sein, wenn man jemanden fand, der kein totales Arschloch war. Ihr letzter Freund hatte ihr im Streit gesagt, dass es genau diese Liebesromane wären, die unweigerlich jede ihrer Beziehungen zum Scheitern brachten, weil sie absolut überzogene und unrealistische Vorstellungen von der Liebe hatte.

Ja, sie war vielleicht anspruchsvoll, was das anging, aber es war schließlich ihr Leben. Sie hatte nur eins. Sollte sie das etwa in einer unglücklichen lieblosen Beziehung verschwenden? Die Trennung mit Sebastian war jetzt schon ein Jahr her und sie hatte ihm nicht einen Tag lang hinterhergetrauert. Das war doch wohl der beste Beweis dafür, dass er nicht der Richtige für sie gewesen war.

Es war ja nicht so, dass sie auf einen Ritter auf einem weißen Pferd wartete, schließlich war sie schon vierunddreißig und nicht naiv, aber sie wünschte sich einen Mann, der ihr Herz höherschlagen ließ und der sie genauso sehr liebte, wie sie ihn. Jemand, mit dem sie sich vorstellen konnte, alt zu werden, und mit dem die Jahre dazwischen keine Last, sondern ein Abenteuer sein würden. Und nach mehreren oberflächlichen Beziehungen hatte sie beschlossen, mit Liebesromanen vorliebzunehmen, bis ihr ein Mann über den Weg lief, der etwas Besonderes war.

Als sie anderthalb Stunden später ihr Buch zuschlug und ins Schlafzimmer ging, um ihre Uniform anzuziehen, fragte sie sich, warum sie in der Liebe so rigoros war, aber nicht in ihrem restlichen Leben. Denn wenn sie es wäre, hätte sie diesen furchtbaren Job schon längst gekündigt. Die Arbeitszeiten waren furchtbar, das Trinkgeld lausig und das Kostüm ein absoluter Witz. Sie hatte ein Faible für alles Amerikanische und als sie gesehen hatte, dass das American Diner in ihrer Stadt Kellnerinnen suchte, hatte sie sich spontan beworben. Jetzt, drei Jahre später, hasste sie diese alberne sexistische Uniform und konnte den Geruch von Fast Food nicht mehr ertragen. Ursprünglich hatte sie Literaturwissenschaft studiert und etwas in diesem Bereich machen wollen, vielleicht in einem Verlag arbeiten. Aber in Herne und der näheren Umgebung gab es keine Verlagshäuser, und irgendwann hatte sie angefangen, Jobs anzunehmen, um die Rechnungen bezahlen zu können, und ihr Traum war in Vergessenheit geraten.

Sie warf einen Blick in den Spiegel. Das Kleid war bonbonrosa, viel zu kurz und noch dazu viel zu körperbetont. An den Ärmeln und am Kragen befand sich ein weißer Spitzenbesatz, der zu der kleinen Schürze passte, die zu dem Outfit gehörte. Standardmäßig musste sie dazu weiße Söckchen und weiße altmodische Schuhe tragen. Was nicht nur absolut bescheuert aussah, sondern im Winter für Beinahe-Erfrierungen sorgte. Aber das absolute Highlight war das kleine weiße Spitzen-Häubchen, was das Outfit angeblich abrundete. Dieses setzte sie aber immer erst im Restaurant auf, denn sie wollte sich in der U-Bahn nicht noch mehr blamieren als sowieso schon. Im Winter verdeckte zum Glück ihr Mantel den größten Teil der Uniform, aber jetzt kam der Sommer, was bedeutete, dass jeder ihr Outfit in voller Pracht bewundern konnte.

Wer im Ruhrgebiet lebte, war an freche Sprüche und blöde Anmachen gewöhnt und entsprechend abgehärtet, aber diese Uniform war die reinste Einladung für unqualifizierte Bemerkungen.

Noch war es zum Glück kühl genug für den Mantel und sie zog ihn hastig über, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.

Als sie um Mitternacht nach Hause kam, schälte sie sich aus ihrer klebrigen Uniform ein kleines Kind war so nett gewesen, eine Ketchupflasche als Pistole auf sie zu richten – und ließ sie einfach auf dem Boden liegen, denn sie wollte nur noch ins Bett. Wer noch nie als Kellnerin gearbeitet hatte, konnte sich nicht vorstellen, wie sehr einem die Füße, die Beine und der Rücken am Ende einer Schicht wehtaten. Sie hasste diesen Job so abgrundtief und nachts nahm sie sich immer vor, nach etwas Neuem Ausschau zu halten, das ihr mehr Freude machte. Aber am nächsten Tag dachte sie wieder an die Miete und an all die anderen Rechnungen und sie machte sich bewusst, dass die meisten Leute ihren Job nicht liebten und ihn nur ausübten, um ihr Leben finanzieren zu können.

Was für ein Leben?, dachte sie bitter, bevor sie vollkommen erschöpft einschlief.

***

Die Sonne schien in ihr Gesicht und weckte sie. Im Halbschlaf blinzelte sie gegen das Licht an und ihr fiel ein, dass sie gestern vergessen hatte, die Rollladen herunterzulassen.

Perfekt.

Sie überlegte kurz, rüberzugehen, sie runterzulassen und zu versuchen, noch ein bisschen weiterzuschlafen, aber sie wusste, wenn sie erst mal aufstand, würde sie nicht wieder einschlafen können.

Also stand sie auf, zog sich ihren gemütlichen himmelblauen Bademantel über und tapste in die Küche. Sie steckte eine Kapsel des extra starken Kaffees in die Maschine und während dieser durchlief, eilte sie zurück ins Schlafzimmer, um sich ein paar ihrer Flauschsocken überzustreifen, da die Kacheln in der Küche eiskalt waren. Danach holte sie ihre Tasse, gab ordentlich Zucker hinzu und ging damit ins Wohnzimmer. Sie kuschelte sich auf die Couch und schnappte sich die Decke, in der sie sich immer zum Fernsehgucken oder Lesen einmummelte und nahm einen großen Schluck des heißen Gebräus. Normalerweise war sie eher der Latte-macchiato-Typ mit viel Aroma und Zucker darin, aber als erste Tasse am Morgen bevorzugte sie die starken Morning-Breakfast-Kapseln. Als sie die Tasse halb ausgetrunken hatte, fiel ihr Blick auf die Briefe von gestern, die sie komplett vergessen hatte, aber mehr als Rechnungen erwartete sie eh nicht.

Doch neben Briefen der Stadtwerke, GEZ und Werbung war auch ein Brief einer Anwaltskanzlei aus Essen dabei. Schneider, Köhler und Berninghaus, Anwaltskanzlei stand auf dem Briefkopf.

Warum bekam sie Post von einem Anwalt? Hatte sie etwa vergessen, etwas zu bezahlen? Aber das konnte nicht sein, bis sich ein Anwalt bei so etwas einschaltete, dauerte es. Sie hätte vorher unzählige Mahnungen und Briefe von einem Inkassobüro erhalten müssen. Sie schaute auf den Adressaufkleber, weil sie kurzzeitig dachte, der Brief wäre vielleicht für einen ihrer Nachbarn bestimmt, aber nein, ihr Name stand darauf.

Ihr Herz fing an, schneller zu klopfen, und sie stellte die Kaffeetasse beiseite. Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber bei Anwälten dachte sie sofort an etwas Negatives.

Mit zittrigen Fingern riss sie den Umschlag auf und nestelte den Brief heraus.

Sie überflog ihn angespannt, verstand jedoch kein Wort, also las sie ihn noch einmal und schließlich ein drittes Mal.

Es ging um eine Testamentseröffnung, zu der sie eingeladen war. Die Verstorbene hieß Abigail Houlahan. Irgendetwas klingelte bei diesem Namen bei ihr, doch sie konnte ihn nicht wirklich einordnen. Es kam ihr so vor, als hätte sie ihn schon einmal gehört. Aber wo? An so einen außergewöhnlichen Namen müsste sie sich doch eigentlich sofort erinnern können. Je länger sie darüber nachgrübelte, umso mehr kam es ihr so vor, als hätte ihre Mutter ihn ihr gegenüber erwähnt. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.

Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es erst acht Uhr war. Eigentlich zu früh, um bei jemandem anzurufen, aber sie wusste, dass ihre Mutter schon seit Stunden wach war. Sie stand meistens schon um fünf Uhr auf. Sie war früher Krankenschwester gewesen und die ganzen Nacht- und Frühschichten hatten ihren Schlafrhythmus für immer zerstört, sodass sie selbst jetzt als Rentnerin zu nachtschlafender Zeit aufstand. Sie erhob sich also, holte das Telefon und tippte die Nummer ihrer Mutter ein.

„Brunswick. Hallo?“, meldete sich ihre Mutter tatsächlich putzmunter.

Alana musste unwillkürlich schmunzeln. Ihre Mutter war wahrlich ein Relikt aus der Vergangenheit. Es kam ihr nie in den Sinn, vorher auf das Display zu schauen, wer anrief, um zu entscheiden, ob sie den Anruf annehmen wollte. Sie stammte aus einer Zeit, als es diese Technik noch nicht gegeben hatte und man einfach ans Telefon ging, wenn es klingelte. Genauso, wie sie immer die Tür öffnete, wenn es schellte.

Wenn sie selbst gerade beschäftigt war, oder auch nur in ein spannendes Buch vertieft, ließ sie es einfach klingeln … etwas, was für ihre Mutter komplett unverständlich war.

Aber du warst doch zu Hause, hatte sie erst letztens verwirrt gesagt, als sie Alana den ganzen Nachmittag über nicht erreicht hatte.

Ja, aber ich hatte keine Lust ans Telefon zu gehen, mein Buch war so spannend, hatte sie erwidert.

Eine Diskussion, die sie schon öfter geführt hatten. Alana hatte ihr versichert, dass sie nicht die Einzige war, viele Leute ihrer Generation machten es genauso.

Aber in diesem Moment war sie froh, dass ihre Mutter so gut wie immer erreichbar war, denn sie hoffte inständig, dass ihre Mutter ein wenig Licht ins Dunkel bringen würde.

Nachdem sie ein bisschen Small Talk gemacht, und dabei alles über den schrecklichen Hund der Nachbarin erfahren hatte, konnte sie endlich zum Grund ihres Anrufes kommen.

„Mama, kennst du eine Abigail Houlahan? Mir kommt der Name irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht wirklich einordnen.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, was absolut untypisch für ihre Mutter war.

„Mama?“, fragte Alana und schaute kurz auf das Display, um sich zu vergewissern, dass die Verbindung noch intakt war.

Jetzt hörte sie ein leises Seufzen und dann ein Räuspern. „Houlahan ist der Name deiner Großmutter … meiner Mutter. Warum fragst du?“, erkundigte sie sich fast argwöhnisch.

Ihrer Großmutter? Alana grübelte nach. Sie hatte ihre Großmutter niemals kennengelernt, da ihre Mutter keinen Kontakt mit ihr gehabt hatte und diese weggezogen war, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Aber warum war ihr der Name trotzdem nicht bekannt vorgekommen? Klar, ihre Mutter hatte nicht oft über sie geredet, aber … jetzt fiel es ihr wieder ein. „Oma Abby hast du sie immer genannt“, rief sie jetzt triumphierend. „Deswegen hat mir Abigail nichts gesagt. Aber war dein Mädchenname nicht Konrad?“

Ihre Mutter seufzte wieder. „Ja, mein Vater hieß Konrad, das stimmt, aber nachdem mein Vater gestorben ist, hat meine Mutter wieder ihren Mädchennamen Houlahan angenommen. Sie sagte, damit fühle sie sich ihren amerikanischen Wurzeln näher.“ Alana kannte ihre Mutter gut genug, um ihre Stimmungen einschätzen zu können, ohne sie zu sehen und in ihrer Stimme lag eindeutig Unverständnis und Bitterkeit. Sie hatte natürlich gewusst, dass ihre Mutter und ihre Großmutter keinen Kontakt miteinander gehabt hatten, aber irgendwie hatte sie das Ganze nie hinterfragt und sich nie nach den genauen Gründen erkundigt. Sie hatte sehr liebe Großeltern väterlicherseits, mit denen sie ein sehr enges Verhältnis pflegte. Und da ihr Großvater mütterlicherseits schon vor ihrer Geburt verstorben und ihre Großmutter nie präsent gewesen war, war dies irgendwie der Normalzustand gewesen. Der Name Oma Abby war nur äußerst selten mal gefallen, wenn ihre Mutter etwas aus ihrer Kindheit erzählt hatte. In Alanas Kindheit hatte sie nie eine Rolle gespielt und da ihre anderen Großeltern immer für sie da gewesen waren, hatte sie diese Lücke auch nie wirklich bemerkt, und auch niemals versucht, mehr über ihre andere Großmutter zu erfahren oder Kontakt zu ihr zu suchen.

„Wie kommst du darauf?“, fragte ihre Mutter und riss sie aus ihren Gedanken.

Alana dachte an den Brief und ihr wurde bewusst, dass ihre Mutter offenbar gar nicht wusste, dass Abigail gestorben war, was seltsam war, denn als Tochter war sie doch bestimmt ebenfalls zur Testamentseröffnung eingeladen worden.

„Hast du gestern nach der Post geschaut?“, fragte Alana unverbindlich.

„Was ist denn das für eine komische Frage, ja habe ich … Moment mal …“, erwiderte ihre Mutter und verstummte kurz, bevor sie leise sagte: „Sie hat dir geschrieben, oder? Du hast einen Brief von meiner Mutter bekommen.“

Alana konnte deutlich die Verletztheit aus der Stimme ihrer Mutter heraushören.

„Nein, sie hat mir nicht geschrieben“, sagte sie hastig, aber dann verstummte sie, denn sie wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. Sie wollte ihr nicht am Telefon sagen, dass ihre Mutter tot war … so etwas konnte man doch nicht am Telefon mitteilen.

„Warum fragst du dann, ob ich Post hatte, und erkundigst dich nach dem Namen deiner Oma?“

„Mama, was hältst du davon, wenn ich nachher mal vorbeischaue? Ich muss erst heute Abend arbeiten und wir können doch einen Kaffee zusammen trinken“, schlug sie vor.

Sie wollte es ihrer Mutter gar nicht sagen, aber persönlich war immer noch besser als am Telefon und danach könnte sie ihr dann den Brief zeigen.

Aber sie hatte die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. „Wenn du mir irgendetwas Unangenehmes sagen willst, und es hört sich ganz danach an, dann will ich es sofort wissen. Du kannst jederzeit gern zum Kaffee kommen, das weißt du, aber sag mir jetzt, was das alles soll. Das Thema meine Mutter ist … schwierig“, erklärte sie und wartete dann auf Alanas Antwort.

„Ich habe einen Brief von einer Anwaltskanzlei bekommen“, berichtete Alana wahrheitsgemäß. „Es geht dabei um Abigail Houlahan … und um eine Testamentseröffnung, zu der ich eingeladen bin“, stieß sie schließlich hervor.

Sie strich sich eine Strähne ihres langen Haares hinters Ohr und zog die Beine an den Oberkörper. Wenn sie gewusst hätte, dass Abigail ihre Großmutter war, hätte sie dieses Gespräch niemals am Telefon geführt.

„Sie ist also tot“, sagte ihre Mutter, klang aber sehr gefasst. „Wann ist sie gestorben und woran?“

„Das weiß ich leider nicht. Das steht nicht in dem Brief. Es ist nur ein informelles Schreiben.“ Sie zögerte kurz, bevor sie sagte: „Es tut mir leid wegen deines Verlustes.“

Ihre Mutter stieß ein trauriges Lachen hervor. „Das braucht dir nicht leidzutun. Meine Mutter ist seit Jahrzehnten abwesend, wir hatten das letzte Mal Kontakt, da warst du noch ein Kind. Mir kam es daher so vor, als wäre sie schon vor langer Zeit gestorben. Es klingt hart, ich weiß, aber die Nachricht löst in mir ein Gefühl aus, als wäre eine entfernte Bekannte gestorben, nicht meine Mutter, verstehst du?“

Alana versuchte, es sich vorzustellen, aber das war schwierig, denn sie hatte stets einen guten Kontakt zu ihren Eltern und zu ihren anderen Großeltern gehabt. Was musste passieren, dass man den Kontakt abbrach und Jahrzehnte lang nie wieder miteinander sprach? Sie fand das unglaublich traurig. Sie glaubte nicht, dass es etwas gab, was dazu führen könnte, dass sie und ihre Mutter für immer den Kontakt abbrachen. Ja, natürlich entstanden mal Streits oder Meinungsverschiedenheiten und es konnte bestimmt auch vorkommen, dass man eine Weile nicht miteinander sprach, aber dann würde doch normalerweise einer der Beteiligten seinen Stolz hinunterschlucken und einen Schritt auf den anderen zu machen.

„Du kriegst bestimmt auch noch einen Brief von der Anwaltskanzlei mit den Informationen. Ruf doch am besten mal an und frag nach, dann erfährst du vielleicht auch noch mehr Infos und kannst sie Genaueres fragen.“ Sie nahm den Brief zur Hand und gab ihrer Mutter langsam die Telefonnummer und den Namen der Kanzlei durch.

„Ich rufe nachher noch mal an, und dann kannst du mir erzählen, was sie gesagt haben“, meinte sie und beendete das Telefonat. Denn sie merkte, dass ihre Mutter nicht mehr bei der Sache war, was ja auch absolut verständlich war. Auch wenn sie es nicht zugab, aber die Nachricht vom Tod ihrer Mutter hatte sie bestimmt doch berührt, selbst wenn sie so lange keinen Kontakt miteinander gehabt hatten, oder vielleicht auch gerade deshalb.

Kapitel 2

Es war schon eine Weile her, dass sie in Essen gewesen war, obwohl man mit dem Zug innerhalb einer dreiviertel Stunde dorthin kam. Aber die Corona Pandemie steckte einem irgendwie immer noch in den Knochen. Man hatte so lange eingebläut bekommen, dass Reisen, selbst in die Nachbarstädte gefährlich waren, bis man irgendwann nur noch zu Hause geblieben war. Jetzt war sogar die Maskenpflicht in NRW komplett gefallen, aber man verbrachte irgendwie immer noch so viel Zeit in seinen eigenen vier Wänden. Die ganze Anfangszeit über war man sich eingesperrt vorgekommen, und hatte davon geträumt, endlich wieder alles machen zu können … jetzt war es seit einer Weile wieder so weit, aber man schien irgendwie im alten Trott festzustecken. Vielleicht ging es aber auch nur ihr so. Außer zur Arbeit ging sie so gut wie nirgendwo hin und während der Pandemie war auch der Kontakt zu ihren wenigen Freundinnen abgebrochen. Vielleicht wäre es anders, wenn sie einen Freund hätte, dann würde es ihr bestimmt mehr Spaß machen ins Kino oder in Restaurants zu gehen. Es war albern, das wusste sie selbst. Millionen Singles gingen allein essen, ins Kino oder zu Veranstaltungen, aber sie war schon immer sehr introvertiert gewesen und fühlte sich so allein einfach unwohl. Außerdem machte es sie traurig, denn wenn sie Pärchen sah, während sie allein irgendwo saß, stellte sie sich unweigerlich vor, wie viel schöner das alles mit einem Partner wäre.

Normalerweise war sie eher der legere Jeans und übergroße Pullover Typ, aber nachdem sie die teure Anwaltskanzlei gegoogelt hatte, und all das edle Mahagoniholz und die Kunstwerke gesehen hatte, hatte sie sich für die Testamentseröffnung ein wenig in Schale geworfen. Sie hatte ein knielanges weinrotes Kleid an, das ihre Kurven betonte, aber dennoch nicht sexy im eigentlichen Sinne war, trug Stiefel mit Absatz und sie hatte sich mit einem passenden weinroten Lippenstift geschminkt, obwohl sie sonst eigentlich eher Nude-Töne bevorzugte.

Wahrscheinlich war das vollkommen albern, denn den Anwälten war es bestimmt komplett egal, ob sie dort in Jeans oder topgestylt auftauchte, besonders, da es sich ja auch um einen traurigen Anlass handelte. Aber sie selbst fühlte sich so wohler. Es war, als hätte sie eine Rüstung angelegt, mit der sie in der Lage war, mit der luxuriösen Umgebung zu verschmelzen.

Weil sie zu früh in Essen ankam, trank sie im Starbucks, das sich direkt im Bahnhof befand, noch einen Caramel Latte und fuhr dann mit dem Bus zur angegebenen Adresse.

Selbst die Umgebung sieht schon äußerst wohlhabend aus, dachte Alana, als sie sich der Haltestelle näherten, an der sie aussteigen musste. Es war die Gegend am Baldeneysee und Alana wusste, dass die Villen hier Millionen kosteten. War ihre Großmutter so wohlhabend gewesen, dass sie sich eine Anwaltskanzlei in dieser Gegend hatte leisten können, oder war das nur Zufall?

Sie drückte den Halteknopf und wartete, bis der Bus anhielt. Als sie ausstieg, blickte sie sich bewundernd um. Warum war sie schon so lange nicht mehr hier gewesen? Die Gegend am Wasser war wunderschön zum Spazieren gehen. Während sie zu der angegebenen Adresse lief, nahm sie sich fest vor, wieder öfter hierherzukommen, wenn es richtig warm war. Sie hatte sich schon zu lange eingeigelt.

Als sie das Gebäude erreichte, nahm sie den Fahrstuhl in den zweiten Stock, in der sich die Kanzlei befand. Sie stieg aus und bemühte sich, nicht allzu eingeschüchtert zu wirken, denn der Boden bestand aus teurem Marmor und die Wände waren mit hochpreisigen Tapeten geschmückt. Direkt über der Rezeption befand sich in großen goldenen Lettern das Logo der Kanzlei.

Sie nannte ihren Namen und sagte, dass sie einen Termin hatte, und die Empfangsdame bat sie, kurz Platz zu nehmen.

Sie fragte sich, warum sie eingeladen worden war, wo sie ihre Großmutter doch gar nicht gekannt hatte … aber was noch viel wichtiger war: Warum ihre Mutter keine Einladung bekommen hatte. Diese hatte sie an jenem Abend nämlich angerufen und ihr erzählt, dass sie mit der Kanzlei Kontakt aufgenommen hatte und dass bei der Testamentseröffnung definitiv nur Alana eingeladen war.

Das hatte ihre Mutter natürlich verletzt, was sie absolut nachvollziehen konnte. Sie hatte kurz überlegt, auch nicht herzukommen, aber dann hatte letzten Endes doch ihre Neugier obsiegt. Was würde sie bei diesem Termin erfahren? Hatte eine Frau, an die sie keinerlei Erinnerung mehr hatte, ihr vielleicht sogar etwas hinterlassen?

Bevor sie noch weiter nachgrübeln konnte, kam ein designierter älterer Mann in einem offensichtlich maßgeschneiderten Anzug auf sie zu.

„Frau Brunswick, es freut mich, Sie kennenzulernen. Bitte folgen Sie mir in mein Büro.“

Sein Büro strahlte männliche Eleganz und Reichtum aus. Dunkles Holz dominierte den Raum und schwacher Zigarrenrauch lag in Luft. Grüne Glasschirme, wie man sie aus alten Filmen kannte, spendeten ein warmes Licht. Es war ein Raum, in dem man sich sofort wohlfühlte.

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte der Mann und wies auf einen breiten Sessel aus cognacfarbenem Leder, das wunderbar weich war.

„Mein Name ist Artur Köhler, und ich habe Sie zu dieser Testamentseröffnung eingeladen. Es hat mir sehr leidgetan, vom Tod Ihrer Großmutter zu hören, sie war ein wunderbarer Mensch.“

„Sie kannten meine Großmutter?“, fragte Alana überrascht.

„Ja, wir sind alte Freunde gewesen, wir kannten uns schon seit der Schulzeit. Als sie hörte, dass ich Anwalt bin, hat sie alles, was es zu regeln gab, mir übertragen. Eigentlich bin ich bereits in Rente und einer meiner Söhne hat meinen Platz übernommen, aber in diesem Fall, wollte ich das Ganze gern persönlich mit Ihnen besprechen, weil ich Abby sehr gern hatte.“

Alana musterte den Mann, der um die achtzig zu sein schien. Es war ein komisches Gefühl, dass dieser Fremde so viel mehr über ihre Großmutter zu wissen schien als sie selbst.

„Ich habe hier zum einen das offizielle Dokument und zum anderen noch einen persönlichen Brief Ihrer Großmutter an Sie“, sagte der Mann und überreichte ihr einen zugeklebten Umschlag mit ihrem Namen darauf.

Dann setzte er sich hinter seinen ausladenden Schreibtisch und begann zu lesen.

Alanas Herz klopfte plötzlich vor Aufregung so stark, dass sie feuchte Hände und Rauschen in den Ohren bekam.

Ihre Augen weiteten sich und sie bat den Anwalt die letzte Passage zu wiederholen, da sie sich sicher war, sich verhört zu haben.

Der Anwalt schenkte ihr ein Lächeln und sagte: „Ich weiß, das muss ein ziemlicher Schock für Sie sein, aber Ihre Großmutter hat Ihnen tatsächlich ihr Haus inklusive der gesamten Einrichtung darin vermacht. Ich war persönlich vor Ort und habe es mir angesehen und ich kann Ihnen sagen, es ist wunderschön. Es wurde ein bisschen vernachlässigt in den letzten Jahren, aufgrund des Alters Ihrer Großmutter und weil sie das letzte Jahr vor ihrem Tod in einem Pflegeheim verbracht hat, aber es ist ein Schmuckstück und der Strand ist nur einen Steinwurf entfernt. North Carolina ist aber auch eine traumhafte Gegend.“

Alana wusste gar nicht, worauf sie zuerst reagieren sollte. „Sie hat mir ein Haus vererbt? Warum gerade mir? Und habe ich richtig gehört? In NORTH CAROLINA?“, stieß sie fassungslos hervor.

„Ihre Großmutter stammt gebürtig aus den USA, sie ist als Teenager hierhergekommen, und im Alter hat sie sich nach ihrer alten Heimat zurückgesehnt. Sie stammte ursprünglich aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Raleigh. Haben Sie das nicht gewusst?“, fragte Artur Köhler sie.

Alana schüttelte nur stumm den Kopf. Sie war immer noch dabei, das alles zu verdauen, als der Anwalt vorlas: „Des Weiteren vermache ich meiner Enkelin Alana Brunswick 100.000 Dollar, damit sie die Mittel hat, das Haus zu renovieren und es nach ihren Wünschen umzugestalten.“

Artur Köhler las auch noch den Rest des Testaments vor, aber Alana kam sich wie in einem Traum vor, aus dem sie gleich aufwachen würde. Ein Haus … in Amerika … 100.000 Dollar? Das konnte nicht stimmen. Doch der Anwalt, der ihr gegenübersaß, war mehr als real.

Als er Alanas fassungsloses Gesicht sah, lächelte er sanft und verständnisvoll. „Ich weiß, das ist alles sehr viel auf einmal und Sie fühlen sich bestimmt überwältigt, aber es sind ja wunderbare Neuigkeiten. Sie müssen Ihrer Großmutter viel bedeutet haben, denn Sie sind neben ihrem Lebensgefährten, die einzige Begünstigte.“

„Sie hatte einen Lebensgefährten?“

„Ja, ein sehr netter Mann, der aus dem gleichen Ort stammt, in dem ihre Großmutter zuletzt gelebt hat. Er war so nett, mich ins Haus zu lassen. Er hat die persönlichen Gegenstände ihrer Großmutter geerbt. Dinge von emotionalem Wert, verstehen Sie?“

Sie wusste nichts, rein gar nichts von dieser Frau, die ihr ein Haus und so eine Geldsumme vererbt hatte.

„Ich kann nicht in dieses Haus ziehen. Es befindet sich in North Carolina. Ich kann doch nicht einfach so auswandern! Darf ich das Haus auch verkaufen? Kann ich das über Sie laufen lassen … würden Sie sich darum kümmern?“

Der Anwalt blickte sie ernst an. „Es gibt keine Klausel in diesem Vertrag, in der steht, dass Sie das Haus nicht veräußern dürften, und ich könnte mich selbstverständlich um den Verkauf kümmern und einen Makler dort beauftragen. Aber ich würde Ihnen dringend empfehlen, erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen und sich ein paar Tage Zeit zu lassen. Momentan ist das Haus sehr renovierungsbedürftig und es würde nur einen Bruchteil des Preises bringen, den Sie für ein Haus in solcher Lage, in Strandnähe bekommen könnten. Außerdem hat Ihre Großmutter Ihnen das Haus wahrscheinlich aus einem guten Grund vermacht. Sie wollte, dass Sie es bekommen und kein anderer. Deshalb würde ich nichts überstürzen.“

Als Alana nichts erwiderte, sagte er: „Fahren Sie erst einmal nach Hause und überdenken Sie das Ganze in Ruhe. Sie haben ja meine Nummer und können mich jederzeit anrufen und mir mitteilen, wozu sie sich entschieden haben.“

Er stand auf, überreichte ihr eine Kopie des Testaments und schüttelte ihr die Hand.

Mit wackeligen Knien stand Alana ebenfalls auf und verabschiedete sich von dem Anwalt. Wie betäubt verließ sie die Kanzlei.

Während sie mit dem Zug zurückfuhr, gingen ihr unwillkürlich die Worte des Anwalts durch den Kopf: Ihre Großmutter wird einen guten Grund gehabt haben, Ihnen alles zu vermachen.

Sie schüttelte den Kopf. Außer, dass ihre Großmutter am Ende ihres Lebens vielleicht geistig nicht mehr ganz zurechnungsfähig gewesen war, fiel ihr kein Grund ein. Egal, wie sehr sie darüber nachgrübelte, sie verstand es nicht. Das Ganze war absolut verrückt. Als wenn sie einfach nach Amerika auswandern würde!

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie warf einen Blick auf das Display und sah, dass es ihre Mutter war. Klar, diese war neugierig, was bei dem Termin herausgekommen war, und wollte alles wissen, aber sie fühlte sich momentan einfach nicht in der Lage, mit irgendjemandem darüber zu reden, und ganz besonders nicht mit ihrer Mutter. Wie sollte sie dieser denn bitte schön erklären, dass sie neben dem Lebensgefährten, die einzige Erbin von Abigail Houlahan war? Und dass ihre Mutter nicht mit einem einzigen Wort erwähnt worden war! Selbst wenn sie Jahrzehnte keinen Kontakt gehabt hatten, war sie doch immer noch ihre Tochter gewesen und es würde sie verletzen. Alana musste das alles selbst erst einmal ein wenig verarbeiten und begreifen, bevor sie ihr davon erzählte. Vielleicht würde der Brief ihrer Großmutter ja ein wenig Klarheit bringen. Aber so neugierig und nervös sie auch war, sie wollte ihn nicht hier in diesem überfüllten Zug voller lautstarker Jugendlicher lesen. Das kam ihr einfach nicht richtig vor.

Also wartete sie nervös, bis der Zug in den Herner Bahnhof einfuhr und sprang dann auf. Danach ging sie hinunter zum Busbahnhof. Als sie sah, dass ihr Bus erst in fünfzehn Minuten kam, beschloss sie, sich einen Big Mac bei McDonalds zu holen, denn das Letzte, was sie heute gegessen hatte, war zum Frühstück eine Schüssel Müsli gewesen und das war schon Ewigkeiten her. Jetzt, wo die akute Aufregung abgeflacht war, fing auch ihr Magen immer mehr an zu knurren.

Als sie auf ihren Big Mac wartete, wurde ihr bewusst, dass sie gerade in einem Fast-Food-Restaurant stand, obwohl sie in Kürze 100.000 Dollar besitzen würde und ein Haus, das wahrscheinlich um ein Vielfaches wertvoller war … zumindest nach der Renovierung. Eigentlich hätte sie sich Champagner kaufen sollen, dachte sie grinsend.

Andererseits war sie ja noch nicht reich, noch war sie die gleiche arme Kellnerin wie immer, die froh war, wenn sie ihre Miete und die restlichen Rechnungen zusammenbekam.

Während sie mit Hunger ihren Burger verspeiste und anschließend zur Bushaltestelle ging, träumte sie ein wenig vor sich hin, was sie mit so viel Geld alles anstellen könnte. Und wenn sie das Haus verkauft hatte, würde es noch wesentlich mehr sein. Vielleicht könnte sie eine Weile ihren Job kündigen und etwas tun, was sie schon immer gewollt hatte. Reisen und etwas von der Welt sehen oder einen eigenen Roman schreiben. Sie wusste nicht, ob sie Talent dazu hatte, aber sie liebte Bücher und sobald auch nur etwas Geld am Ende des Monats übrig blieb, eilte sie in die nächste Buchhandlung.

Außerdem könnte sie ihre Wohnung endlich neu einrichten, denn diese war absolut trostlos, das war ihr besonders während der Lockdowns in der Pandemie bewusst geworden.

Sie stieg in den Bus und innerhalb von zwanzig Minuten war sie zu Hause. Als sie die Tür aufschloss, war das wie eine Bestätigung ihrer Gedanken. Eigentlich sollte das eigene Zuhause ein Rückzugs- und Wohlfühlort sein, aber ihre Wohnung war eher deprimierend. Das lag natürlich zum einen an den fehlenden finanziellen Mitteln, aber irgendwie auch an ihrer allgemeinen Einstellung in letzter Zeit. Nach der Trennung von ihrem letzten Freund hatte sie irgendwie die Vorstellung aufgegeben, dass es den EINEN tatsächlich gab. Sie liebte es weiterhin, in ihren Romanen von wunderschönen, herzzerreißenden Liebesgeschichten zu lesen, aber sie glaubte nicht mehr, dass es einen Mann, wie in den Büchern wirklich gab.

Dazu war noch die Pandemie gekommen, die den Kontakt zu den wenigen Freundinnen hatte abbrechen lassen … man konnte sagen, das letzte Jahr war hart für sie gewesen.

Aber vielleicht war dieses Erbe ja der Lichtblick, auf den sie gewartet hatte.

Als sie gerade ihre Jacke auszog, klingelte ihr Handy schon wieder. Das Display bestätigte ihr, dass es erneut ihre Mutter war. Als es aufhörte zu klingeln, sah sie, dass sie außerdem schon mehrere WhatsApp-Nachrichten von ihr hatte.

Sie kniff sich mit Zeigefinger und Daumen in die Nasenwurzel und seufzte leise.

Sie verstand ja, dass ihre Mutter neugierig war, aber sie konnte und wollte jetzt noch nicht mit ihr telefonieren.

Bin noch unterwegs, melde mich später, schrieb sie kurzerhand und hoffte, dass ihr das wenigstens ein bisschen Zeit verschaffen würde. Denn sie wollte den Brief ihrer Großmutter – wie seltsam sich das anhörte – zuerst lesen, damit sie auch wirklich alle Informationen kannte.

Melde dich, sobald du kannst, ich will alles wissen. Das Warten macht mich wahnsinnig.

Sie würde ihre Mutter später anrufen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es dieser besser ging, wenn sie erfuhr, dass ihre Mutter ihr nichts hinterlassen hatte. Ihrer Enkelin, die sie gar nicht kannte, dafür aber ein ganzes Haus und nicht unerheblich wenig Geld.

Sie fragte sich, was damals zwischen den beiden vorgefallen war. War es etwas wirklich Dramatisches gewesen, oder etwas, das eigentlich kaum der Rede wert war, sich die Fronten aber irgendwann so verhärtet hatten, dass irgendwie keiner der Erste sein wollte, der zuerst nachgab? Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass die Welt voller Menschen war, die darauf warteten, dass der andere den ersten Schritt machte, und so traurig es war, aber es entsprach der Wahrheit. Wie viel Einsamkeit könnte verhindert werden, wenn man einfach zum Hörer griff und seinen Stolz herunterschluckte.

Sie machte sich einen schwarzen Tee mit Zitrone und holte ihre Lieblingspralinen aus dem Schrank. Wenn heute kein Tag zum Sündigen war, wann dann? Außerdem brauchte sie beim Lesen dieses Briefes dringend Nervennahrung.

Sie steckte sich eine der Pralinen in den Mund und schloss kurz genießerisch die Augen, dann trug sie Tee und Pralinen zum Wohnzimmertisch, wo sie auch schon den Brief deponiert hatte.

Danach huschte sie noch schnell ins Schlafzimmer, um sich eine bequeme Yogahose und ein weites T-Shirt anzuziehen, denn sie wollte sich absolut wohlfühlen.

Kurz darauf setzte sie sich auf die Couch, zog die Beine an und breitete die Decke über sich aus. Nun war sie bereit.

Sie trank vorsichtig einen Schluck Tee und griff dann nach dem Umschlag. Als sie ihn öffnete und den Brief herauszog, fielen zwei Fotos heraus, aber sie schaute bewusst nicht darauf, sondern legte sie umgedreht auf den Wohnzimmertisch. Sie wollte zuerst den Brief lesen.

Plötzlich verspürte sie wieder Herzklopfen und war aufgeregt.

Die Schrift auf dem Papier war wunderschön, äußerst filigran und weiblich.

Liebe Alana,

ich kann mir vorstellen, dass heute ein sehr aufregender Tag für dich gewesen ist, und dir wahrscheinlich Unmengen an Fragen im Kopf umherschwirren. Ich hoffe, dir mit diesem Brief wenigstens einige beantworten zu können.

Mein Name ist Abigail Houlahan und ich bin deine Großmutter. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch ein kleines Baby, und jetzt bist du eine wunderschöne erwachsene Frau. Ich wünschte, ich hätte dich aufwachsen sehen und dir die Großmutter sein können, die du verdienst, aber das war leider unmöglich.

Ich weiß nicht, wie viel dir deine Mutter erzählt hat, aber sie hat es mir nie verziehen, dass ich wieder zurück nach Amerika gegangen bin. Ich wollte, dass ihr mich dort besucht, und wäre auch zwischendurch zu euch gekommen, aber leider war deine Mutter nicht damit einverstanden. Anfangs habe ich versucht, Kontakt zu halten. Ich habe euch Briefe und Geburtstags- und Weihnachtskarten geschrieben und dir zu den Feiertagen Geschenke geschickt, aber alles kam ungeöffnet wieder zurück.

Sei nicht böse auf deine Mutter, denn das bin ich auch nicht. Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern sind manchmal schwierig und sie hat meine Entscheidung leider nie verstehen können. Ich wünschte dennoch, es wäre alles anders gewesen.

Ich habe immer mit mir gehadert, Kontakt mit Dir aufzunehmen, als Du älter warst, aber ich wollte auf keinen Fall einen Keil zwischen Dich und Deine Mutter treiben. Ich wollte nicht, dass Du Dich meinetwegen mit ihr streitet, und sie Dich zwingt, Dich zwischen ihr und mir zu entscheiden.

Doch auch, wenn ich über deine Mutter nichts über dich erfahren konnte, habe ich versucht, aus der Ferne an deinem Leben teilzuhaben. Ich habe Verwandte und Freunde gebeten, mir Fotos von dir zu schicken – während ich dies schreibe, sehe ich mir die Bilder von dir an, bei deiner Einschulung, deinem Schulabschluss, mit Freunden oder auf Familienfeiern. Ich habe dich groß werden sehen und gehört, was für ein toller Mensch du geworden bist. Und von dem, was ich gehört habe, scheinst du mir sehr ähnlich zu sein. Deine Mutter kam immer mehr nach meinem Mann als nach mir, die beiden waren vernünftig, stets rational und mehr der Logik zugewandt. Ich hingegen war eher wild, freiheitsliebend und an allem Kreativen interessiert. Außerdem liebe ich Bücher. Immer wenn ich stundenlang in einem Buch versunken war, hat mich dein Großvater stirnrunzelnd angesehen und gesagt, ich solle doch lieber etwas Vernünftiges machen, anstatt meine Zeit mit so etwas zu vergeuden.

Alana musste unwillkürlich grinsen, denn ganz genau das sagte ihre Mutter auch immer, wenn sie hörte, dass Alana ganze Wochenenden nur mit Lesen verbracht hatte.

Ihre Großmutter hatte Bücher ebenfalls geliebt! Hatte sie diese Liebe an sie weitervererbt? War so etwas möglich?

Sie nahm sich noch eine Praline und las weiter.

Ich weiß, es hat dich bestimmt überrascht, dass ich dir etwas vermacht habe, obwohl ich dich gar nicht kenne, aber ich wollte dir etwas schenken, das wertvoller ist als alles andere auf der Welt: Glück!

Der Umzug nach North Carolina war das Verrückteste, was ich jemals getan habe, aber es war auch das, was mir die glücklichste Zeit meines Lebens beschert hat. Das Einzige, was ich mir für dich wünsche, ist, dass du glücklich wirst, und es würde mir die Welt bedeuten, wenn ich dabei helfen könnte, dass du es wirst.

Ich liebe mein Haus und ich hoffe, es wird dir genauso ergehen. Es ist keine prunkvolle Villa, aber in jedem Zimmer steckt meine Liebe und man fühlt sich darin sofort zu Hause und geborgen, und wenn man am Strand entlangwandert, hat man das Gefühl, dass seine Seele endlich frei ist und dass man hier der Mensch sein kann, der man schon immer sein wollte. Ich weiß, es hört sich kitschig an, aber wenn du hier bist, wirst du verstehen, wovon ich schreibe. Es ist ein Gefühl, als wenn man hier nicht traurig sein könnte, als wenn jeder neue Tag ein Abenteuer wäre und bei mir ist es auch genauso gewesen.

Das Geld habe ich dir hinterlassen, damit du dir nach dem Umzug erst mal keine Gedanken um die Finanzen machen musst und alles nach deinen Wünschen einrichten, einkaufen und dich erst einmal einleben kannst.

Nach Amerika kann man nicht einfach so ziehen, da ich aber gebürtige Amerikanerin bin und dir das Haus offiziell vererbt habe, besitzt du jetzt quasi schon einen festen Wohnsitz. Und ein Arbeitsvisum würdest du auch bekommen, denn ich habe in der Bücherei im Ort, in der ich, seit ich hier wohne, ehrenamtlich arbeite, einen Job für dich besorgt. Ich weiß wie gesagt nicht, ob du Bücher magst, aber für mich war es immer ein Traumjob.

Wenn du dich dafür entscheidest, was ich von Herzen hoffe, wird dir Artur Köhler einen Umschlag mit allen nötigen Informationen aushändigen.

Das klang so, als wenn ihre Großmutter ein ganzes Leben für sie vorbereitet hatte … ein Haus, Geld und auch noch einen Job. Und jedes einzelne Detail klang, als wenn es ihren Wunschträumen entspräche.

Bis auf die kleine Tatsache, dass dieses Leben in einem anderen Land auf sie warten würde. Ja, sie war nicht der spontanste Mensch, das gab sie zu, aber zwischen, man fuhr spontan in die Stadt und ließ sich einen neuen Haarschnitt verpassen oder man riss alle Brücken hinter sich ab und fing ein komplett neues Leben an, lag ein himmelweiter Unterschied. Außerdem bezweifelte sie, dass das Leben dort wirklich so fantastisch war, wie ihre Großmutter es beschrieb. Entweder sah sie alles dort durch eine rosarote Brille oder sie beschrieb es ihr deshalb in den schillerndsten Farben, weil sie Alana davon überzeugen wollte, das Erbe anzunehmen.

Sie trank ihren Tee aus, obwohl er inzwischen kalt geworden war, und versuchte, sich das Leben vorzustellen, das ihre Großmutter geführt hatte. War sie dort wirklich so glücklich gewesen?

Ich liebe dich und bin stolz auf dich und ich wünsche dir, dass du Glück und Liebe finden wirst. Du sollst ein erfülltes Leben haben und all deine Träume verwirklichen.

Lass dir von niemandem einreden, dass du verrückt oder egoistisch bist, wenn du dich dafür entscheidest, das zu tun, was du liebst, egal, was es auch ist.

Höre immer auf dein Herz und deinen Bauch, nicht auf deinen Verstand, oder auf andere Menschen, die dir vorschreiben wollen, wie du zu sein hast. Egal, was du tust, wenn du es voller Leidenschaft tust, ist es das Richtige, und es gibt keinen Grund, dich dafür zu schämen.

Ich wünschte, ich könnte dir all das persönlich sagen und hätte dich beim Aufwachsen begleiten können, um dir stets das Gefühl zu geben, dass du perfekt bist, so wie du bist.

Doch das konnte ich leider nicht, deshalb hoffe ich von ganzem Herzen, dass du mein Geschenk annimmst, in mein Haus ziehst und genauso glücklich wirst, wie ich es in den letzten Jahren war.

 

In Liebe

deine Großmutter Abby

Alanas Sicht verschwamm, und sie musste die Tränen wegwischen, die ihr beim Lesen des letzten Absatzes gekommen waren.

Ihre Großmutter konnte es nicht wissen – oder vielleicht auch doch, schließlich hatte sie viele Jahre keinen Kontakt mehr mit ihrer Tochter gehabt, aber Alanas Mutter, Abigails Tochter war eine Person, die immerzu an einem herumkritisierte. Sie meinte es bestimmt nicht böse, aber seit sie sich erinnern konnte, war nichts, was Alana getan hatte, jemals gut genug für sie gewesen. Sie hatte eine Eins in der Deutscharbeit … aber in Mathematik stand sie nur auf einer Drei. Wenn sie ein neues Kleid anprobiert hatte, hatte ihre Mutter ihr gesagt, dass sie das mit ihrer Figur nicht tragen konnte; den Pony, den sie gewollt hatte, würde ihren Eierkopf betonen. Ständig hatte sie ihr gesagt, dass sie ihren Babyspeck loswerden sollte, obwohl sie als Teenager fünfundfünfzig Kilo gewogen hatte. All das hatte, gerade in ihrer Pubertät, immens an ihrem Selbstbewusstsein genagt.

Und auch heute war es nicht besser. Dass sie als Kellnerin arbeitete, war ja wohl unter ihrer Würde, ihre Freunde waren grundsätzlich nur Verlierer und Taugenichtse und ihr Kleidungsstil, ihre Frisur, ihre Wohnungseinrichtung – das alles war verbesserungswürdig.

Ihre Mutter war ein absolut logischer und rationaler Mensch, der immer aussprach, was er dachte. Alana glaubte nicht, dass sie all das sagte, um sie zu verletzen, sie meinte es auf ihre Art wahrscheinlich gut und wollte ihr helfen. Aber sie hatte schon immer darunter gelitten, dass nichts, was sie tat, gut genug für ihre Mutter zu sein schien. Und genau das, was ihre Großmutter geschrieben hatte, wünschte sie sich schon ihr ganzes Leben. Geliebt zu werden, genauso wie sie war, und dass ihre Mutter sie unterstützte, bei allem, was sie tat, egal, wie verrückt es ihr vielleicht auch vorkam.

Sie wünschte sich plötzlich zum ersten Mal, dass ihre Großmutter doch ein Teil ihres Lebens gewesen wäre … jemand, der ihr das Gefühl gegeben hätte, etwas Besonderes zu sein, und der ihre Kreativität und ihre Leseleidenschaft geteilt hätte. Sie liebte die Eltern ihres Vaters, sie waren tolle Großeltern und hatten sie nach Strich und Faden verwöhnt, aber sie hatte auf einmal tief in sich das Gefühl, dass Abigail Houlahan ihr unfassbar ähnlich gewesen war. Ein Mensch, der lieber mit dem Herzen dachte, anstatt mit kalkulierter Logik, der von einem wunderschönen Leben träumte, das irgendwo auf einen wartete.

Und ihre Großmutter bot ihr genau dieses Leben auf einem Silbertablett an. Aber dafür müsste sie auswandern, und das war absolut verrückt. Sie schaffte es, seit der Trennung von ihrem Ex-Freund, ja noch nicht einmal allein ins Kino oder Restaurant zu gehen, wie sollte sie da in ein fremdes Land ziehen? Sie wäre gern so mutig, wie ihre Großmutter es gewesen war, aber dazu hatte sie zu große Angst. Sie war einfach nicht so stark und selbstbewusst.

Nachdem sie den Brief an die Seite gelegt hatte, nahm sie die Fotos vom Wohnzimmertisch und drehte sie um.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber der Anblick verschlug ihr komplett die Sprache.

Das erste Foto zeigte das Haus ihrer Großmutter … nein, es zeigte ihr Haus. Ihre Großmutter hatte wirklich nicht übertrieben, es war absolut traumhaft. Es war nicht besonders groß, aber es strahlte Freundlichkeit und Gemütlichkeit aus. Es bestand aus weißen Holzbohlen und die Fensterrahmen und Läden waren in einem hellen Meergrün gestrichen. Um das ganze Haus herum verlief eine Veranda, auf der eine Hollywoodschaukel hing und zwei gemütliche Stühle und ein kleines Tischchen. Sie konnte unwillkürlich vor sich sehen, wie sie auf dieser Schaukel saß, sanft hin und her schwang und den Sonnenuntergang beobachtete.

Vor dem Haus stand ein älteres Pärchen, und Alana nahm an, dass dies ihre Großmutter und deren Lebensgefährte war, von dem der Anwalt gesprochen hatte. Sie hielten sich eng umschlungen und lächelten breit.

Alana blickte in dunkelblaue Augen, seelenvolle Augen, die ihren zum Verwechseln ähnlich sahen, auch den breiten sinnlichen Mund hatte sie offenbar von ihrer Großmutter geerbt. Der Mund ihrer Mutter war meist zu zwei missbilligenden dünnen Strichen zusammengepresst. Ob sie auch die gleiche kaffeebraune Haarfarbe hatte, konnte Alana nicht beurteilen, denn das Haar ihrer Großmutter war strahlend weiß und elegant frisiert.

Wenn sie beschreiben sollte, was sie beim Anblick dieser beiden Menschen verspürte, kamen ihr augenblicklich Lebensfreude, Glück und Liebe in den Sinn. Die beiden wirkten so ausgeglichen und glücklich, dass Alana ein kleiner Anflug von Neid überkam.

Sie legte das Foto auf den Tisch zurück und nahm das andere Bild, das sich darin befand. Es hätte ohne Problem ein Urlaubskartenmotiv sein können. Es zeigte offenbar den Strand in der Nähe des Hauses. Man sah einen Sandstrand, das Meer, das mit seinem strahlenden blauen Wasser dazu einlud mit den Füßen hindurch zu waten und einen scheinbar endlosen Horizont mit weißen Wattewölkchen.

Okay, ihre Großmutter hatte in ihrem Brief nicht übertrieben. Sowohl das Haus als auch der Strand waren von einer unbeschreiblichen Schönheit und weckten sofort Sehnsucht in einem. Es wirkte tatsächlich so, als wäre dies ein Ort, an dem man glücklich sein könnte.