1
Anne kniete regungslos mitten auf der Straße. Ihr Verstand bemühte sich, die Dinge zu verstehen, die hier soeben geschehen waren, doch er scheiterte kläglich. Wie konnte es möglich sein, dass Samuel von Anfang an seine Hände in diesem schmutzigen Spiel gehabt hatte? Er hatte Cedric schändlich verraten und dabei zugesehen, wie ihm Schreckliches angetan wurde. Cedrics qualvolle Schreie, als ihm die Flügel ausgerissen worden waren, hallten noch immer laut in Annes Ohren und sie spürte seinen unsagbaren Schmerz, als wäre es ihr eigener gewesen.
Niemals würde sie Samuel vergeben, dass er Cedric in eine Falle gelockt hatte!
Cedric … wo haben sie dich nur hingebracht? Wie konnte sie ihn jemals finden? Anne spürte, wie Panik mit eisigen Fängen nach ihr griff und wusste, sie musste dagegen ankämpfen. Doch wie sollte sie das schaffen?
Sie konzentrierte sich auf die Feder, die sie noch immer in ihrer Hand hielt – strahlendes Weiß, das brutal von Tropfen dunkelroten Blutes durchbrochen wurde.
Cedrics Blut.
Als Zeuge der Gräueltaten, die hier soeben geschehen waren. Dort, wo die Feder ihre Haut berührte, konnte sie noch immer seine vertraute Wärme spüren. Sie fühlte das geliebte Kribbeln, jedoch in einer so abgeschwächten Form, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Zärtlich strich sie wieder und wieder darüber, als könnte sie dadurch das Gefühl intensivieren.
Wie viel Zeit bereits verstrichen war, wusste sie nicht, doch nach und nach blinzelte sie die Nässe in ihren Augen fort. Als sie den Kopf anhob, blickte sie in die heller werdende Dämmerung. Sie empfand es geradezu als eine Verhöhnung von Cedrics Qualen und ihrer grenzenlosen Verzweiflung. Ein neuer Morgen brach an und läutete den Beginn des nächsten Tages ein, als wäre nichts geschehen. Das Rad der Zeit drehte sich einfach weiter. Unaufhörlich und rücksichtslos.
Nur würde ihr Leben niemals wieder so sein wie zuvor.
Wie ferngesteuert stand sie auf und ging zu dem Wrack von ihrem Auto. Einige Minuten lang suchte sie nach ihrer Handtasche und fand sie schließlich im hintersten Winkel. Als sie diese mühsam herausgezogen hatte, prüfte sie, ob ihr Handy noch funktionierte, denn irgendwie musste sie nach Hause kommen und sich überlegen, was sie nun tun sollte.
Ohne darüber nachzudenken, wie früh es an diesem Sonntagmorgen noch war, rief sie ihre Schwester an.
„Anne, ist alles in Ordnung?“ Als Anne nicht gleich antwortete, wurde Rachels Stimme eindringlicher: „Was ist geschehen?“
Bei dem vertrauten Klang konnte Anne sich nicht mehr zurückhalten. „Nein. Rachel, er ist weg!“ Sie weinte, bis sie keine Luft mehr bekam.
„Anne, bitte sprich mit mir. Was ist passiert? Wo bist du?“
„Auf einer Landstraße.“
„Was? Wieso das denn? Bist du verletzt?“
„Nein.“
„Gott sei Dank! Sag mir genau, wo du bist, ich komme dich holen!“
Einige Zeit später sprang Rachel aus dem Wagen. „Anne! Meine Güte, dein Auto! Geht es dir wirklich gut? Du blutest ja!“
„Ich bin okay. Es ist nur ein Kratzer.“ Ihre Schwester nahm sie in die Arme und drückte sie an sich.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Was ist denn passiert?“
Anne wusste, dass sie ihr niemals sagen durfte, was wirklich geschehen war. Der Himmel war bezüglich Strafen nicht gerade zimperlich – der Beweis dafür lag noch vor ihr. Wieder hörte sie, Cedrics qualvolle Schreie in ihrem Kopf und sein schmerzverzerrtes Gesicht erschien in aller Deutlichkeit vor ihrem geistigen Auge. Dieser Anblick würde sie auf ewig verfolgen, dessen war sie sich sicher.
„Ich bin von der Straße abgekommen“, log sie. „Bitte bring mich nach Hause.“
„Bist du sicher, dass du nicht ins Krankenhaus gehörst?“ Anne spürte Rachels besorgte Blicke.
„Ja.“ Denn eigentlich wurde ich ermordet, doch ein Engel hat mich geheilt. „Ich möchte nur nach Hause.“
„Na gut“, gab Rachel sich geschlagen und Anne stieg in das Auto ihrer Schwester. Als sie an der Stelle vorbeikamen, an der Cedric verschwunden war, blickte sie noch einmal zu der Unmenge an Blut auf dem Asphalt. Zusammen mit der Feder war es der einzige Beweis, dass er jemals existiert hatte.
Zu Hause angekommen, versicherte sie Rachel nochmals, dass es ihr gutging und schleppte sich mit abgehackten Bewegungen hinauf in ihr Badezimmer. Sie musste sich das Blut abwaschen und erschrak, als sie ihr Gesicht im Spiegel erblickte, kreidebleiche Züge und gerötete Augen starrten ihr gespenstisch entgegen. Der Schock war ihr deutlich anzusehen. Lange stand sie da, die Hände am Waschbecken abgestützt und erwiderte den leeren Blick ihres Spiegelbilds.
Wie sie es schaffte, genügend Kräfte zu mobilisieren und unter die Dusche zu steigen, wusste sie nicht und sie erledigte mechanisch nur das Nötigste. Trotz des heißen Strahls zitterte sie am ganzen Körper und er vermochte es auch nicht, ihre Gedanken fortzuspülen.
In ihren dicken Bademantel eingehüllt, trat sie ins Schlafzimmer und sah zu ihrem Bett, wo sie alles an ihn erinnerte. Am liebsten würde sie sich einfach hineinlegen und hoffen, dass die letzten Stunden nur ein schrecklicher Albtraum gewesen waren. Wie sehr wünschte sie sich, aufzuwachen und ihn neben sich liegen zu sehen. Ihr Blick fiel auf den kleinen Kristallengel, den er ihr geschenkt hatte und sie spürte, wie Verzweiflung sie zu überwältigen drohte. Sie kannte dieses Gefühl, das unbarmherzig und unaufhaltsam von ihr Besitz ergriff; es lähmte und erstickte sie zugleich, schnürte ihre Brust erbarmungslos zu und ließ sie nicht wieder los. Genauso hatte sie sich in ihrem letzten Leben schon einmal gefühlt. Konnte es wirklich wahr sein? Hatte sie ihn hier und jetzt wieder verloren? Wiederholten sich Schmerz und Trauer? Wie grausam das Schicksal doch war.
Sie setzte sich auf die Matratze und griff nach der Kette um ihren Hals. Damals hatte sie sich auf seiner Seite des Bettes zusammengerollt und sich ihrem Schmerz hingegeben. Aber nun gab es einen grundlegenden Unterschied: Damals hatte sie seinen Leichnam gesehen. Diesmal jedoch war er nicht tot!
„Ich habe dir Tee gemacht. Er ist aber noch kochend heiß.“ Rachel kam mit einem Tablett mit Tassen und Keksen beladen zur Tür herein. Sie war also noch geblieben. Sie stellte es auf dem Nachttisch ab und bedeutete Anne, sich hinzulegen und deckte sie wie ein kleines Kind zu, bevor sie sich zu ihr setzte.
„Jetzt erzähl mir mal, was geschehen ist. Was meintest du damit, er wäre weg?“
Anne musste sich zusammenreißen, damit sie sich nicht in ihrer Geschichte verstrickte.
„Cedric. Er ist Soldat und ist weg. Ich weiß nicht, wohin und ich weiß auch nicht, wann oder ob ich ihn jemals wiedersehen werde.“
„Das tut mir so leid, Liebes.“ Rachel strich ihr sanft übers Haar. „Soldat, sagst du. Das passt zu ihm. Aber ist er nicht Brite?“
Da erzählte Anne ihr die Version, die Cedric ihr vor einiger Zeit berichtet hatte. Eine weltweit operierende Organisation. Beinahe musste sie lachen, aber nur beinahe.
„Rachel, danke, dass du mich abgeholt hast. Ich werde jetzt ein wenig schlafen.“ Sie musste ihre Schwester loswerden, damit Anne nicht doch irgendetwas herausrutschte und sie ihre Schwester dadurch in Schwierigkeiten brachte. Diese vergewisserte sich noch, ob es ihr wirklich gut ging, ob sie ihr Handy bei sich hatte und noch etwas brauchen würde. Dann ging sie mit dem Versprechen, später noch einmal nach Anne zu sehen. Kurz meldete sich Annes schlechtes Gewissen, dann setzte sie sich auf und zog sich an.
Sie straffte die Schultern und wischte sich energisch über die Wangen. Sie würde nicht tatenlos herumsitzen und weinen. Sie würde nicht ruhen, ihn zu suchen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo er sein könnte.
Zielstrebig ging sie hinunter und setzte sich an den Tisch. Die erste Hürde, die sie nahm, war es, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es musste eine Möglichkeit geben, ihn zu retten und sie würde sie finden! Auch wenn sie noch nicht wusste wie. Mit Papier und Stift bewaffnet, machte sie sich Notizen.
Stunden später schmerzte ihr Kopf, doch war sie noch keinen Schritt weiter. Sie wusste, dass Cedric ein Kriegerengel war und in Erzengel Michaels Armee gegen Dämonen kämpfte. Samuel war sein Befehlshaber und er wollte Cedric bei Luzifer einschleusen, sodass dieser ihm irgendetwas besorgte.
Nur was?
Es musste wichtig sein. Aus diesem Grund hatte er es eingefädelt, dass Anne wiedergeboren worden war und Cedric als Schutzengel zu ihr geschickt. Dann hatte er dafür gesorgt, dass Cedric sich ihr offenbarte, indem ihr gestern von einem Gefallenen Engel namens Valerius, der offensichtlich ebenfalls für Samuel arbeitete, ein Dolch ins Herz gerammt worden war. In dem Versuch, sie zu retten, hatte Cedric sich ihr gezeigt, hatte seine Flügel materialisiert, um über genügend himmlische Energie zu verfügen und sie ins Leben zurückgeholt. Die Konsequenz dieses Regelverstoßes war, dass er nun ebenfalls zu einem Gefallenen Engel geworden war. Samuel hatte ihr gesagt, Cedric wäre nun ein Diener Luzifers und dass er sich bewusst dafür entscheiden konnte, ob er weiterhin für Samuel tätig sein wollte.
Warum sollte er das wollen? Und wie würde sein Leben wohl fortan aussehen? Nichts als Fragen, auf die sie keine Antworten wusste.
Frustriert strich sie sich die Haare zurück und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und kamen nicht weiter. Aber sie durfte sich nicht in Fragen verlieren, die sie nicht lösen konnte, musste fokussiert bleiben und sich darauf konzentrieren, was sie wusste.
Laut Samuel hatten die drei Engel Cedric an einen Ort gebracht, von dem die andere Seite ihn dann übernehmen würde. Und angeblich wüsste er nicht, wohin sie ihn verschleppt hatten. Er hatte sich seltsam ausgedrückt: Cedric ist an einem Ort, an dem er über seine Verfehlungen nachdenken soll. Und von diesen Orten gab es laut Samuel Tausende.
Nach Stunden der Arbeit starrte sie auf das Papier vor sich und wusste, dass sie eigentlich nichts Verwertbares in den Händen hatte. Lauter kryptische Aussagen, die ihr keinen brauchbaren Anhaltspunkt gaben. Sie musste mit jemandem reden, der ihr helfen konnte. Doch wer würde ihr glauben? Vielleicht ein Priester oder ein anderer Engel. Allerdings war der Einzige, den sie kannte Samuel. Er war definitiv sehr mächtig, doch nach ihrem letzten Gespräch würde er wohl nicht auf ihr Flehen reagieren. War sie schließlich so außer sich vor Zorn gewesen, dass sie jeglichen Respekt vor dem einflussreichen Wesen verloren und ihn wütend angeschrien hatte.
Außerdem: Wie rief man überhaupt einen Engel herbei?
Eine Stunde später klappte sie wütend den Laptop zu; nichts, was sie über das in Kontakttreten mit einem Engel herausgefunden hatte, konnte sie gebrauchen. Von Meditieren, um den inneren Frieden zu finden, über Rituale mit Räucherstäbchen, bis hin zu Sprays mit Engelessenzen, die man in die Luft sprühen sollte, war alles dabei gewesen. Abgesehen davon, dass sie in ihrem gegenwärtigen Zustand Millionen Lichtjahre von ihrem inneren Frieden entfernt war, hatte sie Schwierigkeiten damit, sich Engel als mitfühlende und barmherzige Wesen vorzustellen, erfüllt von Liebe für alles und jeden. Sie verdrehte die Augen und schnaubte verächtlich. Die letzte Nacht hatte das Gegenteil offenbart. Sowohl die drei, die Cedric verschleppt hatten, als auch Samuel waren alles andere als großherzig gewesen. Sie waren eiskalte Kreaturen!
Kurz meldete sich der rationale Teil ihrer Persönlichkeit und schüttelte den Kopf über die Art der Gedanken, denen sie nachhing. Bis gestern Abend hatte sie nichts von tatsächlich existierenden Engeln gewusst, die wie Menschen aussahen und Dämonen bekämpften. Aber andererseits, was war schon real?
Sie beschloss, das in Kontakttreten einfach zu versuchen, atmete tief durch und rief: „Samuel?“
Während sie den Blick durch ihr leeres Wohnzimmer schweifen ließ, kam sie sich unsagbar lächerlich vor. Nichts geschah und sie wusste nicht, ob sie verärgert oder erleichtert sein sollte.
„Kannst du mich hören?“ Sie vernahm nichts als ihren eigenen Atem.
„Bitte hilf mir.“ Angestrengt lauschte sie in die Stille, nachdem Minuten vergangen waren, lösten Bitterkeit und Verzweiflung ihre aufkeimende Hoffnung ab. Wenn ihr niemand half, hätte sie wohl kaum eine Chance, Cedric zu finden.
Auf einmal fühlte sie sich unendlich erschöpft. Sie blickte auf die Uhr an ihrem DVD-Player und stellte überrascht fest, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Den ganzen Tag hatte sie hier gesessen und nichts erreicht. Aber was hatte sie überhaupt erwartet?
Als sie zwei Stunden später mit dem Kopf auf ihrem Tisch liegend aufwachte, begab sie sich mit schmerzendem Nacken und brennenden Augen ins Bett. Aufgeben würde sie deswegen noch lange nicht.
2
Nur langsam drangen klare Gedanken in Cedrics benommenen Geist und er scheiterte bei dem Versuch, sie zu fassen. Dichte Nebelschwaden umhüllten seinen Verstand und es war unmöglich, sie zu durchdringen, stattdessen konzentrierte er sich darauf, was er fühlte. Kälte, er spürte etwas Kühles und Hartes unter sich, aber er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Krampfhaft versuchte er, die Augen zu öffnen, doch seine Lider waren bleischwer. Die dunkle Bewusstlosigkeit drohte, ihn erneut zu überwältigen. So gut er konnte, kämpfte er dagegen an, klammerte sich an das leise Geräusch, das zu seinen Ohren durchdrang. Es war ein rhythmisches, dumpfes Pfeifen. Cedric lauschte weiter und vernahm ein stetiges, tiefes Surren wie von einem alten Motor. Wo war er bloß?
Endlich gelang es ihm, seine Augen einen Spalt weit zu öffnen. In dem dämmrigen Licht sah er nichts als Grau. Er lag auf dem Bauch. Sein linker Arm war taub, wer wusste schon, wie lange sein Kopf bereits auf ihm lag. Der Boden unter ihm war hart wie Beton und mit einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt.
Ihm war so kalt. Seit wann konnte er überhaupt Kälte fühlen? Er blickte auf seinen Arm. Offensichtlich trug er kein Hemd, aber er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war. Warum lag er hier mitten im Dreck?
Er musste sich aufsetzen, und wusste schon jetzt, dass es ihn eine Menge Anstrengung kosten würde. Sein Geist war benommen, wie auf Drogen und sein Körper kam ihm tonnenschwer vor. Ob es ihm überhaupt gelingen würde, Kontrolle über ihn zu haben, wusste er nicht. Probieren musste er es trotzdem.
Seinen gefühllosen Arm konnte er nicht gebrauchen, also würde er versuchen, sich auf dem anderen abzustützen.
Langsam bewegte er zunächst einmal seine Finger. Halb verblüfft stellte er fest, dass es klappte, denn er konnte die Streifen im Staub sehen, die sie dort gezeichnet hatten. Als Nächstes zog er seinen Unterarm zu sich heran und verspürte stechende Schmerzen im Rücken, doch sie waren auszuhalten. Schließlich war er nicht zum ersten Mal in seinem Leben verwundet, auch wenn er nicht wusste, wie es dazu gekommen war. Er atmete ein paarmal durch und wartete, bis der Schmerz verebbt war.
Vorsichtig setzte er die Handfläche auf den Boden und stützte seinen Oberkörper darauf ab. Eine Welle aus Schmerz durchfuhr ihn und sein Rücken schien in Flammen zu stehen. Sofort fiel er zurück in den Staub, sein Kopf krachte auf den kalten, harten Beton und er stöhnte auf, als eine Welle der Übelkeit ihn überrollte. Konzentrieren, ruhig atmen – und den Drang sich übergeben zu müssen, bekämpfen.
Nach und nach spürte er etwas Warmes seinen Rücken hinabrinnen. Blut. Sogleich fühlte er das brennende Pulsieren seiner tiefen Wunden. Sein ganzer Rücken schmerzte höllisch, doch am meisten dort, wo seine Flügel angewachsen waren. Flügel! Er riss die Augen auf. Mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein. Wie er Anne gerettet hatte und … Verdammt!
Er musste zu ihr, und zwar schnell! Dafür musste er sich jedoch zuerst heilen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Verletzungen. Wie schon Tausende Male zuvor, stellte er sich vor, wie sie sich verschlossen. Nichts geschah. Statt das warme Kribbeln zu verspüren, das die Heilung stets verursachte, fühlte er weiterhin das Blut aus den Wunden sickern. Egal, wie oft er es erneut probierte, er blutete weiter. Dann musste es eben so gehen.
Da er bereits wusste, was ihn erwartete, machte er sich auf die Schmerzen gefasst und stemmte sich mit aller Kraft hoch. Kaum hatte er es auf seine Knie geschafft, wurde ihm schwarz vor Augen. Wie viel Blut hatte er bereits verloren? Schwer atmend konzentrierte er sich auf einen Punkt auf dem staubigen Boden. Es brauchte einige Versuche, bis er einigermaßen aufrecht und auf ziemlich wackeligen Beinen stehen konnte.
Er war völlig außer Atem.
Gedanklich fokussierte er sich auf Annes Haus, doch wieder geschah nichts. Er war noch immer an derselben Stelle. Wie konnte das sein? Ein Gedanke schlich sich in seinen Kopf, doch er ließ ihn nicht zu, verdrängte ihn in den hintersten Winkel seiner Hirnwindungen. Erneut probierte er es. Doch wieder geschah nichts. Erst jetzt ließ er den Gedanken zu, denn es zu leugnen machte keinen Sinn.
Er konnte sich nicht mehr teleportieren. Er hatte keine Kräfte mehr.
Angst ergriff ihn mit aller Macht, denn wie sollte er Anne nun schützen?
„Verdammt!“ Fluchend fiel er zurück auf seine Knie. Nahe der Verzweiflung verharrte er in dieser Position. Wie lange, wusste er nicht.
Irgendwann veränderte er seine Lage und setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an eine Wand gelehnt. Schmutz und Blut kümmerten ihn nicht, denn er würde wohl kaum an einer Infektion sterben. Seine Arme auf den Knien abgestützt, ließ er den Kopf nach vorne fallen. Es war genau die gleiche Position, in der er früher neben dem Tor zur Stätte der Seelen verweilt hatte. Die Erinnerungen überwältigten ihn, doch damit wurde auch seine Hoffnungslosigkeit immer größer. Er hing seinen Gedanken nach und ging jeden einzelnen Moment, seit er Anne gefunden hatte, wieder und wieder durch.
Niemals hätte er es dazu kommen lassen dürfen! Wenn er stärker gewesen wäre und sich ihr nicht genähert hätte, hätte sie ihn nun nicht bereits zum zweiten Mal verloren. Er hasste sich dafür, ihr das anzutun. Damals war er auf dem Schlachtfeld gestorben, das war, nun ja, menschliches Versagen gewesen, doch diesmal … frustriert fuhr er sich durch die Haare. Diesmal hätte er es nicht so weit kommen lassen dürfen! Doch was nützte ihr das jetzt noch?
Er hob den Kopf und sah sich zum ersten Mal um. Alles deutete darauf hin, dass er sich in einer heruntergekommenen, leer stehenden Lagerhalle befand. Wände aus Stahlbeton wurden in regelmäßigen Abständen von Fenstern unterbrochen, die so schmutzig waren, dass er nicht sagen konnte, ob draußen Tag oder Nacht war. Das wenige Licht, das in Streifen auf den staubigen Boden fiel, sorgte bestenfalls für ein schummriges Zwielicht. Unterbrochen wurde es in lähmend gleichmäßigem Sekundentakt vom Schatten riesiger Rotorenblätter. Oben an der Decke sah er den Ventilator einer veralteten, rostigen Lüftungsanlage. Er hatte keine Ahnung, warum sie noch lief, doch das musste die Quelle für die einzigen Geräusche sein, die er seit seinem Erwachen hier drinnen vernommen hatte. Das leise Surren des Motors und das dumpfe, rhythmische Pfeifen der Blätter, wenn sie die Luft durchschnitten. Er blickte nach unten und starrte wie hypnotisiert in das Wechselspiel aus Licht und Schatten. Er würde noch verrückt werden hier drinnen! Wahrscheinlich war genau das der Sinn an der Sache. Eines wusste er mit Sicherheit: Er musste hier raus!
Wieder stand er auf und da er schon wusste, was ihn erwartete, ging es diesmal ein wenig leichter. Trotzdem standen ihm Schweißperlen auf der Haut und er zitterte am ganzen Körper. Schritt für Schritt durchquerte er die gesamte Halle und musste sich immer wieder an der Wand abstützen, um nicht zusammenzubrechen. Hinter sich ließ er eine Spur aus Blut zurück. Er hasste es, so schwach zu sein und zwang sich mit reiner Willenskraft immer weiter. Und tatsächlich fand er, nach einer gefühlten Ewigkeit, am anderen Ende eine Tür. Er rüttelte an dem verrosteten, alten Stahl, doch wie er es erwartet hatte, rührte sich nichts. Mit all seiner verbliebenen Kraft stemmte er sich dagegen, doch obwohl sie derartig heruntergekommen aussah, bewegte sie sich keinen Millimeter. Aber er gab nicht auf. Immer wieder stemmte er sich dagegen. Auch das verfluchte Brennen an seinem Rücken, die Schmerzen in seinen Armen und der nun wieder stärker werdende Blutfluss aus den Wunden konnten ihn nicht aufhalten. An der Tür konnte er jedoch nicht das Geringste ausrichten.
Also nahm er sich als Nächstes die Fenster vor. Sie waren schmal und hoch oben, doch vielleicht konnte er sich an der Mauer hochziehen und sie einschlagen. Er fühlte nach Ritzen im Beton, in die er seine Finger schieben konnte. Stück für Stück zog er sich hinauf, wobei er das Pochen seiner Muskeln ignorierte. Solange er noch Kraft hatte, würde er sie darauf verwenden, hier rauszukommen. Alles andere war unwichtig.
Ritze für Ritze zog er sich mit seinen Armen weiter hinauf, denn mit seinen schweren Stiefeln fand er kaum Halt auf dem glatten Beton. Endlich war er weit genug oben, um den Vorsprung der Fensterbank greifen zu können. Er stemmte sich mit letzter Kraft hinauf und fluchte lautstark, als er endlich darauf stehen konnte. Jetzt musste er das Glas zerstören. Er zögerte nicht lange und schlug mit seiner Faust durch die Scheibe. Sie zersprang in tausend Scherben und nicht wenige davon bohrten sich in seine Haut. Es war ihm egal. Er entfernte so viel von der Scheibe, dass eine Öffnung entstand, durch die er sich durchzwängen konnte. Mit einem Bein voran wollte er dieses Drecksloch verlassen, doch obwohl keine Scheibe mehr da war, stieß er gegen eine unsichtbare Barriere.
„Was?!“ Das konnte doch nicht wahr sein! Eine magische Sperre! Er tastete das glaslose Feld ab, irgendwo musste doch eine Schwachstelle zu finden sein! Doch er war Realist genug, um nicht wirklich damit zu rechnen. Wenn ihn seine lange Existenz eines gelehrt hatte, dann, dass der Himmel gründlich war … Und offensichtlich auch die dunkle Seite.
Er sprang auf den Boden und musste sich eingestehen, dass er hier nicht rauskam. Zumindest nicht im Moment. Frustriert betrachtete er seine zerschnittene Hand und fühlte nichts außer dem bitteren Geschmack des Scheiterns.
Mit dem Rücken drehte er sich zu den verdreckten Fenstern, um das wenige Licht zu nutzen und inspizierte seinen verletzten Rücken. Was er sah, verhieß nichts Gutes. Es waren tiefe Fleischwunden, deren Ränder wulstig entzündet und ausgefranst waren. Sie klafften weit auseinander und das Blut vermischte sich mit dem Schmutz zu einer dunklen Masse. Konnte er vielleicht doch an einer Infektion sterben, jetzt, da er kein Engel mehr war?
Er würde mit Sicherheit nicht hier sitzen und auf den Tod durch Wundbrand warten. Das Siechtum eines Schwächlings. Wenigstens war er als Mensch ehrenhaft auf dem Schlachtfeld gestorben. Voller Ärger wog er seine Möglichkeiten ab, musste sich aber eingestehen, dass es nicht gerade viele waren. Die aufgezwungene Tatenlosigkeit und Passivität nagten an ihm, denn er hatte noch nie viel Geduld besessen … außer bei Anne. Der Gedanke an sie riss ihn aus seiner Wut über diese ausweglose Situation und führte ihn auf direktem Weg zurück zur Frustration. Er schleppte sich hinüber zu der Stelle, an der er aufgewacht war und setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Das Brennen seiner Wunden ignorierte er und starrte auf die Spur aus Blut, die er auf dem Boden, dort, wo er gegangen war, hinterlassen hatte. Das dunkle Rot schien seine Schwäche lustig zu verhöhnen und er wandte seinen Blick erneut auf das Wechselspiel aus Licht und Schatten der alten Lüftungsanlage. Wie viel Zeit verging, konnte er nicht sagen.
Je länger er so dasaß, desto stärker drängte sich die Frage nach dem Warum in seinen Kopf. Warum war er ausgerechnet jetzt, nach so langer Zeit, auf Anne gestoßen? Und weshalb hatte Samuel sie ihm als Schützling zugeteilt?
Samuel.
Auf einmal setzte er sich kerzengerade auf, denn ihm fiel wieder ein, dass Samuel einmal gesagt hatte, dass er Anne in der Stätte der Seelen aufgesucht hatte. Das hätte er niemals tun dürfen, denn niemand außer den Seelen der Verstorbenen durfte dort hinein. Also hatte er entweder im Geheimen gehandelt, oder auf Geheiß von sehr weit oben. Cedric wusste nicht, was ihm lieber wäre, denn noch immer wusste er nicht, was Samuel von ihr gewollt hatte. Wie so oft im Leben ergab im Nachhinein vieles mehr Sinn und so konnte es nur eine Antwort auf diese Frage geben. Nämlich, dass er gewollt hatte, dass Anne wiedergeboren wurde. Und das konnte nur mit ihm selbst etwas zu tun haben, sonst hätte Samuel nicht auch noch dafür gesorgt, dass sie Cedrics Schützling geworden war.
Hatte er ihn testen wollen? Nun, dann hatte Cedric kläglich versagt. Eigentlich glaubte er das nicht so richtig, denn er erinnerte sich an das zufriedene Lächeln auf Samuels Gesicht, als er sie in dem Bistro abgepasst hatte. So sah jemand aus, dessen Pläne nach Wunsch verliefen. Cedric wollte nicht glauben, dass sein langjähriger Mentor seine Finger im Spiel gehabt hatte. Oder noch schlimmer, dass er vielleicht sogar gewollt hatte, dass alles so geschah, wie es letzten Endes auch der Fall gewesen war. Doch was gab es für eine andere Antwort auf all diese Ungereimtheiten?
Er fühlte sich verraten und spürte den galligen Geschmack der Enttäuschung in seinem Mund. Obwohl ihn nie eine innige Freundschaft mit seinem Vorgesetzten verbunden hatte, hatte er ihn stets respektiert. Für seine Fähigkeiten als Befehlshaber, als Ratsmitglied der Lichtgarde und als Mentor. Tief in seinem Inneren war Cedric ihm immer dankbar gewesen, dass er, gewollt oder nicht, über so viele Jahrhunderte für ihn da gewesen war. Frustriert und gebrochen lehnte er den Kopf an die Wand und schloss die Augen. „Warum nur, Samuel?“
3
Unruhig wälzte Anne sich hin und her und fand keinen tiefen Schlaf, unzählige Erinnerungen aus ihrem früheren Leben und dem jetzigen strömten wirr auf sie ein und wechselten im Sekundentakt. Völlig chaotisch und ohne zeitlichen Zusammenhang überrollten sie ihren Geist.
Erst nach endlosen Stunden versank sie in ruhigeren Schlaf und die Erinnerungen wurden nun langsamer, greifbarer und blieben schließlich bei dem Tag, den sie und Cedric auf dem Mittelalterfest verbracht hatten, hängen. Deutlich sah sie alles vor sich. Die bunten Farben der einzelnen Stände und deren ausgestellte Waren, sogar das Lachen der anderen Besucher und deren Feilschen waren zu hören. Sogar die Gerüche der Essensstände konnte sie riechen. Grillhähnchen vermischt mit frisch gebackenem Brot, Zuckerwatte und anderen Backwaren. Da war Cedric, der in ein Wams gekleidet aus dem Umkleidebereich trat und auf sie zukam. Sie sah sich selbst bei der Wahrsagerin im Zelt sitzen und blickte in die warmen, rehbraunen Augen von Mystique-Melanya, beobachtete, wie deren lange, rotbraune Mähne ihr in Locken über die Schulter fiel, als sie nach etwas suchte. Wonach suchte sie? Anne konnte sich in ihrem Traum nicht daran erinnern, doch sie wusste, dass es wichtig war. Sie hatte das Gefühl, gleich ein Rätsel lösen zu können. Wenn Melanie doch nur schneller kramen würde!
Plötzlich reichte sie ihr etwas und als Anne ihre Finger darum schloss, stand die Szenerie komplett still. Die Visitenkarte! Sie starrte auf die kunstvoll ineinander verschlungenen Buchstaben und konnte das steife Papier beinahe zwischen ihren Fingern spüren. Wieder blickte sie in Melanies Gesicht und hörte deutlich die eindringlich gesprochenen Worte: Wenn du mich brauchst, egal wann, dann ruf mich unverzüglich an.
Kaum hatte Anne die Stimme der Wahrsagerin vernommen, wachte sie ruckartig auf. Hastig fuhr sie hoch, blickte auf ihre Hände und etwas verblüfft stellte sie fest, dass sich die Visitenkarte nicht darin befand. Wieder begannen ihre Gedanken zu rasen. Wo hatte sie sie bloß hingelegt? Schnell sprang sie aus dem Bett und lief die Stiegen hinab ins Vorzimmer. Sie öffnete den Schrank, in dem sich ihre Handtaschen befanden und versuchte, sich zu erinnern, welche sie an diesem Tag getragen hatte. Kurzerhand fegte sie alle aus dem Fach und durchstöberte eine nach der anderen. Ihre Finger zitterten und ihre Bewegungen waren fahrig. Voller Ungeduld suchte sie immer weiter, bis sie schließlich die Karte in Händen hielt. Ja, genau von dieser Karte hatte sie geträumt. Ohne zu überlegen, griff sie nach dem Telefon und rief die Nummer an.
Nach unzähligem Läuten meldete sich eine verschlafene Frauenstimme. „Hallo?“
„Ähm. Hallo. Mein Name ist Anne.“ Sie hatte sich noch gar nicht überlegt, was sie der anderen Frau sagen sollte. „Entschuldige bitte, dass ich so früh anrufe. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie spät es ist. Ich habe noch nicht auf die Uhr geschaut.“
Melanie schien Annes Verwirrung zu spüren.
„Deine Stimme kommt mir bekannt vor, Anne. Kannst du mir auf die Sprünge helfen?“
„Ja, natürlich, entschuldige. Wir sind uns kürzlich auf dem Mittelalterfest begegnet. Ich war dort mit meinem Freund, wobei das nicht annähernd das Wort ist, das unsere Verbindung beschreibt.“
„Cedric.“
Für einen Moment kam es Anne seltsam vor, dass sie sich an seinen Namen erinnerte, doch Melanie sprach sogleich weiter.
„Ich erinnere mich an euch. Was ist geschehen? Nein, warte!“ Sie klang nun deutlich vorsichtiger. „Bevor du mir antwortest, muss ich eines wissen, damit ich mich nicht verplappere. Weißt du, wer Cedric ist?“
„Ja.“ Unsicher zögerte sie. „Es ist verrückt, das auszusprechen, aber er ist ein Engel.“ Sie machte eine kurze Pause. „Woher weißt du es?“
„Ich habe seine Energie gespürt.“ Melanies melodische Stimme drang an ihr Ohr. Konnte das wahr sein? Nun ja, wieso eigentlich nicht, schließlich hatte sie selbst auch etwas wahrgenommen, als er in ihr Leben getreten war.
„Bitte erzähl mir, was geschehen ist“, forderte sie Anne auf, und diese begann zu berichten. In allen schrecklichen Einzelheiten schilderte sie, was Cedric widerfahren war und ließ auch Samuels Pläne mit ihm nicht aus. Sie brauchte lange, um die zunächst wirren Sätze in ein logisches Ganzes zu verwandeln und nachdem sie geendet hatte, wartete sie gespannt auf Melanies Reaktion.
„Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann, ihn zu finden.“
„Würdest du es versuchen?“ Sekunden vergingen und Anne hatte das Gefühl, als würde Melanie mit sich selbst kämpfen.
„Ja, das werde ich“, antwortete sie schließlich und sie verabredeten sich für später an diesem Abend.
Nach Beenden des Gesprächs blickte Anne zum ersten Mal auf die Uhr. Es war halb sechs Uhr morgens, in dreißig Minuten würde ihr Wecker ungnädig die neue Arbeitswoche einläuten. Sollte sie sich krankmelden? Doch das konnte sie nicht machen, sie konnte ihre Schwester und Mark, deren Mann, den Inhaber der Tierarztpraxis, in der sie ebenfalls als Tierärztin arbeitete, nicht hängen lassen. Montag war der stressigste Tag der Woche und Anne konnte es ihnen nicht antun, dem Ansturm allein standhalten zu müssen. Doch wie sollte sie den Tag überstehen? Alle Gedanken kreisten nur um Cedric und alle ihre Hoffnungen lagen auf dem Abend. Sie wusste zwar nicht genau, was sie von Melanie erwartete, doch sie klammerte sich an jeden, der bereit war, ihr zu helfen, wie an den sprichwörtlichen Strohhalm.
Wie sie letztlich den Tag gemeistert hatte, wusste sie nicht mehr, denn sie konnte sich nicht daran erinnern. Es hatte ein hohes Maß an Kraft gekostet, sich auf ihre vierbeinigen Patienten zu konzentrieren und außer Kaffee hatte sie nichts zu sich genommen. Bei dem bloßen Gedanken an Nahrung wurde ihr speiübel. Zum Glück war so viel los gewesen, dass ihre Schwester Rachel nicht auf die Idee gekommen war, sie genauer zu mustern. Denn es wäre ihr sicher aufgefallen, dass Anne lediglich mechanisch ihre Arbeit verrichtete. Entsprechend ihrem Gemütszustand hatte es in einer Tour geregnet. Der graue, wolkenverhangene Himmel war später am Abend, als sie bereits zu Hause war, direkt in die Dämmerung übergegangen.
Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihren trüben Gedanken und ließ ihr Herz sofort schneller schlagen. Keine Sekunde später war sie bereits beim Eingang und riss die Tür auf. Vor ihr stand Melanie, die ganz anders aussah als auf dem Fest. Ohne die bunte, mittelalterliche Kostümierung und ohne die skurrilen Dinge um sie herum, die sie an ihrem Stand verkaufte, wirkte sie viel jünger. Sie trug ein normales, weißes T-Shirt sowie Bluejeans und Sneakers. Ihre rotbraunen Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass ihr liebliches, herzförmiges Gesicht voll zur Geltung kam. Anne fand, sie hatte sehr hübsche, feine Züge und ihre großen, rehbraunen Augen strahlten eine sanfte Wärme aus.
Etwas verlegen wegen ihrer offenkundigen Musterung trat Anne einen Schritt zur Seite.
„Bitte komm doch herein.“ Als Melanie eingetreten war, wollte Anne ihr den großen Rucksack abnehmen, doch die junge Frau winkte nur ab. „Ist schon gut, das ist nicht nötig.“
Anne führte sie ins Wohnzimmer und wusste nicht so recht, wie sie sich nun verhalten sollte.
„Zum Tisch oder auf die Couch?“ Sie beobachtete Melanie, die sich gründlich im Raum umsah und sich dann für die Couch entschied. Nachdem sie Platz genommen hatte, stellte sie den Rucksack direkt neben sich ab und begann, unterschiedliche Utensilien herauszuholen. Nacheinander legte sie diese auf den Beistelltisch und Anne schaute fasziniert dabei zu. Sie sah einen kleinen Behälter mit Erde darin, eine Kerze, einige Kristalle, Zweige und etwas, das aussah wie getrocknete Kräuter.
„Ich werde eine Schale mit Wasser benötigen“, meinte sie und blickte Anne freundlich an, die sich langsam wieder erhob.
„Ja, natürlich.“ Sie zögerte etwas. „Ich habe aber auch Saft oder Tee hier.“ Melanie lachte leise. „Nein, danke, ich habe keinen Durst, ich brauche nur eine Schale Wasser.
„Okay.“ Anne drehte sich unsicher um und ging in die Küche. Je länger ihr Gast hier war, desto weniger kannte sie sich aus. Sie hoffte, dass Melanie wusste, was sie tat. Vielleicht war es auch ein wenig naiv gewesen, zu glauben, sie würde einfach oben im Himmel anrufen, oder so ähnlich.
Als sie wieder ins Wohnzimmer trat, saß die junge Frau mit geschlossenen Augen da und wirkte sehr konzentriert. Anne wollte sie nicht stören und näherte sich ihr leise. Als sie sich setzte, öffnete Melanie die Augen und lächelte herzlich.
„Da bist du ja wieder. Stell die Schale einfach hier ab.“ Sie zeigte auf den niedrigen Tisch. „Das mag dir alles ein wenig seltsam vorkommen und ich muss gestehen, vielleicht übertreibe ich auch etwas.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die ganzen Utensilien, die fein säuberlich vor ihnen aufgereiht waren. „Das ist alles für einen Schutzkreis gedacht. Du musst wissen, ich habe so etwas schon ewig nicht mehr gemacht. Wenn man jemanden ruft, weiß man nie so genau, wer noch alles kommt und deswegen mache ich als Erstes immer einen Schutzkreis.“
Anne staunte über das Gesagte und wusste nicht, ob sie verängstigt oder fasziniert sein sollte. Obwohl sie eine innere Ruhe ausstrahlte, wurde Anne das Gefühl nicht los, als wäre Melanie nervös und sie fragte sich, warum. Es schien, als würde das Reden und Erklären sie beruhigen und so lauschte Anne ihr gebannt weiter.
„Zuerst zieht man einen Kreis.“ Bei diesen Worten war sie aufgestanden und durchschritt den Raum, wobei sie sich rechtsherum drehte.
„Den Kreis dürfen wir nun nicht mehr verlassen, sonst ist der Schutz durchbrochen.“
Nach einem kurzen Blick auf den mitgebrachten Kompass fuhr sie fort. „Nun beginnt man im Norden und bittet die vier Elemente um die Verstärkung der Energie im geschützten Bereich. Der Norden symbolisiert die Erde und ist Erzengel Uriel gewidmet.“ Sie legte einen lilafarbenen Kristall auf die Kommode. „Das ist ein Amethyst. Aber auch keltische Gottheiten sind dem Norden zugeordnet, das würde jedoch zu weit führen. Mir bedeuten die heidnischen Brauchtümer jedoch sehr viel, deswegen lege ich hier immer noch den Zweig einer Eiche dazu. Dieser Baum galt als heilig.“
Dem Lauf der Sonne folgend, bewegte sie sich weiter im Raum. „Der Osten steht für die Luft. Ihm ist Erzengel Raphael zugeordnet. Jeder macht das anders, aber wie gesagt, ich füge hier noch den Zweig einer Weide hinzu.“ Sie kam zum Tisch zurück und holte sich die Schale, die Anne ihr zuvor gebracht hatte.
„Der Westen steht für Wasser, deswegen die Schale.“ Sie legte noch einen Aquamarin hinein. „Erzengel Gabriel steht für diese Himmelsrichtung. Leider habe ich keinen Zweig eines blühenden Mandelbaumes, denn sie blühen im Frühling. Aber ich schätze, es geht auch so.“
Dann holte sie eine Kerze sowie einen Kristall und Streichhölzer. „Der Süden repräsentiert das Feuer. Ich verwende hierfür getrockneten Weihrauch zum Räuchern.“ Sie entzündete die Kerze und legte einen intensiv orangefarbenen, leuchtenden Stein daneben. „Das ist ein Feueropal.“ Das Bündel Zweige hielt sie in die Flamme und platzierte es in einem Gefäß. Bereits nach kurzer Zeit stieg Anne der intensive und sehr charakteristische Duft des Weihrauches in die Nase.
„Und welchem Erzengel ist der Süden gewidmet?“
Melanie sah sie mit klarem Blick an. „Vielleicht der für dich Bekannteste. Michael.“
Anne fror das Gesicht ein. „Was weißt du über ihn?“, fragte sie und beobachtete, wie sich ihr Gegenüber kurz räusperte. „Ich habe noch nie mit ihm gesprochen, wenn du das meinst. Er wird stets als blonder Krieger mit einem Schwert dargestellt. Menschen, denen er sich gezeigt hat, beschreiben ihn als nordländisch aussehend.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Er ist sehr einflussreich als Gottes Heerführer und rechte Hand. Man sagt, er sei der Mächtigste unter den Erzengeln. Und er ist auch derjenige gewesen, der Luzifer nach dessen Rebellion aus dem Himmel befördert hat.“
Anne nickte ehrfürchtig. Sie hatte keinen Grund, an der Geschichte zu zweifeln.
„Warte, ich habe etwas vergessen.“ Wieder kramte Melanie in ihrem Rucksack herum. Zutage förderte sie ein Amulett, das an einer silbernen Kette hing. Als Anne es genauer betrachtete, erkannte sie die typischen fünf Zacken eines Pentagramms und konnte nicht verhindern, dass ihr mulmig wurde. „Was willst du denn damit? Ist das nicht ein satanisches Symbol?“
Melanie sah sie verblüfft an. „Nein, ganz und gar nicht. Die Satanisten haben es bloß zweckentfremdet und tragen es verkehrt herum, mit zwei Spitzen nach oben. Eigentlich ist es ein uraltes, sehr mächtiges Schutzzeichen. Es muss so um die fünftausend Jahre alt sein und man sagt ihm nach, es könne das Böse bannen.“ Augenzwinkernd fügte sie noch hinzu: „Man muss nur schön darauf achten, dass immer nur eine Spitze nach oben zeigt.“
„Okay“, murmelte Anne, nicht sicher, ob sie die Fülle an Informationen, die sie an diesem Abend bekommen hatte, auch wirklich verarbeiten konnte. „Und was machen wir jetzt damit?“
Melanie erhob sich bereits. „Es gehört nach Norden.“
Nachdem sie es an den dafür vorgesehenen Platz gelegt hatte, drehte sie sich zu Anne um. Ein fragender Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
„Hast du dir schon überlegt, wen du rufen möchtest?“ Als Anne nickte, nahm sie wieder Platz und forderte sie auf, ihr die Hand zu reichen.
„Ich habe zwar nicht viel Hoffnung, doch ich möchte nichts unversucht lassen.“ Anne blickte vorsichtig zu Melanie, die sie verständnisvoll aufmunterte, weiterzusprechen. „Kannst du Cedric rufen?“
Melanie sah sie voller Mitgefühl an. „Ich kann es probieren, doch wenn er an einem Zwischenort ist, abgeschirmt irgendwo zwischen Gut und Böse, hat er wahrscheinlich im Moment keine Kräfte. Das würde bedeuten, dass er mich auch nicht hören kann.“
„Was weißt du sonst noch darüber?“, wollte Anne wissen und ein kleiner Hoffnungsschimmer lag auf ihrem Gesicht.
„Das ist leider schon alles. Und das sind nur Vermutungen, basierend auf Legenden. Ich habe mich heute tagsüber etwas in die Materie eingelesen, doch viel habe ich nicht herausgefunden.“ Sanft drückte sie Annes Hand. „Es tut mir leid.“ Als diese einfach nur nickte, fuhr sie fort: „Weißt du was, wir probieren es einfach. Wir werden schon sehen, ob es funktioniert.“
„Wie genau sollte es eigentlich ablaufen?“
„Nun ja, ich rufe denjenigen und dann höre ich ihn in meinem Kopf.“ Sie lächelte verlegen. „Wenn man es so ausdrückt, klingt das ganz schön verrückt.“
„Und wozu brauchst du dann den Schutzkreis mit all diesen Sachen?“
„Meine Großmutter hat es mir so beigebracht. Sie sagte immer, wenn man eine Tür öffnet, weiß man nie genau, wer alles durchgeht. Ich will einfach nur auf Nummer sicher gehen.“
Anne nickte und beobachtete Melanie, die nun mit geschlossenen Augen neben ihr saß. Ihr Gesicht wirkte konzentriert und sie atmete ruhig und gleichmäßig. Ihre gesamte Aufmerksamkeit schien nach innen gerichtet zu sein, doch sie ließ Annes Hand nicht eine Sekunde lang los. Anne wagte kaum, sich zu bewegen, und saß steif und angespannt da, darauf wartend, dass irgendetwas geschah.
Nach einer Weile öffnete Melanie ihre Augen und sah sie traurig an. „Nichts. Es tut mir leid.“
„Damit haben wir gerechnet.“ Doch die Enttäuschung konnte sie nicht verbergen. „Es wäre auch zu einfach gewesen.“
Wieder drückte Melanie ihre Hand und versuchte, aufmunternd zu klingen. „Wir sind erst am Anfang und wir werden es weiter versuchen. Irgendwann wird er mich hören, da bin ich mir sicher. Doch heute musst du mir jemand anders nennen.“
„Du hast recht. Bitte ruf Samuel.“
„Im Ernst? Nach allem, was du mir erzählt hast?“
Anne nickte und das Bild von vorhin wiederholte sich. Melanie mit geschlossenen Augen, fokussiert auf etwas, das Anne nicht begreifen konnte. Die Minuten verstrichen in absoluter Stille und Anne wagte kaum, zu atmen. Würde er antworten? Vor allem, wenn man bedachte, wie wütend sie ihn angeschrien hatte. Melanie rührte sich immer noch nicht und Annes Gedanken schweiften zu der Auseinandersetzung mit Samuel ab. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde Annes Stimmung trüber.
Plötzlich riss ein lautes Klopfen an der Haustür die beiden Frauen aus der Stille und Melanie sah Anne erschrocken an. So abrupt aus der tiefen Konzentration gerissen, schien sie Schwierigkeiten zu haben, in die Realität zurückzufinden. Langsam erhob sich Anne und ging zum Eingang. Ihr Herz wollte sich kaum beruhigen, als sie den Knauf drehte und die Tür öffnete. Kaum erkannte sie den Besucher, sog sie überrascht die Luft ein.
„Guten Abend, Anne, ich war zufällig in der Nähe.“ Vor ihr stand Samuel und lächelte scheinbar freundlich.
„Darf ich eintreten?“
Nur langsam fand Anne ihre Stimme wieder. „Natürlich“, stammelte sie verstört und ließ ihm den Vortritt ins Wohnzimmer. Sie sah, wie er sichtlich überrascht die Szenerie beäugte und dann das Wort an Melanie richtete.
„Du bist es also, die mich gerufen hat, Melanya. Ich war mir nicht sicher.“ Er musterte sie eindringlich. „Das ist überaus interessant.“
„Du hast nicht erwähnt, dass du ihn kennst“, wandte Anne sich an die sprachlose und verängstigt dreinschauende Melanie.
„Das tue ich auch nicht. Ich habe keine Ahnung, woher er meinen Namen kennt.“ Irritiert wandte sie sich an Samuel. „Ich fühle, was Sie sind, da ich Ihre Energie erkenne, aber ich weiß nicht, weshalb Sie glauben, wir wären uns bereits begegnet.“
Samuel erwiderte gönnerhaft: „Ich kenne dich schon sehr lange, Melanya.“ Als Melanie erschrocken dreinblickte, wirkte er belustigt.
„Ich … Mein Name ist Melanie“, sie musste sich räuspern. „Normalerweise kommt niemand her. Ich meine, körperlich. Es sind einfach nur Stimmen oder Gedanken, die ich in meinem Kopf höre.“
„Ich denke, diese spezielle Angelegenheit erfordert meine Anwesenheit.“ Er deutete auf die ausgebreiteten Utensilien. „Ich finde jedoch, du übertreibst.“
„Meine Großmutter hat es mich so gelehrt.“
„Lass dir gesagt sein, es ist nicht notwendig. Niemand würde sich unaufgefordert in deine Nähe begeben.“
Melanie keuchte überrascht und wurde noch blasser. Doch Samuel fuhr fort: „Du unterschätzt deine Kräfte, Melanya. Aber wahrscheinlich ist das auch besser so.“
Nun mischte auch Anne sich ein. „Was hat das alles zu bedeuten?“ Doch der Engel machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Nichts, ich war nur überrascht, sie hier zu sehen.“ Er wandte sich nun Anne zu und musterte sie von oben bis unten. „Du siehst mitgenommen aus.“
„Ach, wirklich?“ Sie mahnte sich zur Ruhe. Immerhin war er gekommen, das musste sie ihm anrechnen. „Es geht mir auch nicht gut. Ich mache mir solche Sorgen um Cedric.“ Sie sah ihn eindringlich an. „Bitte, Samuel, hilf mir. Ich muss ihn finden.“
Er wartete lange, bevor er antwortete. „Das kannst du nicht.“ Doch sie legte mehr Wert auf das, was er nicht ausgesprochen hatte.
„Aber du kannst es.“
„Selbst wenn, was würde es dir nützen? Er ist an einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr für ihn gibt.“
Nun meldete sich Melanie. „Wie heißt doch gleich dieser Gefallene Engel, der dir das Messer ins Herz gestochen hat? Valerius? Vielleicht kann er uns weiterhelfen“, überlegte sie laut, doch Samuel schnitt ihr unwirsch das Wort ab.
„Denk nicht einmal im Traum daran, ihn zu rufen!“ Dabei hob er mahnend den Zeigefinger. „Gerade du solltest dich von dunkler Magie fernhalten, Melanya! Ein Gefallener Engel, egal, ob er mich ab und zu mit Informationen versorgt, ist und bleibt ein Wesen der Finsternis!“
Erschrocken sah Melanie ihn an. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht … Ich meine …“, stammelte sie verstört und schwieg dann gänzlich. Anne beobachtete, wie sie steif und kreidebleich an den entferntesten Winkel der Couch rutschte.
„Was soll das, Samuel? Lass sie gefälligst in Ruhe. Sie ist nur hier, um mir zu helfen. Im Gegensatz zu dir.“
Samuels kühle Fassade bekam keine Risse. Er stand nur da und musterte sie. Anne glaubte schon, er würde gar nicht mehr mit ihr sprechen.
„Nun gut. Ich werde ihn ausfindig machen. Ich muss ihn ohnehin sprechen. Doch erwarte dir nicht zu viel. Cedric wird mein Angebot annehmen und sich Luzifer anschließen. Er wird ein Gefallener Engel werden und ein Diener der Finsternis sein.“
„Nein!“, rief sie zutiefst erschüttert. „Das würde er niemals tun!“
Er schaute herüber und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Anne, Mitgefühl in seinen Augen aufblitzen zu sehen.
„Du kannst ihn nicht retten. Er ist verloren. Den Cedric, den du gekannt hast, gibt es nicht mehr. Finde dich damit ab.“ Mit diesen Worten verschwand er und ließ Anne verzweifelt zurück.