Leseprobe Das Mädchen im See

Damals: Die Liebe töten

Hamburg, 2006

Soleil

„Was du für Liebe hältst, ist eine Krankheit. Ich weiß, du willst das nicht glauben. Ich sehe es in deinen Augen, die mich stumm einen Lügner schimpfen. Dabei bin nicht ich der Lügner. Er ist es.“

Soleil duckte sich unter den Worten des Mannes, die sich wie Schläge anfühlten.

Lügner. Krankheit. Krank.

Aber wie konnte ihre Liebe eine Krankheit sein, wenn sie alles war, was Soleil zusammenhielt?

„Wenn du gesund werden willst, musst du ihn vergessen. Du musst dir jeden Gedanken an ihn verbieten. Jeden Zweifel. Lass ihn los.“

Sie presste ihre Hände auf die Ohren, grub ihre Nägel in die Kopfhaut, bis es schmerzte. Sie wollte den Mann nicht mehr hören, wollte seine Worte ausblenden, die sich bis in ihren Brustkorb geschlichen hatten und wie winzige Monster an ihrem Herz rissen.

„Wie bitte?“, sagte der Mann und legte den Kopf schief.

Hatte sie etwas gesagt? Ja, die Worte waren ohne ihr Zutun aus ihren Gedanken und in die Welt hineingetreten. Ein Flüstern nur, zu dünn, als dass der Mann es hätte verstehen können. Doch egal, wie leise, wie zart und zerbrechlich, nun, da sie ausgesprochen waren, ließen die Worte sich nicht mehr zurücknehmen.

Das kann ich nicht.

Soleil formte den Satz mit den Lippen. Kein Laut drang aus ihrem Mund. Oder vielleicht hörte Soleil einfach nichts, so laut, wie die Wortmonster in ihrem Inneren brüllten.

Lügner. Krankheit. Lass ihn los.

Der Mann verstand ihre stumme Antwort. „Doch, du kannst es. Du musst sogar“, widersprach er. „Du musst diese Liebe töten, Soleil.“

Soleil hatte begonnen, auf ihrem Platz vor und zurück zu wippen. Der Raum erschien ihr plötzlich winzig, nun, da jeder Winkel mit der Forderung des Mannes ausgefüllt war.

Die Liebe töten. Ihn töten.

Nein, niemals würde sie … Nie …

„Du oder er?“, sagte der Mann. „Das ist die einzig relevante Frage. Denn solange er ist, kannst du nicht gesund werden. Und das willst du doch, Soleil. Nicht wahr?“

Ja … Nein. Sie hatte keine Antwort. Wusste überhaupt nichts mehr, außer dass sie nach Hause wollte. Oder ganz weit weg. Irgendwohin, bloß nicht in diesem Raum sein. Tränen rannen über ihre Wangen.

Und die Monster brüllten weiter.

Lügner. Lügner. Lügnerin!

Heute: Knochen im Wasser

Bad Rubinsee, 2020

Hannah

Der Rubinsee war seit Generationen ein Quell für Legenden. Vielleicht lag es an seiner Oberfläche, die einen rötlichen Schimmer annahm, sobald die letzten Sonnenstrahlen des ausklingenden Tages das Wasser streiften, als verberge sich das Tor zur Hölle im Untergrund. Vielleicht waren auch all die Dinge, Hoffnungen und Menschen dafür verantwortlich, die über die Jahre im See verloren gegangen waren.

Im Dorf erzählte man sich, dass der Rubinsee sich in seiner Gier nahm, was immer er wollte. Nur selten spuckte der See etwas wieder aus, und wenn es geschah, so schlug das hohe Wellen.

Hannah kannte die Geschichten über den See. Sie kannte sie alle. Und hatte sie nicht selbst auf schmerzhafte Weise gelernt, dass ein Funken Wahrheit in den Legenden steckte? Damals, ja, damals, als alles in die Brüche gegangen war.

Seufzend legte sie den Kopf in den Nacken und strich sich die braunen Haare aus dem Gesicht, die sich wie immer widerspenstig kräuselten. Die Sonne stand an diesem Augusttag hoch am Himmel und ließ die Wasseroberfläche friedlich erscheinen. Für ihren Spaziergang war Hannah an die nördlichen Ausläufer des Sees gefahren, da die südlichen Badestrände um diese Jahreszeit von Touristen und Schulkindern überlaufen waren.

Hier oben hingegen grenzte der See an die Wälder, deren Buchten von getrockneten Nadeln und Steinen bedeckt waren und die meist im Schatten lagen. Am gegenüberliegenden Ufer schmiegten sich Felswände an das Wasser, und ebendieser Anblick – das Spiegelbild der harschen Berghänge und Tannen im Wasser – zog Hannah, trotz ihrer dunklen Erinnerungen, immer wieder an den Rubinsee.

Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen, sodass ihre Zehen vom eiskalten Wasser umspült wurden und sie die Kiesel fühlen konnte, die sich wie Stecknadelköpfe in ihre Fußsohlen bohrten. Hannah hoffte, dass die Ruhe des Sees ihre Energiereserven für den restlichen Tag auftanken würde. Die vergangene Woche war anstrengend gewesen. Im Büro, in dem Hannah als Personalreferentin arbeitete, mussten sie gerade fünfzehn offene Stellen besetzen und ihr Mitbewohner Christoph hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Haus nach den Regeln des Feng-Shui umzudekorieren. Als hätte er geahnt, dass sie eben an ihn dachte, vibrierte ihr Handy in der Hosentasche.

Hannah fischte es heraus und öffnete die Messenger-App. Nachricht von Christoph:

 

Was hältst du von Pastelltönen für die Wände im Wohnzimmer?

 

Sie biss sich schmunzelnd auf die Unterlippe. Hatte er ernsthaft vor, jetzt auch noch das Wohnzimmer zu streichen?

Können wir darüber reden, wenn ich nach Hause komme?

tippte sie.

Klar

lautete die Antwort, die nur wenige Sekunden später eintrudelte.

Wann kommst du denn? Fährst du heute Rebecca besuchen?

Wieder seufzte Hannah. Bei all dem Stress hatte sie in dieser Woche keine Zeit gehabt, zu Rebecca ins Pflegeheim zu fahren. Die stumme Frau bekam außer von Hannah kaum Besuch. Nicht einmal von ihrem Sohn David, der am anderen Ende der Welt sein Leben genoss. Früher war Rebecca im Dorf beliebt gewesen. Jetzt war sie allein. Kein Wunder, wo sie doch seit sieben Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte und die meiste Zeit wirkte, als würde das Leben sie nichts angehen.

Nur Hannah fühlte sich auf merkwürdige Weise verantwortlich für Rebecca. Ihre Eltern und Christoph verstanden das nicht, fragten sie oft, was sie mit der stummen Frau verband. Als Antwort zuckte Hannah jedes Mal die Schultern. Dabei wusste sie es genau. Es war die Buße für ihre alte Lüge und für alles, was danach geschehen war.

Nun steckte Hannah das Handy zurück in ihre Hosentasche, hob einen flachen Stein auf und ditschte ihn über das Wasser. Er hüpfte einmal, zweimal, dreimal, bevor er mit einem leisen Plopp unterging.

Ein lautes Quietschen riss sie aus ihren Gedanken und Hannah schaute auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich einer Gruppe Touristen genähert hatte. Sie sah eine ältere Frau, um die siebzig Jahre, und ihre Enkelin, deren Rattenschwänze auf und ab hüpften, während sie kreischend ins Wasser lief; ihrem Vater entgegen, der eben mit einem Schlauchboot heran ruderte und winkte. Wassertropfen spritzen in alle Richtungen, so schnell sauste die Kleine durch die Fluten.

Der Mann machte einen Satz aus dem Boot, fasste die Leine mit beiden Händen und watete mit dem Schlauchboot im Schlepptau seiner Tochter entgegen. Als er sie erreichte, nahm er sie auf den Arm und wirbelte sie durch die Luft.

„So ein Kindskopf“, murmelte die alte Dame, wobei sie Hannah anlächelte, die unweit von ihr stehengeblieben war.

„Sieht aus, als ob sie Spaß hätten“, meinte diese.

Vater und Tochter hatten mittlerweile das Ufer erreicht.

„Schaut euch das an!“, rief der Mann und hob einen etwa fünfzig Zentimeter langen, hellen Gegenstand aus dem Boot. „Das muss von einem Reh sein. Ich frage mich, wie das Tier in den See gekommen ist.“

„Cool!“, rief die Kleine und strich mit der bloßen Hand über den Knochen, der von Wasser und Zeit blank poliert worden war.

Auf dem Gesicht der Großmutter zeichnete sich jedoch Entsetzen ab. Ihre Nasenflügel bebten und ein kaum merkliches Zittern schlich sich auf ihre faltigen Lippen.

Hannah sah das.

Sah und begriff.

Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Trotz der Sonnenstrahlen fror sie plötzlich.

„Ja, seid ihr denn wahnsinnig?“, stieß die Großmutter aus. „Wisst ihr nicht, was das ist?“

„Das sind Knochen, Oma“, meinte die Kleine augenrollend. Zu ihrem Vater flüsterte sie: „Dass man den alten Leuten aber auch immer alles erklären muss.“

„Das sehe ich“, antwortete die Alte kopfschüttelnd.

„Mein Gott …“, murmelte Hannah.

War das wirklich das, was sie glaubte? Nein, bestimmt ging ihre Fantasie wieder einmal mit ihr durch, die dunklen Erinnerungen, die sie auf ihrem Spaziergang um den Rubinsee verfolgt hatten. Oder?

Die Alte seufzte, legte eine Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf, vermutlich weil sie realisierte, dass der schöne Urlaubstag zu Ende war.

„Wir müssen die Polizei rufen“, stellte sie fest und da lösten sich Hannahs letzte Zweifel auf.

Kratzer und kleine Einschnitte bedeckten den Knochen, als hätten Tiere daran genagt. Er sah alt aus.

„Das da ist nicht von einem Reh, oder?“, fragte Hannah flüsternd.

Keine Reaktion. Der Vater, der den Knochen in beiden Händen hielt, schaute sie voller Unverständnis an und die Kleine schürzte die Lippen.

Nur die Alte schnalzte hörbar mit der Zunge. „Dass man den jungen Leuten aber auch alles erklären muss“, murmelte sie, die Worte ihrer Enkelin wiederholend. „Begreifst du’s denn wirklich nicht, Jochen? Was du da gefunden hast, das gehört zu einem Menschen.“

Ja, der Rubinsee war bekannt für seine Gier. Er nahm sich, was er wollte, und nur selten spuckte er wieder etwas aus. Wenn er es wie heute doch tat, dann würde das hohe Wellen schlagen.

***

„Christoph!“

Hannah rannte ins Wohnzimmer, das aussah, als hätten dort Einbrecher gewütet. Stapelweise Bücher bedeckten den Boden, während das leere Regal mitten im Raum stand. Ihr Mitbewohner Christoph balancierte auf dem Couchtisch und versuchte, den Lampenschirm abzuschrauben oder anzuschrauben oder was auch immer es war, das er dort oben tat. Er stand auf den Zehenspitzen, sein Polo-Shirt war hochgerutscht und entblößte seinen behaarten Bauch.

„Ich muss dir dringend erzählen, dass … Christoph!?“

Christoph drehte den Kopf, woraufhin der Rest seines Körpers bedenklich ins Schwanken geriet. Hannah machte einen Satz auf den Couchtisch und stützte seinen Rücken, damit er nicht umfiel.

„Was machst du da?“, fragte sie.

„Ich tausche den Lampenschirm aus.“

„Weil?“

„Das Rot ist zu aggressiv und außerdem nimmt es zu viel Platz ein. Wir brauchen eine freiere Farbe“, erklärte er.

„Steht das auch in deinem Feng-Shui-Buch?“

Er antwortete: „Das stand auf einem Blog für Innendesign.“

„Aha. Und wann glaubst du, dass du mit dem Innendesign fertig bist?“

Christoph überging ihre Frage. „Was hältst du von Mintgrün?“

„Wofür?“

„Na, für den Lampenschirm.“

„Keine Ahnung. Haben wir denn einen mintgrünen Lampenschirm?“

„Den muss ich erst noch bestellen. Himmelblau wäre auch eine Option. Oder Zitronengelb. Auf dem Blog stand, dass Gelb die Laune verbessert.“

Hannah fragte erneut: „Hast du schon eine Idee, wann du mit der Umgestaltung fertig sein wirst? Langsam wird’s hier etwas ungemütlich.“

„Allerdings ist Gelb eine Sommerfarbe und wir wollen den Lampenschirm im Winter ja nicht austauschen“, fuhr Christoph fort, als hätte er sie nicht gehört.

Hannah erkundigte sich schon seit einer ganzen Weile regelmäßig danach, wann der Umräum-Wahnsinn ein Ende haben würde. Genau genommen seit vierzehn Tagen, denn da hatte er dieses verfluchte Feng-Shui Buch entdeckt. Nach dem letzten Stand war die Antwort auf ihre Frage vorgestern.

Seufzend kletterte sie vom Couchtisch und ließ sich auf einen der Balkonsessel sinken, die ihren Weg ins Wohnzimmer gefunden hatten. Sie verkniff sich, Christoph darauf hinzuweisen, dass das hier ihr Haus war und dass er sich vor zwei Jahren auf ihre Mitbewohner gesucht-Annonce mit den Worten gemeldet hatte, er sei der ruhigste, unkomplizierteste und kollegialste Wohngenosse, den man sich vorstellen könne. Die meiste Zeit würde Hannah gar nicht merken, dass er da war.

Trotz oder vielleicht auch wegen der Verwunderung ihrer Eltern, die so gar nicht verstehen konnten, warum Hannah freiwillig mit einem zehn Jahre älteren Mann zusammenwohnen wollte, vor allem nicht mit Christoph Engelbert, der im ganzen Dorf für seine Geschwätzigkeit bekannt war, hatte sie ihm zugesagt.

Die ersten zwei Wochen hatte Christoph sich zusammengerissen, war ihr beim Schleppen der Möbel zur Hand gegangen, hatte die Musik nie lauter aufgedreht als auf Zimmerlautstärke und sich im Bad beeilt. Dann hatte er einen Online-Bodyfit-Kurs für sich entdeckt und das Chaos war losgegangen.

Die Fitness-Leidenschaft hatte ihn irgendwann verlassen, jedoch nur, um neuen Ideen Platz zu machen. Christoph hatte versucht, Kontrabass zu lernen, er hatte die Küche in eine wenig erfolgreiche Tortenbäckerei umgewandelt und auf dem Dach des Gartenschuppens ein Hochbeet angelegt, aus dem mittlerweile vor allem Unkraut wucherte. Feng-Shui war nur die neueste Ausprägung seiner Launen.

Hannah strich sich die Haare aus der Stirn und lehnte sich im Sessel zurück, während sie beobachtete, wie ihr Mitbewohner sich mit dem Lampenschirm abmühte, irgendwann aufgab und vom Couchtisch kletterte. Die Lampe hing nun ziemlich schief von der Decke.

Sie schmunzelte. Wem wollte sie etwas vormachen? Sie mochte das Chaos, das Christoph mit sich brachte.

„Hast du dich heute schick gemacht?“, fragte sie.

Christoph trug sein gutes Polo-Shirt, das zartrosarote, das ihm eine Nummer zu klein war, und er hatte sich die spärlichen Haare zur Seite gegelt, um seine beginnende Glatze zu verdecken.

„Ich habe später ein wichtiges Interview für die Dorfchronik. Zilli Fuchs feiert ihren hundertsten Geburtstag und wir wollen auf ihr Leben zurückblicken“, erklärte er. Zwischen zwei langen Schnaufern fügte er hinzu: „Was wolltest du mir vorhin erzählen?“

Da war sie wieder, die kitzelnde Aufregung, die Hannah vom See bis nach Hause begleitet hatte. „Wir haben einen Knochen im Rubinsee gefunden.“

Schlagartig veränderte sich Christophs Gesichtsausdruck. Seine Augenbrauen sprangen so abrupt nach oben, als wollten sie seine Stirn verlassen, und sein Mund klappte auf.

„Wir? Heißt das … Du?!“

Hannah zuckte die Schultern. „Na ja, nicht so ganz. Ein Tourist, der zum Tauchen hier war, hat ihn entdeckt. Ich war zufällig dabei, als er den Knochen vorgezeigt hat … Jetzt ist die Polizei am See“, erklärte sie und verzog den Mund, denn die Beamten hatten sie nur kurz befragt und dann trotz Protest weggeschickt, als hätten sie Sorge, Hannah könnte die Ermittlungen stören.

„Menschliche Knochen?“

Hannah nickte.

„Von einem echten Menschen?“

„Nein, menschliche Knochen von einem Schaf.“

Sie schmunzelte, während Christoph sich mit der Hand Luft zufächelte.

„Das gibt es doch nicht. Eine Leiche im See. Schon wieder.“

„Oder immer noch.“

„Du meinst …?“

„Na ja, die junge Frau, ich meine, das Mädchen haben sie damals nie gefunden, oder? Also muss sie noch im See liegen.“

Denn vor siebzehn Jahren hatte Hannahs bester Freund David beim Freitauchen eine Leiche im Rubinsee entdeckt. Da der Körper nie geborgen worden war, wusste niemand, wie alt die Verstorbene gewesen war. David hatte sie damals als Mädchen bezeichnet, später aber gesagt, sie hätte älter ausgesehen als er, der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal elf gewesen war. Das hieß, die Verstorbene musste um die fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen sein.

„Falls damals tatsächlich ein totes Mädchen im See war“, fügte Hannah hinzu.

Nicht, weil sie es ernsthaft anzweifelte, sondern weil einen die Leute im Dorf ansahen, als wäre man ein Verschwörungstheoretiker, wenn man zu sehr davon überzeugt war, dass vor siebzehn Jahren ein Verbrechen unter den Tisch gekehrt worden war.

„Natürlich war da eine Leiche“, stellte Christoph fest und stieß hörbar die Luft aus. „Insgeheim wissen wir doch alle, dass an den Geschichten vom See etwas dran ist.“

„Bei den meisten bin ich mir nicht so sicher“, murmelte Hannah und dachte an all die Schauermärchen, die ihre Oma ihr früher erzählt hatte und die von Wassernixen, verfluchten Bäuerinnen, ertrunkenen Jungfrauen und dem Tor zur Hölle gehandelt hatten.

„Aber bei dieser Geschichte schon“, stellte Christoph fest.

„Du hast damals über den Fall berichtet, oder?“, fragte Hannah, woraufhin Christoph in der Bewegung innehielt. Er arbeitete seit fast zwanzig Jahren als Mädchen für alles auf dem Gemeindeamt. Neben dem Verschicken von Briefen und Kaffeekochen gehörten auch die Dorfchronik sowie das Gemeindeblatt zu seinen Aufgaben, und wenn Hannah sich richtig erinnerte, hatte er in ebendiesem Flugblatt über die Leiche im See berichtet.

„Ja“, sagte er bloß und schüttelte den Kopf.

„Was?“

„Nichts.“

„Ach, komm.“

„Ich habe mich nur an etwas erinnert“, meinte er.

Jetzt schaute er Hannah direkt an. Sie konnte nicht sagen, was es war, doch irgendetwas in seinem Blick hielt sie davon ab, nachzubohren. Da war eine unausgesprochene Schwere, die sie von Christoph sonst nicht kannte.

„Dass das jetzt alles wieder hochkommt. Ich fasse es nicht“, murmelte er. „Auf den Schock brauche ich etwas zu essen. Wir beide, nicht wahr? Ich habe noch eine Kleinigkeit im Kühlschrank.“

Die Kleinigkeit entpuppte sich als riesiger Topf Gulasch. Während Christoph schweigend das Essen aufwärmte, holte Hannah sich einen Block samt Bleistift und setzte sich im Schneidersitz auf einen der Gartensessel, um ihre Gedanken zu sortieren. Wie sie es schon als Mädchen getan hatte, wenn ihr Kopf vor Informationen schwirrte, brachte sie alles in eine nachvollziehbare Ordnung. Meistens tat sie das nur in Gedanken, doch gerade wirbelten diese so sehr, dass sie die einzelnen Punkte niederschreiben musste. Folgendes wusste sie:

Erstens, vor siebzehn Jahren hatte ihr ehemaliger bester Freund David beim Freitauchen eine Leiche im Rubinsee entdeckt. Danach war es mit allem, inklusive ihrer Freundschaft, bergab gegangen. Hannahs schlechtes Gewissen hatte sie davon abgehalten, für ihn da zu sein. David musste geglaubt haben, dass sie sich schämte, mit ihm gesehen zu werden, ihn vielleicht sogar für verrückt hielt so wie die meisten ihrer Mitschüler. Dabei wusste sie, womöglich als Einzige, dass er sehr wohl die Wahrheit gesagt hatte. Doch damals hatten ihr der Mut oder die Kraft oder was auch immer es gewesen war, das sie gebraucht hätte, um ihre Stimme zu finden, gefehlt. Sie hatte ihn alleingelassen und ihre Freundschaft hatte sich nie davon erholt.

Zweitens, es hatte weder eine Vermisste noch Spuren gegeben, und die Taucher hatten die Leiche auch nach tagelanger Suche nicht gefunden. Da war es allzu einfach gewesen, die Aussage eines elfjährigen, traumatisierten Jungen als Lüge abzutun.

Drittens, David hatte nicht gelogen. Hannah schon. Aber weil das bis heute keiner wusste, hatte sie in Ruhe weiterleben können, während David von den hämischen Blicken und dem Geflüster der Leute aus dem Dorf getrieben worden war.

Viertens, zehn Jahre später hatte es einen Angriff auf Davids Mutter Rebecca gegeben, bei dem diese ihre Stimme und einen Teil ihres Geistes verloren hatte. Auch dieser Fall war nie aufgeklärt worden, und obwohl zwischen den beiden erfolglosen Ermittlungen zehn Jahre lagen, wurde Hannah das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie zusammenhingen und dass das, was sie verband, der Rubinsee war.

Fünftens, in beiden Fällen war der leitende Beamte ein Polizist namens Franz Berger gewesen und Hannah fragte sich bis heute, ob er die Fälle wirklich nicht hatte lösen können oder in Wahrheit nicht hatte lösen wollen. Berger war vor fünf Jahren selbst verschwunden. Es hieß, er sei tot, aber genauso gut konnte er sich in irgendeinem Loch verstecken oder auf einer tropischen Insel seinen Ruhestand genießen.

Sechstens, Hannah hatte ihren Verdacht gegenüber Franz Berger bisher nur vor ihren Eltern geäußert. Diese hatten entgegnet, der alternde Polizist hätte keinen Grund gehabt, ein Verbrechen zu vertuschen. Aber das stimmte nicht. Denn Bergers Sohn Frankie hatte Bad Rubinsee genau zu der Zeit verlassen, als David die vermeintliche Seeleiche entdeckt hatte. Er war nicht mehr zurückgekehrt. Niemand wusste, warum … Und vielleicht war dieses Warum die Antwort auf all die offenen Fragen.

Außerdem war Franz Bergers Waldhütte unweit des Rubinsees kurz vor dem Angriff auf Rebecca abgebrannt. Niemand wusste, wer sie angezündet hatte oder aus welchem Grund. Aber wenn man Hannah fragte, war es kein Zufall, dass das Feuer und der Anschlag auf Davids Mutter so nah beieinander lagen.

Das waren die Dinge, die Hannah wusste. Alles andere ahnte sie bloß.

„Essen ist fertig!“, rief Christoph und reichte ihr eine Schüssel mit dampfendem Gulasch.

Eigentlich hatte Hannah keinen Hunger, doch sobald der Essensduft ihr in die Nase stieg, meldete sich ihr Magen grummelnd.

„Du bist wirklich ein Meisterkoch“, lobte sie ihren Mitbewohner.

„Danke! Kochen ist eines meiner Talente!“ Als er das sagte, schwoll Christophs Brust merklich an.

Hannah lächelte. „Ich hoffe, ich habe dich vorhin nicht aufgeregt. Mit der See-Sache, meine ich.“

Christoph ließ sich Zeit mit einer Antwort. Langsam zog er den Löffel aus dem Mund. „Hast du nicht. Es ist nur … Ach, ich bereue einfach, wie die Sache damals gelaufen ist.“

Nun horchte Hannah auf. „Dann denkst du auch, dass bei den Ermittlungen etwas faul war?“

„Etwas? Da war alles faul.“

Nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren, fragte sie: „Willst du wieder über den Fall berichten?“

„Ich glaube, dieses Mal werde ich mich raushalten und die richtigen Journalisten über die Sache schreiben lassen.“

Er sah traurig aus, während er das sagte. „Und du, Hannah? Hältst du dich raus?“

„Ich bin ja keine Journalistin.“ Sie versuchte ein Lächeln, doch es misslang ihr. Nach einem Zögern fügte sie hinzu: „Ich … Ich habe mich gefragt, ob David vielleicht zurückkommen wird.“

Der Gedanke verfolgte sie seit dem Knochenfund. Ach was, viel länger schon. Seit Jahren.

Würde David zurückkommen?

Würde Hannah eine Chance erhalten, ihm die Wahrheit zu sagen und sich zu entschuldigen?

Würde sie überhaupt den Mut dazu haben?

„Meinst du denn, er kann irgendwas zu den Ermittlungen beitragen? Es ist schließlich alles schon so lange her.“

„Aber er war es, der die Leiche gefunden hat. Vielleicht erinnert er sich an etwas. Und selbst wenn nicht … Ich finde einfach, er hat eine Chance verdient, seinen Namen reinzuwaschen.“

„Hmm.“ Christoph nickte in Zeitlupe. Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. Schließlich sagte er: „Ja. Es ist gut, wenn man noch die Chance hat, die Dinge richtigzustellen.“

Trauer klang aus seiner Stimme.

 

Gili Air, 2023

David

Das Schwarz des Horizonts war einer tiefvioletten Dämmerung gewichen, als David zu seinem ersten Freitauchgang des Tages aufbrach. Zu dieser frühen Stunde liebte er das Meer ganz besonders, weil es ihm allein gehörte. Ohne Touristen, ohne Schnorchelschüler.

Eine Schildkröte glitt unweit von ihm durch das türkisblaue Wasser. David ließ sich tiefer sinken, stets darauf bedacht, das Tier nicht durch eine schnelle Bewegung zu verschrecken. Schildkröten waren hier keine Seltenheit, trotzdem erfüllte ihn ihr Anblick jedes Mal mit Staunen. Fast so sehr wie die Touristen, die er täglich mit auf Schnorcheltouren nahm und die sich beim Anblick der Tiere in aufgeregte Kinder verwandelten.

Manchmal fühlte David sich selbst wie eine Schildkröte: an Land etwas unbeholfen und langsam, doch unter Wasser ganz in seinem Element. Tauchen bedeutete alles für ihn. Freiheit. Leben. Liebe.

Als die Schildkröte außer Sichtweite war, schraubte David sich weiter in Richtung Meeresgrund und ließ ein paar vereinzelte Luftbläschen aus seiner Nase entweichen. Hoch über sich sah er die Oberfläche, auf der sich das Sonnenlicht spiegelte. Unter ihm war alles blau. Kein Grund in Sicht, nur Wasser und Weite.

Mit geschlossenen Augen ließ er sich treiben und da, für einen kurzen Augenblick nur, spürte er sie, seine ständige Begleiterin, den Geist aus dem Rubinsee.

Und in ebendiesem Augenblick war es ihm, als sei er wieder der elfjährige Junge, der verängstigt gegen den Würgegriff des Sees ankämpfte, während der Blick des Mädchens – seines Geists – ihn in die Tiefe zog.

Kleine Bläschen hüllten sein Gesicht ein, als er die Luft ausstieß. Es war zum Verrücktwerden! So viele Jahre schon war er von zu Hause weg und wurde die Erinnerung an sie dennoch nicht los. Dabei wusste er nicht einmal, ob sie real gewesen war oder nur ein Hirngespinst, wie alle anderen es behauptet hatten.

Vielleicht war das seine Strafe dafür, dass er damals aufgegeben hatte. Dass er nicht gekämpft, nicht darauf bestanden hatte, dass die Taucher am richtigen Ort nach der Leiche suchten. Stattdessen war er weggelaufen, einen ganzen Ozean weit, und hatte den Rubinsee hinter sich gelassen.

Für immer.

Er hatte sich ein Leben aufgebaut. Eines ohne Geister und den See, ohne den Spott der Leute und den Schatten der Berge. Ohne schlechtes Gewissen – meistens zumindest. Und er würde alles dafür tun, dass das so blieb.

Während er zurück zum Ufer kraulte, ließ er zu, dass die Wellen die dunklen Erinnerungen abwuschen.

***

Als David einige Stunden später mit seiner Schnorcheltruppe aufbrach und die Strahlen der indonesischen Sonne seine Haut streichelten, hatte er seinen See-Geist wieder vergessen. Für den Moment zumindest.

David führte seine Truppe dorthin, wo die scheinbar versteinerten Paare warteten. Die Unterwasserstatuen waren ein im Jahr 2017 installiertes Kunstprojekt unweit des Strands von Gili Meno. Fünfzehn Paare aus Zement standen am Meeresgrund im Kreis. Zu ihren Füßen lagen, ebenfalls in einem Kreis, Menschen mit angewinkelten Beinen. Wenn man genau hinschaute, erkannte man, dass jede Skulptur einzigartig war. Die Männer und Frauen, die aufrecht standen und sich umarmten, genauso wie die einsamen Seelen am Boden.

In ihren Gesichtern lag etwas Trauriges – Sehnsucht, fand David. Vielleicht, weil sie gezwungen waren, bis in alle Ewigkeit regungslos am Meeresgrund zu verharren, während sie die Sonne über sich bloß erahnen konnten.

Das Meer war an dieser Stelle nicht besonders tief, sodass man die Lichtreflexe an der Oberfläche sehen konnte, wenn man den Kopf hob. Lippfische, Riffbarsche und Doktorfische tanzten um die Statuen herum.

Heute war er mit einer elfköpfigen Gruppe unterwegs: ein Pärchen aus Südamerika und eins aus Skandinavien, eine Familie aus Deutschland mit Sohn und Tochter, die fortwährend von ihrer übervorsichtigen Mutter zu hören bekamen, dass sie nicht zu weit vom Boot wegschwimmen durften, und drei italienische Freundinnen.

David blieb ein paar Minuten unter Wasser. Schaute zu, wie die Mitglieder seiner Schnorcheltruppe mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg zu den Statuen schwammen, wie sie auf- und wieder untertauchten, Fotos von sich oder von den Fischen schossen.

Eigentlich war er ausgebildeter Tauchlehrer, in den letzten Wochen hatte er jedoch meistens Schnorchel-Trips wie diesen geleitet. Ihm sollte es recht sein. Ohne Sauerstoffflasche fühlte er sich im Wasser wohler und bei den Ausflügen lernte man immer interessante Menschen kennen.

Als die meisten Gruppenmitglieder aufgetaucht waren, ließ sich David bis zur Oberfläche treiben. Mit wenigen, festen Schwimmzügen hatte er das Motorboot erreicht, mit dem sie von Gili Air zur Schwesterinsel Meno gefahren waren, zog sich an der Reling hoch und half anschließend den zwei Skandinaviern, ins schwankende Boot zu klettern.

„Okay!“, rief David der Gruppe zu, nachdem sie vollzählig waren und sich die Taucherbrillen vom Gesicht gestreift hatten. „Wir machen jetzt Mittagspause. Eine halbe Stunde, vielleicht eine ganze. Je nachdem, wie viel Zeit ihr zum Entspannen haben wollt. Danach geht es zurück nach Gili Air, wo wir noch eine Runde schnorcheln gehen. Mit etwas Glück sehen wir dort Schildkröten.“

Die Gruppenmitglieder murmelten zustimmend, worauf Dedy, der heutige Bootsführer und Davids bester Freund, den Motor anließ und sie in Richtung der Insel lenkte. Fünf Minuten später machten die beiden Männer das Boot an einem Holzsteg fest und entließen ihre Gäste in die wohlverdiente Pause.

Während Dedy mit dem Kellner des Inselrestaurants plauderte – oder besser: flirtete –, machte David es sich im Schatten einer Palme gemütlich, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Viele Jahre lang hatte er sich getrieben gefühlt, hatte nie länger an einem Ort bleiben können. Zu dunkel waren die Schatten, die ihn verfolgten, zu präsent der Geist aus dem Rubinsee. Doch hier, unter Palmwedeln und mit dem Rauschen des Meeres im Ohr, hatte er endlich so etwas wie Frieden gefunden.

 

Bad Rubinsee, 2023

Hannah

Am folgenden Tag fiel es Hannah schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken zu dem Knochen aus dem See wanderten, und zu der Person, zu der dieser Knochen einst gehört hatte.

Um sich abzulenken, holte sie sich einen Kaffee in der Büroküche. Koffein würde helfen. Koffein half immer. Neben dem Kaffeeautomaten stand Joe, der Teamleiter der Buchhaltungsabteilung, mit dem sie am Nachmittag einen Bewerber treffen würde. Wie immer trug er einen überteuerten Nadelstreifenanzug.

„Na, Hannah, gerüstet für das Interview?“, fragte er.

„Sicher“, antwortete sie, drückte auf den roten Knopf der Kaffeemaschine und wartete, während diese gurgelnd die Flüssigkeit ausspuckte.

„Ich habe ein gutes Gefühl bei dem jungen Mann, ein ganz gutes Gefühl. Wie hieß er noch gleich?“

„Karl.“

In den letzten Wochen hatte Hannah Joe mehr als zwei Dutzend passende Bewerbungen weitergeleitet und fünf Kandidaten zum Interview eingeladen. Bisher hatte er an allen etwas auszusetzen gehabt: keine Berufserfahrung, falsche Ausbildung, nicht teamfähig, zu sehr von sich selbst überzeugt oder fehlende Leidenschaft für Buchungssätze, was auch immer das bedeuten mochte.

Dass Joe ausnahmsweise positiv gestimmt war, deutete Hannah als gutes Zeichen. Vielleicht wäre die unmögliche Suche nach dem Superman unter den Buchhaltungs-Kandidaten bald zu Ende.

Sie nahm sich ihren vollen Kaffeebecher, goss Milch ein und wollte schon zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehren, als Joe das Thema wechselte: „Du hast es sicher auch gehört, alle reden darüber.“

„Der Fund im See?“ Sie vermied es, ihm zu erzählen, dass sie dabei gewesen war, als der Knochen entdeckt worden war. Die Leute würden sich auch so genug das Maul zerreißen.

„Nach so vielen Jahren …“ Er schnalzte mit der Zunge. „Vielleicht war der Junge ja doch nicht verrückt.“

„Ich versichere dir, dass er das nicht war. Die Polizei hat sich nur nie die Mühe gemacht, ihm richtig zuzuhören.“

„Oh ja, habe ich vergessen. Ihr wart Freunde, nicht?“

Vergessen? Na klar. Als ob die Tatsache, dass Hannah und David befreundet gewesen waren, nicht der Grund wäre, warum Joe das Thema überhaupt ansprach.

Sein zufriedenes Grinsen wurde noch breiter, als er sagte: „Vielleicht stimmen die Schauermärchen und es liegen noch mehr Leichen in unserem schönen See.“

„Vielleicht.“ Nur mit Mühe gelang es Hannah, sich ein Lächeln abzuringen.

Unwissentlich hatte Joe Hannahs größte Sorge ausgesprochen. Was, wenn der Knochen gar nicht zu dem Mädchen gehörte, dessen Körper David vor siebzehn Jahren im See entdeckt hatte? Wenn die Geistergeschichten, die Sagen und Legenden doch einen wahren Kern hatten?

Die Gier des Sees. Hannah hatte so viele Erzählungen darüber gehört. Gemessen an der Anzahl an Schauergeschichten müsste man annehmen, dass eine halbe Busladung an Leichen im Wasser auf die Ewigkeit wartete. Die Leute redeten vom Rubinsee, als sei er ein denkendes, atmendes Wesen, das Menschen entführte, Teenager zu Missetaten überredete und sich in der Nacht in die Häuser der Dorfbewohner schlich, um ihre Gedanken zu verderben.

Aber Wasser entführte keine Menschen. Menschen entführten Menschen.

Wasser war nicht gierig. Wasser setzte niemandem sündige Gedanken in den Kopf. Wasser stahl nicht, tötete nicht, nahm sich nichts, was Menschen ihm nicht gaben, und trotz all der Geschichten, die sich um den Rubinsee rankten, war er am Ende nichts anderes als das: Wasser. Viel davon.

***

„Und du bist dir sicher, dass du mir nicht mehr über den Fall sagen kannst?“

Hannah hatte die Schuhe ausgezogen und saß mit angezogenen Knien auf ihrem Schreibtischsessel. Es war Freitagnachmittag, die zwei Kollegen, mit denen sie sich das Büro teilte, hatten bereits den Feierabend angetreten und es war offensichtlich, dass auch Michi, der Polizist am anderen Ende der Leitung, es eilig hatte, sein Wochenende zu starten. Doch nachdem er Hannah auf Anweisung seines Einsatzleiters gestern am See abgewimmelt hatte, hatte sie ihn versprechen lassen, ihr telefonisch ein paar Infos zu geben. Und sie würde ihn nicht von der Strippe lassen, ehe sie alles erfahren hatte, was sie konnte.

„Ich kann keine vertraulichen Informationen rausgeben. Ich habe dir sowieso schon zu viel erzählt.“

„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin gut darin, Vertrauliches vertraulich zu behandeln. Bringt der Job mit sich.“

Sie hörte Michi seufzen. „Du machst es mir nicht leicht.“

Hannah war sicher, dass er die Aufmerksamkeit insgeheim genoss. Abgesehen davon schuldete er ihr einen Gefallen, weil sie seinem jüngeren Bruder letztes Jahr ein Praktikum in der Marketingabteilung verschafft hatte. Obwohl Michi sich zierte, hatte sie bisher Folgendes in Erfahrung gebracht:

Erstens, bei dem Knochen, der im See gefunden worden war, handelte es sich um einen sogenannten Os Femoris, einen Oberschenkelknochen, und er war definitiv menschlich.

Zweitens, die Mordkommission war bereits eingeschaltet und hatte die Suche nach weiteren Knochen mit der Hilfe von Tauchern gestartet. Das gestaltete sich allerdings schwierig.

Der Tourist erinnerte sich nicht mehr daran, wo genau er den Knochen geborgen hatte, und beschrieb die Fundstelle als schlammigen Bereich irgendwo im Zentrum des Sees, wo Algen und anderes Gewächs wucherten. Er war mit einer Sauerstoffflasche tauchen gewesen, hatte aber keine Ahnung, wie tief. Das war in etwa genauso hilfreich wie überhaupt keine Information.

Und drittens, der Knochenfund reichte offenbar nicht als Indiz, um davon auszugehen, dass David vor siebzehn Jahren tatsächlich eine Leiche im See entdeckt hatte.

Michi betonte, als Polizist müsse man zuerst die Spuren untersuchen, bevor man Rückschlüsse zog. Er faselte auch irgendetwas von DNA-Analysen und der Bestimmung des Knochenalters, doch als Hannah nachfragte, konnte er ihr keine genauere Erklärung liefern.

Er sagte bloß: „Das unterliegt der polizeilichen Schweigepflicht.“

Hannah interpretierte das als: Ich habe keine Ahnung, was die Mordkommission eigentlich macht, aber das will ich nicht zugeben.

„Komm schon, du kennst mich doch schon lange“, versuchte sie, Michi zu überzeugen, ihr weitere Details anzuvertrauen.

„Was hat das damit zu tun?“

Alles, dachte Hannah. Auf dem Land zählte nichts mehr, als die richtigen Leute zu kennen. Doch sie sagte: „Dass du wissen müsstest, wie verschwiegen ich bin.“

Michi stieß die Luft aus. Ob das ein Zeichen dafür war, dass er die Geduld mit ihr verlor?

„Also, eines kann ich dir vielleicht noch sagen: Der Chef versucht immer noch, die Medien hinzuhalten. Wir haben schon ein paar Anrufe von Journalisten bekommen. Die werden langsam ungeduldig.“

„Habt ihr denen irgendwas erzählt?“

„Nein. Anordnung vom Chef. Außerdem fragen die nicht so nett wie du.“

Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, war sie sicher, dass Michi grinste.

„Auch so ein Nebeneffekt von meinem Job“, meinte Hannah. Er sollte bloß nicht glauben, dass sie mit ihm flirtete. „Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, die Medien einzuschalten.“

„Die behindern doch nur unsere Arbeit“, schnaubte Michi.

Den Spruch hatte er vermutlich aus dem Tatort oder einer anderen Krimiserie im Fernsehen. Bei seiner täglichen Arbeit – Autofahrer blitzen und Vermisstenmeldungen für verlorene Brieftaschen aufnehmen – hielt sich das Medieninteresse sicher in Grenzen.

„Sie könnten euch auch helfen. Mehr Aufmerksamkeit erzeugen, potenzielle Zeugen erreichen“, merkte Hannah an.

„Du meinst, so ein richtiger Medienaufruf?“

Sie öffnete den Mund, wollte Ja sagen, erinnerte sich dann daran, wie es vor siebzehn Jahren gewesen war. Damals hatte es einen Medienauflauf gegeben und das hatte, weiß Gott, nicht geholfen.

„Vielleicht habt ihr recht und es ist wirklich besser, die Medien rauszuhalten. Aber solltet ihr nicht wenigstens die Leute von damals kontaktieren?“, fragte sie darum.

„Das wäre zu früh. Wir wissen ja noch nicht, ob die zwei Fälle zusammenhängen. Außerdem ist es leicht, die Leute im Dorf zusammenzutrommeln, sollten wir doch Fragen haben.“

Ein Abbild tugendhafter Polizeiarbeit. Hannah verdrehte die Augen. „Was ist mit denen, die nicht hier sind?“

„Wer wäre das?“

„David zum Beispiel.“

„Hmmm … Ja, vielleicht machen wir das.“

Das klang nach einem Nein.

„Oder Frankie“, fügte sie hinzu, wohl wissend, dass niemand im Dorf eine Ahnung hatte, wo Frankie, der Sohn des ehemaligen Polizisten Franz Berger war.

Noch so ein Geheimnis des Sees. Hannah hielt es für mehr als einen merkwürdigen Zufall, dass der Sohn des leitenden Ermittlers ausgerechnet während der Untersuchungen vor siebzehn Jahren verschwunden war. Angeblich von zu Hause weggelaufen, weil er es mit seinem herrschsüchtigen Vater nicht mehr ausgehalten hatte. Durchaus vorstellbar, wenn sie an Franz Berger und dessen kalten Blick oder laute Stimme dachte und an seinen Sohn Frankie, der mit Lederjacke und Wuschelhaaren durch das Dorf lief und viel zu sanft wirkte, um der Sohn des Polizisten zu sein. An seiner Stelle wäre Hannah auch weggelaufen.

Aber natürlich munkelten die Leute trotzdem – was, wenn Frankie gar nicht abgehauen war? Wenn er Bad Rubinsee in Wahrheit nie verlassen hatte? Wenn er tot war? Wenn der gierige See ihn zu sich geholt hatte?

„Ich werde es mal im Team einbringen“, antwortete Michi nach ein paar Sekunden.

Das war ein Nein. Eindeutig.

„Du, Hannah, ich kann dir echt nicht mehr erzählen und ich muss jetzt auch los. Hab noch einen schönen Freitagabend, ja?“

„Klar, du auch. Hältst du mich auf dem Laufenden?“

In Michis Antwort schwang ein Lächeln mit. „Die Polizei, dein Freund und Helfer. Immer gerne zu Diensten! Tschüss, Hannah.“

„Tschüss.“

Er hatte nicht Ja gesagt.

 

Champaign, Illinois, 2023

Frankie

Frankie machte einen Kopfsprung in das Schwimmbecken und kraulte los. Es war noch früh, erst sieben Uhr morgens, und das Hallenbad war wie ausgestorben. Nur Frankie und ein Bademeister, der den Chlorgehalt maß, waren hier.

Es war die ideale Zeit für das tägliche Schwimmtraining. Bevor der Tag begann, ohne von anderen Badegästen oder ungewollten Gedanken gestört zu werden.

Die vergangene Nacht war von wüsten Träumen geprägt gewesen. Von dunklen Tannenzweigen, einer Hütte im Wald und von einem See, der rot schimmerte. Es hatte Frankie nervös gemacht. All diese Bilder gehörten zu einem alten Leben. Einem, das vorbei war.

Heute erfüllte das Training nicht seinen erhofften Zweck. Normalerweise traten die Erinnerungen mit jedem Schwimmzug und jedem kraftvollen Beinschlag weiter in den Hintergrund, bis sie irgendwann vom Wasser weggespült wurden. Heute jedoch hielten sie sich hartnäckig, trotz all der Jahre und der Tatsache, dass Frankie einen ganzen Ozean zwischen sich und die Erinnerungen gebracht hatte und zum Studieren in eine kleine Stadt in Illinois gezogen war. Nach Champaign – wie der Champagner, aber weniger prickelnd. Das war nun Frankies Leben. Ein Ort im mittleren Westen, umgeben von Maisfeldern. Ein Zimmer unterm Dach in einem windschiefen Holzhaus, das Frankie sich mit einem mexikanischen und zwei asiatischen Kommilitonen teilte.

In Champaign gab es keine Berge, nicht einmal richtige Hügel. Auf dem Universitätsgelände und in der nächstgelegenen Stadt gab es kleine Teiche, in denen man mit einem Kanu paddeln konnte. Keiner war tief oder sauber genug, um darin zu schwimmen. Das Teichwasser war hellblau, ganz anders als der See aus Frankies Erinnerung, dessen Oberfläche undurchdringlich dunkel wirkte, fast schwarz, und der abends rötlich glühte. Ein Höllensee.

Und obwohl dieser Ort so weit weg von dem roten See und den dunklen Bergkämmen war, wie nur möglich, fanden die Erinnerungen immer wieder einen Weg zurück.

So griff Frankie nach Ende des Schwimmtrainings zum Tagebuch. Es war ein Vorschlag des Therapeuten gewesen. Um den Überblick über Realität und Hirngespinst nicht zu verlieren, würde es helfen, den Tagesablauf und alle Gedanken regelmäßig niederzuschreiben. Damals – vor mehr als fünfzehn Jahren – hatte Frankie über diesen Vorschlag die Augen verdreht und sich nur widerwillig breitschlagen lassen. Doch der Therapeut hatte recht behalten. Das Tagebuch hatte wirklich geholfen, und wenn schon das Wasser heute seinen Zweck nicht erfüllte, würden es hoffentlich Stift und Papier tun:

Tagebucheintrag 375

Die Bilder vom See verfolgen mich. Manche sind dunkel und kalt, aber am meisten tun die schönen Erinnerungen weh. Die an dich. An deine Augen, in denen ich so oft versunken bin und die mich an den Grund des Sees erinnerten. An deine Berührungen. An deine Lippen auf meiner Haut, deinen Herzschlag an meinem Ohr, deine Hand in meiner.

Daran, wie wir die Füße ins kalte Seewasser gestreckt und gewettet haben, wer es länger aushält, bis die Zehen taub werden. Wie wir mit dem Boot hinausgerudert sind und ein Picknick in der Mitte des Sees gemacht haben, umgeben von Himmel und Wasser.

Blau über uns, Blau unter uns.

Es ist ungesund für mich, an diesen Momenten festzuhalten. Weil ich weiß, dass es keinen Weg zurück gibt. Aber heute fällt es mir besonders schwer, nicht daran zu denken.

Wegen Xia. So heißt meine neue Mitbewohnerin. Sie ist eine Austauschstudentin aus Shanghai. Seit Dienstag lebt sie bei uns. Sie redet viel und sie ist neugierig.

Ich habe ihr eine Tour durch unser Haus gegeben und in meinem Zimmer sah sie eines meiner alten Tagebücher aufgeschlagen auf dem Bett liegen. Ein paar Worte muss sie aufgeschnappt haben, denn ehe ich das Tagebuch zuklappen konnte, fragte sie: Wer ist Soleil?

Weißt du, was ich gesagt habe? Das ist niemand. Soleil gibt es nicht mehr.

In diesem Moment brannten meine Augen und ich musste den restlichen Abend an dich denken, an den See und an die Hütte im Wald.

Die Wahrheit ist: Obwohl ich jetzt den Ursprung meiner Erinnerungen kenne und trotz der Entfernung zwischen mir und dem, was früher war – Ich vermisse dich. Noch immer.

Langsam frage ich mich, ob ich jemals damit aufhören werde.

Frankie

 

 

Bad Rubinsee, 2023

Hannah

Im Anschluss an das Telefonat mit Michi fuhr Hannah ins Pflegeheim, um Rebecca ihren wöchentlichen Besuch abzustatten.

Rebecca hatte ein Eckzimmer, was gut war, da sie dadurch Fenster nach Süden und Westen hatte. Mehr Sonne. Mehr Blickwinkel, um die Welt um sich herum zu betrachten, während ihr eigenes Leben stillstand.

Das Fenster Richtung Süden ging in den Vorhof, in dem sich die Bewohner des Heims zum Kartenspielen oder mit ihren Familien trafen. Das Richtung Westen zeigte den Parkplatz und, wenn man dem Straßenverlauf rund hundert Meter folgte, den Supermarkt.

Abgesehen davon glich Rebeccas Zimmer allen anderen. Ein Pflegebett stand in der Mitte, daneben ein rollbares Nachtkästchen. Ein Schrank und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen an der Wand waren in hellem Holz gehalten. Von der Decke baumelte ein Lampenschirm, der viel zu modern für die ansonsten altmodische Einrichtung wirkte.

Rebeccas Schwägerin hatte das Zimmer dekoriert, ein Zierdeckchen auf die Kommode gelegt, Vorhänge mit Blümchenmuster ausgesucht und eine altmodische Vase mit getrockneten Blumen auf dem Fensterbrett drapiert. Hannah bezweifelte, dass irgendetwas davon Rebeccas Geschmack entsprach, und obwohl diese weder den Raum noch die Dekoration zur Kenntnis nahm, störte es Hannah.

Wenn man sie fragte, waren das einzig Schöne an diesem Raum die Fotos an den Wänden. Da waren Rebeccas Hochzeitsfoto und ein Bild von ihr als junge Mutter mit Baby David auf dem Arm oder eines von David bei der Einschulung, eine Schultüte in der Hand und mit Hannah an seiner Seite. Auf dem Bild trug Hannah ihr Lieblingskleid mit dem Gänseblümchenmuster.

Wie meistens, wenn Hannah zu Besuch kam, saß Rebecca in ihrem Rollstuhl an einem der Fenster und schaute nach draußen, während das Sonnenlicht ihre Wange streichelte. Eine der Pflegerinnen musste sie dort platziert haben. Sie trug ein altmodisches hellblaues Kleid, das wie ein Sack an ihrem drahtigen Körper hing. Ihre mittlerweile ergrauten Haare waren zu einem ordentlichen Zopf gebunden.

„Hallo, Rebecca. Wie geht’s dir?“, begrüßte Hannah sie. „Schau, ich hab dir Blumen mitgebracht.“

Während sie den Strauß Wildblumen in einer Vase drapierte, plauderte sie unablässig, erzählte Rebecca von dem Vorstellungsgespräch, das sie am Nachmittag geführt hatte, von Christophs wenig erfolgreichem Versuch, das Wohnzimmer neu zu dekorieren, und von ihren Eltern, die überlegten, sich einen Border Collie anzuschaffen.

„Die beiden wollten eigentlich nie Haustiere. Als ich klein war, habe ich sie angefleht, mir einen Hund oder eine Katze zu kaufen. Aber sie sind streng geblieben. Jetzt wollen sie plötzlich einen Hund. Ich glaube, das wäre sowas wie ein Ersatzenkelkind. Wenn ich es schon nicht auf die Reihe kriege, einen Mann zu finden und echte Enkelkinder für sie zu machen.“

Nicht, dass Hannahs Mutter ihr das jemals vorgehalten hätte, doch der sehnsuchtsvolle Blick, mit dem sie jedem Kinderwagen hinterherschaute, sprach Bände.

Hannah stellte die Vase mit den Blumen auf das Fensterbrett und zog einen Stuhl heran, sodass sie sich neben Rebecca setzen konnte. Die hob leicht den Kopf, nicht genug, um Hannah ins Gesicht zu schauen, aber es reichte, um sie wissen zu lassen, dass Rebecca ihre Anwesenheit bemerkte. Diese winzige Bewegung war das Maximum an Kommunikation, das Rebecca je zeigte.

„Mama lässt dich übrigens schön grüßen.“

Hannahs Mutter Nora fragte regelmäßig nach Rebecca und ließ ihr Grüße ausrichten. Dass Hannah der stummen Frau seit Jahren einmal die Woche einen Besuch abstattete, während sie selbst höchstens alle paar Monate vorbeikam, schien sie mit einer Mischung aus Stolz und Scham zu erfüllen. Immerhin waren Nora und Rebecca früher beste Freundinnen gewesen, genau wie Hannah und David.

Unwillkürlich wanderte Hannahs Blick zurück zur Fotowand, an der auch ein Bild ihrer Mutter mit Rebecca hing, das vor fünfzehn oder zwanzig Jahren aufgenommen worden war. Beide lachten, Hannahs Mutter etwas schüchtern, Rebecca dafür umso breiter. Mit ihren blutroten Lippen und in ihrem schicken Kleid wirkte sie nicht wie jemand, der nach Bad Rubinsee gehörte, sondern als hätte man einen Filmstar von der Kinoleinwand gezupft und in dem kleinen Dorf deplatziert.

Als Hannah in der Grundschule war, hatte sie Rebecca für die schönste aller Frauen gehalten. Wenn sie bei David zu Besuch gewesen war, hatte sie ihr manchmal heimlich dabei zugeschaut, wie sie sich schminkte oder die Haare kämmte. Einmal hatte Rebecca sie dabei erwischt. Anstatt sie auszuschimpfen, hatte sie gelacht.

„Hat deine Mama dir schon mal gezeigt, wie man richtig Lippenstift aufträgt?“, hatte sie gefragt und Hannah ins Badezimmer gewinkt, wo sie ihr die Lippen rot nachgezogen hatte.

„Rouge Femme. So heißt die Farbe“, hatte Rebecca geflüstert, und Hannah war zu trunken vom Duft ihres Parfums gewesen, um irgendetwas zu antworten.

Den ganzen Tag lang hatte sie sich selbst verstohlene Blicke im Spiegel zugeworfen und sich gefragt, ob sie jemals so schön sein würde wie Rebecca. Als sie abends nach Hause gekommen war, hatten ihre Eltern sie ausgelacht und gefragt, ob sie mit David Verkleiden gespielt hätte.

Im Vergleich zu Rebecca war Hannah ihre eigene Mutter langweilig vorgekommen. Nora hatte krauses dunkelbraunes Haar, genau wie Hannah. Ihre braunen Augen hingegeben hatte sie von ihrem Vater geerbt.

Eines Tages, das hatte Hannah sich damals vorgenommen, wollte sie sein wie Rebecca. So schön, so laut, so anders als all die anderen im Dorf. Sie würde alle Blicke auf sich ziehen, roten Lippenstift auftragen und lachen, als wohnte der Sonnenschein in ihrer Stimme.

Nur, dass Rebecca mittlerweile nichts mehr von alledem war. Und Hannah war nichts davon geworden.

Sie räusperte sich, um die tristen Gedanken zu vertreiben. Auf Rebeccas Kommode lag ein kleiner Stapel Briefe, den die Heim-Sekretärin für sie hinterlassen haben musste. Hannah hob sie hoch.

„Du hast Post bekommen. Ist es okay, wenn ich sie für dich aufmache?“, fragte Hannah.

Sie wartete einen Moment ab. Obwohl Rebecca nicht antworten würde, fühlte Hannah sich besser damit, zumindest nach ihrer Zustimmung zu fragen.

„Okay, dann schauen wir mal, wer dir geschrieben hat.“

Zwei der Briefe waren Werbung, der dritte eine Meldung der Bank bezüglich einer neuen Debitkarte – als ob Rebecca eine Bankomatkarte gebraucht hätte. Darunter lag etwas Besonderes.

„Du hast eine Postkarte bekommen.“

Es war eigentlich keine richtige Karte, sondern ein Polaroidfoto von Palmwedeln vor einem babyblauen Himmel. Hannah wusste, ohne den Poststempel zu lesen, von wo aus sie geschickt worden war: Gili Air, Indonesien.

David.

Er schrieb seiner Mutter nur alle paar Wochen. Hannah glaubte nicht an Schicksal, doch dass seine Karte ausgerechnet heute eingetroffen war, einen Tag nach dem Knochenfund, fühlte sich trotzdem bedeutsam an.

Sie fühlte ein Kribbeln unter ihren Fingernägeln, als sie das Polaroid umdrehte und las:

Wenn die Sonne untergeht, färbt sich das Meer orange und die Wolken werden rosarot. Das erinnert mich an zu Hause. Ich wünschte, du könntest hier sein. David.

„Von David. Ihm geht es gut“, sagte Hannah. „Er beschreibt den Sonnenuntergang und sagt, dass er dich vermisst.“

Sie suchte nach einer Spur von Freude oder irgendeiner Emotion in Rebeccas Gesicht, fand nichts. Ihr Blick lag auf Hannahs Gesicht, aber sie schien sie nicht wirklich zu sehen. Als ob Hannah durchscheinend wäre.

„Es gibt da etwas, das ich dir erzählen möchte.“ Hannah rückte ein Stück weiter zu ihr vor. „Sie haben einen Knochen im See gefunden. Von einem Menschen.“

Hannah hielt die Luft an, während sie Rebeccas Gesicht studierte. Es war naiv, doch etwas in ihr hoffte, diese Nachricht würde ihr zum ersten Mal seit Jahren eine Reaktion entlocken. Es kam keine. Natürlich nicht.

***

Statt des direkten Wegs nach Hause, einem Fußmarsch von weniger als einer Viertelstunde, nahm Hannah einen Umweg am Dorfrand entlang. Zwischen Wiesen und dem Waldrand hoffte sie, einen klaren Kopf zu bekommen.

Sie hatte Davids Polaroid aus Indonesien in ihre Jackentasche gesteckt und strich gedankenverloren mit dem Zeigefinger die Ränder entlang.

Gili Air.

Den Postkarten nach zu urteilen, war David schon seit über einem Jahr dort, eine Rarität für einen Zugvogel wie ihn. Davor waren seine Karten von immer wechselnden Reisezielen gekommen, mal aus Kambodscha, mal aus Thailand, Australien oder Mexiko. Hannah hatte Gili Air im Internet recherchiert und Bilder von endlosen weißen Sandstränden, von Palmen und einem türkisblauen Meer gefunden.

Es war die kleinste von drei Inseln unweit der balinesischen Küste und war als Taucherparadies bekannt, vor dessen Küste Korallenriffe lagen. Hannah hatte gelesen, dass auf der Insel keine Autos erlaubt waren, sodass man sich mit Pferdekutschen, auf dem Rad oder zu Fuß fortbewegte.

Sie hatte sich die Insel vorgestellt. Die Pferdekutschen, die Palmen und Sandstrände, vor allem jedoch David.

Nachdem er mit fünfzehn in ein Internat in der Hauptstadt gezogen war, hatte Hannah ihn bloß noch in den Sommerferien gesehen und auch dann nur im Vorbeigehen. Denn damals waren sie bereits keine Freunde mehr gewesen.

Hannah hatte sich oft gefragt, wann genau es passiert war, dass ihre Freundschaft so endgültig auseinandergebrochen war. War es geschehen, gleich nachdem die Ermittlungen eingestellt worden waren, weil Hannah es aus schlechtem Gewissen versäumt hatte, David beizustehen? Oder waren es die vielen kleinen Momente danach gewesen, in denen er allein auf dem Schulhof gestanden und Hannah es nicht über sich gebracht hatte, auf ihn zuzugehen? Schon damals hatte sie ihm die Wahrheit sagen und sich entschuldigen wollen, aber der Mut hatte ihr gefehlt. Je mehr Zeit vergangen war, desto stärker hatte David sich zurückgezogen und desto unnahbarer hatte er auf Hannah gewirkt. Sie war überzeugt gewesen, dass er wütend auf sie war, weil ein Teil von ihm instinktiv verstanden haben musste, dass sie mehr über das Mädchen im See wusste. Dabei war er vermutlich ebenso unsicher wie sie gewesen und hatte sich nicht getraut, den ersten Schritt auf Hannah zuzumachen, um den winzigen Riss zu überwinden, der sich zwischen ihnen gebildet hatte. Bis dieser Hannah irgendwann wie eine unüberwindbare Kluft erschienen war.

Direkt nach dem Schulabschluss hatte er das Land verlassen, um die Welt zu bereisen. Erst hatte es geheißen, er würde nur ein Jahr Auszeit nehmen, dann zwei, dann drei … und obwohl Hannah ihn nie vergessen hatte, war er für lange Zeit zu einer Randfigur in ihren Gedanken geworden.

Bis er plötzlich wieder aufgetaucht war. Vor sieben Jahren zur Beerdigung seines Vaters. Hannah hatte gewusst, dass der an Krebs erkrankt gewesen war. Das ganze Dorf hatte das. Hannahs Mutter hatte damals für Rebecca Lasagne und Eintopf und Braten mit Soße gekocht, alles in Folie eingeschlagen und es der Trauerfamilie vor die Haustür gestellt.

Hannah hatte sich gewundert, dass David seinen kranken Vater nie besucht hatte, und als er nach dessen Tod ins Dorf zurückgekommen war, war es ein kleiner Schock gewesen, ihn wiederzusehen, denn er hatte sich völlig verändert.

Sie erinnerte sich genau an den Moment am Friedhof. David, eingerahmt von seiner Mutter und seinem Onkel, die Hände vor dem Bauch verschränkt und irgendwie fehl am Platz. Er passte nicht dazu, weder an diesen Ort noch in seine Familie. Alle hatten das gesehen und darüber geflüstert.

Hannah hatte das geärgert und doch hatte auch sie ihren Blick genauso wenig von ihm abwenden können wie die anderen, hatte sich während des Trauergottesdiensts immer wieder dabei ertappt, wie sie ihn heimlich beobachtete. Diese exotische Fata Morgana inmitten des schwarzen Meers aus Trauernden.

Er trug einen Anzug, in dem er sich sichtlich unwohl fühlte. Seine Haut war so braungebrannt, dass er allein deshalb aus der Menge blasser Gesichter herausstach, und seine hellen Haare hatte er zu Dreadlocks gedreht, die ihm in einem Bündel auf dem Kopf saßen. Er war gewachsen, überragte seine Mutter um eine ganze Kopflänge, und hatte breite Schultern.

Im ersten Moment hatte Hannah sich gefragt, ob das wirklich David sein konnte. Doch als sie an der Reihe war, ihm die Hand zu schütteln und ihr Beileid auszusprechen, hatte sie seine Augen gesehen, die noch immer die Farbe des Meeres hatten, und sein Lächeln, das traurig und schüchtern zugleich wirkte, und sofort hatte sie sich in der Zeit zurückversetzt gefühlt.

Sie hatte mit ihm reden wollen, an diesem Tag, ihm alles erklären, ihn fragen, wie es ihm ging. Doch irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Eine Nervosität, die von ihr Besitz ergriffen hatte, sobald sie sich innerlich dazu bereit machte, auf ihn zuzugehen. Morgen, hatte sie sich am Ende der Trauerfeier versprochen, morgen würde sie mit ihm sprechen.

Ihm die Wahrheit sagen. Ihre alte Lüge beichten und ihn um Verzeihung bitten.

Aber ein Tag war verstrichen und dann noch einer, und als sie schließlich an der Haustür der Königs geklingelt hatte, hatte Rebecca ihr mit gespieltem Lächeln erklärt, dass David bereits wieder abgereist war.

Hannah war zu spät gekommen. Ihre Chance, sich zu entschuldigen, hatte sie verpasst.

Zumindest hatte sie das geglaubt. Bis gestern der Knochen im Rubinsee aufgetaucht war - wie die Verheißung einer zweiten Chance.

Der Fund bewies, dass David damals die Wahrheit gesagt hatte. Er musste zurückkommen, wenn schon nicht, um seinen Namen reinzuwaschen, dann aus Neugierde.

„Warum willst du wirklich, dass David wiederkommt?“, hatte Christoph sie gestern gefragt. „Wegen dem Fall? Wegen Rebecca?“

Natürlich, wiederholte Hannah ihre Antwort nun in Gedanken. Er soll für seine Mutter zurückkommen und um den Fall aufzuklären. Nur darum.

Doch während sie am Waldrand entlangspazierte und an Davids trauriges Lächeln bei der Beerdigung dachte, war sie sich nicht mehr so sicher, ob das die ganze Wahrheit war.

 

Gili Air, 2023

David

David saß im Schneidersitz vor seiner Hütte und drückte mit dem Daumen auf sein rechtes Nasenloch, während er durch das linke einatmete. Mit geschlossenen Augen fühlte er in seinen Körper hinein, spürte, wie der Sauerstoff durch seine Lunge und in den Bauchraum wanderte, wie sich seine Bauchdecke hob, während sein Herzschlag mit jedem Atemzug langsamer wurde.

Ein paar Sekunden lang hielt er die Luft an und lauschte dem Zirpen der Grillen, die wie jeden Abend nach Sonnenuntergang ein Konzert aufführten. Dann wechselte er den Druck seiner Finger von der rechten zur linken Seite seiner Nase und ließ die Luft langsam entweichen, bis es sich anfühlte, als würde sein Bauchnabel die Wirbelsäule berühren.

Einatmen.

Luft anhalten.

Ausatmen.

Einatmen.

Und dabei immer die Seite wechseln. Sein ehemaliger Tauchlehrer hatte ihm beigebracht, dass diese Form der Wechselatmung perfekt war, um die Lunge für das Freitauchen zu trainieren. Denn um mehrere Minuten unter Wasser zu bleiben, musste David seinen Puls verlangsamen, und das schaffte er nur durch die richtige Atmung.

Außerdem hatte die Übung den angenehmen Nebeneffekt, dass sie Davids Kopf frei machte, dass sie alle Gedanken fliegen ließ, bis da nur noch das Zirpen der Grillen und die Dunkelheit hinter geschlossenen Augenlidern waren.

Doch alle Gedanken flogen nicht davon. Leider.

In dem Moment, wenn David sich völlig entspannte und seine innere Schutzmauer fallenließ, blitzte ein Bild in seinen Gedanken auf. Das Gesicht eines etwa sechzehnjährigen Mädchens, dessen Haut so hell war wie Porzellan. Grüne Augen, groß wie die einer Puppe, blondes Haar, das im Wasser um sein Gesicht tanzte. Ein stummer Schrei auf seinen Lippen.

David versuchte, das Bild zu verdrängen, weiter zu atmen, als wäre nichts gewesen. Aber es half alles nichts. Sofort beschleunigte sich sein Puls. Die Ruhe war weg.

„Verdammt!“

Es war, als hätte das Mädchen im See einen Teil von ihm gestohlen und mit sich auf den Grund gezogen, während sich im Austausch ein Teil von ihm in Davids Verstand eingenistet hatte.

Ganz egal, wie viele Jahre verstrichen, er wurde sie nicht los. Sie begleitete ihn auf seiner Reise um den Globus, kroch in seine Träume und malte ihr Antlitz auf die Rückseite seiner Augenlider. Er hatte gedacht, die Erinnerung an sie abschütteln zu können, wenn er nur weit genug vom Rubinsee entfernt war. Doch selbst jetzt, umringt von Palmen und Hibiskusbüschen, war sie da.

 

Bad Rubinsee, 2023

Hannah

Am nächsten Morgen erwartete Christoph Hannah mit einem Frühstück, das einem Fünf-Sterne-Restaurant würdig gewesen wäre. Auf dem Küchentisch türmten sich Rührei mit Gemüse, Pancakes, frische Croissants vom Bäcker, Obstsalat, Mangosaft, Kaffee und etwas Grünes, das vermutlich ein Smoothie sein sollte, aber die Konsistenz von Brei hatte.

„Womit habe ich das verdient?“, fragte Hannah lachend.

„Damit, dass du die beste Mitbewohnerin bist!“ Christoph grinste von einem Ohr zum anderen. „Und außerdem ist es eine verspätete Entschuldigung dafür, dass ich in den letzten Tagen ein bisschen Unordnung in unser trautes Heim gebracht habe.“

Hannah verkniff es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass das Wohnzimmer nach wie vor ein chaotisches Durcheinander war.

Während sie versuchte, sich zu entscheiden, mit welcher Leckerei sie anfangen sollte, stellte Christoph seinen Laptop vor sie.

„Schau, was ich gefunden habe!“ Er hatte eine Seite aufgerufen, auf der Preise für Auslandsflüge miteinander verglichen wurden. Abflughafen München, Zielflughafen Denpasar. Lag das nicht auf Bali?

„Was ist das?“

„Flüge“, stellte Christoph fest und goss ihr eine Tasse Kaffee ein.

„Das sehe ich.“

„Na dann.“

„Warum hast du Flüge rausgesucht? Willst du verreisen?“, präzisierte Hannah ihre Frage.

Sie stellte sich absichtlich dumm. Dass Christoph Flüge nach Bali gesucht hatte, konnte nur eines bedeuten.

„Die sind nicht für mich, sondern für dich. Und sie sind nicht mal besonders teuer. Also, wenn man bedenkt, wie weit du fliegst, meine ich.“

„Du findest also, ich soll zu David fliegen?“

Anstatt zu antworten, schaufelte Christoph eine große Portion Rührei auf ihren Teller.

„Als wir vorgestern darüber gesprochen haben, warst du nicht überzeugt davon, dass David zurückkommen sollte.“

Christoph zuckte die Schultern und platzierte ein Croissant auf dem Eierberg.

„Das war ja auch ein spontanes Gespräch. Da hatte ich noch keine Zeit, richtig über die Sache nachzudenken“, erwiderte er.

„Und in der Zwischenzeit hast du darüber nachgedacht?“

„Ja.“

„Und du willst, dass ich nach Indonesien reise?“

„Genau.“

„Das ist verrückt.“ Mehr als das, es war vollkommen durchgeknallt. Um den halben Erdball zu fliegen, um jemanden zu suchen, mit dem sie das letzte Mal richtig gesprochen hatte, als sie elf Jahre alt war, und von dem sie nicht einmal eine Adresse hatte. Ganz abgesehen davon, dass sie gar keine Zeit hatte. Ihr Terminkalender platzte aus allen Nähten.

„Stimmt“, gab Christoph zu. „Aber manchmal sind die verrückten Sachen die Richtigen.“

„Ich weiß doch gar nicht, ob David überhaupt zurückkommen will.“

„Und wenn du ihn nicht fragst, wirst du es auch nie erfahren. Hast du denn seine Telefonnummer? Eine E-Mail-Adresse?“

Hannah schüttelte den Kopf.

„Oder kennst du jemanden, den du nach seiner Telefonnummer fragen kannst?“

Christoph kannte die Antwort auf seine Frage bereits. David hatte die Verbindung zu seinem alten Leben so gründlich abgebrochen wie möglich. Die einzige Person, die von ihm hörte, war Rebecca, und auch die nur in Form von Postkarten.

Christoph nickte wissend. „Siehst du. Also wirst du ihn persönlich bitten müssen, zurückzukommen.“

„Hmmm“, grummelte Hannah. Christophs Logik war ebenso simpel wie undurchdacht.

„Du wirkst nicht überzeugt“, stellte er fest.

„Weil das alles nicht so einfach ist.“

„Wieso nicht?“

„Weil … Na, was soll ich David denn sagen, wenn ich ihn treffe? Er würde mich doch für eine Verrückte halten. Außerdem muss ich arbeiten.“

Christoph winkte ab und rollte mit den Augen. „Also erstens sagst du ihm dasselbe wie mir vorgestern. Dass er zurückkommen soll, um seine zweite Chance zu nutzen, oder etwas in der Art. Wenn du willst, helfe ich dir, eine Rede vorzubereiten. Wie du weißt, habe ich Talent im Umgang mit Worten.“

Hannah nahm einen Schluck Kaffee, um ihr Lachen zu unterdrücken. Christoph hatte für so ziemlich alles Talent, wenn man Christoph fragte.

„Zweitens macht es nichts, wenn er dich für verrückt hält. Das bist du ja auch ein bisschen.“

„Hey!“, protestierte sie mit erhobenem Löffel.

„Und drittens willst du mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du dir nicht mal ein paar Tage Urlaub nehmen kannst. Der arme Junge weiß vermutlich gar nicht, was hier gerade passiert.“

Die großen Medien hatten offenbar noch immer nichts von dem Fund aufgeschnappt. Nur Lokalblätter berichteten darüber und auch die nur in Form von knappen Seitennoten.

„Die Gemeinde will nicht, dass zu viel über den Fund berichtet wird, bevor die Polizei Genaueres weiß“, erklärte Christoph.

„Wer genau will das nicht?“

„Der Bürgermeister. Die Hoteliers. Die Gastwirte …“ Christoph zuckte die Schultern. „Offiziell heißt es, man wolle den Leuten keine unnötige Angst machen.“

„Und inoffiziell?“

„Macht sich eine Leiche im See für den Tourismus nicht besonders gut“, vervollständigte er ihren Satz.

„Glaubst du, dass sie den Fall wieder unter den Tisch kehren werden?“

Der Appetit war Hannah plötzlich vergangen. Trotzdem zwang sie sich, ein paar Bissen vom Rührei zu nehmen. Christoph zuliebe.

„Im Moment ermitteln sie noch. Aber wer weiß …“ Er seufzte. „Besonders ernst scheinen sie das Ganze nicht zu nehmen. Gestern hat der Bürgermeister seine Sekretärin Statistiken über die Anzahl von Leichen, die in jedem See liegen, ausdrucken lassen, und dann irgendwas davon gefaselt, dass die meisten Seeleichen Selbstmörder seien … Du weißt ja, wie er ist. Ich glaube, er meint es nicht mal böse. Er will einfach nicht wahrhaben, dass sein hübsches Bad Rubinsee irgendetwas anderes ist als das Paradies auf Erden. Aber falls die Taucher etwas finden und falls das, was sie finden, wirklich mit dem Fall von damals zu tun hat, dann sollte David hier sein. Er hat wenigstens noch die Chance, mitzuerleben, wie alles richtiggestellt wird.“

Bei den letzten Worten verdüsterte sich Christophs Miene, er wandte die Augen ab, schaffte es nicht mehr, Hannah anzuschauen. Als ob er sich schämte. Sie dachte an Christophs abwesenden Blick, als sie ihm vorgestern von dem Knochenfund erzählt hatte.

„Du hast damals mit Rebecca zusammengearbeitet. Bei der Berichterstattung. Oder?“, fragte sie.

„Ja. Rebecca hat sich so gewünscht, dass wir die Leiche finden.“

Der Ton, mit dem er Rebeccas Namen aussprach … Als ob sie schon tot wäre. War es das, was ihn umtrieb? Ein schlechtes Gewissen?

Christoph räusperte sich und der Moment der Melancholie war vorbei. „Wie ich schon sagte, wenn du willst, dass etwas passiert, musst du es selbst in die Hand nehmen.“

„Vielleicht hast du recht.“

„Ganz sicher habe ich recht! Es ist doch ganz logisch und logisches Denken ist …“

„Eines deiner vielen Talente“, beendete Hannah schmunzelnd seinen Satz. „Und dein Talent sagt dir, dass es logisch ist, wenn ich nach Indonesien fliege?“

„Nein, es ist absolut irre.“

Hannah hob die Handflächen. Wenn Christoph wusste, wie verrückt seine Idee war, warum hatte er sie überhaupt vorgeschlagen?

„Aber“, fuhr er mit erhobenem Zeigefinger fort, „es ist auch verrückt, dass du seit siebzehn Jahren ständig an diesen Jungen denkst und hoffst, dass er zurückkommt.“

„Das … ich … Das ist nicht …“, stotterte sie.

„Wenn du mir jetzt sagst, dass ich falsch liege und dass du hier glücklich bist, dann gebe ich Ruhe.“

Er wartete. Hannah wollte protestieren. Natürlich war sie glücklich. Sie hatte einen tollen Job, Freunde, eine Familie. Ganz zu schweigen vom besten Mitbewohner aller Zeiten – und weil er der beste Mitbewohner aller Zeiten war, konnte sie ihm nichts vormachen. Seit Jahren trieben das schlechte Gewissen und die Gedanken an David sie um.

„Ich habe außerdem etwas für dich“, sagte Christoph und reichte ihr eine dünne Mappe.

„Ähm … danke?“

„Wie du weißt, bin ich Dorfchronist“, begann er.

Innerlich wappnete Hannah sich für eine seiner langen Reden. „Ich habe auch die Geschehnisse rund um den Leichenfund im See festgehalten. Und alles, was danach kam. Ich habe diesen Text nicht in die offiziellen Archive eingespielt und auch nie veröffentlicht, weil ich wusste, dass die Leute vermutlich kein Interesse daran haben würden. Oder zu viel Interesse, wie man’s nimmt. Und es ist ja doch eine persönliche Geschichte. Jedenfalls, das hier ist das Manuskript.“

„Danke“, sagte Hannah bloß, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Es fühlte sich an, als habe Christoph etwas sehr Persönliches mit ihr geteilt. Sie hielt wortwörtlich einen Teil seiner Gedanken in den Händen, und als wollte er ihr Gefühl bestätigen, vertraute Christoph ihr noch etwas an: „Früher waren Rebecca und ich fast sowas wie Freunde. Sie hat mir das Gefühl gegeben, dass ich wichtig bin, weißt du. Und als die Sache mit dem See-Mädchen passiert ist …“ Er seufzte. „Ich wollte ihr helfen. Ich dachte, ich tue das Richtige, indem ich Aufmerksamkeit für den Fall gewinne. Aber in Wahrheit habe ich alles nur schlimmer gemacht. Die Leute denken, dass Rebecca mir jetzt egal ist. Aber das stimmt nicht. Es ist nur …“ Wieder stockte er. „Sie war so schön damals. So laut und selbstbewusst. Und jetzt? Ich kann es nicht ertragen, sie so zu sehen. Ich wünschte, ich würde es über mich bringen, sie zu besuchen. Aber wenn du es schaffst, dass David wirklich zurückkommt … Ich glaube, sie würde das wollen.“

Später, nachdem Christoph bereits gegangen war, setzte Hannah sich mit seinem Manuskript auf ihr Bett und begann zu lesen.