Leseprobe Das Traumhotel am Meer

1

»Australien! Ich glaube es nicht.« Kathi wirbelt zu mir herum. Ihre Augen leuchten, der Atem geht schnell. Sie umklammert den Griff ihres Koffers, als könnte sie es kaum erwarten, mit ihm in ein neues Leben zu fliegen.

Ich starre auf die Anzeigetafel in der Eingangshalle am Hamburger Flughafen. Weder ein gestrichen, verschoben, noch ein verspätet gibt mir mehr Zeit, um meine beste Freundin zu verabschieden.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Du Glückliche!« Ein Stich fährt mir durch die Brust, als ich mich an unser Auslandssemester in Australien zurückerinnere – barfuß im warmen Sand, das Rauschen des Meeres in meinen Ohren. Alles in mir sehnt sich nach der Freiheit, die ich dort gespürt habe. »Warum kann ich nicht mit dir ins Flugzeug steigen und das Abenteuer Australien erneut mit dir starten?«, frage ich und seufze. Doch dank meines Auf-den-letzten-Drücker-Symptoms habe ich es im Gegensatz zu Kathi nicht auf die Reihe bekommen, mich rechtzeitig um einen Praktikumsplatz in Sydney zu bewerben.

»Aufgeschoben bedeutet doch nicht abgesagt.«

Ich verziehe die Lippen zu einem Strich. »Es ist wirklich erstaunlich, wie du es schaffst, eine beschissene Situation schönzureden. Ich bin jetzt fünfundzwanzig. Es tut verdammt weh, so viel Zeit zu verlieren«, jammere ich. »Warum nehmen die Eventagenturen, die Modeschauen und Fashion Weeks organisieren, nur einmal pro Jahr neue Praktikanten auf? Das ist doch Schikane.« Ich lasse die Schultern hängen. »Auf jeden Fall werde ich bald anfangen, Bewerbungen zu verschicken. Sonst vermassle ich es erneut.«

»Wirst du nicht.« Sie lächelt mitfühlend. »Und die Zeit, bis wir uns wiedersehen, wird schnell vergehen. Außerdem hast du ja immer ein Stück Australien bei dir.« Mit dem Kinn deutet sie auf meinen knallroten Mantel mit den schwarzen Knöpfen.

Ich lächle. Den Tag, als ein Designer mir ihn geschenkt hat, werde ich nie vergessen. Er war Teil einer Modeschau, die ich während meines Auslandssemesters für eine Eventagentur mitplanen durfte.

Ich schlinge die Arme um mich. »Trotzdem beneide ich dich.« Ich sehe an ihrer cremefarbenen Chinohose hinab, über der sie einen schwarzen Blazer trägt. »Allein mit diesem Outfit siehst du aus wie eine Siegerin. Hätte ich dich nicht so lieb, wäre ich tierisch eifersüchtig auf dich.«

»Quatschkopf.« Sie lacht. »Ich würde sofort diese Klamotten und mein gesamtes Haarspray-Repertoire hergeben, wenn ich dafür deine leuchtenden roten Locken haben könnte.« Sie atmet durch. »In knapp vierundzwanzig Stunden bin ich am anderen Ende der Welt. Ist das zu fassen? Oh, mein Gott, ich bin so aufgeregt, dass mir schlecht wird.« Ruckartig lässt sie ihren Koffer los und zieht mich in eine Umarmung.

Ich vergrabe mein Gesicht in ihrem Haar, das nach Vanille und etwas Blumigem riecht. Für einen Augenblick schließe ich die Augen und blinzle ein paar Tränen weg.

»Ich vermisse unsere Mädels-WG schon jetzt. Doch ich bin heilfroh, die Uni nicht mehr von innen sehen zu müssen.« Sie schiebt mich ein wenig von sich. »Versprich mir, dass du in einem Jahr nachkommst.«

»Versprochen«, entgegne ich mit rauer Stimme und will es nicht glauben, dass mein Körper hierbleiben muss, während mein Herz mit Kathi nach Australien fliegt. Ich gehöre in dieses Land wie der Sand ans Meer. Noch nie im Leben habe ich eine schönere Landschaft gesehen. Die unfassbare Weite, die Wüste und die Regenwälder sind einzigartig. »Wenn es im kommenden Jahr wieder nichts mit dem Praktikum wird, bewerbe ich mich für Work and Travel

»Das hättest du auch jetzt schon machen können.«

»Ja«, antworte ich gedehnt. »Doch wie du weißt, ist das nicht mein Plan. Ich will mein Leben in Australien mit einem Praktikum starten. Das ist für mich nicht nur ein Zwischenschritt, sondern essenzieller Teil meines Traums. Wenn ich später mal in der internationalen Eventbranche arbeiten will, kann ich nirgends mehr Erfahrungen sammeln und Kontakte knüpfen als in einer renommierten Eventagentur. Und in die kommt man nicht ohne Weiteres rein.«

Kathi starrt auf die Anzeigetafel. Sie deutet nach rechts. »Da drüben ist die Gepäckaufgabe.«

Wie mit angezogener Handbremse folge ich ihr. Je näher wir dem Schalter kommen, desto mehr verknotet sich mein Magen.

Kathi reiht sich in das Ende der Schlange ein. Als sie dran ist, legt sie ihren Reisepass vor. Die Bordkarte, die sie auf ihrem Smartphone vorweist, wird von der Servicemitarbeiterin durch eine aus Papier ausgetauscht.

Ihr Koffer rollt in ein schwarzes Loch.

»Geschafft!«, sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie reibt sich die Hände und marschiert zielstrebig in Richtung Sicherheitskontrolle. Menschenmassen laufen in die gleiche Richtung oder kommen uns entgegen. Viele davon strahlen über das ganze Gesicht. Ihnen ist die Freude auf eine nahende Urlaubsreise merklich anzusehen.

An der Schranke vor der Sicherheitskontrolle ist die Zeit gekommen, sich endgültig voneinander zu verabschieden.

Ich breite die Arme aus. »Grüß mir die Koalas und die Kängurus.«

»Mach ich.« Sie zieht mich fest an sich.

»Und denk an mich, wenn du Meat Pies isst.« Mein Magen knurrt, als ich mich an die herzhaften Fleischpasteten mit würziger Füllung erinnere, die wir während unseres Auslandssemesters beinahe täglich gegessen haben.

»Wird gemacht.« Sie wippt von einem Bein auf das andere. »Und wenn du nachkommst, werde ich am Flughafen auf dich warten.«

»Dann musst du mir unbedingt einen Erdbeer-Slushie zur Begrüßung mitbringen.«

»Versprochen!«

Ich umklammere sie so fest, dass sie nach Luft schnappt. Am liebsten will ich sie nicht loslassen. Die Wärme unserer Umarmung steht im krassen Gegensatz zu der Kälte, die sich in meinem Inneren ausbreitet. »Pass auf dich auf, hörst du?«, hauche ich und schlucke die aufsteigenden Tränen hinunter.

Sie zieht sich ein Stück zurück, die Hände noch immer auf meinen Schultern. »Ich schick dir ganz viele Bilder, versprochen.« Ihre Augen glänzen, während sie sich von mir löst. Zu schnell. Zu endgültig.

Ich stehe regungslos da.

Kathi schwingt ihren Rucksack auf den Rücken und winkt mir ein letztes Mal zu. Sie scannt ihre Bordkarte und passiert die Schranke. Langsam kommt sie inmitten einer Traube von Menschen der Sicherheitskontrolle näher.

Die Welt um mich ist voller Stimmengewirr und hastigen Bewegungen. Doch in mir ist alles starr.

Kathi rückt immer weiter nach vorn und bald verliere ich sie aus den Augen.

Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ein dumpfer Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, während ich an die Stelle starre, an der ich Kathi zum letzten Mal gesehen habe.

2

Hättest du mir vor einem halben Jahr prophezeit, dass ich statt in meinem geliebten Australien in diesem Kaff an der Ostsee landen würde, hätte ich dich für komplett übergeschnappt gehalten,

tippe ich eine WhatsApp-Nachricht an Kathi, während ich zwischen dem Impuls schwanke, laut aufzulachen und dem Bedürfnis, die Zähne zusammenzubeißen. Meine Gedanken stocken für einen Moment, als ob ein stiller Kommentar in meinem Kopf zurückgehalten wird, bevor meine Finger zögernd weiterschreiben.

Es erscheint mir surreal, dass ich freiwillig an den Arsch der Welt ziehe. Und noch verrückter, dass ich einen Job als Gärtnerin in einem Boutiquehotel angenommen habe,

schreibe ich weiter, was mir durch den Kopf schießt.

Es ist doch nur vorübergehend. Bald hält dich nichts mehr in Deutschland. Dann geht es endlich ab nach Australien,

antwortet sie.

Kathi will mich mit ihrer Antwort aufheitern. So kenne ich sie. Sie schickt noch ein paar Bilder von Sydney bei Nacht und ihrem Aufeinandertreffen mit einem Koala hinterher.

Ich seufze sehnsüchtig.

Nach ein paar weiteren WhatsApp-Nachrichten verstaue ich das Smartphone in meiner Umhängetasche und blicke aus dem Fenster.

Der Bus fährt gerade die restlichen Kilometer bis nach Heiligendamm – meinem Ziel und Lebensmittelpunkt der kommenden Monate.

Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich am Horizont die Ostsee erspähe. Immerhin gibt es schlechtere Orte, um zu arbeiten, rede ich mir ein. Doch ganz hinten in meinem Kopf tönt ein Gedanke, der mich während der Fahrt von Hamburg hierher nicht loslassen will. Hätte ich doch nur rechtzeitig …

Schluss jetzt! Hätte, könnte, wäre … Jammern bringt nichts. Ich muss mich damit abfinden, meinen Traum um ein Jahr nach hinten zu schieben. Doch ich werde daran festhalten. An diesen Gedanken klammere ich mich, wie an einen Schwimmreifen, den es ins offene Meer hinaustreibt.

Nur ein Jahr – ich schaffe das. Zeit, in der ich Geld verdienen, mich in Ruhe bewerben und mir den Flug leisten kann. Vielleicht bleibt auch noch ein kleines Taschengeld übrig. Ich atme tief durch. Nur ein Jahr!

Der Bus biegt ab und kommt mit einem Ruckeln an der Haltestelle Heiligendamm zum Stehen, bevor er die letzten Stationen seiner Reise, die Ostseebäder Kühlungsborn und Rerik ansteuern wird.

Ich schlüpfe in meinen roten Mantel und schwinge stöhnend den schweren Rucksack auf den Rücken. Mit einem aufgeregten Kribbeln im Bauch verlasse ich den Bus.

Der Fahrer steigt vor mir aus, schiebt seine Hemdsärmel nach oben und reicht mir aus der seitlichen Kofferraumklappe meinen Koffer.

»Danke, das ist für sie.« Ich drücke ihm einen Fünfer in die Hand, straffe meinen Rücken und steuere mit dem Smartphone und Google Maps das Boutiquehotel Greifenberg an. Unsicherheit und Zweifel begleiten mich bei jedem Schritt. Ist es der Ernst des Lebens, so wie mein Vater es beim Abschied nannte, der mir Angst macht? Oder ist es die Sorge vor Beständigkeit und Verpflichtung? Als Studentin hatte ich alle Freiheiten. Klar, die letzten Monate vor dem Abschluss waren stressig. Doch in den Jahren davor habe ich das Studierendenleben oft in vollen Zügen genossen. Wenn ich keine Lust auf eine Vorlesung hatte, wurde sie eben geschwänzt. Es gab immer jemanden, der mich beim Lernen unterstützt hat. Doch in Zukunft werde ich mich den Herausforderungen des Berufsalltags ohne Freunde an meiner Seite stellen müssen. Du meine Güte, werde ich dem gewachsen sein?

Ich laufe die Straße entlang. Sie ist menschenleer. Keine Autos, kein Lärm. Es ist beinahe gespenstisch still.

Direkt vor mir erstreckt sich ein weißer Prachtbau, den ich schon aus dem Fernsehen kenne. Das luxuriöse Grand Hotel Heiligendamm! Vor vielen Jahren hat hier das G8-Gipfeltreffen stattgefunden. Das hat Papa mir erzählt.

Ich ziehe meinen Koffer weiter über den Weg und erhasche einen Blick auf die Ostsee, deren Wasser in der Sonne glitzert. Da vorn irgendwo muss es sein. Erneut prüfe ich die Wegbeschreibung auf Google Maps. Nachdem ich zwei weitere Hotelkomplexe passiert habe, bin ich endlich an meinem Ziel angekommen. Auch wenn das Boutiquehotel Greifenberg um ein Vielfaches kleiner ist, als das Grand Hotel, hat es für mich einen ganz besonderen Charme. Ich mag es, wie es sich elegant in Weiß präsentiert, mit imposanten Erkern in der Mitte des Gebäudes, die sich vom Eingangsportal bis in den dritten Stock erstrecken. Die Fassade liegt dank des Sonnenstandes am Nachmittag im Schatten und strahlt einen Hauch von Klassik aus. Die großen Fenster mit geschwungenen Bögen unterstreichen den eleganten Stil des Hauses. Zwei seitliche Türme erheben sich schlank und majestätisch aus der Fassade des Hotels.

Mit klopfendem Herzen trete ich näher und atme einmal tief durch.

Die verblühten Stauden in den Pflanztrögen am Eingang bringen ein wenig Melancholie in den ansonsten perfekten Anblick. Meine Gedanken schweifen zu meinen Eltern, die eine Gärtnerei am Stadtrand von Hamburg betreiben. Auch wenn ich vom Gärtnern nicht annähernd so viel Ahnung habe wie sie, habe ich dennoch seit frühester Kindheit einiges von ihnen gelernt. Es hat mir immer riesigen Spaß gemacht, in der Gärtnerei auszuhelfen. Ich werde hier einen guten Job machen. Und meine erste Aufgabe wurde mir ja soeben direkt vor die Füße gelegt.

Ich setze ein Lächeln auf und betrete das Hotel. Viel zu laute Rockmusik dröhnt aus einem Lautsprecher an der Decke, die mich zusammenzucken lässt. Zu dieser charmanten Eingangshalle würde eher leise Salonmusik passen, als das Dröhnen, das hier auf mich eindrischt.

Wo bin ich hier nur hingeraten? Ich gehe zur Rezeption, an der ich niemanden antreffe. Die Tür dahinter ist halb geöffnet. Ein Kerl, den ich Ende zwanzig schätze, lümmelt in einem Schreibtischstuhl. Die Füße hat er auf dem Tisch abgelegt. Gähnend gafft er in sein Smartphone.

Ich räuspere mich, aber er bemerkt mich nicht. Mit der Hand fährt er sich durch sein fast schwarzes Haar.

Nachdem er immer noch keine Notiz von mir nimmt, räuspere ich mich erneut und öffne den Mund, um was zu sagen.

Der Stuhl knarzt und er dreht den Kopf zu mir. Er verdreht die Augen, als hätte ich ihn bereits seit Stunden mit penetranten Fragen bombardiert. »Was willst du?«, raunt er. »Ein Zimmer?«

Sprachlos starre ich ihn an. Nicht, weil er mit seiner braun gebrannten Haut und den dunklen Augen unfassbar attraktiv aussieht. Nein, weil ich fassungslos darüber bin, wie unhöflich er einem vermeintlichen Gast begegnet. Ob er immer so drauf ist?

»Hat dir schon mal jemand Anstand beigebracht?«, platzt es aus mir heraus. In meinem Magen grummelt es.

Er hebt die Augenbrauen. »Was? Ich verstehe dich nicht. Hast du was gesagt?«, brüllt er über den Lärm der Musik hinweg. Jetzt schwingt er die Füße vom Tisch und steht auf. Mit den Händen in den Hosentaschen kommt er auf mich zu und mustert mich von oben bis unten.

»Was hast du gesagt?« Er bückt sich und mit einem Mal ist die Musik deutlich leiser.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und hebe mein Kinn. »Ich habe gefragt, ob dir schon mal jemand Anstand beigebracht hat?« Ich halte seinem Blick stand. Was geht nur in ihm vor? Behandelt er alle Gäste so ruppig? Eigentlich ist nicht auf meinem Plan gestanden, bereits an meinem ersten Tag hier Ärger mit einem zukünftigen Kollegen zu bekommen.

»Fragt wer?« Mit erhobenen Augenbrauen sieht er mich an. Er wirkt genervt.

»Franzi … Franziska Fuchs«, stammle ich und hasse mich gleichzeitig dafür, dass ich mich von ihm verunsichern lasse.

»Hi, Franzi Franziska Fuchs.« Er wirkt eine Spur interessierter. Ein Grinsen fährt über sein Gesicht.

Energisch schiebe ich die Verunsicherung beiseite. »Damit du Bescheid weißt: Wäre ich ein neu angekommener Hotelgast, würde ich mich jetzt postwendend bei deinem Chef über dich beschweren.«

»So? Würdest du das tun?« Sein belustigter Gesichtsausdruck macht mich rasend. Was bildet dieser Kerl sich eigentlich ein?

Ich hole tief Luft. »Andererseits … was hindert mich daran, es zu tun?«

Er hebt abwehrend die Hände. »Mach, wozu du Lust hast.« Kurz hält er inne. »Du sagtest: Wenn du ein Gast wärest? Bist du nicht?«

»Ich bin Franziska Fuchs. Die neue Gärtnerin.«

Nun mustert er mich erneut und fixiert meine frisch lackierten Nägel. Ich warte schon auf das nächste unhöfliche Wort aus seinem Mund, aber er bleibt stumm.

Ein sanfter Klang ertönt, gefolgt von einem mechanischen Rattern. Ich blicke zur Seite. Die Aufzugtür öffnet sich und eine zierliche Frau um die dreißig spaziert heraus. Sie trägt ein dunkelblaues Kostüm und lächelt mich an.

»Du bist Franziska, richtig?«, fragt sie, als hätte ich meinen Namen auf der Stirn eintätowiert. Schnellen Schrittes kommt sie auf mich zu und streckt ihre Hand nach mir aus. Sie strahlt eine Wärme aus, die sofort die negativen Gefühle in den Hintergrund rückt.

Ich nicke und lächle zurück. »Ja, die bin ich. Nenn mich gerne Franzi.«

»Und ich bin Pauline.«

Jetzt erkenne ich sie: Das ist die Frau, mit der ich das Vorstellungsgespräch per Zoom-Meeting hatte.

»Hallo, Pauline. Schön, dich wiederzusehen.«

Sie macht eine ausladende Handbewegung. »Wie ich dir ja in unserem Gespräch erzählt habe, arbeite ich an der Rezeption, betreue das Personal und bin sozusagen das Mädchen für alles. Und das ist …«

»Ben! Ich bin Ben.« Er klingt versöhnlich. Damit beeindruckt er mich jedoch keine Spur.

Pauline spaziert hinter die Rezeption und holt eine Zimmerkarte. »Wir werden uns jetzt erst mal um dein Zimmer kümmern. Die Mitarbeiter wohnen im Anbau, den du über den langen Gang dort erreichst. Ich komme gleich mal mit und zeige dir dein Reich.«

Kurz darauf stehen wir vor einer Zimmertür, die Pauline mit der Karte öffnet. Ich halte den Atem an. Meine größte Sorge ist die, ob ich ein eigenes Badezimmer habe. Hoffentlich gibt es für das Personal hier keine Gemeinschaftsduschen wie in einem Hostel.

Ich folge Pauline ins Zimmer und registriere die funktionale Ausstattung. Ein Einzelbett aus Kiefernholz, ein schmaler Kleiderschrank, ein geblümter Polstersessel an der einen Wand und ein Schreibtisch an der anderen. Es riecht leicht modrig. Wären vor dem Fenster Gitterstäbe angebracht, könnte man das Zimmer glatt mit einer Gefängniszelle verwechseln. Der Blick in den Innenhof ist nicht berauschend. Andererseits bin ich hier, um zu arbeiten und nicht, um das luxuriöse Hotelleben zu genießen. Ich werde mir mein neues Zuhause gemütlich einrichten. Vielleicht braucht es nur ein paar Pflanzen und Dekoartikel. In der Ecke hinter der Tür versteckt sich eine Kochnische. Ich atme auf. Wenigstens muss ich so nicht jeden Tag außerhalb essen. Im Hotel bieten sie leider nur Frühstück für die Mitarbeiter an. Lächelnd registriere ich, dass ich ein eigenes Badezimmer besitze.

Pauline zuckt mit den Schultern, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Nicht so schick wie unsere Hotelzimmer, aber zumindest hast du hier alles, was du benötigst.«

»Es ist perfekt«, antworte ich, obwohl ich es mir schöner erträumt hatte. Doch ich werde mich hier ohnehin nicht viel aufhalten.

»Mein Zimmer ist gegenüber. Also, wenn du mal was brauchst, eine Frage hast oder einfach mal Gesellschaft willst, melde dich gerne bei mir.«

»Danke, das ist lieb.« Ich blicke aus dem Fenster – direkt auf den Glascontainer – der neben einer Reihe von grauen Stahlblechtonnen steht. Ich drehe mich zur Seite und rümpfe die Nase, bevor ich mich wieder ihr zuwende. »Sag mal, wie viele Leute arbeiten hier eigentlich?«

»Wir sind um die zwanzig«, sagt sie und senkt den Blick. »Vor einiger Zeit hatten wir deutlich mehr Personal, aber seit unsere Chefs bei einem Helikopterabsturz ums Leben gekommen sind …«

»Was?« Ich reiße die Augen auf. »Sie sind gestorben?« Sofort macht sich Mitleid in mir breit. »Wie schrecklich«, hauche ich und suche nach den passenden Worten.

»Ja, das ist nun ein knappes Jahr her und seitdem ist nichts mehr, wie es war.« Mit glasigen Augen rückt sie einen Bilderrahmen zurecht, der oberhalb des Sessels thront, und ein älteres Bild des Hotels – vermutlich aus seiner Anfangszeit – zeigt.

»Das kann ich mir vorstellen.« Mit zusammengepressten Lippen sehe ich sie an. Ihr verzerrter Gesichtsausdruck verrät, dass sie ihre ehemaligen Chefs echt gern gehabt haben muss. »Und warum habt ihr nun nicht mehr so viele Mitarbeiter? Was hat das mit dem Tod der beiden zu tun?«

»Weil sie seinetwegen gekündigt haben. Er benimmt sich manchmal nicht gerade charmant, unter uns gesagt. Manche meiner Kollegen nennen ihn sogar heimlich: das Ekel.« Sie verdreht die Augen und sieht dabei mit ihrem blonden Kurzhaarschnitt urkomisch aus.

Ich lege den Kopf schief. »Von wem sprichst du?«

»Von unserem neuen Chef.« Reflexartig presst sie die Hand auf ihren Mund. »O weh, hoffentlich habe ich dich damit nicht gleich vergrault. Also, ich komme ganz gut mit ihm zurecht, aber das gelingt eben nicht jedem meiner Kollegen. Du wirst schon sehen.« Sie zwinkert.

Zumindest scheint Pauline sich mit ihm zu verstehen. Und warum sollte mir das nicht ebenso gelingen? Ich atme tief durch. Ganz sicher werden wir uns mögen. Und wenn nicht? Dann Augen zu und durch. Schließlich bleibe ich nicht ewig hier.

3

Nach einer unruhigen Nacht, in der ich mehr die kahle Zimmerdecke angestarrt als geschlafen habe, verschwinde ich am Morgen im Badezimmer und bereite mich auf meinen ersten Arbeitstag vor.

Von Pauline weiß ich, dass es in der Personalküche ab fünf Uhr morgens – nein, ich habe mich nicht verhört – Frühstück gibt.

Mein Arbeitstag beginnt täglich um sechs Uhr dreißig, und so schlage ich vorsichtshalber eine dreiviertel Stunde früher in der Küche auf.

»Guten Morgen«, begrüßt Pauline mich und beißt in ein Weizenbrötchen, das sie mit reichlich Erdbeermarmelade bestrichen hat. »Komm, setz dich zu mir.« Sie deutet auf den Platz neben sich auf der Eckbank.

»Moin«, grüße ich mit meinem Hamburger Slang in die Runde und stelle mich den Anwesenden vor.

Am Ende des Tisches sitzen die beiden Zimmermädchen. Eliza, die Jüngere von ihnen, plappert munter drauflos.

»Erzähl mal: Was hast du früher gemacht?« Sie wandert mit ihrem Blick durch den Raum. »Also, bevor du hier gelandet bist.«

»Ich war Studentin«, antworte ich und nehme mir eine Scheibe Käse von der Platte, die Pauline mir reicht. »Musst du um diese Zeit nicht längst an der Rezeption sein?«, frage ich sie und sehe auf die Uhr über der Tür.

»Stimmt. Doch manchmal positioniere ich dort eine Glocke, die dann hier läutet.« Sie tippt auf das Smartphone, das neben dem Teller liegt. »Und wenn der Alarm anschlägt, bin ich in Sekunden dort.«

»Das ist übrigens Oliver, unser Techniker und Hausmeister.« Pauline stellt mir einen dunkelhaarigen Kollegen vor, der soeben die Personalküche betreten hat. Seine breiten Unterarme und der kräftige Händedruck lassen erahnen, dass er zupacken kann.

»Willkommen im Team.« Nachdem er mich begrüßt hat, greift er in den Brotkorb und schnappt sich ein Croissant, das er mit einer dicken Schicht Nutella bestreicht.

Ben ist glücklicherweise noch nicht aufgetaucht, was mir bestimmt die Laune verdorben hätte. Wenn ich an seine gestrige Arroganz denke, brodelt es in meinem Bauch.

Eliza wischt sich mit dem Handrücken den Milchschaum vom Mund. »Du hast also studiert? Und was, wenn ich fragen darf? Landschaftsbau oder Landschaftsarchitektur?«

»Nichts von beiden.« Verlegen kratze ich mich am Kopf. »Meine Eltern besitzen eine Gärtnerei und deshalb hatte ich die Idee, mich in diesem Bereich zu bewerben, bevor ich entscheide, wie es weitergeht«, erzähle ich nur die halbe Wahrheit. Nicht dass sie denken, ich würde meine Arbeit hier nur halbherzig tun.

»Will noch jemand Kaffee?« Eine groß gewachsene Frau, deren dunkle Locken bei jedem Schritt wie Spiralen auf und ab hüpfen, spaziert in die Küche. Fasziniert blicke ich auf den Glanz auf ihrer Haut. Ihre Uniform betont ihre schlanke Statur. »Ah, ein neues Gesicht.« Sie reicht mir die Hand. »Hallo, ich bin Nala.«

»Und ich bin Franzi.«

Sie schenkt mir Kaffee nach. »Hat jemand von euch Anne gesehen?«, fragt sie und bückt sich, so als würde sie unter dem Tisch nachsehen, ob selbige sich dort versteckt.

Ich verkneife mir ein Grinsen.

»Sie ist vorhin nach oben und wollte die Gemüselieferung annehmen«, antwortet Pauline.

»Außerdem frühstückt Madame doch nie mit uns«, entgegnet Oliver und rümpft die Nase.

»Also, wo waren wir stehen geblieben?«, fragt Eliza und lächelt.

Ich blicke zur Seite, auf der Suche nach einem Ausweg. Bitte keine Befragung so früh am Morgen, denke ich und seufze innerlich. Warum kann ich nicht der morgendlichen Plauderei der anderen lauschen?

Als könnte sie Gedanken lesen, mischt Pauline sich ein. »Nun lass Franzi doch erst einmal ankommen. Wenn du so weitermachst, vergraulst du sie noch vollends.« Sie zwinkert mir zu.

Dankbar lächle ich sie an.

»Ja eben«, pflichtet Oliver ihr bei. »Jeder, der hier freiwillig arbeitet …«

Pauline verpasst ihm einen Stoß. »Wirst du wohl still sein?«

Ich runzle die Stirn. Mein Blick wandert zwischen den beiden hin und her.

Pauline springt auf. »So, ich muss nun an die Rezeption. Oliver, bist du so lieb und zeigst Franzi ihren Arbeitsplatz?« Sie dreht sich noch einmal zu mir. »Die Rosen müssen dringend geschnitten werden. Doch das erkennt dein geschultes Auge sicher sofort, wenn du den Garten betrittst.«

Hoffentlich, will ich sagen, halte jedoch die Klappe.

Kurz darauf ist es so weit. Mein erster Arbeitstag beginnt.

Oliver hält mir die Tür auf und ich husche an ihm vorbei, nur um dann gleich wieder auf ihn zu warten.

»Da entlang.« Er zeigt mir den Frühstücksraum für die Gäste, in dem es nach frisch gemahlenem Kaffee duftet. Wie ich diesen Geruch liebe! Jazzmusik dringt aus den Lautsprechern an der Decke. Definitiv besser als die laute Rockmusik bei meiner gestrigen Ankunft.

In der dahinterliegenden Küche lerne ich Anne kennen, eine Frau in den Fünfzigern, die gerade dabei ist, Obst klein zu schnippeln. Mit ihren geschminkten Lippen und dem selbstbewussten Blick macht sie den Anschein, als führe sie hier das Reglement. Die weiße Schürze und der schwarze Rock bilden einen herrlichen Kontrast zu Annes glatten, blonden Haaren. Sie präsentiert für mich genau den Typ Frau, der üblicherweise in der Werbung für teure Kosmetikprodukte wirbt.

»Ich habe leider überhaupt keine Zeit«, sagt sie nach einem knappen Gruß und widmet ihre Aufmerksamkeit einem Apfel. Mit einem energischen Schnitt teilt sie ihn in zwei Hälften, als würde sie damit das Schicksal zweier Länder besiegeln.

Olivers verzerrter Gesichtsausdruck lässt erahnen, dass er nicht gut auf sie zu sprechen ist. Ob er uns nur der Höflichkeit wegen einander vorgestellt hat?

»Da draußen ist übrigens dein Reich.«

Ich folge ihm wieder hinaus in den Frühstücksraum. Mein Blick fällt durch die bodentiefen Sprossenfenster, die mit ihren weißen Rahmen edel wirken. Es ist, als befände man sich in einem Wintergarten. Bestimmt lieben die Gäste es, in diesem gemütlichen Ambiente zu frühstücken. Zumal die Tische mit ihren cremefarbenen Tischdecken und den goldenen Kerzenleuchtern darauf zum Verweilen einladen. Die Decke ist mit Stuck verziert. Dieses Hotel hat sicher schon einiges erlebt. Die abgenutzten Polstermöbel in der Nische wirken etwas altmodisch, aber sie tragen auch zum Charme des Raumes bei.

Mit einer gewissen Vorfreude und Nervosität betrete ich hinter Oliver den Garten. Dort verschlucke ich mich fast an meiner eigenen Spucke. Eine Mischung aus Faszination und Entsetzen macht sich in mir breit. Die parkähnliche Grünanlage ist weitläufig. Kieselsteine säumen die Wege. Ich sehe über die Wiese bis zur Ostsee. Der Wind weht mir mit einer sanften Brise um die Nase und ich nehme einen kräftigen Atemzug. Mit zusammengepressten Lippen scanne ich das wuchernde Unkraut auf den Terrassenplatten ab. Ich betrachte die ungepflegten Büsche. Vermutlich wurden die schon lange nicht mehr geschnitten. Die gusseisernen Gartenmöbel, die lieblos in einem Schuppen übereinander getürmt sind, strotzen nur so vor Spinnweben und anderen toten Insekten. Ich unterdrücke ein Würgen.

Oliver schiebt die Hände in seine Hosentaschen. »Wie du siehst, gibt es hier einiges zu tun.«

Ich nicke stumm. Es wird Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern, bis ich mich hier durchgekämpft habe – so viel ist klar.

»Hier findest du die Kettensäge, den Aufsitzmäher und dort drüben im Regal jede Menge Gartenwerkzeuge.«

Ich nicke.
Oliver hebt die Hand zum Gruß. »Ich wünsche dir viel Erfolg.«

War das eben sarkastisch gemeint oder bilde ich mir das ein?

Ich trete wieder in den Garten hinaus und sehe mich um – in dieser grünen Hölle. Obwohl ich viel eher sagen müsste: braune Hölle. Denn die Wiese scheint sich in den Wintermonaten nicht erholt zu haben, und offenbar hat sich seit Monaten niemand mehr um den Rasen gekümmert.

Ich stöhne leise. Na, dann auf in den Kampf, du schaffst das. Ohne an die vor mir liegende Arbeit zu denken, hole ich mir eine Gartenschere aus dem Schuppen und lege los. Während ich holzige Triebe komplett entferne und sie in den Gartenabfallsack werfe, fällt mein Blick ständig auf die vornehme Fassade des Hotels. Wenn hier wieder alles blühen würde, gäben die Pflanzen einen wunderbaren Kontrast zum strahlenden Weiß des Hauses. Dazu die schicken Gartenmöbel. Vorausgesetzt, ich schaffe es, den eingetrockneten Schmutz darauf zu entfernen.

Entschlossen knöpfe ich mir Rose um Rose vor, auch wenn das Meer dieser Pflanzen kein Ende zu nehmen scheint. Ich kürze die Seitentriebe. Das ist genau die Art von Arbeit, die ich nach dem Trubel der Studienzeit brauche. Sie hat etwas Meditatives. Schmunzelnd denke ich an Kathi, die mich viel zu gut kennt, als dass sie mir diese Gedanken abnehmen würde.

Immer wieder wandert mein Blick zur Fassade. Die beiden Türme an den Seiten lassen das Hotel wie eine kleine Burg wirken. Bestimmt sind die Turmzimmer besonders kostspielig.

Ein wehender Vorhang im obersten Stockwerk erregt meine Aufmerksamkeit. Ist da jemand am Fenster? Ich lege die Hand an die Stirn, schütze meinen Blick vor der einfallenden Sonne. Ein Mann steht dort und fixiert mich. Ich gehe einen Schritt zurück. Ein Kribbeln rast über meinen Rücken. Warum sieht er mich so an? Ich wende mich ab und nehme mir eine weitere Rose vor. Mit jeder Bewegung sticht mir seine Anwesenheit in den Rücken. Soll ich weiterarbeiten und so tun, als würde ich den Unbekannten nicht bemerken? Ich kürze weiter die Seitentriebe, doch es ist schwer, sich nicht ablenken zu lassen. Erneut wandern meine Augen nach oben. Er steht immer noch da. Langsam reicht es mir. Ich lege die Schere auf den Kiesweg und blicke gezielt zu ihm hoch. Wollen wir doch mal sehen, wer den längeren Atem hat? Moment mal … ist das nicht … Ben? Ja, er muss es sein. Ich kneife die Augen zusammen. Jetzt erkenne ich ihn deutlich.

Provokant stemme ich die Hände in die Hüften. »Solltest du nicht auch arbeiten, anstatt hier so untätig rumzustehen?«, rufe ich hoch. Hoffentlich wecke ich keinen der Hotelgäste oder verärgere sie gar mit meiner Lautstärke.

Ben regt sich nicht.

Ich verdrehe die Augen und mache mich wieder an die Arbeit. Im nächsten Moment rutsche ich ab und reiße mir an einer der Dornen den Zeigefinger auf. Ich beiße mir auf die Unterlippe und blicke erst auf meinen blutenden Finger und dann erneut zu Ben nach oben.