Leseprobe Das verborgene Erbe der Highlands

Prolog

Im schottischen Grenzland, 1530

Das flachshaarige kleine Mädchen huschte lautlos die dunkle, gewundene Dienstbotentreppe hinauf und spitzte die Ohren nach jedem Geräusch. Zwar würden ihr die Bediensteten nichts tun, doch nicht alle Bewohner des Farnsworth Tower waren so harmlos.

Ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen, flitzte sie an der Kemenate der Lady vorüber, damit diese ihr keine lästige Arbeit auftragen konnte.

Wenn sie es bis zu Sir Hectors Studierstube schaffte, würde er ihr vielleicht erlauben, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten, und ihr interessante Geschichten aus alten Zeiten erzählen. Sir Hector konnte gut erzählen, doch selbst wenn er heute nicht zum Reden aufgelegt war, durfte sie vielleicht bleiben und ihm bei der Arbeit zuschauen. Es war schön bei Sir Hector und so friedlich. Wenn er zu arbeiten hatte, konnte sie ihre Fantasie schweifen lassen und sich selbst Geschichten ausdenken. Und außerdem würde sie dort niemand suchen.

Schon reckte sie sich nach der Klinke an Sir Hectors Kammertür, da hörte sie schnelle Schritte auf der Haupttreppe am anderen Ende des kurzen Korridors. Als das Kind merkte, wer da kam, drückte es sich in den Schatten der engen Mauernische zwischen Sir Hectors Kammer und der Dienstbotentreppe, wo normalerweise Eimer und Wischlappen untergebracht waren, die heute jedoch glücklicherweise leer war.

Lady Farnsworth erschien im Durchgang zur Treppe, kam heranmarschiert und stieß Sir Hectors Tür so schwungvoll auf, dass diese innen gegen die Wand krachte und dann ein wenig zurückschwang.

„Ihr müsst auf der Stelle etwas unternehmen, Mann“, schrie Lady Farnsworth mit schriller Stimme. „Das kann so nicht weitergehen.“ Das Kind schlich auf Zehenspitzen ein wenig näher und spähte durch den Türspalt.

 

Ärgerlich über die unerwünschte Störung löste Sir Hector Farnsworth behutsam die Schnüre seiner Brille von den Ohren und legte die Brille auf ihren angestammten Platz auf dem Schreibtisch. Nur so konnte er einigermaßen sicher sein, dass er sie nicht wieder mit einer schroffen Bewegung vom Tisch und quer durch den Raum fegen würde. Es war immer so peinlich, wenn dann ein Diener kommen und sie suchen musste. Erst als er die Brille sicher verstaut hatte, blickte er seine Frau an.

Auch ohne Brille konnte er ihre stämmige Gestalt gut genug erkennen. Er bemerkte nicht nur, dass ihr Mehrfachkinn vor Empörung zitterte, sondern auch, dass ihre Haube und die bemerkenswerte feuerrote Perücke darunter bedenklich verrutscht waren. Es waren die kleinen Dinge in nächster Nähe, die er mit bloßem Auge nur schwer ausmachen konnte. Zuweilen aber waren schwache Augen durchaus von Vorteil, so zum Beispiel, wenn seine Frau sein Bett heimsuchte. Sonst jedoch waren sie ein Ärgernis für einen gebildeten Herrn mit einer lebhaften Korrespondenz und einem Interesse an der Rechtsprechung, wie sie auf Schloss Stirling geübt, im wilden Grenzland jedoch nur wenig beachtet wurde.

In ruhigem Ton wandte er sich an seine Frau und hoffte, dass man ihm seine Verärgerung nicht anhören konnte. „In welcher Angelegenheit genau sollte ich etwas unternehmen, Madam?“

Lady Farnsworths Busen bebte vor Aufregung und das wenig damenhafte Schnauben, mit dem sie ihre nächsten Worte einleitete, zeigte ihm, dass seine sanfte Stimme sie in keiner Weise besänftigt hatte.

„Ihr müsst sofort an den Grafen von Angus schreiben und ihm sagen, dass er sich unbedingt an unsere Abmachung zu halten hat, wenn wir uns weiter um sein missratenes Gör kümmern sollen.“

„Das wäre überaus anmaßend von mir“, erwiderte Sir Hector verstimmt. „Ein Mann von untergeordnetem Rang wie ich fordert keinen Grafen zu irgendetwas auf, und schon gar nicht den Grafen von Angus.“

„Verpackt das Anliegen meinetwegen in so viele höfliche Floskeln wie Ihr wollt“, entgegnete seine Frau, stemmte die Arme in die ausladenden Hüften und beugte sich über den Schreibtisch zu ihm hinüber. „Aber macht seiner Lordschaft klar, dass er uns wie versprochen das Geld für ihren Unterhalt schicken muss.“

„Oder?“

„Oder was?“

„Genau das ist meine Frage, Madam. Was soll ich Eurer Ansicht nach mit dem Mädelchen machen, wenn Angus sich weigert?“

„Nun, sie rauswerfen natürlich. Schickt sie von mir aus zu den Nonnen oder lasst sie von einer Familie im Dorf aufziehen. Sie ist einfach keine geeignete Gesellschaft für Eure Töchter, zumal ihre Mutter keineswegs eine Frau von Stand war. Mag auch Angus ihr Vater sein, so war ihre Mutter doch nur eine einfache Dienstmagd.“

„Meine Güte, Madam“, sagte Sir Hector und rieb sich mit seiner angenehm kühlen Hand den heißen Nacken, „die kleine Elspeth lebt hier doch schon seit fast vier Jahren. Das ist mehr als die Hälfte ihres Lebens. Sicher sieht sie den Farnsworth Tower mittlerweile als ihr Zuhause an und Drusilla und Jelyan als ihre Schwestern.“

„Sie sind aber nicht ihre Schwestern, Sir. Und falls sie diese Ansicht hegt, sollte man sie ihr schleunigst austreiben. Wenn Angus sich weigert, für sie aufzukommen, kann er schwerlich erwarten, dass wir es tun. Schließlich ist sie sein Bastard und nicht der Eure.“

„Madam, ich wünsche solch vulgäre Worte nicht aus Eurem Munde zu hören.“

Sie brachte es immerhin fertig, zu erröten, fuhr jedoch gleich darauf in demselben harten Ton fort: „Die Bezeichnung mag Euch missfallen, Sir, dennoch ist sie zutreffend. Nennt Elspeth seine natürliche Tochter, wenn es Euch beliebt. Das ändert jedoch keinen Deut an den Tatsachen.“

„Ich möchte Euch daran erinnern, dass sich Angus zurzeit im Exil befindet.“

„Ja, und das trifft auf drei der vier Jahre zu, in denen das Kind bei uns ist, nicht wahr? Aber er hat Euch doch noch Geld geschickt, nachdem er vor dem Zorn des Königs zu Heinrich von England geflohen war. Also kann es nicht an seinem Exil liegen, wenn er jetzt nichts mehr bezahlt.“

„Vielleicht hat er nicht einmal mehr genug für sich selbst“, gab Sir Hector zu bedenken.

„Es heißt, er lebe sogar aufwändiger als Heinrich von England selbst, wenn er in London ist. Obwohl er sich ja meistens in dem Haus aufhalten soll, das ihm Heinrich in der Nähe von York zur Verfügung gestellt hat. Und außerdem möchte ich Euch daran erinnern, Sir, dass Angus es zweimal geschafft hat, eine Armee aufzustellen, um unsere Grenze anzugreifen. Und es geht das Gerücht, dass er beabsichtigt, es ein drittes Mal zu versuchen.“ Als ihr Mann bloß das Gesicht verzog, reckte sie das Kinn vor und fügte hinzu: „Eure Mutter mag ja stolz auf ihre Verwandtschaft mit den Douglas gewesen sein, aber ich wette, selbst sie würde nicht die Partei dieses elenden Häuptlings im Exil gegen den König der Schotten ergreifen!“

„Also bitte, meine Liebe.“ Zum ersten Mal in dieser Unterredung fühlte sich Sir Hector in die Ecke gedrängt. „Ihr wisst doch sehr gut, dass Bündnisse im Grenzgebiet recht … nun ja, wechselhaft sind.“

„Nennen wir sie ruhig unzuverlässig“, fauchte sie. „Aber ich bleibe dabei, wenn Angus will, dass Ihr Euch um seine Göre kümmert, dann soll er sich an die Abmachung halten.“

„Ich werde ihm schreiben und ihn daran erinnern, dass das Mädchen Unterhalt benötigt“, lenkte Sir Hector schließlich ein. „Aber ich denke, harte Worte sind hier unangebracht. Ein dezenter kleiner Hinweis dürfte wohl genügen.“

„Seid so dezent, wie Ihr wollt, Sir, aber macht dem abscheulichen Grafen klar, dass wir das Balg sich selbst überlassen, wenn er nicht spurt.“

„Dergleichen werde ich ihm auf keinen Fall schreiben“, sagte Sir Hector und griff nach seiner Brille. Er strich geistesabwesend mit dem Finger über ihren silbernen Rahmen, als er hinzufügte: „Wir schicken sie weder ins Kloster noch ins Dorf. Elspeth bleibt hier im Farnsworth Tower.“

„Dann muss sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie ist immerhin schon fast sechs Jahre alt.“

„Ja, das muss sie wohl, wenn Angus sein Wort nicht hält“, stimmte ihr Mann ihr zu. „Und jetzt, wenn es sonst nichts mehr zu besprechen gibt …“

 

Draußen vor der halb geöffneten Tür lauschte die kleine Elspeth mucksmäuschenstill. Als sie hörte, wie Sir Hector die Lady entließ, fuhr sie mit schreckgeweiteten Augen herum wie ein verängstigtes Reh auf der Flucht. Doch sie lief dem Unheil direkt in die Arme.

„Elspeth, du ungezogenes Kind!“, rief die neunjährige Drusilla Farnsworth aus. „Du lauschst an der Tür meines Vaters? Dafür bekommst du bestimmt eine gehörige Abreibung!“

„Das ist mal sicher“, ließ sich Lady Farnsworths wütende Stimme von der Tür her vernehmen.

Derart in die Enge getrieben erstarrte Elspeth förmlich vor Angst. Sie gab jedoch keinen Mucks von sich, da sie aus Erfahrung wusste, dass jedes Wort von ihr die Strafe nur verschlimmern würde.

Kapitel 1

Im schottischen Hochland, zehn Jahre später

Zwölf Schiffe segelten durch den engen Sund von Raasay zwischen der Ostküste der Insel Skye und der Westküste von Kintail auf dem schottischen Festland. Am Ende des Sundes nahmen die Schiffe Kurs auf Loch Alsh. Noch stieg leichter Morgennebel vom Loch auf und ließ die umliegenden steilen Hügel in graublauem Dunst verschwimmen. Doch es versprach, ein schöner Augusttag zu werden. Und wirklich, noch bevor die Schiffe ihr Ziel erreicht hatten, löste sich der Nebel bereits auf.

Auf Burg Eilean Donan, die auf einer kleinen Insel an der Stelle lag, wo sich Loch Alsh in Loch Long und Loch Duich gabelte, erscholl der erste Alarmruf von den Festungsmauern.

„Schiffe auf dem Loch!“

Der Ruf drang durch das gewundene Treppenhaus bis in die große Halle, wo der Burgvogt, Sir Patrick MacRae, an der großen Tafel saß und die Unterlagen studierte, die ihm die Burgherrin vorgelegt hatte. Wie immer überflog er die Eintragungen nur flüchtig, da er niemals Fehler in den sorgfältigen Berechnungen der Lady fand. Er wollte die Bücher gerade beiseitelegen, als er den Warnruf vernahm. Patrick MacRae war ein großer, muskulöser Mann mit breiten Schultern, dunklem Haar und grauen Augen. Jetzt sprang er flink und behände auf und rannte ins Treppenhaus, wobei er zwei bewaffneten Männern winkte, ihm zu folgen. Auf halber Höhe kam ihnen der Wachtposten entgegen.

„Schiffe, Sir!“

„Wie viele?“, wollte Patrick wissen, während er sich an dem Mann vorbeidrückte.

Der Wächter schloss sich ihnen an. „Ich konnte sie nicht genau zählen, aber es waren bestimmt zehn, vielleicht sogar ein Dutzend.“

„Wie weit weg?“

„Schon zu nahe“, entgegnete der Mann mit gepresster Stimme. „Vielleicht anderthalb Meilen hinter Glas Eilean.“

„Also sind sie noch drei oder vier Meilen entfernt. Wie ist der Wind?“

„Eine steife Brise von Nordwesten, Sir. Ich schätze, uns bleibt höchstens noch eine Stunde.“

Ohne ein weiteres Wort sprang Patrick die letzten Stufen hinauf. Als er durch die Tür auf den zinnenbewehrten Gang hinaustrat, sah er sofort, was der Wachtposten gemeint hatte. Es verschlug ihm förmlich den Atem. Ein Dutzend stattlicher Schiffe kam auf die Burg zugesegelt, eines davon noch beträchtlich größer als die übrigen.

„Heilige Mutter Gottes“, murmelte er.

Die anderen drei Männer drängten sich ebenfalls an die Brüstung. Auch ihnen sank der Mut.

Mit knappen Worten wandte sich Patrick an die beiden Soldaten aus der Halle: „Der Laird und die Lady sind im Dorf. Geht sie auf der Stelle holen. Und bringt alle mit, die in unseren Mauern Schutz suchen wollen.“

„Was glaubt Ihr, wer das da ist, Sir?“, fragte der dritte Mann, der bei Patrick zurückblieb. „Wieder diese vermaledeiten Macdonalds? Es ist jetzt schon mehr als ein Jahr her, dass ihr Laird bei einem Angriff auf Eilean Donan den Tod fand, aber vielleicht will der junge Donald ja in die Fußstapfen seines Vaters treten.“

„Das sind keine Langboote der Macdonalds“, erwiderte Patrick. „Ich weiß nur von einer Flotte, die hier in der Nähe unterwegs ist. Das müssen Jakobs Schiffe sein.“

„Der König?“, flüsterte der Mann ehrfürchtig.

„Ja“, antwortete Patrick grimmig. „Ich wünschte, unsere neue Festungsanlage wäre schon fertig und die Kanone darauf in Stellung gebracht.“

„Aber hätte Seine Majestät seinen Besuch nicht angekündigt, Sir? Die Leute von Portree wussten es schon eine Woche vorher, als er zu ihnen kam.“

„Wenn er als Gast käme, hätte er uns schon vorgewarnt“, sagte Patrick. „Aber man erzählt sich, dass er Hochlandhäuptlinge als Geiseln nimmt, um jeden Aufstand gegen ihn im Keim zu ersticken. Er hat schon Macdonald von Clanranald, Macdonald von Glengarry und MacLeod von Dunvegan gefangen genommen.“

„Aber warum sollte der König der Schotten hierher kommen? Wenn er wirklich seine Feinde einkassiert, dann sollte er vor allem an Donald Gorm von Sleat denken. Immerhin hat dessen Vater, der grimmige Donald, letztes Jahr versucht, die Herrschaft über die Inseln an sich zu reißen. Dafür hat er sogar eine Armee und Flotte gegen den König aufgestellt. Unser Laird dagegen stand immer treu auf Jakobs Seite. Sein Vater und der Eure sind ja sogar im Kampf gegen den Verräter Donald gefallen und der ist hier beim Angriff auf unsere Burg ums Leben gekommen.“

„Ja schon“, sagte Patrick bloß und wandte seinen Blick nicht von der sich nähernden Flotte. Sein Gefühl sagte ihm, dass Seine Hoheit keineswegs kam, um Dank dafür abzustatten, dass man ihm den grimmigen Donald vom Halse geschafft hatte.

Als Patrick endlich sah, wie Mackenzie von Kintail und seine Lady über den schmalen Tidenkanal gerudert wurden, der das Inselchen vom Festland von Kintail trennte, war die Vorhut der Schiffe schon so nahe, dass man die königlichen Banner erkennen konnte.

Patrick rannte die Treppe hinunter und rief dabei den Männern in der Halle Befehle zu, als Kintail mit seiner Frau Molly, Lady Kintail, in die Halle trat.

„Wir haben sie von drüben gesehen“, sagte Kintail „Was hältst du davon, Patrick?“

„Ist es wirklich der König?“, fragte Molly.

„Ja, da bin ich sicher“, antwortete ihr Patrick und zwang sich zu einem Lächeln. Er war der Frau seines Herrn herzlich zugetan.

Dann wandte er sich an den Laird, mit dem er seit Kindertagen eng befreundet war: „Ich glaube, da steckt nichts Gutes dahinter, Fin. Wenn Jakob und seine Leute unverhofft hierher kommen, dann kann das nur bedeuten, dass sie uns mit Absicht nicht vorher benachrichtigt haben.“

„Es geht das Gerücht, dass Jakob und Kardinal Beaton Geiseln nehmen“, wandte Molly ein. „Aber es wäre doch sinnlos, Fin gefangen zu nehmen. Wir haben gegen Donald gekämpft. Und im Übrigen hatten wir die Absicht, den September auf Dunsithe zu verbringen!“

„Darauf kann ich Euch auch keine Antwort geben“, erwiderte Patrick. „Man kann nie wissen, was Jakob denkt. Aber der Wind hat aufgefrischt, also werden wir nur zu bald erfahren, woran wir sind.“

Eine halbe Stunde später kamen einige Männer in einem Boot vom vordersten Schiff aus an die Burg herangerudert und forderten Kintail auf, sich dem König zu ergeben. Kintail weigerte sich mit allem Respekt und schlug vor, zunächst einmal in aller Ruhe über die Angelegenheit zu reden.

Kurz darauf donnerte der erste Schuss aus der Schiffskanone.

Die Soldaten der MacRaes unter Patricks Führung taten ihr Bestes, die Burg zu verteidigen, doch obgleich Eilean Donan den meisten Angriffen standhalten konnte, boten seine Mauern doch keinen Schutz vor Kanonenkugeln. Schon bald drohten Teile der Befestigungsmauern unter dem heftigen Beschuss einzustürzen und Kintail befahl die Kapitulation.

„Rudere zu Jakobs Schiff hinüber und sag ihm, dass ich mich ergebe“, knurrte er Patrick zu. „Lade Seine Hoheit zum Abendessen ein und biete ihm ein anständiges Nachtlager an.“

Patrick machte sich unverzüglich auf den Weg zum größten der Schiffe, doch bald musste er einsehen, dass er besser daran getan hätte, sich die Banner genau anzusehen. Als er nämlich an Bord ging, bat er einen Soldaten, ihn zum König zu bringen. Der Mann schüttelte den Kopf, weil er die gälischen Worte nicht verstand, also wiederholte Patrick sie in schottischem Englisch. Daraufhin bedachte ihn der Mann mit einem schiefen Lächeln und sagte: „Wenn Ihr Seine Hoheit sprechen wollt, seid Ihr auf dem falschen Schiff, Sir.“

„Wessen Schiff ist denn das hier?“

„Es gehört Kardinal Beaton. Das da drüben ist das des Königs“, fügte er hinzu und zeigte dabei auf das zweitgrößte Schiff.

„Dann werde ich hinüber fahren.“

„Wenn Ihr …“ Der Mann verstummte und nahm Haltung an. Dabei hielt er die Augen starr auf einen Punkt hinter Patrick gerichtet.

Als Patrick sich umdrehte, sah er sich einem Mann gegenüber, den die meisten Frauen wohl attraktiv gefunden hätten. Er war Ende vierzig und ganz in Rot gekleidet. Sein elegantes Samtwams und die Pluderhose waren nach französischer Mode geschlitzt und mit karminroter Seide unterfüttert.

„Ich bin Davy Beaton“, sagte der Mann. „Seid Ihr befugt, dem König Eilean Donan zu übergeben?“

„Ja, Sir“, antwortete Patrick. „Ich bin Patrick MacRae, der Burgvogt, und handle auf Weisung von Mackenzie von Kintail.“ Er war sich nicht sicher, wie er Kardinal Beaton anreden sollte, der als einer der mächtigsten Männer Schottlands galt und vielleicht sogar mehr Macht als der König besaß. Also benutzte er überhaupt keinen Titel, was den Kardinal nicht weiter zu stören schien.

Patrick fuhr fort: „Kintail bittet Euch und Seine Hoheit, den König, mit uns auf Eilean Donan zu speisen und hier auch die Nacht zu verbringen, wenn Ihr es wünscht. Bringt so viele Männer mit, wie Ihr wollt. Der Laird möchte allerdings daran erinnern, dass wir immer treue Untertanen Seiner Hoheit waren. Daher erachtet er es für unziemlich, in seinem friedlichen Heim in dieser Weise angegriffen zu werden.“

Beaton zog die Brauen hoch. „Friedlich?“

„Ihr wart es schließlich, die den ganzen Aufruhr verursacht haben“, entgegnete Patrick unumwunden.

„Ja schon, aber Ihr habt uns die Tore vor der Nase zugeschlagen.“

„Aber nur, weil der König Kintail als Geisel nehmen wollte. Bei allem Respekt, Sir, aber seine Freunde nimmt man nicht gefangen. Dafür hättet Ihr Euch besser den jungen Donald von Sleat aussuchen sollen, der Euer eingeschworener Feind ist.“

„Das wollten wir auch“, erwiderte Beaton, „aber er ist geflohen, nachdem ihn jemand gewarnt hat. Zweifellos wird er bei Heinrich von England Unterschlupf finden. Er wäre nicht der erste unter den Feinden des Königs, der sich nach England rettet.“

„Das ist nur allzu wahr“, pflichtete ihm Patrick bei. Er hatte Heinrich von England, den achten seines Namens, nie kennengelernt, doch wie jeder gebildete Schotte wusste er, dass Heinrich schon seit vielen Jahren ein Stachel im Fleisch seines königlichen Neffen Jakob von Schottland war. „Doch wie dem auch sei“, fuhr Patrick fort, „Kintail ist jedenfalls kein Feind des Königs, Sir.“

„Am besten nennt Ihr mich vielleicht ‚Mylord‘ oder ‚Eminenz‘, Sir Patrick“, sagte Beaton lächelnd.

Patrick erwiderte das Lächeln, erstaunt darüber, dass Beaton seinen Namen kannte. „Ich bitte um Vergebung, Mylord, aber ich habe noch nie mit einem Kardinal gesprochen.“

„Ich bin außerdem der legatas ad latere des Papstes“, sagte Beaton.

Über diese Neuigkeit wunderte sich Patrick. Da er an der Universität von St. Andrews studiert hatte, die dem Erzbistum unterstand, wusste er, dass ein päpstlicher Legat als Stellvertreter des Papstes in Schottland fungierte.

Zweifelnd fragte er: „Bedeutet das, dass Ihr hier die Entscheidungen trefft, Mylord, oder soll ich die Einladung meines Herrn auch noch dem König überbringen?“

Zu Patrick Verwunderung verzog Beaton ein wenig das Gesicht. „Ich bin sicher nicht derjenige, der hier die Entscheidungen trifft, Sir Patrick. Daher solltet Ihr Euch an Seine Hoheit wenden. Vielleicht nimmt der König ja Kintails großzügiges Angebot an – falls Ihr ihn davon überzeugen könnt, dass es für ihn von Nutzen ist.“

Patrick wurde aus alldem nicht recht schlau. Daher verneigte er sich nur mit den Worten: „Ich danke Euch, Eminenz, und werde mich unverzüglich auf das Schiff Seiner Hoheit begeben.“

Als er sich schon zum Gehen wenden wollte, sagte Beaton freundlich: „Ich habe mir sagen lassen, Sir Patrick, dass Ihr ein treuer Gefolgsmann des Lairds Mackenzie von Kintail seid. Vielleicht sehen wir uns woanders noch einmal wieder.“

Verwundert zog Patrick die Augenbrauen hoch. „Ich weiß nicht, was Ihr meint, Mylord. Ich werde wohl hier auf meinem Posten bleiben, außer natürlich, Seine Hoheit befiehlt mir, meinen Herrn in meiner Eigenschaft als Burgvogt von Eilean Donan und Dunsithe – Kintails Burg an der Grenze – zu begleiten.“

„Wie dem auch sei, Sir, solltet Ihr jemals einen Freund auf Schloss Stirling brauchen, könnt Ihr Euch gerne an mich wenden.“

Patrick machte abermals eine Verbeugung. Er war noch immer nicht schlauer als zuvor. „Auf jeden Fall danke ich Euch und hoffe, Ihr haltet es nicht für unehrerbietig, wenn ich mir wünsche, eine solche Gelegenheit möge niemals eintreten.“

Mit unergründlicher Miene nickte Beaton. Damit war Patrick entlassen.

Noch immer verwirrt kletterte Patrick über die Strickleiter in sein Boot und wies die Ruderer an, ihn zum nächsten Schiff hinüberzubringen. Dort führte ihn ein Diener, dem er sein Anliegen mitgeteilt hatte, unter Deck zu einer Kabine. Hinter der Tür ertönte kräftiges Männerlachen.

Patricks Begleiter öffnete die Tür und verkündete mit lauter Stimme: „Sir Patrick MacRae wünscht eine Unterredung mit Euer Hoheit, sofern es Euch genehm ist, Sire.“

Von drinnen antwortete eine sanfte Stimme: „Bitte ihn herein.“

Der Diener trat beiseite und ließ Patrick eintreten. In der luxuriös ausgestatteten Kabine hielten sich zwei Männer auf. Sie trugen so prächtige Gewänder, dass Patricks eigene Kleider dagegen schäbig und altmodisch wirkten. Die Wände waren mit Wandteppichen verkleidet und Teppiche bedeckten den Dielenboden. Zwischen den beiden Männern stand ein Intarsientischchen, darauf ein lederner Würfelbecher mit zwei Elfenbeinwürfeln, eine goldene Weinkaraffe und zwei kunstvoll geschliffene Goldpokale.

Obgleich Patrick den König noch nie zuvor gesehen hatte, erkannte er auf Anhieb, wer von beiden Jakob der Fünfte, Oberster König der Schotten, war. Seine Hoheit war achtundzwanzig Jahre alt und mit dem roten Haar und den blauen Augen der Stewarts gut aussehend. Es wurde gemunkelt, dass er zu viel trank und herumhurte, und tatsächlich bemerkte Patrick, dass das Gesicht des Königs aufgedunsen und fleckig wirkte. Er dachte, dass ein wenig Bewegung, die über das Würfelspiel hinausging, Seiner Hoheit gut tun würde.

Der Mann, der neben Jakob saß, sah ebenso gut aus und war darüber hinaus jünger und schlanker. Er strahlte eine herrische Arroganz aus, die dem König gänzlich abging.

Patrick machte eine tiefe Verbeugung vor dem König und erhob sich erst wieder, als er seinen Namen hörte.

Lächelnd fragte Jakob in breitem schottischem Tonfall: „Unterwirft sich Euer Herr seinem König?“

„Das tut er, Euer Hoheit“, antwortete Patrick in derselben Sprache.

„Wo ist er dann“, mischte sich der andere Mann ein. „Er sollte selbst herkommen.“

Seine schrille, überhebliche Stimme gefiel Patrick ganz und gar nicht und er musste sich zusammenreißen, um ihm keine scharfe Antwort zu geben. Doch so dumm war Patrick nicht, denn wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Gentleman um einen der berüchtigten Favoriten des Königs.

Mit mühsam beherrschter Stimme sprach er beide zugleich an: „Als Burgvogt von Eilean Donan ergebe ich mich im Namen des Lairds von Kintail der Übermacht.“ Dann wandte er sich direkt an den König: „Er hat mir auch aufgetragen, Euch seine Gastfreundschaft anzubieten, Euer Hoheit. Der Laird bittet Euch, mit ihm und seiner Lady zu speisen und die Nacht in einem bequemen Bett auf der Burg zu verbringen. Es steht Euch selbstverständlich frei, so viele Begleiter mitzubringen, wie es Euch beliebt.“

Jakob gluckste belustigt, doch der andere Mann sagte empört: „Wahrscheinlich will er uns in unseren Betten ermorden lassen. Geh nicht, Jakob!“

„Sei friedlich, Oliver“, erwiderte Jakob mit einem freundlichen Lächeln. „Du weißt doch, dass diesen Hochländern die Gastfreundschaft heilig ist. Und außerdem waren die Mackenzies von Kintail stets treue Gefolgsleute der Krone.“

„Ich habe es dir schon so oft gesagt, Jakob. Einem Hochländer kannst du nur trauen, solange du ihn im Auge behältst. Glaubst du denn tatsächlich, er würde sich so leicht ergeben?“

Patrick hielt es für geraten, sich nicht in das Gespräch einzumischen, obwohl er Jakob am liebsten versichert hätte, dass er auf Eilean Donan nichts zu befürchten habe.

Als könne er Patricks Gedanken lesen, zwinkerte ihm der König zu und sagte: „Habt Ihr etwas zu Eurer Verteidigung vorzubringen, Sir?“

Mit einer erneuten Verbeugung erwiderte Patrick: „Nichts zu meiner eigenen Verteidigung. Ich möchte nur für die Leute von Kintail sprechen, die alle unverbrüchlich zu Euer Hoheit halten. Und selbst wenn Ihr ein Feind wäret, Sire, hättet ihr als Gast auf unserer Burg nichts zu befürchten. Das gebieten die Gesetze der Gastfreundschaft hier im Hochland. Sie gebieten ebenfalls, dass niemand abgewiesen werden darf, der um Gastfreundschaft bittet. In einem harten Winter könnte das nämlich einem Todesurteil gleichkommen.“

„Da siehst du es, Oliver.“ An Patrick gewandt setzte er lächelnd hinzu: „Aber ich habe Euch Oliver ja noch gar nicht vorgestellt, Sir Patrick. Dies ist Oliver Sinclair. Er ist mein Freund und alle, die mir gegenüber loyal sind, sind es auch gegen Oliver.“

„Alle Eure Freunde sind auf Eilean Donan willkommen, Sire“, antwortete Patrick. „Und vielleicht würde es Euch ja gefallen, heute Nacht in einem Bett zu schlafen, das nicht auf den Wellen schaukelt.“

„In der Tat“, kicherte Jakob. „Wir nehmen die Einladung Eures Herrn gerne an, Sir Patrick, und wollen hoffen, dass er seine Tore nie wieder vor uns verschließt.“

Patrick schwieg. Es hatte wenig Sinn, dem König zu erklären, dass Kintail seine Tore bereitwillig geöffnet hätte, hätte der König nicht grundlos seine Unterwerfung gefordert.

Nach kurzem Schweigen sagte der König: „Wir werden Euren Laird in einer Stunde aufsuchen, Sir. Ich hoffe nur, dass er und noch einige andere auf Eilean Donan Schottisch sprechen. Denn ich muss gestehen, dass ich nur ein paar Brocken dieses verflixten Gälisch beherrsche.“

„Wir sprechen alle Schottisch, wenn es sein muss, Sire. Kintail und ich waren auf der Universität von St. Andrews und unsere Lady ist mit Schottisch und Hochlandgälisch aufgewachsen, sodass sie jetzt beide Sprachen fließend spricht.

„Ach ja, ich erinnere mich an Lady Mackenzies Geschichte“, erwiderte Jakob. „Außerdem habe ich gehört, dass sie ein hübsches Mädchen sein soll. Wenn sie das Glück hat, Ihrer Mutter ähnlich zu sehen …“

Patrick ging es gehörig gegen den Strich, dass der König so leichtfertig von seiner Herrin sprach. Daher war es nur gut, dass Oliver Sinclair sich jetzt in mürrischem Ton einmischte: „Wenn du in einer Stunde mit Mackenzie und seiner Lady speisen willst, Jakob …“ Er runzelte die Stirn und schwieg.

„Ja, du hast recht“, erwiderte der König, „Sir Patrick muss sich auf den Weg machen und sie auf unsere Ankunft vorbereiten.“ Und an Patrick gewandt: „Sagt Eurem Herrn, ich bin erfreut darüber, dass er sich mir ohne Weiteres ergibt.“ Mit einer Handbewegung entließ er Patrick und griff nach dem Würfelbecher. Patrick wusste zwar, dass er sich rückwärtsgehend aus dem Raum hätte entfernen müssen, doch da er sich nicht mehr erinnerte, was hinter ihm war, warf er einen prüfenden Blick über die Schulter und hoffte nur, der König würde es nicht übel vermerken.

Da drang die schneidende Stimme Oliver Sinclairs an sein Ohr: „Du willst diesen Burschen doch wohl nicht vorausschicken, Jakob. Er und sein Herr werden sicherlich die Zeit nutzen, um etwas gegen uns auszuhecken.“

„Beruhige dich, Oliver“, sagte der König. „Ich sagte dir doch, wir haben nichts zu befürchten.“

Doch Sinclair gab sich noch nicht geschlagen. „Aber diese Hochlandhäuptlinge sind alle verräterische Hunde. Du hast Donald von Sleat vertraut und das Ergebnis kennst du ja. Das ganze Unternehmen hier dient doch schließlich dazu, diesen Barbaren eine Lektion zu erteilen, bevor sich noch mehr von ihnen gegen dich auflehnen, oder etwa nicht?“

Seufzend schob Jakob seinen Stuhl zurück. „Also gut, wir gehen jetzt gleich mit Sir Patrick. Bist du nun zufrieden?“

„Nur wenn wir genügend Soldaten mitnehmen.“

„Könnt Ihr unsere Männer unterbringen, Sir Patrick?“

„Ja, Euer Hoheit“, antwortete Patrick leise.

„Dann begleiten wir Euch jetzt sofort.“

Patrick schäumte innerlich vor Wut angesichts dieser Angriffe auf seine und Kintails Ehre. Dennoch verhielt er sich ruhig. Darüber, wer der mächtigste Mann in Schottland war, dachte er inzwischen anders.

Dieser Gedanke brachte ihn wieder auf sein Gespräch mit Beaton. Pflicht, Familienehre und die Gesetze der Freundschaft verlangten von ihm, dass er sich mit allen Kräften für Kintails Freilassung einsetzte. Da konnte es nicht schaden, einen mächtigen Freund auf Stirling zu haben.

 

Anderswo in einer anderen Zeit

Das Feuer war heruntergebrannt und tauchte die zwölf Gesichter der Runde in sein orangegoldenes Licht. Fast hatte es den Anschein, als ginge ein munteres Hochland-ceilidh mit Musik und Geschichtenerzählen seinem Ende entgegen. Doch diese Versammlung hier hatte nichts Festliches an sich. Reglos saßen die zwölf finsteren Schatten in ihren schwarzen Umhängen und auch die Flammen flackerten nicht munter wie bei einem gewöhnlichen Feuer.

Brown Claud saß unbehaglich außerhalb des Kreises ein kleines Stück hinter seiner Mutter Maggie Malloch, die ebenfalls der Runde angehörte. Das lange Schweigen machte ihm Angst, denn er war noch nie zuvor bei einem derartigen Treffen dabei gewesen und wusste auch nicht, warum man ihn diesmal herbefohlen hatte. Ihm war noch nicht einmal bekannt, von wem der Befehl ausgegangen war. Maggie hatte ihm lediglich gesagt, dass er kommen solle, und sich zu weigern kam gar nicht infrage, denn diese Runde hier lenkte die Geschicke seiner Welt.

„Aber warum wollen sie mich dabei haben?“, hatte er seine Mutter gefragt.

„Sie haben Fragen an dich und ich habe auch ein paar Fragen an sie. Sicher wollen sie etwas über deine jüngsten Erlebnisse im Hochland erfahren.“

„Aber über Catriona wollen sie doch bestimmt nichts wissen, oder?“

„Du kannst nur hoffen, dass sie dich nicht über dieses gerissene Biest ausfragen“, blaffte Maggie. „Und wo wir gerade dabei sind, lass dir nicht einfallen, noch einmal etwas mit einer wie der anzufangen, mein Bürschchen. Benutze ein einziges Mal zum Denken dein Gehirn und nicht das gewisse andere Körperteil.“

Claud hatte nicht die geringste Lust, Fragen über die Hochlandelfe zu beantworten, die ihm den Kopf verdreht hatte. Zwar hatte seine Mutter grundsätzlich etwas gegen seine amourösen Abenteuer einzuwenden, doch diesmal stand zu befürchten, dass die Runde ihre Meinung teilen würde. Was sie in diesem Fall mit ihm anstellen würden, wusste er nicht, doch es war gewiss nichts Angenehmes. „Ich habe mich mit überhaupt keiner Frau mehr getroffen, seit wir das Hochland verlassen haben“, protestierte er. „Du hast mich ja durch das ganze Grenzland gehetzt.“

„Na, und was hast du herausgefunden?“

„Nichts“, musste er zugeben. „Ich habe die ganze Gegend von Angus‘ Burg Tantallon bis in den Osten abgesucht, doch keiner wusste etwas von dem kleinen Mädchen.“

„So klein ist sie jetzt nicht mehr“, erinnerte ihn Maggie. „Aber irgendetwas Ungutes geht da vor und ich möchte wissen, wer dahinter steckt.“

Seit jenem Gespräch war ihre Laune immer schlechter geworden und Claud hatte sich bemüht, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen. Doch zu diesem Treffen hatte er sie begleiten müssen, da gab es keinen Ausweg.

Das Schweigen dauerte so lange an, dass ihn ein kalter Schauer überlief. Dann plötzlich, ohne dass er eine Bewegung wahrgenommen hätte, öffnete sich der Kreis an der Stelle, wo seine Mutter saß, und schon sah sich Maggie alleine den elf Übrigen gegenüber, die nun eine Reihe bildeten. Es sah aus, als stünde sie vor einem Tribunal.

„Erhebe dich und sprich zu deiner Verteidigung, Maggie Malloch“, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen.

Claud war sich nicht sicher, doch er hatte den Eindruck, die Stimme gehörte der Gestalt in der Mitte. Er sah, wie sich seine Mutter straffte, und konnte ihren Zorn so deutlich spüren, als habe er sich in einem ihrer üblichen Wutanfälle entladen.

Sie stand unbeweglich, ihr rundlicher Körper ganz starr, ihr Gesichtsausdruck unergründlich für jeden, der sie nicht gut kannte. Doch das traf wohl kaum auf diejenigen zu, die heute über sie zu Gericht saßen.

„Was legt man mir zur Last?“, wollte sie wissen.

„Dass du deine Befugnisse in der Welt der Sterblichen überschritten hast, natürlich“, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. „Meine Güte, Mädchen, du kannst doch den Lauf der Geschichte nicht auf den Kopf stellen, ohne dass wir dich dafür zur Rechenschaft ziehen. Und das weißt du auch genau.“

Ein belustigter Ton schwang in diesen Worten mit und Claud warf einen verblüfften Blick auf den Sprecher.

Der Mann saß auf dem Platz links von der Mitte. Claud kannte ihn nicht und überlegte, wer er wohl sein mochte, dass er es wagen durfte, sich über die mächtige Maggie Malloch lustig zu machen.

Der Kerl sah gelinde gesagt merkwürdig aus mit seinen Haaren, die sogar im goldenen Feuerschein eindeutig dunkel an den Wurzeln, rötlich in der Mitte und blond an den Spitzen waren. Sie leuchteten wie Sonnenstrahlen und standen auch ebenso im Halbkreis von seinem langen, schmalen Gesicht ab. An dem Gesicht selbst war nichts Besonderes, sah man einmal von den dünnen gelben, grünen, roten und blauen Strichen auf jeder Wange ab, doch seine dunklen Augen sprühten und in seinem Lächeln war eine leise Schadenfreude darüber zu lesen, dass Maggie von der Runde gemaßregelt wurde. Auf seinem Gewand und im Haar blitzten Edelsteine, und als er auf Maggie zeigte, sah Claud, dass er an jeder Hand sechs Finger hatte, jeder einzelne mit funkelnden Ringen besetzt.

„Ich habe also meine Befugnisse überschritten, ja?“, fauchte Maggie und starrte ihn an. „Seit wann liegt es in deiner Befugnis, Jonah Bonewits, oder in der irgendeines anderen hier, außer unserem Häuptling, meine Befugnisse anzuzweifeln?“

„Mir mag es vielleicht nicht zustehen, obwohl wir beide unsere Kräfte noch messen müssen, Maggie, mein Mädchen“, erwiderte er noch immer augenzwinkernd. „Und das werden wir auch eines Tages tun, aber nicht heute. Heute ist der Häuptling der Meinung, dass du zu weit gegangen bist.“

„Ja, und die anderen denken das auch“, stimmte der Mann in der Mitte grimmig zu.

„Habt ihr deswegen meinen Claud kommen lassen, um ihn zu verhören?“

„Ja. Und vielleicht kann er uns auch berichten, was ihr beide die ganze Zeit über im Hochland getrieben habt“, entgegnete der Häuptling. „Ihr habt uns womöglich alle in Gefahr gebracht.“

„Papperlapapp“, sagte Maggie. „Wir haben nur unsere Pflicht getan, und zwar gut.“

„Es ist an uns, das zu beurteilen. Einige von uns glauben, dass du dich nicht an unsere Gesetze gehalten hast. Und dass du aus diesem Grund gezwungen warst, Vergangenes ungeschehen zu machen. Viele Sterbliche waren davon betroffen und sie alle haben viel zu viel von deinen Machenschaften mitbekommen.“

„Keiner von denen, die dabei waren, wird jemals meinen oder Clauds Namen nennen“, sagte Maggie. „Ich habe dafür gesorgt, dass die meisten von ihnen sich an nichts mehr erinnern, außer an das, woran sie sich erinnern sollen. Es ist alles in bester Ordnung. Ich habe weder mein Volk noch die Runde in Gefahr gebracht.“

„Mag sein, doch wir haben eine Menge Fragen an dich und Brown Claud.“

Sie zuckte die Achseln. „Nur zu, aber vergesst nicht, dass der Junge damals in diese Hochlandschlampe vernarrt war und nur Augen für sie hatte. So ist er eben, das wisst ihr ja alle.“

Claud begann zu zittern, als sich aller Augen auf ihn richteten, doch dann wurde es doch nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Ihm war, als sei nur ein Augenblick vergangen, da sagte der Häuptling: „Das war‘s schon, Junge. Du kannst gehen.“ Claud konnte sich auf keine einzige Frage besinnen.

„Einen Moment noch“, warf Maggie in scharfem Ton ein. „Zuerst habe ich noch ein Wörtchen mit Claud zu reden – unter vier Augen, wenn‘s gefällig ist.“

Der Häuptling nickte.

Im Nu stand Maggie vor ihrem Sohn und flüsterte: „Sie können uns jetzt nicht verstehen, also achte gar nicht auf sie, sondern hör mir gut zu und tu, was ich dir sage.“

Noch immer ganz benommen fragte Claud: „Aber was ist denn geschehen, Mam? Ich habe doch kein Wort gesagt!“

„Es ist nichts Schlimmes passiert, mein Junge“, erwiderte sie. „Sie werden mich noch eine Weile hier behalten, aber ich habe auch etwas erfahren und ich will, dass du sofort wieder ins Grenzland gehst und unsere Suche fortsetzt. Angus lebte zwar im Osten, doch auch im Westen gibt es jede Menge Mitglieder der Familie Douglas. Also fang dort an. Und komm mir nicht in Schwierigkeiten, denn wir haben ja noch eine Aufgabe zu erfüllen.“

„Was hast du denn erfahren?“

„Dass Jonah Bonewits sich dafür interessiert, was wir treiben.“

„Dieser merkwürdig aussehende Kerl mit den sechs Fingern und den komischen Haaren?“

„Merkwürdig mag er ja aussehen, aber unterschätze ihn nicht, denn er besitzt mindestens ebenso viel Macht wie ich“, antwortete Maggie. „Ich wundere mich, dass ich nicht früher an ihn gedacht habe. Dass ich die Wahrheit nicht gleich erkennen konnte, ging eindeutig nicht mit rechten Dingen zu. Dahinter kann eigentlich nur Jonah stecken.“

„Aber warum sollte er?“

„Weil er und die Seinen sich schon seit langem um die Grafen von Angus kümmern, so wie wir uns um die Gordons kümmern, Claud. Vergiss das nicht, wenn du dich im Gebiet der Douglas aufhältst, denn auch wenn er im Exil ist, so hat Angus doch immer noch erheblichen Einfluss auf diesen Unruhe stiftenden Clan.“

 

Es war jetzt schon eine Weile her, dass Maggie Brown Claud ihre Instruktionen gegeben hatte, und er hatte das ganze erfolglose Unternehmen allmählich über. Eine halbe Ewigkeit hatte er auf seiner Suche das westliche Grenzgebiet durchstreift und war immer noch so schlau wie zuvor. Wie er so auf dem grasbewachsenen Hügel saß und über seine vergebliche Mühe nachdachte, musste er sich eingestehen, dass es viel schwieriger war, den Beschützer zu spielen, als er gedacht hatte.

Oftmals hatte er als Junge den Geschichten gelauscht, die man sich am Torffeuer eines ceilidhs erzählte, und davon geträumt, Heldentaten zu vollbringen. Er wollte grimmige Untiere besiegen, böse Geister abwehren und Jungfrauen aus den Fängen von Drachen retten – all das natürlich am liebsten, ohne sich mit einer schweren Rüstung abzuschleppen oder sein weißes Ross zwischen den einzelnen Abenteuern durchzufüttern.

Er musste über seine jugendliche Dummheit lächeln.

Die Vögel zwitscherten, Wolken segelten über den strahlend blauen Himmel, eine leichte Brise trug den salzigen Geruch von Seetang vom Solway Firth heran, aber ansonsten tat sich nichts.

Eigentlich wünschte sich Claud immer noch, er könnte auf Abenteuer ausgehen, anstatt ein unbekanntes halbwüchsiges Mädchen zu suchen, doch Maggie hatte ihm eingeschärft, die kleine Bessie unter allen Umständen zu finden. Aber wenn es Bessie zwölf Menschenjahre oder mehr dort ausgehalten hatte, wo sie war, würde es ihr auch nicht schaden, wenn er vorher noch ein klitzekleines Abenteuer bestünde. Maggie war nur wütend, weil die Runde sich erdreistet hatte, sie zu befragen. Das war alles.

In diesem Augenblick drang ein leises, melodisches Frauenlachen an sein Ohr. Es schien nicht von weither zu kommen, doch als Claud sich umblickte, konnte er nichts entdecken.

Neugierig erhob er sich und ging dem Lachen nach. Schließlich hatte er nichts zu verlieren als ein paar Minuten Langeweile.

Er folgte dem Klang durch einen nahe gelegenen Wald bis an den Rand einer grasbewachsenen Lichtung. Mitten auf dem freien Platz, in einem Kreis aus leuchtend bunten Frühlingsblumen, erblickte er eine weibliche Gestalt. Sie tanzte. Ihr helles lavendelblaues Gewand war aus einem so zarten Gewebe, dass es bei jeder Bewegung ihren Körper und die Beine umschmeichelte. Ihr langes Haar, fein wie weizenblonde Seide, wehte in der sanften Brise. Leicht wie Distelflaum sprang und hüpfte das Mädchen und drehte sich anmutig zum Klang seines eigenen Lachens.

Wie gebannt starrte Claud zu ihr hinüber. Er hatte schon davon gehört, dass Elfen zuweilen so vertieft in ihren Tanz waren und in die Musik, die nur sie allein vernehmen konnten, dass sie alles um sich herum vergaßen. Vielleicht war das dort auch so eine Elfe.

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da blieb sie stehen und schaute ihn an. Auch wenn sie ein ganzes Stück entfernt war, erschienen ihm ihre Augen wie Waldtümpel, deren Tiefe ihn so unwiderstehlich anzog, dass er den Boden unter seinen Füßen nicht länger spürte. Hätte er einen klaren Gedanken fassen können, dann wäre ihm vielleicht aufgegangen, dass er unter dem Einfluss eines Zaubers stand. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig als zu gehorchen.

Aus der Nähe betrachtet war sie klein und von erfreulich wohlgerundeter Gestalt. Ihr Gesicht wirkte unauffällig, doch ihr schelmisches Lächeln war ganz bezaubernd und ihre Augen schienen so tief, als könne er durch sie bis auf den Grund ihrer Seele blicken.

„Du scheinst mir ein netter Bursche zu sein“, sagte sie und lachte erneut.

Ihre melodische Stimme und ihr reizendes Lachen ließen ihn erschauern und kitzelten ihn an einer ganz besonders empfindlichen Stelle.

„Wie nennt man dich?“, wollte sie wissen.

Statt einer Antwort brachte er nur ein heiseres Grunzen heraus. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Brown Claud. Und wie heißt du?“

Mit einem trillernden Lachen sagte sie: „Ich bin Lucy. Lucy Fittletrot. Willst du mit mir tanzen, Brown Claud?“

„Es gibt doch keine Musik, Mädchen.“

„Musik gibt es immer, Brown Claud, doch am schönsten klingt es, wenn mein Vater seinen Dudelsack spielt. Der Klang geht mir gar nicht mehr aus dem Kopf. Kannst du es nicht auch hören?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich höre nichts. Und außerdem habe ich beim Tanzen zwei linke Füße. Du wärst bestimmt enttäuscht.“

„Ach Unsinn“, entgegnete sie und lachte wieder.  „Versuch es doch einfach. Kannst du wirklich nichts hören?“

Zu seiner Verblüffung vernahm er jetzt fröhlich klingelnde Glöckchen und ein Saiteninstrument, das eine muntere Weise spielte. Seine Füße bewegten sich wie von selbst und er ergriff ihre ausgestreckte Hand. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hüpfte er schon mit ihr zwischen den Blumen umher, als habe er nie etwas anderes getan.

Immer weiter tanzten sie, bis sie schließlich erschöpft ins weiche Gras sanken. Lucy Fittletrot hörte nicht auf zu lachen, als Claud sie in die Arme nahm und an seinen begehrlichen Körper zog.

„Was führt dich in diese Gegend, Brown Claud?“

„Ich soll etwas suchen, was wir vor Jahren hier verloren haben“, antwortete er, während er ihr seidiges Haar streichelte und ihr tief in die feurigen Augen schaute.

„Oh fein, ein Geheimnis“, rief sie begeistert. „Verrat‘s mir!“

„Ich kann gar nicht klar denken, Mädchen. Wenn ich dich berühre, geht alles in meinem Kopf durcheinander!“

„Hast du denn keine Liebste, Brown Claud?“

„Jetzt schon“, sagte er und langte nach den Schnürbändern ihres lavendelblauen Kleides.

„Stimmt“, pflichtete sie ihm bei, „und wenn du dein Verlangen mit mir gestillt hast, helfe ich dir bei deiner Suche. Denn hier in der Gegend gibt es nichts und niemanden, den Lucy Fittletrot nicht kennen würde.“

Immer noch lachend half sie ihm, ihr Kleid aufzuschnüren.