Prolog
Burn Creag Castle
Im Jahr unseres Herrn 1509
Ein Blitz zuckte am tiefschwarzen Himmel und erleuchtete die gewölbten Wände des Turmzimmers. Schatten waberten und wogten umher wie die Geister längst verstorbener Menschen. Die Stille hielt einen Augenblick lang an, dann knisterte erneut ein Blitz und plötzlich schien ein kleiner Punkt roten Feuers in der Mitte von Rachels Handfläche auf.
„Dragonheart!“, rang Shona nach Luft, die das Amulett selbst im unbeständigen Licht erkannte. „Du hast es gestohlen, von–“
Donner krachte gegen den Turm wie die niederträchtige Faust eines Riesen, erschütterte die Steine um sie herum und schreckte die drei Mädchen auf, die im flackernden Kerzenlicht auf dem Boden kauerten. Der Lärm rollte langsam fort und ließ die Luft angespannt zurück.
„Du hast es von Liam gestohlen?“, endete Shona atemlos. Sie war die jüngste der drei, kaum neun Jahre alt und zitternd in ihrem wallenden Nachthemd.
„Aye.“ Rachel schürzte ihre Lippen. Ihr Gesicht sah eingerahmt von ihren dunklen Haaren blass aus. „Ich habe es genommen, während er schlief.“
„Das ist Zauberei“, flüsterte Shona, die wie gelähmt war von dem silbernen Drachen, der in der Handfläche ihrer Cousine zahm, aber unbeugsam aussah.
„Es kann keine Zauberei sein“, berichtigte Sara, die Shonas kleine Hand immer noch in ihrer eigenen hielt. „Es ist nur Stein und Metall.“
„Genau das ist der Grund, warum ich es bezweifelt habe“, sagte Rachel, und ihre Stimme war in dem hohen Lagerraum beinahe unhörbar. „Aber selbst Liam muss hin und wieder die Wahrheit sagen, schätze ich. Und er hat die Wahrheit gesagt, als er mir von unserer Urgroßmutter erzählt hat.“
„Unserer Urgroßmutter?“, fragte Sara. „Aber woher weiß er von unseren Ahnen?“
„Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen“, gab Rachel zu und blickte vom einen Mädchen zum anderen. „Aber das ist die Geschichte, die er erzählt hat.
Vor langer Zeit lebte in einem Schloss ein Mädel. Ihr Name war Ula. Sie war so klein wie ich, hatte Shonas feuriges Haar und Saras Güte. Ihre Mutter starb, als sie ein Kind war, und sie hatte Angst davor, nachts allein zu sein. Manchmal weinte sie.“
„Und ihr Vater kam und erzählte ihr haarsträubende Geschichten, um sie zum Lachen zu bringen?“, schlug Shona vor.
„Aye“, lächelte Rachel. Shonas Vater, Roderic, hatte ihnen allen in den frühen Morgenstunden viele wilde Geschichten erzählt. „Aye, er erzählte ihr Geschichten. Aber sie hatte immer noch Angst. Also rief er den besten Steinmetz im Land, damit dieser neben ihrem Zimmer einen magischen Steindrachen anfertigte, der sie beschützte.“
„Er muss sie sehr geliebt haben“, flüsterte Sara, mehr zu sich selbst als zu den anderen.
„Sie schufen den Drachen oben auf dem Dach, sodass er über das umliegende Land blicken konnte“, sagte Rachel. „Jetzt fühlte sich das Mädel in seinem Zimmer sicher. Aber ihr Vater fürchtete, dass ihm etwas zustoßen würde und Glen Creag in die Hände des dunklen Zauberers fiele. Dann wäre die kleine Ula alleine. Er wusste, dass sie gezwungen sein würde, ihr Zuhause zu verlassen, wenn das der Fall sein sollte, und er wünschte sich für sie, dass sie mutig genug sei, um die Reise zu schaffen. Also ersuchte er einen guten Zauberer, ein silbernes Amulett für sie zu erschaffen. Es war ein magischer Anhänger, geschmückt mit Edelsteinen aus den verzauberten Wasser von Loch Ness.“
„Wo Nessie lebt?“
„Aye. Dieses Amulett würde Ula beschützen, wohin sie auch ging.“
„Und dies ist das Amulett?“
„Aye.“
„Aber Rachel“, sagte Sara, „auch wenn ich es nicht verstehe, glaubst du nie etwas, das Liam erzählt. Wieso vertraust du ihm hier?“
Rachel schloss ihre Finger um den Drachen. Er fühlte sich in ihrer Hand warm und schwer an, beinahe so, als habe er ein eigenes Leben. „Kommt her“, flüsterte sie und trat ans Fenster. Die drei drängten sich zusammen wie schelmische Feen und steckten die Köpfe zusammen. Kastanienbraunes Haar funkelte neben flachsblondem und schwarzem.
„Schaut hinaus.“
„Wohin?“
„Es ist dunkel“, sagte Shona, aber plötzlich durchfuhr ein Blitz den Himmel.
„Dort!“
„Ein Drache“, keuchte Sara, die sah, wie die Steinstatue erleuchtet wurde und sich scharf vor dem alten Dach abzeichnete. „Wie ist er da hingekommen?“
Rachel hob das Amulett näher an ihre Brust. „Er muss schon viele Jahre lang dort sein, aber man kann ihn von den meisten Stellen aus nicht sehen, nur von hier und von dem Zimmer, das daneben liegt.“
„Ulas Zimmer“, flüsterte Shona.
„Dann ist er wirklich magisch“, murmelte Sara.
„Aye“, sagte Rachel, „und heute Nacht werden wir seine Magie unserem Willen beugen.“
„Ja?“, fragte Shona mit Augen so rund wie Eier.
„Aye. Das werden wir. Denn morgen wird Sara in ihre Heimat zurückkehren. Und kurz danach wirst du die Rückreise nach Dun Ard antreten. Es ist unmöglich zu wissen, wann wir wieder zusammen sein werden.“
Es wurde still im Turmzimmer.
„Ich werde dich vermissen“, flüsterte Sara.
„Und ich dich“, sagte Rachel und streckte eine Hand aus, um die ihrer Cousine zu umschließen. „Ihr seid die Schwestern meines Herzens.“
„Wir werden dich sicher bald sehen“, sagte Shona. Sie fasste Saras Hand fester. Brüder hatte sie reichlich. Aber Schwestern waren eine seltene und kostbare Sache.
„Wenn das Wetter wärmer wird …“
„Eine von uns wird sicher bald verlobt sein. Tatsächlich hat MacHurt um meine Hand angehalten und–“ Rachel hielt unvermittelt inne und sah rasch in Richtung der Fässer, die an der runden Wand aufgestapelt waren. „Was war das für ein Geräusch?“
Die Mädchen hielten den Atem an und lauschten.
Hinter den Fässern tat Liam dasselbe und achtete sorgfältig darauf, keinen Laut von sich zu geben, während in seiner Seele Enttäuschung aufschrie. Verlobt! Sicher konnten die Mädchen nicht in solch zartem Alter versprochen werden – getauscht werden wie Schafe. Nicht seine kleinen Mädels. Selbstverständlich konnten sie Rachel nehmen. Es kümmerte ihn wenig, wenn sie jemand heiratete, der so alt war die Sünde und so hässlich wie ein Troll. Schließlich war Rachel eitel und unnahbar, und wenn sie lachte, tanzten ihre Augen wie …
Sie war nichts als ein albernes Mädchen, ermahnte er sich. Sie hatte seine lächerlichen Geschichten über Magie geglaubt. Sie hatte tatsächlich geglaubt, er habe geschlafen, als sie sein Amulett gestohlen hatte! Himmelherrgott, was war sie nur für eine schlechte Diebin! Dennoch, er hätte die beiden anderen schönen Mädels nicht hereinlegen sollen.
„Es muss eine Maus gewesen sein“, sagte Sara und wandte ihren Blick wieder zu Rachel. „Versprich mir, dass du nicht weit von uns wegziehst.“
„Ich werde nirgendwo hinziehen“, sagte Shona heftig. „Ich werde Liam heiraten und für immer in Dun Ard leben.“
„Liam!“, spottete Rachel. „Nicht diesen wilden Schurken. Du wirst einen großen Laird heiraten, so wie jede von uns.“
Die Andeutung eines Geräuschs kam hinter den Fässern hervor.
„Die Mäuse sind in der Tat unruhig“, murmelte Shona und blickte nervös hinter sich.
„Bitte verlass uns nicht“, flüsterte Sara erneut.
„Deswegen habe ich euch gebeten, in den Turm zu kommen“, sagte Rachel. „Wenn der Drache wahrhaftig magisch ist, kann er uns unsere sehnlichsten Wünsche gewähren und uns miteinander verbinden. Wir alle berühren das Amulett und schwören, uns um die anderen zu kümmern.“
„Aber wenn wir weit entfernt voneinander sind, woher sollen wir dann wissen, dass wir gebraucht werden?“, fragte Sara.
Rachel schaute finster drein und zog ihre dunklen Brauen über ihren Augen zusammen, die wie Amethysten leuchteten. „Der Drache wird es wissen“, improvisierte sie. „Er wird sicherstellen, dass wir in Sicherheit sind oder er wird Hilfe holen.“
Sara dachte für einen Moment nach, dann nickte sie. Ihr Ausdruck war ernst, aber sie zitterte vor Aufregung, während sie einen Kreis bildeten. „Wir sollten es alle gleichzeitig berühren.“
Und das taten sie. Sie schichteten ihre kleinen Hände über dem Amulett auf, und schlossen gleichzeitig ihre Augen.
„Mein sehnlichster Wunsch ist, eine große Heilerin zu werden, so wie meine Mutter“, setzte Rachel an.
Donner grollte wieder und ließ Shona zusammenzucken.
„Ich wünsche mir, mutig zu sein“, zirpte sie. „Wie Vater und die Flamme.“
Rachel drückte Saras Hand. Im Raum wurde es still.
„Du bist dran“, flüsterte Shona.
„Ich wünsche mir, für meine eigene Familie zu sorgen“, sagte Sara sanft. „Meine eigenen Kinder an meiner eigenen Feuerstelle. Nicht mehr.“
Stille legte sich über den Raum.
„Nun müssen wir einen feierlichen Schwur ablegen“, sagte Rachel. „Für immer und ewig sollen wir Freundinnen sein. Weder Zeit noch Entfernung soll uns trennen. Wenn eine in Not ist, soll eine andere kommen und ihr beistehen, denn die, die wir hier in diesem Zimmer versammelt sind, sind für die Ewigkeit verbunden.“
Die ganze Welt schien plötzlich ganz und gar still zu sein.
„Jetzt müssen wir darauf schwören“, flüsterte Sara.
„Ich schwöre“, sagten sie.
Donner krachte wie eine Kanone an ihre Ohren. Die Kerze war ausgegangen und warf sie in die Schwärze. Wilde Energie knisterte durch den Raum und schoss die Finger der Mädchen herauf.
Sie kreischten gleichzeitig, ließen das Amulett fallen und rannten wie eins in Richtung Tür. Das Portal knallte auf. Nackte Füße trippelten die Treppe hinab. Im Raum wurde es still. Hinter den Fässern lag Liam ausgestreckt an der Wand, schlaff wie ein aufgespießter Hase.
Mutter Gottes, was war hier gerade passiert? Natürlich, es musste der Sturm gewesen sein. Ein verirrter Blitzschlag, entfesselt im Turm. Das musste es gewesen sein, und diese einfältigen Mädchen hatten das Amulett in ihrer Angst sicher fallengelassen.
Er sollte gehen und es finden – die Binsen durchforsten und es herausholen –, aber seine Glieder fühlten sich schwach an und sein Geist seltsam durcheinander.
Er sollte diesen Ort am besten verlassen. Jetzt!, entschied er, stieß sich vom Boden ab und floh den Mädchen hinterher die Treppe hinab.
Die Welt wurde von Stille beherrscht. Die Mondsichel kroch hinter einem Wolkenfetzen hervor, um auf die Welt unter ihr herabzulächeln. Und tief in den Binsen wartete Dragonheart.
Kapitel 1
Blackburn Castle
Im Jahre unseres Herrn 1519
„Ihr müsst mich heiraten, Lady Shona. Ihr müsst.“ James’ bernsteinfarbene Augen sahen erbittert drein und sein Ausdruck war ernst, während er fest die Hand seiner Geliebten hielt und von der althergebrachten Position auf einem Knie zu ihr heraufsah. „Sagt, dass Ihr es tut.“
„Ihr wisst, dass ich nicht kann.“ Shona sah nervös in Richtung der Zuschauer, die sie umgaben. Sie hätte viel dafür gegeben, James diese Szene zu ersparen, denn eines Tages würde sein Stolz wegen einer so öffentlichen Vorführung verletzt werden. Es würde sicher Anlass zu Gerede geben. Verschiedene Versionen dieses Moments würde an tausend Herdfeuern berichtet und nacherzählt werden, aber die unvergessliche Tatsache würde bleiben; King James der Fünfte, oberster Herrscher von ganz Schottland, hatte ein einfaches Mädel aus den Highlands auf Knien angebettelt, ihn zu heiraten.
Allein der Gedanke daran ließ Shona nichts mehr wollen, als dieses ganze Spektakel zu umgehen. Aber sie wusste, das durfte sie nicht, denn ihre Pläne würden ohne einen solch dramatischen, öffentlichen Abschied empfindlich geschwächt werden.
„Ihr wisst, dass ich Euch nicht heiraten kann“, murmelte Shona. „Lord Tremayne würde es niemals erlauben. Er war schon gekränkt genug, als wir uns am letzten Mittsommerabend nur für ein paar Stunden aus Edinburgh Castle wegschlichen. Und es hat der Sache nicht geholfen, dass wir Euren Arm verletzten.“
„Das war nicht mehr als ein Kratzer, und nicht Eure Schuld.“
Sie schenkte ihm ein Lächeln, für seine rasche Verteidigung und weil sie sich daran erinnerte, wie er sich als Bauer verkleidet hatte und sie sich als Bursche. James war direkt unter Tremaynes Blick vorbeigegangen, ohne dass es ihm aufgefallen war, aber es hatte Konsequenzen gegeben. Fürwahr, Tremayne hatte getobt wegen ihrer Neigung, „den König auf gefährliche Gedanken zu bringen“. Er war sogar so weit gegangen, sie anzuklagen, aus eigenen, verschlagenen Gründen ein Komplott gegen den Thron zu planen. Was würde er erst tun, wenn er von ihren aktuellen Plänen wüsste? Sie wagte nicht, darüber nachzudenken. „Ihr wisst, ich würde alles für Euch tun, James. Aber wenn es Eure anderen Berater nicht gegeben hätte, hätte ich meinen Kopf nur für meinen gottlosen Einfluss auf Euch verloren. Was würde Tremayne tun, wenn er wüsste, dass Ihr mich zu heiraten wünscht?“ Sie grinste. „Manche sagen, ich wäre Eurem herrschaftlichem Titel gegenüber mehr als respektlos gewesen.“
„Einige warzengesichtige, alte Männer, die Euch vom ersten Moment an ablehnten“, sagte James.
„Wie dem auch sei, ich wage es nicht, Tremayne erneut zu hintergehen oder–“
James stand mit einem Ruck auf, seine Stirn vor Aufregung in Falten, sein Mund auf mürrische Weise verzogen, wie immer, wenn er schmollte. „Tremayne bestimmt nicht über mein Leben. Ihr könnt mich heiraten. Fürwahr, ich bestehe darauf, dass Ihr es tut.“
„Ihr besteht darauf?“ Sie lächelte ihn an. Wahrlich, sie fühlte sich mit einem beharrlichen James wohler als mit einem melancholischen. „Auch wenn Ihr wisst, dass es Schottland nicht zum Vorteil gereicht?“
Er blickte finster drein, während er über ihre Worte nachdachte.
„Ich denke nicht, Eure Majestät. Denn Ihr seid gut und weise, und Ihr werdet heiraten und dabei an Schottlands Zukunft denken.“
„Schottland könnte es mit Euch als Königin nicht besser ergehen“, schwor er ernst.
„Mir?“ Sie lachte und ließ ihre Hand aus seiner gleiten. „Eine bescheidene Maid aus dem Norden? Nicht für Euch, Eure Majestät. Eines Tages werdet Ihr die elegante Tochter eines reichen Königs heiraten, und die Verbindung wird unserer Sache äußerst dienlich sein.“
„Ich will niemandes elegante Tochter. Ich will Euch!“ Seine Stimme wurde lauter.
Shona stand auf. „Eure Majestät, Eure neuen Diener sehen zu“, erinnerte sie ihn. „Vom Falken ganz zu schweigen.“ Sie warf ihrem Onkel einen Blick zu, dem berghohen Krieger, der nach dem letzten Attentat auf den König zum persönlichen Leibwächter des Monarchen bestimmt worden war. „Der Falke sieht zu. Ihr wünscht doch nicht, dass er denkt, dass Ihr Euch wie ein Kind verhaltet.“
„Aber ich bin ein Kind!“, jammerte der Junge, brach in Tränen aus und warf ihr die Arme um die Taille.
Es stimmte, dachte Shona, als sie ihn in ihre Umarmung zog. Er mochte der gekrönte König von Schottland sein, aber er war auch ein sieben Jahre alter Junge. Ein Junge, der seinen Vater in der blutigen Schlacht auf Flodden Field verloren hatte, ein Junge, der seine Mutter an eine weitere Heirat verloren hatte – eine Heirat, die sie gezwungen hatte, seine Vormundschaft aufzugeben. Er wurde jetzt ganz und gar nicht wie ein Kind behandelt, sondern entweder wie eine Schachfigur oder wie ein Erbstück. Es war kein Wunder, dass er auf sie setzte, wenn es um Beständigkeit und Fürsorge ging, obwohl sie schwerlich von fürsorglicher Art war.
„Ruhig, James“, tröstete sie und streichelte sein kastanienbraunes Haar, während sie Kelvin hilflos anblickte, den jungen Burschen, den sie mitgebracht hatte, um den König zu unterhalten. „Es wird alles gut werden. Ihr werdet schon sehen. Ich werde hin und wieder kommen, um Euch zu besuchen.“
„Ihr werdet bleiben!“, rief er und packte fester zu. „Ich befehle Euch zu bleiben!“
„Der Falke wird bleiben“, gab sie zurück.
„Der Falke! Ihr würdet mich mit einem Vogel zurücklassen, der seine eigenen Geschwister frisst?“
Sie konnte nicht anders als zu lachen, denn eine solche Aussage war charakteristisch für den jungen König. Er war bekannt für seine Vorliebe für theatralisches Verhalten, aber es brachte nicht viel, wenn man das zu ernst nahm. Sie hatte das während ihrer Zeit bei Hofe vor einigen Monaten gelernt. Fürwahr, es war ihre Beziehung zu James gewesen, die ihren Aufenthalt in den Lowlands erträglich gemacht hatte, aber nicht die zu dem mythenhaften Verehrer, von dem ihre Eltern gehofft hatten, dass sie ihn hier finden würde.
„Wenn ich verspreche, dass der Falke Euch nicht fressen wird, werdet Ihr mich dann gehen lassen?“, fragte sie.
„Niemals! Ich werde Euch nie gehen lassen!“
„Ich kann nicht bleiben, James. Ich muss in meine Heimat zurückkehren. Ihr wisst das. Aber Kelvin und ich werden zurückkehren und Euch besuchen, sobald wir können.“
„Kelvin!“, schluchzte der König. „Ich will Kelvin nicht. Er ist nicht mehr als ein Gemeiner und ein Dieb.“
„Ein Dieb?“ Es stimmte, dass sie den Jungen erst vor einigen Monaten in den Straßen von Edinburgh gefunden hatte, wo er Taschendiebstahl betrieb, aber sie hatte gehofft, sie hätte den Diebereien des Burschen ein Ende gesetzt. Shona schürzte ihre Handfläche um James’ Kinn und hob seinen Kopf, sodass sich ihre Blicke trafen. „Ein Dieb?“ Einen Augenblick lang sah sie das gerissene Leuchten von Schalk in den Augen des Jungen.
„Er hat meine Lieblingsbrosche gestohlen“, klagte James, obwohl er ohnehin von Edelsteinen erdrückt wurde.
Shona ließ ihren Blick zu dem rothaarigen Burschen schnellen, der hinter dem König stand. Es war unmöglich zu sagen, wie alt er genau war, weil er vor langer Zeit eine Waise geworden war. Aber auch er musste etwa sieben Jahre alt sein. Er war schlank und klein, wie der König. Seine Augen konnten sogar auf dieselbe Weise leuchtenden Unfug zeigen, wie die des Königs, obwohl sie jetzt nicht viel mehr als schockierte Unschuld ausdrückten. Eine Unschuld, die anscheinend nicht verlässlich war, schließlich ruhte auf seiner schmalen Brust eine runde Brosche mit einem großen Blutstein.
„Ihr wisst, wie sehr ich diese Brosche liebe“, sagte der König, der plötzlich seine Tränen zurückhielt, um ihr ernst ins Gesicht zu blicken. Er seufzte. „Sie war ein Geschenk meiner geheiligten Großmutter.“
Die Wahrheit war, er hatte sie von seinem Stiefvater bekommen, dem sechsten Earl of Angus, einem Mann, den James nicht einmal mochte. Aber jetzt war schwerlich die Zeit, zu versuchen, ihn zu mehr Ehrlichkeit zu erziehen. Es konnte immerhin sein, dass Kelvin in dieser Hinsicht einen schlechten Einfluss auf ihn gehabt hatte.
„Gib ihm die Brosche“, sagte Shona sanft und starrte Kelvin an.
Der Junge öffnete seinen Mund, als wolle er Einspruch erheben, aber statt zu sprechen löste er schließlich den metallenen Kreis von seiner Tunika und trat vor.
James ließ seine Arme von Shonas Taille fallen und drehte sich zu dem Bengel um. Sie standen Auge in Auge, und eine Weile lang schwiegen sie, als teilten sie einen vertraulichen Gedanken. Aber schließlich reichte Kelvin die Brosche herüber.
„Ich habe Euch all die anderen gelassen“, sagte er mit schwerem irischen Akzent. „Diese eine hättet Ihr erübrigen können.“
„Ich bin König. Ich habe das Recht, gierig zu sein“, sagte James flapsig, und plötzlich grinste der andere Junge.
Es war ein Grinsen, das bei Shona ernste Zweifel weckte. Es war möglich, dass sie verrückt war zu glauben, dass sie dieses eigenwillige Kind alleine pflegen könne, während Wahnsinn gut beschrieb, dass sie glaubte, er wäre dem König ein guter Gefährte. Doch trotz ihrer häufigen Streits während der letzten vier Wochen, die sie miteinander verbracht hatten, waren sich die Jungen schrecklich nahegekommen. Vielleicht zu nah, wenn man die dubiose Vergangenheit des Straßenkinds bedachte. Vielleicht hatte Tremayne recht und es war das Beste, dass Kelvin nicht hierbliebe und den König länger beeinflusste.
„Es ist Zeit, dass wir uns auf den Weg machen“, sagte sie.
„Fürwahr“, stimmte Kelvin glücklich zu. „In die Highlands.“
Obwohl die Reise von Blackburn nach Dun Ard lang und feucht gewesen war, war Shona schließlich zuhause. Sie füllte ihre Lungen mit der frischen Frühlingsluft und spürte, wie sich ihre Muskeln entspannten. Nirgendwo in der Welt roch es wie in den Highlands von Schottland. Nirgendwo sonst war die Luft voll von dieser berauschenden Mischung aus Heidekraut und Freiheit.
Unter ihnen stolzierte Teine Lochan auf der Stelle. Die Stute war zurückgelassen worden, als Shona nach Blackburn gegangen war, zurückgelassen, zu lange eingesperrt.
„Willst du also rennen, Mädchen?“, fragte Shona, die die Zügel immer noch gespannt hielt.
Die Stute hörte auf zu tänzeln. Sie bog ihren majestätischen Nacken herauf, kaute auf ihrer Kandare, ihre Muskeln waren angespannt und zitterten.
„Dann renn“, rief Shona, lehnte sich über Teines Mähne und lockerte die Zügel.
Plötzlich hatten sie Flügel, flogen wie ein Falke über das grüne Moor, schossen wie Schwalben herab, als ob sie die bloße Essenz des Lebens einfangen könnten, wenn sie nur schnell genug flogen. Shona packte den Rumpf der Stute mit ihren in Leder gekleideten Waden, ließ die Zügel in die wirbelnde, flachsfarbene Mähne fallen und hob ihre Arme in den Wind.
Die mächtigen Ärmel ihrer weißen Tunika flatterten wild wie Segel. Ihr Haar strömte hinter ihr. Gefangen in der Herrlichkeit der Freiheit knisterten ihre feurigen Locken an der kastanienbraunen Haut des Rosses wie eine neunschwänzige Katze, und spornten die Stute zu noch größerer Geschwindigkeit an.
Weiter und weiter ritten sie, bis sie schließlich müde und satt in eine stille Talsenke kamen, in der ein Fluss unter der untergehenden Sonne dahinfloss. Vielleich sollte sie zum Schloss zurückkehren, dachte Shona, aber das Wasser rief sie, und sie antwortete, ließ die Stute ungehindert neben dem plaudernden Bach grasen.
Es gab viel, worüber sie nachdenken und mit dem sie sich näher befassen konnte. Shona war vor weniger als drei Tagen nach Dun Ard zurückgekehrt, aber selbst hier in ihrem Zufluchtsort konnte sie Schottlands Wirren spüren. Die Highlands waren vor den Schwierigkeiten, die das Land quälten, nicht gefeit. Denn nach dem Tod des letzten Königs vor etwa fünf Jahren auf Flodden Field, war sein Sohn gekrönt worden, ein Junge, der viel zu jung war, um die Staatsführung in die eigenen Hände zu nehmen. Ein französischer Regent war gewählt worden, aber der Regent war in seine Heimat zurückgekehrt und hatte Schottland führungslos zurückgelassen.
Es war dieser Zustand der Unruhe, der ihren Vater – der von jenen, die ihn kannten Roderic, der Schelm, genannt wurde – dazu veranlasst hatte, eine Zusammenkunft der Clans aus den Highlands zu planen. Wenigstens war es das, was er gesagt hatte, obschon Shona fest daran glaubte, dass es ein nur weiterer Versuch war, einen passenden Ehemann für sie zu finden. Lord William, der Herzog von Atberry, war lange Zeit ein gewichtiger Anwärter gewesen, aber es war bisher kein Ja–Wort gesprochen worden.
Shona seufzte und setzte sich hin, ihre Beine unter sich auf einem Felsvorsprung verschränkt.
Sie beugte sich vor und ließ die erfrischenden Wellen über ihre Finger fließen. Sie war eine der wenigen Glücklichen, das wusste sie, denn sie war beinahe zwanzig Jahre alt und noch nicht versprochen. Fürwahr, ihre Eltern hätten sie nicht an irgendeinen Mann gegeben, es sei denn, sie selbst hätte der Verbindung zugestimmt, und so kam es zur Verzögerung. Wem konnte sie zustimmen, wenn sie sich so lange in der Liebe von Roderic dem Schelm aalte?
Shona entfernte ihre weichen Halbstiefel, schwang ihre Beine über den Stein und tauchte ihre Zehen in die Wellen. Auf der ganzen Welt war dies ihr Lieblingsplatz. Es gab eine winzige Bucht, in der das warme Wasser durch eine Sandbank gefangen war. Es fühlte sich wie Sonnenschein auf ihrer Seele an, nur so zu sitzen, fern der Anspannung bei Hofe und dem Ärger neugieriger Blicke. Würde sie je wieder solch eine Freiheit finden, wenn sie heiratete? Und wie sollte sie sich für einen Bräutigam entscheiden?
Ihre Cousine Sara wähnte sich verheiratet, und jetzt war sie es. Aber ihr erster Gatte hatte sich als grausamer Mann herausgestellt.
Vielleicht würde sie überhaupt nicht heiraten, dachte Shona. Vielleicht würde sie in ein Kloster gehen. Aber das war lachhaft. Shona MacGowan in einem heiligen Orden! Es wäre, wie einen Dachs bei Gänseküken unterzubringen.
Shona wandte ihre Aufmerksamkeit vom Fluss ab und blickte in das frische, filigrane Blattwerk der Bäume, die sie umgaben. Über ihr sang ein Baumpieper für sie, und an ihrem Herzen schien ihr Amulett zufrieden zu schnurren.
Sie zog es aus ihrer Tunika und betrachtete es. Sie nannte es Dragonheart. Sie hatte es genau an diesem Ort vor einigen Monaten gefunden, aber selbst damals war es ihr nicht unvertraut gewesen. Nein. Viele Jahre zuvor, hatte Liam der Ire es gefunden.
Es war das gleiche Amulett, das Rachel von ihm gestohlen hatte und auf das die drei Cousinen einen heiligen Schwur geleistet hatten.
Shona lächelte bei der Erinnerung daran. Sie war jung und sorglos gewesen, und sie hatte beinahe an den Zauberspruch geglaubt. Fürwahr, aus Silber gefertigt und mit einem einzelnen Rubin in der Mitte, sah Dragonheart kostbar und magisch aus. Aber sie war jetzt viel zu alt, um solch einen Unsinn zu glauben.
Und doch schien es wie ein Wunder, dass sie es hier gefunden hatte, denn es waren drei Jahre vergangen, seit ihre Cousine Sara es besessen hatte. Drei Jahre, seit der Hexer genannt Warwick versucht hatte, es von ihr zu nehmen und daraufhin von Sir Boden Blackblade getötet worden war. Sein Rücken von Bodens Schwert durchbohrt war er in den Fluss gefallen, und Dragonheart mit ihm. Keiner von beiden war je wiedergesehen worden.
Wie seltsam, dass Shona das hübsche Amulett Meilen von der Stelle gefunden hatte, sauber und glitzernd im Sand liegend.
Es wäre so schön zu glauben, dass es eine magische Mission hatte.
„Vielleicht bist du gekommen, mir meine wahre Liebe zu finden“, murmelte sie in seine Richtung. Es sagte nichts. Sie suchte nach anderen Möglichkeiten. „Um Frieden nach Schottland zu bringen? Mir Weisheit zu schenken? Um Dun Ard Reichtum zu bescheren?“ Immer noch nichts. „Um an deiner Kette zu hängen wie ein Brocken hübsches Metall und Stein?“
Der Drache schien zu ihr heraufzulächeln. Sie blickte finster drein. Welch Närrin sie war, dieses einfache Stück Tand mit magischen Kräften erfüllen zu wollen. Die Wahrheit war, sie musste Entscheidungen treffen und Taten vollbringen, und ungeachtet von Liams geflüsterten Warnungen über die Macht des Drachens war sie auf sich allein gestellt. Denn der Ire war selten dabei erwischt worden, die Wahrheit zu sagen.
Keine Handbreite von Shonas Zehen entfernt planschte ein Fisch.
Erschrocken und überrascht riss sie ihre Füße hoch und kauerte sich dann auf die Kante des Felsens, um ins Wasser zu starren. In dem winzigen Hafen waren fünf fette Lachse gefangen, genug für einen großen Topf Suppe und Sauerampfer, das Leibgericht ihres Vaters.
Froh um die Ablenkung von ihren Gedanken krempelte Shona die Ärmel hoch, legte sich auf den Bauch und griff in den Fluss. Aber der erste Fisch schlüpfte ihr mit Leichtigkeit durch die Finger. Sie schlängelte sich vor und versuchte es erneut. Ein anderer glitt ihr rasch durch die Hände, dann noch einer und noch einer.
Schließlich war Shona enttäuscht, aber entschlossen, erhob sich und blickte sich in der idyllischen Kulisse um. Es war so still wie zuvor. Niemals in den vielen Jahren, die sie nun hierherkam, hatte sie eine andere Menschenseele hier gesehen.
Die Sonne war beinahe bis zum Horizont gesunken und warf ein leuchtend rosafarbenes Glühen auf die Welt. Das Wasser plätscherte in silbrigen Blau– und Grüntönen vorüber, und in diesem Wasser befanden sich die fünf Fische, die bestimmt waren, das Abendessen ihres Vaters zu werden.
Ohne einen weiteren Gedanken schlüpfte Shona aus ihrer ledernen Reithose. Sie hängte sie über einen Ast und stieg vom Felsvorsprung hinunter ins Wasser. Es spritze in kühlen Wellen gegen ihre Knie und Oberschenkel, plätscherten gegen den Stoff ihrer langen, umgürteten Tunika. Sie zitterte bei dem Gefühl, aber weigerte sich innezuhalten. Diese Fische neckten sie. Jeder konnte das sehen.
Sie wusste, dass Menschen sie zuweilen für etwas tollkühn hielten, sogar waghalsig. Ja, sie hatte sich, wenn sich eine Gelegenheit bot, nicht mit vollkommener Reife verhalten. Wie etwa, als ihr Vater den zotteligen, schwarzen Bullen von der Weide geholt hatte. Sie hatte einen Blick auf das Rind geworfen und mit Lord Halwarts Sohn gewettet, dass sie das Biest länger reiten könne als er.
Es hatte sich herausgestellt, dass niemand das Tier reiten konnte. Sie hatte durch ein geprelltes Hinterteil und zahlreiche Schnitte gelernt, dass schwarze Bullen nicht gerne geritten wurden. Aber woher sollte sie das wissen, wenn sie es nicht ausprobierte?
Außerdem war das hier nicht annähernd so waghalsig. Sie würde lediglich ein Abendessen fangen, und da Lederreithosen besonders festsaßen, wenn sie nass wurden, hatte sie sie ausgezogen.
Alles logisch, alles vernünftig. Sie beugte sich vor, um ins Wasser zu blicken und griff nach dem nächstschwimmenden Fisch. Er strich ihr durch die Finger und schwamm im Kreis durch den kleinen Bereich, in dem er gefangen war. Shona kundschaftete erneut und versuchte es noch einmal. Dieses Mal schoss der Lachs zwischen ihre Beine, wurde für einen Moment von ihrem Hemd gefangen, zappelte verzweifelt und schlug gegen die Innenseite ihrer Oberschenkel. Sie rang des kitzelnden Gefühls wegen nach Luft und packte gleichzeitig zu. Der Fisch kämpfte sich heraus aus dem durchtränkten Stoff und entkam in die Freiheit.
Shona fuhr wild planschend im Kreis herum und blickte finster in die Tiefe. Sie hätte ihren Bogen mitbringen sollen. Der hätte diesen närrischen Fischen gezeigt, wer hier klüger ist. Am Ende wäre es schwerlich das erste Mal gewesen, dass sie ihr Abendessen geschossen hätte. Aber sie hatte ihren Bogen nicht mitgebracht, und obwohl sie ein Messer an ihrer Taille trug, würde es ihr hier wenig bringen.
Sie konzentrierte sich eine Sekunde lang, dann griff sie erneut wild zu. Zu ihrem äußersten Erstaunen, hielt sie den Fisch in ihren Händen. Er war wunderschön, in Regenbogenfarben gestreift, die mit metallischer Brillanz in der Sonne funkelten. Aber er war ein einziger, glitschiger Muskel. Abgeneigt, aus dem Wasser heraus zu sein, wand er sich heftig. Shona kämpfte darum, ihn zu halten, aber der Fisch war schlüpfrig und ihr Stand unsicher. Der Matsch quoll durch ihre Zehen, und der Sand unter ihren Fersen gab nach, als verschwöre er sich gegen sie. Der Lachs zuckte, ihr Halt gab nach. Shona schrie, als ihr Hintern das Wasser traf und sie unter die Oberfläche glitt. Schlickiges Wasser drang in ihren Mund und ihre Nase. Sie strampelte wild und kam prustend hoch, atemlos vor Kälte, ihr Haar aus gelöschten Flammen hing ihr in zottligen Locken ins Gesicht.
Sie brauchte einen Moment um zu erkennen, dass etwas seltsam war. Sie brauchte noch länger, um zu erkennen, dass eine kleine Brasse in ihrer Tunika gefangen war.
Der Fisch war nicht größer als ihr Mittelfinger, befand sich zwischen ihrer Taille und ihrem Hemd und schlug beim Versuch, sich zu befreien, wild um sich. Shona quiekte bei dem Gefühl, tanzte im Kreis herum, um ihn heraus zu schütteln, dann steckte sie schließlich eine Hand in ihren Ausschnitt und wollte ihn packen. Aber er schlängelte sich zu ihrem Rücken und war außerhalb ihrer Reichweite. Schließlich, nachdem Shona das unheimliche Gefühl abgeschüttelt hatte, duckte sie sich wieder ins Wasser, löste ihren Gürtel und drehte den Hemdssaum um.
Die Strömung floss vorüber, zog die Brasse weg und schließlich war der Fisch befreit und fort. Shona entließ einen schweren Seufzer der Erleichterung und machte einen erschöpften Schritt Richtung Ufer.
„Habt Ihr da vielleicht auch Forellen drin?“
Shona zuckte beim Klang der Stimme zusammen, wich einen spritzenden Schritt zurück und blickte dann in Richtung des felsigen Ufers. Durch Matsch, Seetang und Haare hindurch konnte sie nur gerade so den Umriss eines Mannes auf dem zerklüfteten Felsvorsprung ausmachen.
Ihre Kinnlade klappte herunter. Lieber Gott, wie lange hatte er sie beobachtet?, fragte sie sich, aber als ihr Blick wieder klar war, stellte sie fest, dass die Augen des Eindringlings auf ihre Brüste gerichtet waren.
Shona riss sich aus ihrer Trance und wandte ihre Aufmerksamkeit der Vorderseite ihres Hemdes zu. Es klebte ihr nass auf der Haut wie die Schale eines Apfels. Ihre Nippel standen deutlich ab, selbst der dunklere Farbton war durch den Stoff zu sehen.
„Herr im Himmel“, zischte sie und warf sich die Arme vor den Oberkörper.
Der Eindringling grinste vom felsigen Ufer schief herüber. Selbst durch ihre unordentlichen Haare hindurch konnte sie sehen, dass seine Zähne im Vergleich zu seiner dunklen Haut unmenschlich weiß waren.
„Ihr kommt besser heraus und sucht nach Aalen“, sagte er. Er sprach Gälisch, aber eine Art trällernden Dialekt der alten Welt. „Sie können Schönheit gegenüber entschieden unempfänglich sein, aber sie mögen zartes Fleisch.“
Shona suchte verzweifelt nach einer geeigneten Antwort, dann wischte sie sich schließlich die Haare einen knappen Zoll aus dem Gesicht und haspelte: „Wer seid Ihr?“ Ihre Stimme klang viel höher als sie gern gewollt hätte, aber die Kälte war ihr in die Knochen gekrochen. Und um die Wahrheit zu sagen, war sie trotz ihrer … nun, recht ausgiebigen Missgeschicke in der Vergangenheit nicht daran gewöhnt, mitten in einem eisigen Bach erwischt zu werden, lediglich in eine durchtränkte Männertunika und den jämmerlichen Fetzen ihres verletzten Stolzes gekleidet.
„Man nennt mich Dugald.“
Dunkler Fremder, übersetzte sie grob, dann schob sie sich mehr Haare aus den Augen, und hoffte entgegen aller Hoffnung, dass dieser Dugald lediglich irgendeiner Reisender war, dem sie nie wieder gegenübertreten musste.
Seinen Kleidern und seinem Akzent nach zu urteilen, war er kein Highlander, denn er trug kein traditionelles Plaid. Stattdessen war er in eine gemütliche, schwarze Kniehose und ein geschlitztes, aufgebauschtes Wams gekleidet, das an den Schultern Zweifels ohne ausgestopft war. Die Tracht sah entschieden italienisch aus. Sie sah nach reichem Italiener aus. Und er trug sie wie ein Prinz, sein Haar war vollendet gepflegt, und Hochmut triefte aus jeder Pore. Dennoch hieß das nicht notwendigerweise, dass er jemand Besonderes war. Sie hatte einmal einen Mann getroffen, der wie ein Hofnarr gekleidet war. Er hatte sich als der Herzog von Argyll herausgestellt und war über ihre Vermutung nicht amüsiert gewesen.
„Nur … Dugald?“, fragte sie und gab sich erneut der Hoffnung hin, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.
Er zeigte ein etwas breiteres Grinsen, das sich von seiner dunklen Haut abhob. „Die Wahrheit ist, ich habe viele Namen. Manche nennen mich Dugald den Flinken“, sagte er. „Lady Fontagne nannte mich Dugald den Umwerfenden, aber die meisten nennen mich Dugald den Drachen.“
„Den Drachen?“, murmelte Shona. Dragonheart fühlte sich an ihrer Brust warm an.
„Aye. Wusstet Ihr nicht, dass Drachen sehr gescheit, weise … und unglaublich verführerisch sind?“ Er grinste. „Tatsächlich war es die Königin von Calmar, die mir den Namen als Erste gab, nach meiner kurzen Bekanntschaft mit–“
„Die Königin?“, flüsterte sie verzweifelt.
„Aye.“ Er blickte sie vom Felsvorsprung aus an, als frage er sich, ob sie irgendeine Wahnsinnige wäre, die aus einem Irrenhaus geflohen war. Seine Augen waren von seltsamem, eisigem Blau, und sie waren sehr leicht nach oben gebogen. „Ich hörte, es gebe in Dun Ard eine sinnliche Frau mit Haaren wie Flammen, die für die Ehe bereit ist. Ich bin gekommen, um eine wohlhabende Braut für mich zu gewinnen. Und wer mögt Ihr wohl sein, Mädel?“
Lieber Gott, er war ein Edelmann, ein früher Gast, der darauf aus war, sie kennenzulernen, und da stand sie, bis zu den Knien im Matsch. Er würde sie für eine wildhaarige Dirne halten, die Nettigkeiten austauschte als wäre sie für den Michaelistag prächtig gekleidet.
Zum Teufel, ihr Vater würde sie umbringen. Aber … gemach, dieser Dugald konnte nicht wissen, ob sie eine Milchmaid oder Marquess war, und wenn sie auch nur die Schlagfertigkeit einer Idiotin hatte, würde sie dafür sorgen, dass das so blieb.
„Euer Name?“, fragte er erneut, als habe sie es vergessen.
Sie hielt einen Moment lang inne, dachte über ihre Aussprache nach, die nach ihren Monaten bei Hofe abscheulich verfeinert war. Aber nach einem Moment fand sie einen geeignet derben Akzent und sagte: „Mein Name spielt für jemand so Edles wie Euch keine Rolle.“
„Ich wurde selten beschuldigt, nobel zu sein“, sagte er. „Aber wieso kommt Ihr nicht dennoch heraus? Ich könnte Euch dabei helfen, weitere unerwünschte Fische loszuwerden.“
„Ich versichere Euch, ich brauche Eure Hilfe nicht.“
„Vergebt mir, das zu sagen, aber ich bin anderer Meinung. Ich habe effizientere Arten zu angeln gesehen. Obwohl keine davon so interessant war.“ Sein Lächeln zog sich ihm wieder durchs Gesicht, unmenschlich weiß und so schelmisch wie das eines Satyrs. „Kommt heraus, Maid. Ich helfe Euch beim Aufwärmen.“
Wenn Fische fliegen könnten, dachte sie, und sann über ihre Fluchtmöglichkeiten nach.
„Es gibt keinen Grund, schüchtern zu sein, das versichere ich Euch. Ich bin recht harmlos.“
Schüchtern. Das war eine Charaktereigenschaft, derer sie selten beschuldigt worden war. Aber sie war genauso wenig naiv, und wenn dieser Bursche harmlos war, war sie eine braune Drossel, komplett mit Schnabel und Stoppelfedern.
Ihr Zögern schien ihn zu amüsieren. Er kicherte sanft. Es klang tief und fuhr ihr seltsam durch die Eingeweide. Sie musste hungrig sein.
„Kommt herauf, Mädel“, sagte er, seine Stimme noch sanfter, während er von dem zerklüfteten Felsvorsprung auf sie herabblickte. „Ich bringe Euch nach Hause.“
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit nach links und betrachtete zweifelnd seine Pferde. Eins trug ein großes Bündel, das andere seinen Sattel. Keins davon würde sie tragen, schwor sie.
„Es gibt keinen Grund zur Sorge“, sagte er und streckte eine Hand aus. „Ich versichere Euch, Eagle hat genauso wenig wie ich vor, Euch ein Leid zuzufügen.“
Eagle. Das war ein seltsam prachtvoller Name für einen Hengst, dachte Shona. Obwohl das Ross eine Widerristhöhe von siebzehn Handbreit und Schienbeinknochen so dick wie Baumstämme hatte, war es ohne Zweifel das hässlichste Tier, das sie je gesehen hatte. Das halbe rechte Ohr fehlte. Es hatte die Farbe zertrampelten Staubs, und seine Schnauze, die groß war wie ein Rammbock, beugte sich in der Mitte dramatisch vorwärts. Es schien tatsächlich seltsam unvereinbar mit der sorgfältigen, vornehmen Art seines Herrn.
Sie brachte sich mit einem Ruck in die Unterhaltung zurück. „Ich weiß nichts von Pferden, aber er sieht recht furchteinflößend aus“, sagte sie und erkannte, dass sie zu lange still gewesen war.
„Ihr habt keinen Grund zur Sorge. Eagle hat eine Schwäche für Jungfrauen in Nöten. Dann kommt. Er wird Euer zierliches Gewicht auf seinem Rücken nicht einmal bemerken.“
„Oh, nay. Ich kann nicht. Ich finde meinen eigenen Weg nach Hause.“
„Ihr lebt also in der Nähe?“
Sie antwortete nicht und hoffte, ihre Verschwiegenheit ließ es so wirken, als wäre sie zu überwältigt von seiner männlichen und noblen Gegenwart, als dass sie sprechen könnte
„Vielleicht seid Ihr eine Dienstmagd im nahegelegenen Schloss?“
Sie schüttelte ihren Kopf rasch, wodurch ihr Haar ihr wieder über die Augen fiel.
„Wo dann?“
„Das darf ich nicht sagen“, murmelte sie und versuchte schwächlich zu klingen. „Meinem Vater würde es nicht gefallen.“
„Ihr seid nicht verheiratet?“
Sie schüttelte den Kopf und blieb still. Ihre Stimme war für eine Frau ziemlich tief und recht charakteristisch; sie hatte nicht den Wunsch, ihm zu helfen, sie später zu identifizieren, sollten sie sich wiedersehen.
„Ich bin sicher, Euer Vater wäre ungehaltener, wenn Euch der Tod ereilt, ehe Ihr nach Hause zurückkehrt. Kommt hierher.“
Sie tat es nicht.
„Ich habe eine Decke in meiner Satteltasche. Ich könnte Euch darin einwickeln.“ Wieder dieses Lächeln, entwaffnend und doch irgendwie dekadent, als ob er in ähnlichen Umständen Tausend solcher Angebote gemacht hatte. „Es wäre keine Mühe, Euch warm zu halten, bis Ihr die Feuerstelle Eures Vaters erreicht.“
Und würde ihm eine Möglichkeit geben, ihr Gesicht zu sehen – und viel mehr. Unwahrscheinlich.
„Bitte, guter Herr“, sagte sie mit aller gebotenen Milde. „Könnt Ihr mich nicht einfach in Frieden lassen? Ich habe nicht die Absicht, mich noch weiter zu beschämen.“
Es dauerte einen Moment, bis er antwortete, dann sagte er: „Ich habe bisher nichts gesehen, für das Ihr Euch schämen müsstet, Mädel“, sagte er. Ihr fiel auf, dass seine Stimme jetzt etwas heiser klang. „Kommt heraus. Ich werde Euch nicht wehtun. Ihr habt mein Wort.“
Das Wort eines Halunken. Wäre auch nur ein Funken Ehrenmann in ihm, würde er gehen und sie alleine lassen. Oder noch besser, er hätte so getan, als habe er sie nicht gesehen, wie sie einer verrückt gewordenen Todesfee gleich im Wasser herumplanschte.
Es war schlimm genug, dass sie durchnässt war. Sie würde nicht vor diesem Halunken sitzend nach Dun Ard zurückkehren, während ihr die Tunika an der Brust klebte wie frische Butter auf einem Milchbrötchen und ihre Beine so nackt waren wie das Hinterteil eines Kleinkindes. Wenn ihr Vater davon erfuhr, war es wahrscheinlich, dass er sie mit dem erstbesten haarigen Rüpel verheiratete, der es fertigbrachte, seinen eigenen Namen richtig auszusprechen.
Sie blickte sich rasch um. Wohin zum Teufel war Teine verschwunden? Die Stute würde kommen, wenn sie pfiff. Aber das spielte schwerlich eine Rolle, wurde ihr bewusst, denn sie konnte diesen Mann nicht wissen lassen, dass sie auf ihrem eigenen Pferd hergekommen war. Das würde ihm gewiss einen Hinweis auf ihre Identität geben.
Sie konnte aber auch genauso wenig hier stehen wie ein Dummkopf und darauf warten, dass ihre Knie schrumpelig wurden. Sie räusperte sich und sprach ein kurzes Gebet zur Heiligen Dympna, der Schutzpatronin tobender Verrückter.
„Wenn ich herauskäme … würdet Ihr versprechen, mich nicht zu …“ Sie ließ ihre Schultern herabsacken und hoffte, klein und unsicher auszusehen. „Zu übervorteilen?“
Er versuchte, verletzt auszusehen. Tatsächlich sah er eher aus wie der Teufel auf einer Sauftour. „Erscheine ich Euch so?“
Absolut, dachte sie, sagte es aber nicht.
Er lachte nichtsdestoweniger, als ob er ihre Gedanken lesen könne. „Ihr seid ein gescheites Mädel“, sagte er. „Ich tue nichts, um das Ihr nicht mit Euren eigenen Lippen bittet.“
Herr im Himmel, dieser Mann war eine nicht enden wollende Folge unanständiger Anspielungen, von der jede eine lächerlich überhöhte Meinung von sich selbst nahelegte. Doch es würde nicht viel bringen, ihn jetzt zurechtzuweisen. Stattdessen biss sie sich auf die Unterlippe und blinzelte unschuldig.
„Nun gut“, sagte sie, lief platschend durch das Wasser, umklammerte noch immer ihre Brust und war sich schmerzlich über jedes Bisschen Schenkel bewusst, das zu sehen war, während sie dem zerklüfteten Felsvorsprung unter seinen Füßen immer näherkam.
Schließlich waren sie nur einige Zoll voneinander entfernt, obwohl er gute anderthalb Fuß höher stand. Er hockte sich hin, bot seine Hand an und einen besseren Blick in sein Gesicht.
Sie konnte seine Hand ablehnen und selbst ans Ufer gelangen, aber das würde einiges Klettern erfordern und ihm so einen Blick auf Dinge eröffnen, die besser ungesehen blieben. Oder sie könnte seine Hilfe annehmen – in diesem Fall musste sie die Arme von ihrer Brust nehmen, was ihm wiederum einen Blick auf Dinge ermöglichen würde, die besser ungesehen blieben. Verdammt!
Sein Lächeln wurde breiter, als ob er ihre Gedanken teilte, und in diesem Moment traf sie eine Entscheidung. Sie entfaltete ihre Arme und bot ihm ihre Hand an.
Einen Moment lang blieb er, wie er war, an Ort und Stelle erstarrt, seine Aufmerksamkeit auf ihre Brust gerichtet. „Keine Aale“, sagte er leise und streckte eine Hand aus, um nach ihren Fingern zu greifen.
Ihre Blicke trafen sich.
„Aber etwas viel Besseres“, fügte er mit heiserer Stimme hinzu.
Sie machte keinen Versuch, ihr Erröten zu unterbinden, aber selbst als die heiße Farbe ihr Gesicht durchflutete, stemmte sie ihre Füße gegen den Felsen und zog mit all ihrer Kraft.
Selbst wenn sie hundert Jahre alt werden würde, würde sie den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht vergessen. Einen Augenblick lang war da selbstgefällige Genugtuung, und dann, als ob er von einem Blitz getroffen wurde, weiteten sich seine silbrigen Augen. Er taumelte einen Moment lang auf der Kante, versuchte hoffnungslos, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen und schlingerte schließlich an ihr vorbei, mit dem Kopf voran ins Wasser.
Shona konnte nicht anders als zu lachen. Aber einen Moment später berührte seine Hand ihren Arm.
Sie schrie, sprang Richtung Ufer und zog sich auf die Felsen. Beinahe nackt war sie schnell und leicht.
Von seinen modischen, schweren Kleidern herabgezogen, war er langsamer. Aber dennoch streiften seine Finger ihre Ferse. Sie zog ihr Bein ruckartig weg und sprang verzweifelt an Land. Ein Blick hinter sich sagte ihr, dass sie ihn in einem Wettlauf nicht besiegen würde.
Sie hatte keine Optionen, versicherte sie sich selbst. Sie sprang vorwärts, packte die herabhängenden Zügel des Hengstes, schwang sich in den Satteln und wendete das Ross.
Shona hörte Dugalds scharfes Fluchen nur wenige Zoll hinter sich, wagte aber nicht zu warten, um die Sünde der Blasphemie mit ihm zu debattieren. Sie trat dem Hengst in die Seiten und schob ihn in den Wald und fort von hier, und während sie ritt, pfiff sie.
Bäume rauschten vorüber. Von rechts eilte Teine auf sie zu, rannte voran mit gesenktem Kopf und flatternden Zügeln.
Einige Minuten später ließ Shona den Hengst anhalten. Sie stieg ab, fing die Stute und ließ den Hengst frei. Er weigerte sich zu gehen. Sie blickte ihn finster an und versuchte, ihn fort zu scheuchen. Er legte ihr lediglich seinen übergroßen Kopf auf die Schulter und blies ihr warme Luft ins Ohr.
Schließlich war Shona frustriert und ungeduldig, schlang einen Zügel lose um einen Ast, fütterte ihm einige ausgesuchte Stängel und eilte davon.
Dugald der Depp würde sein Pferd bald genug finden. Bis dahin konnte er sich darüber freuen, dass sie ihn überlistet hatte. Sie erlaubte sich den Anflug eines Lächelns.
Dann bemerkte sie, dass sie ihre Reithose vergessen hatte.
Kapitel 2
Die Halle war voll von Feiernden. In den vergangenen Tagen waren immer mehr Gäste angekommen und besetzten jetzt jeden verfügbaren Platz, während sie Holzteller und Kelche teilten. Jede Maid trug ihre feinsten Gewänder, jeder Lord war bis zur Perfektion herausgeputzt.
Auf dem dunklen Holz über dem riesigen, steinernen Kamin war zwischen zwei gekreuzten Speeren das Wappen der MacGowans angebracht. Es war ein Zeichen für Macht und Tradition, aber heute war die Macht vergessen, weil Freude im Mittelpunkt stand.
Der Blick von Roderic dem Schelm überflog die Gesichter der anwesenden Männer und bewertete sie rasch – zu alt, zu schwach, zu hartherzig, zu großspurig. Er hakte ihre Mängel still in Gedanken ab. Wie sollte er je jemanden für Shona finden? Oder eher: Wie sollte ein Mann je die Ehe mit der einzigen Tochter der Flamme überleben?
Seine Aufmerksamkeit eilte weiter und kehrte dann zu einem Mann zurück, der mit dem Rücken zur Wand saß. Roderic war nicht sicher, warum er seine Aufmerksamkeit erregte. Der Mann war nicht sonderlich beeindruckend was Größe oder Masse betraf. Er hatte dunkle Haut und Haare, trug eine schwarze Tunika und starrte Shona an. Ein typischer Schotte. Und doch war etwas an ihm anders. Dem Fremden fiel Roderics Beachtung auf, er wandte seinen Blick zum Schelm, nickte einmal und wandte seinen Blick sanft zu Shona zurück.
„Tochter“, sagte Roderic.
Beim Klang seiner Stimme zuckte sie neben ihm zusammen. „Was?“
Er hob die Brauen. „Stimmt etwas nicht?“
„Nay, alles wunderbar“, sagte sie. „Wieso fragst du?“
Er blickte finster drein. Was zum Teufel stimmte nicht mit ihr? Wahrlich, in diesen Zeiten politischer Unruhe war es weise, eine Zusammenkunft in Dun Ard abzuhalten, aber er fürchtete, dass sein Hauptanliegen sowohl der Welt als auch Shona schmerzhaft bewusst war. Er hatte alle Verehrer hier versammelt, die am ehesten in Frage kamen, um einen Ehemann für sie zu finden. Und das würde keine leichte Aufgabe werden, denn trotz ihrer schönen Gestalt und ihres engelsgleich guten Aussehens brachte sie Ärger. Und je unschuldiger ihr Aussehen, umso mehr Ärger folgte gewiss auf dem Fuße.
Gott steh ihm bei. Er holte tief Luft und betete für die Sicherheit seines Clans und von ganz Schottland.
„Hör zu, Mädel“, sagte er. „Die Wahrheit ist, ich will gar nicht erst wissen, was du getan hast, dass du so unruhig bist. Ich möchte lediglich wissen, wer dieser Mann ist.“
Ihm fiel auf, dass ihre Augen an diesem Abend besonders groß aussahen, und sehr grün, genau wie die ihrer Mutter. „Welcher Mann?“
Ihre Augen waren ausdrucksstark bis aufs Äußerste, und so waren sie seine Schwäche, und sie wusste es wohl, also blickte er finster drein, um sicherzustellen, dass sie nicht dachte, sie würde ihn mit ihrer falschen Unschuld zum Narren halten.
„Der Mann, der dich anstarrt“, sagte er.
Sie lachte, aber es klang schrill und kichernd. Shona kicherte nicht. „Nun, Vater. Ich sollte hoffen, dass es in diesem Aufgebot mehr als einen Mann gibt, der mich anstarrt. Andernfalls fürchte ich, dass deine Pläne misslungen sind.“
Er verfinsterte seinen Blick, obwohl er bereits spürte, wie er schwach wurde. Flanna hatte mehr als einmal gesagt, dass ihre Tochter mit ihm spielte wie auf einer Harfe mit Messingsaiten.
Sie lächelte. Die Halle wurde heller. Roderic versuchte, das bittersüße Anschwellen von Nostalgie zu unterbinden, das er bei diesem Lächeln verspürte, denn in seinem Herzen wusste er, dass es zu nichts Gutem führen würde. Selbst als sie ein Kind mit Zahnlücken war, hatte dieses Lächeln Ärger bedeutet. Er griff unter den Tisch, um die Hand seiner Frau zu ergreifen. Flanna, bekannt als die Flamme, saß zu seiner Rechten, und obwohl sie sich mit den Gästen rechts von ihr unterhielt, gab ihm allein die Berührung ihrer Finger ein sanftes, brennendes Gefühl der Genugtuung.
„Darf ich wagen zu fragen, von welchen Plänen du sprichst?“, fragte Roderic.
„Es heißt, dass Roderic der Schelm alles wagt“, sagte Shona, deren Lächeln Grübchen erzeugte.
Schmeichelei. Es war die rasche Verteidigung einer gescheiten Frau, dachte er, aber er zwang seine Gedanken zurück zur vorliegenden Angelegenheit. „Was denkst du waren unsere Gründe für diese Zusammenkunft?“, fragte er.
„Mich zu verheiraten.“
Er lachte. „Vielleicht hältst du dich für zu wichtig. Könnte es nicht sein, dass diese Festivitäten nichts mit dir zu tun haben, wenn ganz Schottland in Aufruhr ist?“
Sie blickte sich in der Versammlung um, dann wandte sie den Blick wieder zurück zu ihm. „Es scheint eine übertrieben große Zahl unverheirateter Edelmänner hier zu sein.“
„Kann ich etwas dafür, wenn junge, heiratswürdige Männer Teil des Andrangs sind?“, fragte er. „Vielleicht haben sie gehört, dass es eine Maid mit flammenden Haaren gibt, die eine starke Hand braucht, und sie sind gekommen, um herauszufinden, ob sie der Aufgabe gewachsen sind.“
Sie öffnete ihren Mund, als wolle sie seiner Anschuldigung widersprechen, aber als sie aufblickte, sprach er schon wieder.
„Er starrt dich immer noch an, Shona. Du musst wissen, wer er ist.“
„Nay.“ Sie schüttelte den Kopf, wie um es zu betonen, aber Roderic konnte nicht anders als zu bemerken, dass sie nicht hinsah, um herausfinden, wen er meinte.
„Ist das nicht der Bursche, der sein Pferd verloren hat?“, fragte Flanna und lehnte sich an den Arm ihres Gatten, um an der Unterhaltung teilzunehmen.
„Sein Pferd?“, fragte Shona und klang überrascht.
Roderic wandte seinen Blick von den geweiteten Augen seiner Tochter zu denen seiner Frau. Die Ähnlichkeit erschütterte ihn nach wie vor.
„Ist er der Mann, von dem Bullock sprach?“, fragte Roderic.
„Er sagte, ein Mann kam gestern Morgen zum Tor und erkundigte sich, ob jemand einen umherlaufenden Hengst gesehen habe.“
„Einen Hengst?“ Shonas überrascht klingende Stimme war ein schlechtes Zeichen, denn in Wahrheit wusste sie alles, was in Dun Ard passierte, von der Geburt jedes neuen Lämmchens bis zum Liebeswerben jeder Maid.
„Aye.“ Flanna presste ihre Brust gegen Roderics Arm, um ihrer Tochter in die Augen zu sehen. „Ich habe ihn gerade erst heute Morgen gesehen. Er ist ein feines Exemplar.“
Roderic wandte sich zu seiner Frau und spürte, wie sich seine Augenbrauen bis zum Haaransatz hoben. „Beziehst du dich auf das Pferd oder den Mann, Frau?“
Flanna blinzelte und legte einen Ausdruck vollkommener Unschuld auf. Das Furchteinflößende war, dass er vermuten musste, sie habe das von ihrer Tochter gelernt, denn die Flamme der MacGowans hatte für gewöhnlich wenig Verwendung für Koketterie. Gott steh ihm bei.
„Auf den Hengst natürlich“, sagte sie. Aber Shona hatte den Hengst gesehen; er war so ansehnlich wie Matsch. „Wobei, die Augen des Mannes sind recht fesselnd. Beinahe mandelförmig. Wie war noch gleich sein Name, Shona?“
„Ich glaube nicht, dass du mich ihm vorgestellt hast“, sagte Shona und zwang sich dazu, nicht auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Es war bestenfalls eine Halbwahrheit, denn sie wusste, wer er war. Sein Name war Dugald, und er war ein aufgeblasener Knilch. Aber sie konnte sich schwerlich erlauben, das ihrer Mutter zu erzählen, denn sie würde gewiss fragen, wie sie sich kennengelernt hatten, und diese Geschichte ließ sie in schlechtem Licht erscheinen. „Aber wenn du ihn nicht kennst, wieso ist er zur Zusammenkunft gekommen?“, fragte Shona, dann rang sie sanft nach Luft und wich zurück, als wäre sie von einem schrecklichen Gedanken heimgesucht worden. „Vielleicht ist er ein Spion und sollte aus unserer Mitte entfernt werden.“
Es war falsch, das zu sagen. Shona konnte die intensiveren Blicke ihrer Eltern auf sich spüren, aber verdammt, warum musste der elende Dugald sie auch so ausdauernd anstarren? In den vergangenen Tagen war sie mehr Männern vorgestellt worden als Flöhe in einem Kissen lebten, und jeder von ihnen hatte genug Manieren, sie nicht unverhohlen anzustarren. Es stimmte zwar, dass Standford die Angewohnheit hatte, sie mit großen, verträumten Augen anzusehen, und Hadwin sie oft anlächelte, und es gab ein Dutzend andere, die ihr folgten, wenn sie die Halle verließ. Aber Dugald der Dumme war der einzige ohne die Höflichkeit, zur Seite zu blicken, wenn sie in seine Richtung sah.
Was stimmte mit ihm nicht? War er stets so unhöflich oder sah er – Gott bewahre! – eine Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem bösen Zwilling, der ihn in den Bach geworfen hatte? Aber nein. Er konnte nicht wissen, dass sie diejenige war, die er in solcher Unordnung vorgefunden hatte. Er konnte nicht. Sie war halb bekleidet, triefend nass und hinter Haar verborgen gewesen.
„Ihn aus unserer Mitte entfernen?“, fragte die Flamme.
„Nun …“ Shona räusperte sich. „Wenn du ihn nicht kennst …“
„Ich kenne die Hälfte der Leute hier nicht“, sagte Flanna. „So ist das bei Festivitäten.“
„Vielleicht ist er einer aus dem Andrang, der gehört hat, dass du eine starke Hand brauchst“, legte ihr Vater nahe.
„Ich?“ Shona versuchte verletzt zu klingen, aber sie fürchtete, dass ihr unschuldiges Spiel an Qualität verlor. Ohne Anstrengung konnte sie sich daran erinnern, wie ihre Nippel durch den triefnassen Stoff ihrer geborgten Tunika geschienen hatten, und sie fürchtete, dass die Träume der vergangenen Nacht nicht gerade fromm gewesen waren. Dennoch, wenn sie nicht wollte, dass ihr Vater sie an den erstbesten alten Kauz verheiratete, der „Ich will“ krächzen konnte, musste sie ihre Darbietung verbessern. „Seit meiner Rückkehr aus Blackburn Castle war ich der Inbegriff feiner Manieren, Vater.“
„Hm“, antwortete er. Das war kein gutes Zeichen. Ihr Vater war im Allgemeinen absolut geschwätzig. Und sie hatte ihm außerdem ihr bestes Lächeln geschenkt, sogar die Sache mit den großen Augen hinzugefügt, aber er wurde dennoch nicht weich.
Sie fuhr eilig fort. „Schließlich ist es meine Pflicht, mich um Kelvin zu kümmern, immerhin habe ich ihn allein und hilflos in den Straßen von Edinburgh gefunden.“
„Ah.“ Roderic nickte und blickte in Richtung des Straßenbengels, der auf der anderen Seite des Tisches saß. Shona wünschte sich nur, dass der Bursche etwas tragischer aussähe. Aber ihr ältester Bruder Ramsay erfreute den jungen Kelvin mit einer Geschichte, die, wenn sie Glück hatten, einen Funken Wahrheit enthielt. Kelvins Ausdruck war beinahe das, was man ernste Erhabenheit nennen mochte. Unfug und Chaos trafen es besser.
„Du hast also vor, dem Heimatlosen gegenüber ein gutes Beispiel abzugeben?“, fragte Roderic.
„Oh, aye“, sagte Shona, und hoffte, der Junge würde jetzt niemandem einen Streich spielen. „Ich weiß, der Knabe ist zuweilen ein wenig zu ausgelassen, aber ich bin sicher, dass er mit etwas düsterem Einfluss zu einem guten, verantwortungsvollen Mann heranwächst.“
Ihr Vater beobachtete sie viel zu genau. Und wenn sie auch nicht sicher sein konnte, glaubte sie, dass auch dieser abscheuliche Dugald–Kerl sie immer noch anstarrte.
„Nur damit ich dich verstehe, Shona, hast du vor, dieser düstere Einfluss zu sein?“
Sie senkte den Blick. Ihre Wangen fühlten sich warm an, und obwohl sie ihre Finger nicht gänzlich davon abhalten konnte, an ihrem Kelch herumzuspielen, hoffte sie, dass sie einen Ausdruck unterwürfiger Aufrichtigkeit hinbekam. „Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit zuweilen nicht ganz … vernünftig gewesen bin, Vater. Aber ich bin nicht länger ein Kind. Tatsache ist, ich bin fast zwanzig Jahre alt. Vielleicht hat Gott Kelvin einzig aus dem Grund gesandt, mir Reife und Selbstkontrolle beizubringen.“
„Selbstkontrolle?“
Sie schwang ihren Blick zu ihrem Vater und hoffte entgegen jeder Hoffnung, dass sie kein Lachen in seiner Stimme gehört hatte. Aber obwohl seine Augen leuchteten und ihn kaum älter aussehen ließen als Kelvin, bildeten seine Lippen eine feste Linie. Sie hielt den Atem an. „Du musst zugeben, dass ich mich seit meiner Rückkehr nach Dun Ard vortrefflich benommen habe, Vater.“
„Aye.“ Er nickte. „Deine Mutter bemerkte gerade, wie verantwortungsvoll du in letzter Zeit warst.“
Sie gewährte ihm ein Lächeln, atmete ein geräuschloses, erleichtertes Seufzen und entschied, ihm einen Knochen hinzuwerfen. „Es war gewiss, dass ich gut heranreifen würde, mit zwei so ausgezeichneten Eltern.“
Sie dachte, sie habe gesehen, wie sich seine Brust etwas schwellte, dann lächelte er das Lächeln, das immer noch jede Maid von Copenhagen bis London in Verzückung geraten ließ. „Aye, wir haben unsere Sache gut gemacht. Dennoch sorge ich mich …“, sagte er und hielt inne.
„Sorgen?“ Sie berührte seinen Arm. Sie war in ihrem Element. Männer zu manipulieren war ein gottgegebenes Geschenk. „Worum denn?“
Er lehnte sich näher. „Weil ich mich frage, wie deine Reithose dazu kam, an der Zugbrücke zu hängen.“
„Meine …“ Sie spürte, wie ihre Haut kalt wurde und ihr Gesicht alle Farbe verlor. „Meine Reithose?“
„Aye“, sagte er und trank einen Schluck Wein.
„Was lässt dich glauben, dass es meine ist? Vor allem, wie um alles in der Welt ist meine Reithose zum Bach gekommen?“
„Zum Bach?“, fragte er und ließ seinen Blick zu ihr schnellen.
„Zur Brücke! Ich meinte die Brücke.“
Sein Blick war so stechend wie der eines Falken. „Du scheinst heute Abend seltsam verwirrt zu sein, Tochter. Fühlst du dich wohl?“
„Aye. Wohl. Ich, also … Ich weiß nur nicht, wieso du dachtest, dass die Reithose meine sei. Warum sollte ich sie dort lassen? Das ergäbe keinen Sinn.“ Sie weitete ihre Augen und versuchte eine neue List. „Ist Liam angekommen? Denkst du vielleicht, dass einer seiner Zaubertricks schiefgegangen ist und meine Reithose irgendwie hinfort getragen wurde?“
Roderic trank einen Schluck Wein. Shona bemerkte mit immenser Dankbarkeit, dass ihre Mutter damit beschäftigt war, wieder mit dem Mann zu ihrer Rechten zu sprechen, aber einen Augenblick später wandte Roderic ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu.
„Tatsächlich ist Liam noch nicht eingetroffen. Bullock war am Tor, als du vor zwei Tagen von deinem Ritt zurückkamst. Er hat sich nach deinem Wohlergehen erkundigt.“
„Mein Wohlergehen?“, fragte sie. Bullock hatte schon lange Freude daran, sie zu quälen.
„Aye, er schien es wohl seltsam zu finden, dass du an so einem schönen Tag in eine Decke gewickelt nach Dun Ard zurückkamst.“
Sie räusperte sich. Sie war nicht von Natur aus eine Lügnerin, aber die Wahrheit zu dehnen war eine weitere ihrer gottgegebenen Fähigkeiten. Sie hoffte, sie würde sie jetzt weise einsetzen. Wenn ihre Reithose, dort wo sie sie aufgehängt hatte, am Bach zurückgeblieben und nicht zur Zugbrücke gebracht worden war, musste sie die Wahrheit gar nicht dehnen. Zur Hölle mit diesem Dugald.
Sie hatte Glück gehabt, denn als sie ihre fehlende Kleidung bemerkt hatte, war sie zu Dugalds Hengst zurückgekehrt und hatte in einer Tasche eine unscheinbare Decke und eine Menge nicht zu identifizierenden Krimskrams gefunden. Sie hätte gerne darin herumgeschnüffelt, aber sie hatte am ganzen Körper Gänsehaut bekommen, also war sie auf ihre Stute gestiegen, hatte sich sorgfältig in die Decke gewickelt und war nach Hause geeilt.
Niemand hätte etwas mitbekommen sollen. Aber trotz ihrer gescheiten Planung musste sie sich jetzt eine Ausrede für dieses neue Schlamassel einfallen lassen.
„Hör zu, Vater, ich kann es erklären“, setzte sie an. Genau dann erregte eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit und sie drehte sich rasch zur Seite. „Laird Halwart“, rief sie aus, ehrlich begeistert vom Eintreffen des pummeligen Lords. „Ich bin so froh, Euch zu sehen.“
Der junge Mann, der sich über ihrer Hand verbeugte, war nicht viel größer als sie. Er hatte ein etwas rotes Gesicht, entweder vom Ale oder von der Wärme in der Halle, und seit dem Tod seines Vaters und seiner eigenen darauffolgenden Ernennung zum Lord schien er etwas eingebildet geworden zu sein. Aber alles in allem war er ein netter Kerl, und einer, den sie seit vielen Jahren kannte. Tatsächlich kamen ihr rasch schwarze Bullen und schmerzende Hinterteile ins Gedächtnis.
„Lady Shona.“ Er küsste ihre Knöchel und verweilte vernarrt über ihrer Hand. „Eure Schönheit fordert das Leuchten der Sonne heraus.“
Oh Gott, nicht der Spruch mit der Sonne, dachte Shona. Aber sie strahlte ihn nichtsdestoweniger an.
„Vater“, sagte sie, „du erinnerst dich sicher an Laird Halwart.“
„Aye. Ich erinnere mich an schwarze Bullen“, murmelte er.
„Schwarze Bullen?“ Sie versuchte, verwirrt auszusehen.
„Mein Laird“, sagte Gilmour Halwart, der der Erwähnung seiner jugendlichen Narretei wegen peinlich berührt aussah. „Vergebt mir, dass ich zugelassen habe, dass Eure Tochter diese Bestie ritt.“
„Entschuldigung angenommen“, sagte Roderic, dann hob er seinen Kelch und murmelte hinein: „Bessere Männer als Ihr haben versucht, ihr Dinge zu verbieten.“
Shona war sicher, dass sie sich verhört hatte und starrte ihren Vater ungläubig an. Roderic mochte der Schelm sein, aber er war ein gezähmter Schelm, und für gewöhnlich ein einwandfreier Gastgeber.
Halwart hingegen schien Roderics Stichelei nicht mitbekommen zu haben. „Und mein Dank für solch ein vortreffliches Fest“, sagte er.
Roderic grunzte beinahe.
„Und my Lady“, fuhr Halwart fort und wandte seine Aufmerksamkeit der Flamme zu. „Eure Tochter verkörpert Eure Schönheit.“
Shona wusste nicht, was das bedeutete, aber sie hatte nicht die Absicht, ihrer Mutter zu erlauben, geradeheraus zu hinterfragen, was er gemeint hatte, und sie war zu verzweifelt, um nicht seine Worte zu gebrauchen.
„Laird Gilmour, Ihr schmeichelt mir.“
„Nay. Nay, fürwahr.“ Er drückte ihre Hand mit offenkundiger Ernsthaftigkeit, doch was er ernst meinte, darüber war sie gänzlich unsicher. „Die Highlands waren ohne Euch nicht dasselbe.“
Sie versuchte zu erröten. „Ich wette, dass habt Ihr bereits zu hundert Mädels gesagt.“
„Nay, so ist es nicht. Es gibt keine andere mit Eurem …“ Einen Augenblick lang sank sein Blick auf ihr Dekolleté. Shona vermutete, dass es ihre eigene Schuld war, dass die Augäpfel der Männer immer wieder auf ihr Mieder blickten. Schließlich trug sie es bedeutend zu tief. Aber die Schneiderin hatte ihr versichert, dass die, die wenig haben, es zum besten Vorteil zeigen müssten. Sie bemerkte jetzt, dass sie nicht ansatzweise beleidigt genug gewesen war. „… Wagemut“, beendete Halwart schließlich den Satz. „Es gibt keine andere mit Eurem Wagemut. Erfreut Ihr Euch nach wie vor an einem guten Rummel?“
„Einem Rummel?“, schnaubte Roderic und hob die Lippen von seinem Getränk.
Halwart zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. „Ich meinte Bummel, einen Rundgang, einen Spaziergang. Nicht mehr!“
„Oh. Natürlich“, sagte Roderic, und obwohl er seinen Ausdruck verbarg, glaubte Shona, dass sie ihn in seinen Kelch lächeln sah.
Halwart räusperte sich und zog Shonas Aufmerksamkeit zurück in sein rotes Gesicht.
„Oh, aye“, sagte Shona. „Ich mag Spaziergänge.“
„Würdet Ihr mich dann in den Garten begleiten? Die Rosskastanien stehen in voller Blüte.“
Er hielt noch immer ihre Hand, und es gefiel ihr nicht besonders, wie er ausdauernd darauf atmete. Er war als Junge unterhaltsam gewesen, aber damals war er recht klein und schlaksig gewesen und sie konnte sich stets sicher sein, dass sie ihn umstoßen und ihm die Ohren langziehen konnte, wenn es nötig war. Jetzt war sie sich nicht so sicher. Dennoch, ein Blick zu ihrem Vater warnte sie, diese Unterhaltung zu beenden, und ein weiterer Blick zur gegenüberliegenden Wand bestätigte ihre Vermutung, dass Dugald der Ablenkende sie immer noch mit diesen gespenstisch silbrigen Augen anstarrte.
„Ein Spaziergang im Garten wäre wundervoll.“ Sie erhob sich geschmeidig.
„Tochter“, sagte Roderic sanft, dann bewegte er sich, um sie näher zu sich zu ziehen. „Ich wünsche nicht, dass heute Nacht in Dun Ard Blut vergossen wird.“
Sie zog sich lediglich ein kleines Stück zurück, als wäre sie beleidigt. „Ich hoffe, du meinst nicht, ich könnte irgendeine Art Ärger verursachen.“
Der Schelm schnaubte leise, aber sie glaubte zu sehen, wie sich seine Lippen zum Anflug eines Lächelns verbogen. „Gib acht, Mädel“, warnte er und versuchte streng auszusehen, „und geh nicht weiter als bis zum Garten.“
„Du hast mein Wort als Dame von Stand und deine Tochter“, sagte sie, erhob sich zu ihrer majestätischen Größe und ergriff vornehm Halwarts Arm.
Ihre Beherrschung hielt nicht länger als ein paar Sekunden, denn als sie das Ende des Tisches passierte, war sie sicher, dass sie sah, wie Dugalds Lippen sich zur leichtesten Andeutung eines Lächelns hoben.
Sie wandte sich rasch ab, ihre Hand lag zierlich auf Gilmours Arm.
Draußen fühlte sich die Luft auf ihrem Gesicht frisch an. Die Gärten waren mit Laternen beleuchtet, die am Ende von langen, in der Erde steckenden Pfählen befestigt waren. Das Licht tanzte sanft und erleuchtete die zerbrechliche Schönheit des Orts. Während sie die gewundenen Pfade entlanggingen, stiegen Shona die Düfte des Frühlings in die Nase, der süße Geruch von Quittenblüten, die unverwechselbare Mischung aus Fenchel und reichhaltiger, reifer Erde.
Sie war zuhause. Shona füllten ihre Lungen mit den Düften.
„Ich habe Euch vermisst, Shona“, sagte Lord Halwart und legte seine Hand über ihre, dort wo sie auf seinem Arm lag. „Wie ich bereits sagte, es war nicht dasselbe ohne Euch.“
Sie lächelte ihn an. Die Wahrheit war, dass sie Männer wirklich mochte. Nachdem sie einen Großteil ihres Lebens unter der Obhut ihres Vaters verbracht hatte, war es schwierig, das nicht zu tun. Aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die wenigsten Männer von Roderics Kaliber waren. Dennoch war sie gewillt, diesem hier einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. „Aber Laird Halwart–“
„Nennt mich Gilmour, bitte.“
„Aber Gilmour, Ihr habt mich kaum gesehen, wenn ich hier war.“
„Viel zu wenig von Euch“, sagte er und drückte sich näher. Einen Moment spürte sie seinen Blick auf ihrem Busen. Hm. „Ich hoffe, Ihr wisst, dass ich Hochachtung vor Euch habe. Fürwahr, als ich erfuhr, dass Ihr alleine zum Hof reist, war ich recht beunruhigt.“
„Ich war schwerlich allein. Ich hatte eine angesehene Wache, und Liam hat mich unterwegs getroffen.“
„Ah, Liam.“
Wenn Shona sich recht entsann, hatte Liam einmal Gilmours Schärpe genommen, um einen Zaubertrick vorzuführen, der aber war schiefgelaufen und die Schärpe in Flammen aufgegangen.
„Haltet Ihr es für weise, mit dem Iren zu verkehren?“
„Weise?“ Sie blieb stehen, um ihn anzusehen.
„Ich meine, Liam ist … nun … er ist ein Unterhaltungskünstler.“
Sie lachte. „Aye, das ist er“, sagte sie und fuhr fort. „Und einer meiner treuesten Freunde.“
„Ich hatte nicht vor, Euch zu beleidigen“, beeilte Gilmour sich zu sagen. „Tatsächlich …“ Er hielt sie fest, sodass sie stehenblieben. „Es ist das Letzte, was ich zu tun wünsche, denn–“
Aus der Dunkelheit gluckste eine Frau, und ein Mann kicherte.
Gilmour blickte sie verdrießlich an, als sie vorübergingen. „Können wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?“, flüsterte er.
Shona erinnerte sich an die Worte ihres Vaters. Aber sie sah unvermittelt auf, und dort, nur einige Fuß entfernt, stand Dugald mit seinen unheimlichen Augen. Sein italienisches Gewand war fort. An seiner Statt trug er eine Tunika aus schwarzer Seide, die in einem dunklen Plaid steckte. Es war eine traditionelle Tracht der Highlands, und doch wirkte sie anders, so wie er sie trug, irgendwie majestätisch, jede Falte war an ihrem Platz und eine silberne Brosche so und nicht anders befestigt. Er lehnte sich an die steinerne Wand, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Guten Abend“, sagte er, sein seltsamer Akzent trällerte, sein Blick entfernte sich nicht von ihrem Gesicht.
Sie nickte und wandte sich rasch ab. Sie errötete, obwohl sie nicht wusste warum. Sie hatte gewiss nichts Falsches getan.
Nun, es stimmte, sie hätte ihre Reithose nicht ausziehen sollen. Sie hätte sich nicht halbnackt erwischen lassen sollen. Und vielleicht hätte sie einen völlig Fremden nichts ins Wasser werfen sollen. Aber das Letzte war wirklich nicht ihre Schuld. Schließlich hatte er sie provoziert.
„Shona?“, fragte Halwart und tätschelte ihren Arm. „Irgendwohin, wo wir ungestört sind?“
„Aye“, murmelte sie und schleifte ihren Blick zurück zu Halwart. „Ungestörtheit wäre wohltuend.“
Er drehte sie weg, und sie folgte ihm dankbar.
„Ich weiß, wie sehr Ihr es liebt, zu reiten“, flüsterte Gilmour und lehnte sich näher. „Ich habe einen neuen Sattel erworben. Er ist in den Stallungen. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr ihn Euch ansehen würdet.“
Sie wollte nein sagen. Aber dieser verdammte Dugald war direkt hinter ihr. „Ich würde liebend gerne Euren Sattel sehen“, murmelte sie.
Die Stallungen waren von zwei lodernden Wandleuchtern erhellt. Pferde wieherten leise, als die Tür sich knarrend öffnete.
Gilmour geleitete sie zu einem Zimmer. Es war schwach beleuchtet, nur erhellt von den Wandleuchtern außerhalb der steinernen Kammer.
„Hier ist er“, sagte Gilmour und bewegte sich auf einen Sattel zu, der auf einem hölzernen Querbalken ruhte. „Ich habe ihn eigens in Italien anfertigen lassen.“
„Italien.“ Shona hob ihre Augenbrauen. Er war aus rotem Leder gemacht. Hell leuchtendes, rotes Leder, das in der Nähe des Sattelknopfs mit Troddeln verziert war. Was in aller Welt, fragte sie sich, konnte der Zweck von Troddeln sein?
„Achtet auf die Tiefe des Sitzes.“ Er streichelte ihn. „Er wiegt mich wie der Arm einer Geliebten.“
Nun, das war ein seltsames Bild – eine Geliebte, die seinen Hintern auf seinem Ross gefährlich wiegte. Sie wusste aus bisheriger Erfahrung, dass er kein guter Reiter war. Also musste die Geliebte ziemlich stark sein. „Er ist sehr … rot“, sagte sie.
„Aye.“ Er trat beiseite, offensichtlich, um ihr eine bessere Aussicht auf das Meisterstück zu gewähren. „Ihr könnt aufsitzen, wenn Ihr wollt.“
Das würde sie nicht, aber sie trat näher und beugte sich leicht vor, um festzustellen, dass sein Name ins Leder gearbeitet war.
„Ich war nicht sicher, dass Ihr kommen würdet“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Shona richtete sich auf, als sie den seltsamen Unterton in seiner Stimme hörte, aber während sie das tat, packte er ihren Arm und presste seine Hüften gegen ihren Hintern.
Eine schlechte Wendung der Ereignisse.
„Selbstverständlich bin ich gekommen“, sagte sie und wandte sich behutsam in dem kleinen Raum zwischen dem affenartigen Sattel und ihm um. „Warum sollte ich nicht?“
Er kicherte und ließ ihren Arm los, als sie sanft zog. „Ihr wart stets die Wilde, Shona. Ich wusste nie, was ich von Euch zu erwarten habe. Aber es sähe Euch ähnlich, etwas Ausgelassenheit willkommen zu heißen.“
„Ausgelassenheit?“ Ihr gefiel der Klang dieses Wortes nicht, aber sie lächelte süß, während sie sich seitwärts schlängelte.
„Erinnert Ihr Euch an den Bullen?“, fragte er und beobachtete sie.
Sie lächelte jetzt mit einiger Wärme, denn die Erinnerung brachte vage Gefühle der Zuneigung für ihn zurück. Es war ein Sommer gewesen, in dem sie ihre Cousinen kaum gesehen hatte. So war er für eine kurze Zeit ein Ersatz gewesen, wenngleich ein schwacher.
„Das tue ich“, sagte sie. „Er war recht unglücklich darüber, bestiegen zu werden.“
„Dann wagt es mit mir.“ Plötzlich packte Gilmour ihre Arme und presste sich hart an sie.
Sie versuchte zurückzuweichen, aber er war stärker als er es mit zwölf Jahren gewesen war. Sie blinzelte ihn an und stotterte. „W–was?“
„Wagt es mit mir“, knurrte er. Sein Atmen klang nicht gut. „Ich habe keine Einwände dagegen, von einem so schönen Mädel wie Euch bestiegen zu werden.“
Shona überschlug rasch ihre Möglichkeit. Sie konnte schreien, natürlich. Aber zu schreien war so melodramatisch, und Gilmour war stets empfänglich genug gewesen. Also lächelte sie, versuchte zu ignorieren, dass sein Becken mit entsetzlicher Nähe an ihres gepresst war und hoffte, er würde die Ironie der Situation erkennen.
„Zum Reiten, fürchte ich, ist es etwas spät für mich, Gilmour.“
Er kicherte. „Es gibt keinen Grund, schüchtern zu spielen, süße Shona. Wir kennen uns schon viel zu lange. Und haben zu lange gewartet. Aber jetzt sollen wir endlich vereint sein.“
Sie war wahrlich überrascht von seinen Worten. „Sollen wir das?“
„Es kümmert mich nicht, dass Ihr zuweilen …“ Er presste sich stärker an sie. „Nicht ganz anständig seid.“
Shona wandte ihren Blick zur Seite. Sie dachte, sie habe jemanden die Stallungen betreten hören. Was sollte sie jetzt tun? Hoffen, dass man sie retten oder nicht hören würde?
„Es ist sehr großzügig von Euch, über meine Unzulänglichkeiten hinwegzusehen“, sagte sie und horchte noch immer, um zu ermitteln, ob jemand die Tür geöffnet hatte oder nicht. Aber sie wurde von keinerlei Geräusch abgelenkt, also musste sie sich geirrt haben, was bedeutete, dass sie immer noch ganz allein waren. „Aber ich fürchte, Ihr habt meine Absichten missverstanden.“
„Das denke ich nicht“, krächzte er und presste seine Lippen leidenschaftlich auf ihre.
Es war nicht so, dass sie vorher noch nicht geküsst worden war. Schließlich hatte sie gegen Liam eine Wette gewonnen, als sie fünfzehn war, und er war gezwungen gewesen, ihr ein paar Tipps zu geben, aber Shona war sicher, dass sie unter seiner Berührung keine Gänsehaut bekommen hatte, weil es sie so ekelte.
Sie drückte mit all ihrer Kraft gegen Halwarts Brust und stoppte schließlich das Saugen an ihren Lippen.
„Gilmour“, sagte sie.
„Gott, Ihr seid ein heißes Mädel“, knurrte er und trat vor.
„Aye, mir ist recht warm.“ Sie hüpfte seitwärts und sah sich nach einem Ausweg um. „Ich denke, ich gehe lieber nach draußen, um …“
Aber im Nu hatte er ihren Arm gepackt und schwang sie für eine weitere nachlässige Umarmung herum.
„Gilmour!“ Sie bedeckte seinen Mund rasch mit ihrer Hand. „Ich muss mich entschuldigen, denn ich fürchte, ich habe Euch in die Irre geführt. Es war nicht meine Absicht, für ein ungestörtes Stelldichein hier herauszukommen. Obwohl die Aussicht darauf recht verlockend ist.“ In etwa so verlockend, wie ihr Haar ins Küchenfeuer zu halten. Dennoch, Gilmour war, wenn er nüchtern war, ein anständiger Kerl, und sie sah keinen Grund, seine Gefühle zu verletzen. „Bitte vergebt mir, wenn ich einen falschen Eindruck erweckt habe.“
Er drehte sein Gesicht weg. Sie ließ ihre Hand fallen.
„Ich habe nicht den falschen Eindruck gewonnen. Ich habe ein Bedürfnis. Ein stechendes Bedürfnis in meinen Weichteilen, das nicht gestillt sein wird, ehe ich Euch hatte“, sagte er und quetschte sie an seine Brust, aber sie hatte sein Haar zu fassen gekriegt und zog heftig daran, sodass sein Kopf leicht nach hinten gebogen wurde und er gezwungen war, seine Augäpfel nach unten zu richten, um ihr ins Gesicht zu sehen.
„Gilmour!“, warnte sie und achtete darauf, ihre Beherrschung nicht zu verlieren. Es war nicht damenhaft, das zu tun, und sie versuchte sich so oft wie möglich wie eine Dame zu verhalten. „Ich scheine nicht deutlich genug gewesen zu sein. Ich sagte, dass ich jetzt in die Halle zurückzukehren wünsche.“
„Bald“, sagte er und zog seinen Kopf vorwärts. Obwohl einige Haare zwischen ihren Fingern verblieben, landeten seine Lippen mitten zwischen ihren Brüsten.
Sie rang beim Aufprall nach Luft und vermochte es, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie stolperte, richtete sich auf, wich dann vorsichtig zurück und beobachtete jede seiner Bewegungen.
„Ich denke nicht, dass ich Euch sagen muss, wie wütend mein Vater wäre, wenn er hiervon wüsste“, sagte sie, atmete schwer und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Sie mochte es nicht, Ärger zu verursachen, besonders nachdem ihre Reithose auf der Zugbrücke gefunden worden waren.
„Es wird ihm einen Gefallen tun, weil es ihm Euren Platz im Leben zeigt“, sagte Gilmour und folgte ihr.
Sie verlor kurz ihre Beherrschung. „Meinen Platz?“
„Aye.“ Er kicherte, und folgte ihr weiter. „Ihr braucht seit einiger Zeit jemanden, der mit Euch umzugehen weiß. Es scheint, der Schelm ist der Aufgabe nicht gewachsen. Aber ich bin genau der richtige Mann, um die Zügel zu halten.“
Sie hielt an. „Fürwahr?“
Er grinste und schien zu glauben, dass das Spiel sein Ende gefunden hatte. „Fürwahr.“
„Hört zu, Gilmour“, sagte sie so ernst sie konnte. „In der Vergangenheit habe ich uns als Freunde betrachtet. Ich habe nicht die Absicht, das zu ändern, weil jemandem ein Leid zugefügt wird.“
„Ich werde Euch kein Leid zufügen, Mädel“, sagte er und stürzte sich auf sie.
„Ich habe nicht von mir gesprochen“, knurrte sie, fuhr herum und rammte ihm ihren Ellenbogen gegen den Schädel. Er stolperte zurück und hielt sich das Ohr.
Als er in seine Hand blickte, war Blut an seinen Fingern. Er hob seinen Blick. Es lag nicht länger die Wärme von Freundschaft darin, sondern Wut und torkelnder Rausch.
„Zur Hölle mit Euch!“, fluchte er und griff nach ihr.
Sie sprang zur Seite, aber nicht schnell genug. Seine Finger verhakten sich in ihrem Mieder. Es riss in der Mitte auf. Sein Blick heftete sich auf ihre zum Teil entblößten Brüste, dann sprang er wieder auf sie.
Für den Bruchteil eines Augenblicks war Shona gelähmt. Er packte ihre Arme, und sie seine. Dann, genau in diesem Moment, riss sie ihr Knie hoch und verband es passgenau mit seinen Weichteilen.
Gilmour blieb ruckartig stehen. Sein Körper versteifte sich. Seine Augen weiteten sich und er schaffte es, einmal krächzend einzuatmen, eher zu Boden fiel und sich die Hände vor sein Gemächt hielt.
Shona blickte finster auf ihr zerrissenes Mieder, dann auf Gilmour. Sein Gesicht sah wächsern aus und zuckte krampfhaft, während sein Atem ein und aus rasselte wie ein kratzender Blasebalg.
Er klang nicht sonderlich gut, aber sie stellte fest, dass es sie längst nicht mehr kümmerte. Er krächzte etwas Unverständliches, also lehnte sie sich näher und versuchte zu horchen.
Er krächzte erneut. Sie richtete sich auf.
„Ihr sterbt nicht! Gott sei’s geklagt.“ Sie blickte auf ihr Mieder und wünschte, das alles wäre nicht passiert. Es verärgerte ihre Eltern stets, wenn sie Männer verletzte. „Wie soll ich das erklären?“
Gilmour atmete erneut krächzend ein, wandte seinen Blick vorsichtig zu ihrem Gesicht, als schmerzten sogar seine Augäpfel, und vermochte zu sagen: „Ich bin immer noch bereit, Euch zu heiraten, falls die Mitgift ausreichend ist.“
Sie verlor ihre Beherrschung. „Mich heiraten? Mich heiraten!“, sagte sie und trat auf ihn zu.
Er kroch zurück. Sie fand es recht anständig, dass sie sich davon abhielt, ihn zu treten. Es war mehr, als er verdiente. „Und ich bin immer noch bereit, Euch leben zu lassen“, blaffte sie. „Wenn Ihr versprecht, heute Nacht zu verschwinden. Habe ich Euer Wort?“
Er sagte nichts. Sie trat näher und er nickte krampfhaft. „Aye! Aye, Ihr habt mein Wort.“