Leseprobe Das Vermächtnis der McBrights

Kennenlernen

Vergangenheit, Kennenlernen 1987

Augustus liebte diese stillen Momente mit seiner Margret. Allein mit ihr am Frühstückstisch sitzen, das in einem geschwungenen Bogen geöffnete Fenster hinter sich; dem Gesang der in den im Garten stehenden Bäumen sitzenden Vögel lauschen.

Keinen geschäftlichen Druck haben.

Nur hier sitzen, das mit Marmelade bestrichene Toast essen und ab und zu an seinem frisch aufgegossenen Earl Gray nippen und sich an dem süßlichen, bitteren Geschmack erfreuen, der, wie Augustus es am liebsten hatte, ihm samtig weich über die Zunge den Hals hinunterrann. Es war für ihn jedes Mal aufs Neue, als würde er einen alten, bekannten, geschmacklichen Kuss bekommen, den er jeden Tag aufs Neue entdeckte.

So, wie er jeden Morgen den Toast und Tee genoss, fiel ihm auch auf, wie sehr er seine Frau mochte. Dass er es genoss, zu sehen, wie die vergangenen Jahre ihrer damaligen jugendlichen Schönheit keinen Abbruch getan hatten.

Ganz und gar nicht.

Er sah in ihr noch immer die bezaubernd schöne, ihn von einem Augenblick zum anderen in Feuer …

Wut

… und Flamme versetzende Frau. Jene Dame, die ihm damals auf dem von seinem Cousin ausgerichteten Ball aufgefallen war. Die alle Musik, jedes Gespräch um Augustus herum zum Erliegen gebracht hatte.

Noch heute, mehr als fünfundzwanzig Jahre später, erinnerte er sich bildhaft daran, wie sie in den Salon getreten war; in ein anmutiges, ihre weich verlaufenden, weiblichen Formen umschmeichelndes, blaues Kleid tragend. Ihre damals dunkelblonden Haare zu einem Bob geschnitten, der die Konturen ihres Gesichts noch mehr zur Geltung brachte.

Und ihre Augen. Himmel, was habe ich mich in ihre wasserblauen Augen verliebt.

Ich konnte nirgends anders mehr hinschauen.

Sie sind noch immer so hübsch …

… für andere …

… wie damals.

Ich liebe sie.

Der letzte Satz, der durch seinen Verstand schwebte, war untermalt von dem kurzen Anflug der Verwirrung. Er meinte ihn ehrlich. Das fühlte er. Sein Herz begann zu pochen, während er an jenen Moment zurückdachte, als er Margret zum ersten Mal gesehen hatte.

Er erinnerte sich zu gern daran zurück. Sah sich, umgeben von seinen Freunden, ein Glas Punsch in der Hand dastehend. Ihm war es damals gewesen, als würde die Welt einfach aufhören, sich zu drehen.

Alle seine Sinne, jedes einzelne Gefühl war in ein Meer aus bunten Farben getaucht worden.

Augustus hatte schon immer viel gelesen. Hatte die Dichter und Denker aus aller Herren Länder konsumiert, über sie Referate geschrieben, Aufsätze veröffentlicht und im Debattierclub seiner Universität federführend gegen die Liebe auf den ersten Blick gewettert.

Humbug hatte er es genannt. Eine weibliche Attitüde der mutwillig herbeigeführten Romantik. Und abschließend dazu beigetragen, dass sich eine Mitkommilitonin vor ihm aufbaute und drohte, ihm eine Ohrfeige zu geben, wenn er seine Behauptung nicht zurückzöge.

„Lieber eine Ohrfeige, als meine Worte selbst ad absurdum zu führen“, hatte er großspurig gemeint und das Klatschen der seine Wange treffenden Hand überheblich grinsend hingenommen.

Zu seinem besten Freund hatte er damals gesagt: „Wenn das der Lohn meiner Worte ist, dann ist es ein gerechter Lohn.“

Das alles nur, weil er behauptete, dass Frauen mit Liebe auf den ersten Blick Männer absichtlich an sich binden und in Ketten legen wollten. Sie mit drei Worten dazu brachten, ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Gestand einer dem anderen seine Liebe, so sein Argument, geriet der Geliebte in Zugzwang. Es wurde absichtlich mit Gefühlen der Schuld gespielt, weil niemand gern verletzte.

Nicht ein Mensch auf der ganzen Welt, so seine weitergeführte Argumentationskette, mochte es, dem anderen einen Dolch aus Traurigkeit ins Herz zu rammen.

Also gingen viele Männer gerade deshalb Beziehungen mit Frauen ein, weil diese sich über ihre Gefühle eher klar sein wollten.

Ja, wollten, hatte er gesagt.

Damit absichtlich auf die Frauen gezielt, die klar und deutlich zu ihren Gefühlen standen.

Was ihn immer verunsichert hatte.

Schon als Kind war er hin- und hergerissen gewesen, ob er lieber auf die liebe- und verständnisvollen Worte seiner Mutter oder auf die herrischen, nach Disziplin schreienden Sätze seines Vaters hören sollte.

Gerade auf der Universität, wo er mit Gefühlen konfrontiert wurde, die er noch schwerer deuten konnte als damals die Richtungen, die seine Eltern ihm vorgaben, hatte er sich einen Panzer aus Worten zugelegt. Eine Abwehrhaltung gegen jene Menschen, die es spielerisch verstanden, wie es schien, sich ineinander zu verlieben, es sich zu sagen und auf die Suche nach dem alltäglichen Glück gingen.

Augustus war da anders gewesen.

Zurückhaltender. Schüchtern, um nicht verängstigt sagen zu müssen.

Gerade deshalb hatte ihn das Erscheinen Margrets so sehr verwirrt – so verunsichert. Ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus der Bahn geworfen.

Alle Dichter, die er kannte, all diese Herren und Damen, die wortreich und blumenschwingend die Liebe priesen, waren ihm wieder durch den Kopf geschossen.

Nur mit dem ihn verwirrenden Unterschied, dass er sie nicht mit Verachtung zitierte, sondern …

… aus Entzückung.

Er hatte Heinrich Heine im Kopf gehabt.

Der über die Liebe sagte:

Wenn ich bei meiner Liebsten bin,

Dann geht das Herz mir auf;

Dann bin ich reich in meinem Sinn,

Ich biet die Welt zu Kauf.

Doch wenn ich wieder scheiden muß

Aus ihrem Schwanenarm,

Dann schwindet all mein Überfluß,

Und ich bin bettelarm.

Goethe:

Freudvoll

Und leidvoll,

Gedankenvoll sein,

Langen

Und bangen

In schwebender Pein,

Himmelhoch jauchzend,

Zum Tode betrübt;

Glücklich allein

Ist die Seele, die liebt.

Niemand aber hatte es so treffend formuliert, so wohltuend in seinen Ohren wie Lord Byron.

Eben den hatte Augustus am meisten verlacht. Diesen aufgeblasenen Schnösel des vorherigen Jahrhunderts, der mit solchem Schmalz Weltruhm erlangte, dass einem schlecht werden konnte.

Aber eben die Worte, die ihn dazu verleitet hatten, den Streit mit der Kommilitonin zu führen, waren es jetzt, die ihn mit Entzücken erfüllten. Die ihn heiß und innig heimsuchten und seinen Verstand mit einem Lichtermeer aus Farben füllten, dass er meinte, sein Kopf müsse überlaufen vor bunter Glückseligkeit.

Wie er dastand, seinen Punsch nicht mehr zu den Lippen geführt bekam, dem ausgezeichneten Witz seines besten Freunds keine Aufmerksamkeit mehr schenkten konnte, waren die Worte des englischen Dichters wieder da.

Sie hatten ihn ausgefüllt und ihn leise murmelnd zitieren lassen:

Was du auch seist,

Seel’ oder Leib.

Erbarm dich!

Geh nicht von mir! Bleib!

Oder laß beid’

uns weiter fliehn,

als Winde wehn

und Wolken ziehn!

Es ist zu spät -

du warst, du bist -

der teure Wahnsinn,

der mein Herz zerfrißt.

Es ist der Wahnsinn, dachte er in einem Anflug eines seligen Lächelns, als Margret den Kopf hob, ihn anlächelte und meinte: „Oh, war ich wieder ungeschickt.“ Und konnte sich nicht erklären, warum sein eben noch gefühltes Hoch plötzlich ins Wanken geriet.

Er merkte, wie seine Stimmung kippte, als würde im Hochsommer plötzlich ein Regen ausbrechen. Schnell und unerwartet. Eben noch der Himmel blau schimmernd, durchzogen von goldenem Sonnenlicht, um dann, eine Minute später, von dunkelgrauen, tiefhängenden Wolken verdeckt zu werden.

Augustus begriff nicht, was das sollte.

Wieso er sich daran störte, dass Margret zu ihrem Dekolleté griff und die ihr auf die Bluse gefallene Brotrinde mit spitzen Fingern anhob.

Weil ich weiß, was sie getan hat.

– Miststück –

Oder ich glaube es zu wissen, schwächte er seinen eigenen Gedanken ab und versuchte, sich wieder an den Worten Byrons hochzuziehen. Wollte die dunklen Gedanken nicht wieder über sich zusammenbrechen lassen wie sich meterhoch auftürmende Wellen, die brausend und rauschend auf die Klippen von Dover zurollten.

Ich weiß es nicht.

– weiß es doch –

Ich nehme nur an. Ich meine, ich habe nicht wirklich gesehen, dass sie den Lieferjungen – diesen Paul – an die Hand genommen und in die Küche gezogen hat.

Was ich sah, war, dass sie die Tür öffnete. Sie dem jungen Benning einen guten Morgen wünschte, so wie sie es für jeden der Angestellten und Zulieferer übrig hatte.

Mehr nicht. Sie hat nichts getan.

– Ihn geküsst –

Sie war freundlich. Lieb.

„Du hast heute sicherlich noch viel vorzubereiten“, plauderte sie leicht drauflos und schien nicht zu bemerken, wie es im Inneren ihres Mannes aussah, der, von einem schlimmen Verdacht genährt, dasaß und am liebsten die Hand zur Faust geballt hätte. „Deshalb habe ich das Personal angewiesen, den Salon herzurichten, damit du dich konzentrieren kannst. Mendel als Untermalung für deine Arbeit war passend?“

„Passend“, murmelte er und kniff die Augen zusammen. „Alles passt.“

„Ausgezeichnet“, sagte sie, biss wieder von ihrem Toast ab und schenkte Augustus ein Lächeln.

Augustus liebte diese stillen Momente mit seiner Margret.

***

Aufregung war schon immer der größte Feind Albert Spanglers gewesen. Damals, als er sich an der Universität beworben hatte, ebenso wie, als er sein Zwischenexamen schrieb und schließlich zur großen Prüfung zugelassen wurde und sein Wissen vor mehreren Lehrenden beweisen musste.

Jedes Mal war es ihm in den Magen gefahren. Heiß und stechend. Immer verbunden mit dem Gefühl, sich hier und jetzt entleeren zu müssen.

So, wie er sich damals fühlte, so war ihm auch jetzt zumute. Dieses beklommene Gefühl von Unsicherheit, das ihn glauben ließ, dass er lieber auf eine Toilette verschwinden als in das geräumig eingerichtete Arbeitszimmer treten wollte, in dem sich Vincent McBright hinter seinem Schreibtisch erhob. Auf den Lippen ein wie angeknipst wirkendes Lächeln, während in seinen Augen der musternde Ausdruck eines Mannes lag, der mit dem plötzlich in sein Büro tretenden Besuch nichts anfangen konnte.

„Spangler“, stellte sich Albert vor. „Der neue Allgemeinmediziner aus dem Ort.“

„Ah“, machte Vincent McBright, der seinem Vater, Augustus, wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Auch wenn Albert Spangler dem Besitzer des McBright House noch nicht persönlich über den Weg gelaufen war, so hatte er in dem ortsansässigen Pub dennoch dessen Fotografie gesehen. Arm in Arm mit dem Wirt, der stolz berichtete, dass er es sei, der den hohen Herrschaften hier auf dem Landsitz die Getränke liefere.

„Zu einem anständigen Preis, das können Sie mir glauben, Doc. Ich ziehe niemanden über den Tisch. Schon gar nicht die McBrights. Sind ja froh, dass wir die hohen Herrschaften noch hier haben. Geben uns allen eine Grundsicherheit. Die wir brauchen. Verfluchte Gewerkschaften. Gut, dass die Thatcher denen endlich das Handwerk legt. Oder? Was meinen Sie dazu, Doc?“

Albert hatte dazu nichts gesagt. Gar nichts. Nicht, weil er sich nicht mit Politik auskannte oder zu wenig über das leidige, englische Thema zu sagen hatte. Es war schlicht und einfach seine Zurückhaltung, die ihm die Lippen verschloss.

Er wollte sich niemanden zum Feind machen.

Nicht einen Menschen.

Spangler hatte es noch nie gut verstanden, in Konflikte zu gehen. Als Kind hatte er sich auf dem Schulhof schon zurückgehalten, wenn er merkte, dass die Stimmung unter den einzelnen Mitschülern kippte.

Trugen die anderen die Faust in der Tasche, machte er einen Schritt zurück auf den Rand des Schlachtfelds zu.

Worauf er sich verstand, das hatte er ebenfalls schon in der Schule gelernt, dass er schnell erkennen und reagieren konnte, wenn es einem seiner Mitschüler schlecht ging.

Es war ihm damals wie eine Offenbarung vorgekommen. Eine Vision, die ihm plötzlich Klarheit verschaffte.

Obwohl er gerade einmal dreizehn Jahre alt gewesen war, sich in der Welt unwohl fühlte, in der sich seine Altersgenossen wie selbstverständlich bewegten, orientieren und positionieren konnten, war da etwas in ihm in Bewegung geraten.

Er erinnerte sich, während seine schweißnasse Hand nach der ihm entgegengestreckten von McBright griff, dass er seinen Klassenkameraden da auf dem Boden hatte liegen sehen. Von einem Faustschlag mitten auf die Nase getroffen.

Obwohl das Gesicht des rothaarigen, sommersprossigen Jungen blutüberströmt gewesen war, und er schrie, war für Albert die Welt nicht in das sonstige heillose Chaos ausgebrochen, in dem er so oft steckte.

Hier hatte sich der Vorhang zu seiner ärztlichen Bühne aufgezogen.

Es war ihm, als würde das Spotlight nur für ihn scheinen. Als würde das ganze Getümmel, das Geschrei, die Flüche und die von heißgeredeten Köpfen ausgestoßenen Racheschwüre an Deutlichkeit verlieren.

Alles verlor an Bedeutung.

Bis auf sein sich vor ihm krümmender Klassenkamerad.

Ihn schaffte er zu analysieren.

Präzise und eiskalt. Er sah, dass die Nase gebrochen war. Dass das Blut nur schmückendes, erschreckendes Beiwerk war. Und dass die Zähne, obwohl sich der Junge immer wieder den Mund zuhielt, nicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

Hier ging es um die Nase.

Nichts anderes.

So war er neben seinem Klassenkameraden in die Knie gegangen und hatte mit rau klingender Stimme gemurmelt: „Deine Nase muss gerichtet werden. Als Erstes aber werde ich das Blut wegwischen. Dann …“

In dem Moment hatte es ihn dann selbst erwischt.

Ein Ellbogenhieb mitten in den Nacken.

Was für ihn schmerzhaft, aber nicht mehr sinnbefreiend war.

Er hatte seinen Weg gefunden.

Endlich.

Albert, der schüchterne, zurückhaltende Junge hatte plötzlich gewusst, was er einmal werden wollte.

Arzt.

Was so gekommen war.

Weshalb er jetzt vor dem freundlich lächelnden, aber dennoch auf Distanz zu ihm stehenden McBright stand.

„Was kann ich denn für Sie tun?“, wollte der junge Mann wissen, aus dessen Gesicht die Verwirrung noch immer nicht gewichen war. Er musterte den kleinen, geduckt wirkenden Albert und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Ich …“ Er winkte ab, versuchte, freundlich zu lächeln; wollte das Eis brechen, das zwischen ihnen herrschte.

Was ihm nicht gelang.

Was er wusste.

So war es immer gewesen.

So analytisch er auch war, so gut er es verstand, in Krankheiten zu lesen und schief stehende Körpergliedmaße gedanklich gleich zu richten, so wenig verstand er sich auf zwischenmenschliche Kontakte.

„Du gehörst in einen OP und nicht in eine Praxis“, hatte sein Studienkollege gesagt, mit dem Spangler über seine Idee gesprochen hatte, aufs Land zu gehen, um selbstständig zu arbeiten.

Die Worte hatten gesessen.

Weil sie wahr waren.

Sie hatten mit voller Wucht ins Schwarze getroffen und die alten Bilder in Albert hervorgebracht, die er sorgsam auf dem Speicher seiner Erinnerungen verstaut hatte.

Gerade jetzt, wo er McBright zu verstehen geben wollte, dass er ihm in allen ärztlichen Fragen gern beratend zur Seite stand, beschlichen ihn seine alten Zweifel.

Er atmete tief ein, bevor er sagte: „Ich wollte mich nur vorstellen. Jetzt, wo ich der neue Arzt im Ort bin.“

„Das hätten Sie …“

„Für alle Belange“, versicherte Albert und zuckte innerlich zusammen, als der feste Händedruck McBrights ihn glauben ließ, jeder einzelne Handknochen wäre ohne große Mühe entzweigebrochen.

„Zur Kenntnis genommen“, meinte Vincent McBright, zwinkerte Albert zu und deutete auf den freien, vor dem Schreibtisch stehenden Sessel. „Setzen Sie sich.“

„Danke.“

„Es freut mich zu wissen, dass es wieder einen Arzt in unserer Gemeinde gibt. So ersparen wir uns mehr als eine Stunde Fahrt in die nächste Stadt.“

„Ich ergreife gerne meine Chancen“, versicherte Albert. „Hier, so glaube ich, kann man seine Praxis ausgesprochen erfolgreich und vielversprechend führen.“

„Jeder, der Geld verdienen kann, sollte es tun, lautet das Motto meines Vaters. Wenn ich ehrlich bin, ich mag den Leitsatz.“

„Er klingt vielversprechend.“

„Richtungsweisend“, verbesserte McBright ihn und deutete dann auf die Tür. „Ah, Darling, darf ich dir Doktor Spangler vorstellen. Er hat die Praxis von …“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte die Albert Spangler den Atem verschlagende, junge, schmalgewachsene Frau, deren braunes, bis zum Hintern reichendes Haar von nichts weiter als fünf silbern schimmernden Spangen in Form gehalten wurde. In ihrem weißen, ihren Körper samtig weich umschließenden Kleid strahlte sie eine distanzierte Schönheit aus, die dem Arzt gefiel. Er konnte verstehen, dass sich McBright in sie verliebt hatte.

„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite.“ Sie trat in den Raum und trug einen Geruch nach Jasmin mit sich, der Spangler wie einen Hammerschlag traf. „Auch Ihnen biete ich gerne an, dass …“

„Ich werde auf Sie zukommen, sollte es mir mal den Umständen entsprechend gehen“, sagte sie und richtete den Blick ihrer durchdringenden, graugrünen Augen auf ihren Mann. „Du hast gleich Zeit für mich?“

„Ich wäre schon bei dir, hätte Doktor Spangler sich nicht bei mir vorgestellt.“

Spanglers Gesicht wurde wächsern.

Er merkte, wie etwas in ihm gefror.

Als er den Blick spürte, der von Mrs McBright auf ihn fiel, verflog ihr eben auf ihn gewirkter Zauber wieder.

Ich mache Probleme, dachte er und wünschte sich, eine Krankheit behandeln zu dürfen.

Flucht aufs Land

Mit einem Pling meldete sich Lindseys Handy und ließ sie einen flüchtigen Blick auf den aufleuchtenden Schriftzug ihres Displays werfen. Gegen ihre Gewohnheit griff sie nicht nach dem Smartphone, schaute nicht, wer ihr geschrieben hatte und wer was von ihr wollte.

Lindsey starrte Matthew an.

Unterbewusst, als wäre sie weit weg, nahm sie wie aus der Ferne wahr, dass ihr Frank, ihr Redakteur, eine Anfrage geschickt hatte. Eine den Inhalt kurz anreißende Notiz in der Betreffzeile lautete:

Interesse an einer Sozial-Reise?

Lindsey konnte damit nichts anfangen.

Gar nichts.

Sie war zu beschäftigt, um die in ihr aufsteigende Verwirrung unter Kontrolle zu bekommen, die ihr durch den Kopf rasenden Gedanken einzufangen und sich zu sagen: So hat er eben nicht reagiert. Matthew ist nicht steif geworden, als ich ihn frech grinsend gefragt habe, wen er heute geküsst habe. Er hat die Hand nicht wieder heruntergenommen, die er sich gerade zum Mund geführt hat, um Chips zu essen. Bitte, o Mann, bitte, lass ihn nicht vielsagend geschluckt haben, in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen, damit er auf meine Frage nicht sofort antworten muss. Matthew ist nicht blass geworden. Bitte, lass ihn nicht alle Farbe aus dem Gesicht verloren haben.

Lindsey, die das Handy über den Tisch schob, weit weg von sich, der mit Chips gefüllten Schüssel entgegen, versuchte, das Chaos hinter ihrer Stirn unter Kontrolle zu bekommen.

Sie musste an ihre Unterhaltung denken. An den albernen Witz, den sie vor gut zwei Wochen auf Instagram oder Facebook gelesen hatte. Daran, wie sie sich an ihm hochgezogen hatte. Für sie war es ein Muss gewesen, die ihr zugrunde liegende Auffassung von Treue zu verteidigen. Sie hatte auf den Text geschaut, hatte ihn ihrem Matthew gezeigt und gefragt: „Findest du das lustig?“

Der hatte mit den Schultern gezuckt und nuschelnd geantwortet, während er „Der Nebel“ auf Netflix schaute: „Keine Ahnung.“

„Ich finde das total albern“, redete sie weiter und zitierte: „Schatz, ich habe dich betrogen. Ich dich auch. April, April. Ich dich im Mai.“ Sie hatte den Kopf geschüttelt. Über die Banalität des Scherzes schaffte sie es nicht hinwegzuschauen. Weniger gelang es ihr, ihrer Stimme einen nicht zu süffisant klingenden Ton zu verleihen, als sie sagte: „Das ist so bescheuert!“

Heute bin ich an derselben Position, oder?, fragte sie sich in einem ehrlichen Anflug erschrockener Deutlichkeit.

Sie stierte mit weit aufgerissenen Augen zu dem vor ihr sitzenden, stammelnden Matthew, der mit zuckenden Mundwinkeln und vibrierendem Kinn zurückstarrte. Hilflos. Verloren. Sämtliche Farbe war ihm aus seinem attraktiven, weich geschnittenen Gesicht gewichen. Er setzte sich kerzengerade auf und öffnete den Mund, ohne was zu sagen. Lediglich einen keuchenden Laut brachte er heraus, der sich weder nach einem Wort, geschweige denn nach einem Satz anhörte.

„Du …?“, setzte Lindsey an zu sagen, schaffte es aber nicht weiterzureden.

Ihre Gedanken drehten sich rasant im Kreis. Wirbelten jede von ihr formulierte Antwort, jede Reaktion, jede einzelne von ihr erdachte Verteidigung durcheinander und ließ sie innerlich beten, sich geirrt zu haben. Dass Matthew einen seiner albernen Scherze machte, die sie selten verstand.

Jetzt, wo sie dasaß, ihn anstarrte, war es ihr, als habe man ihr mit der geballten Faust mitten in den Magen geschlagen. Sie schluckte bitter, schmeckte den Geschmack des gegessenen Schokopuddings auf der Zunge und hatte das Gefühl, Gülle wäre ihr den Rachen hinuntergelaufen.

„Du“, setzte sie erneut an, während sie merkte, dass ihr Tränen in die Augen schossen. „Du hast nicht?“

Matthew schüttelte den Kopf. Er suchte offensichtlich nach den richtigen Worten, wischte sich, wie er es immer tat, mit der Hand durchs Gesicht, wenn er unsicher war.

„Ich“, sagte er, brach ab und schien nicht verstanden zu haben, was sie gesagt hatte.

Lindsey wünschte sich, nicht so flapsig zu sein, wie sie es oftmals war. Nicht so impulsiv, nicht so vorpreschend. Nicht so herausplatzend, wie sie es war, als sie sich neben Matthew auf die Couch setzte und ihn spaßeshalber mit dem Ellenbogen anstieß.

In einem kurzen Anflug von Hilflosigkeit hoffte sie inständig, alles wäre wie immer. Kein Verdacht. Keine Angst, ihr Leben könne von jetzt auf gleich außer Kontrolle geraten.

Sie holte tief Luft, begriff, dass da ein Gedanke war, der sich unaufhaltsam einen Weg durch ihren Kopf bahnte. Ähnlich eines tosenden Sturms, der jeden Augenblick drohte, auf das Festland zu prallen. Der sich brüllend und dröhnend auf Häuser stürzte, um sie mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt in Trümmer zu schlagen.

Wofür das?, fragte sie sich. Damit du in einer Scheinwelt leben kannst? Komm schon! Das kann nicht dein Ernst sein. Sowas willst du nicht. Unwissend sein, um nicht leiden zu müssen?

Niemals!

Es war ein intensiver Gedanke, der ihr da durch den Kopf schoss. Der ihr deutlich machte, in was für eine aberwitzige Situation sie sich katapultiert hatte.

Es brachte ihr nichts, jeden Abend mit Matthew auf der Couch zu sitzen, in den Fernseher zu starren und unwissend zu sein. Nicht zu ahnen, was er getan hatte.

„Sag mir“, schaffte sie, stammelnd zu flüstern, „dass du mich auf den Arm nehmen willst.“

Matthew verzog den Mund, dessen Winkel unkontrolliert zuckten.

Sie war sich sicher, als sie den Kopf schief legte und ihn anschaute, dass sie in seinem Gesicht ebenso gut lesen konnte wie in einem vor ihr liegenden, aufgeschlagenen Buch. Jede Seite deutlich lesbar. Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz.

„Ich“, murmelte er, schlug die Augen nieder.

„Ich habe einen Witz machen wollen, als ich dich eben fragte, wen du heute auf der Arbeit hinter meinem Rücken geküsst hast.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es war ein Scherz.“

„Ja“, bekam er dumpf heraus. „Ich weiß.“

„Sag mir“, begann sie mit bebend heiserer Stimme, „dass du keine andere Frau geküsst hast.“

„Das kann ich nicht“, brachte er hervor, starrte sie an. „Es tut mir so leid.“

„Du hast …?“

„Es ist einfach geschehen“, sagte er, hob abwehrend die Hände, wischte sich über Stirn, Nase und Mund und schüttelte den Kopf. „Kennst du das nicht? Ich meine, diesen kurzen, heftigen Impuls?“

Lindseys Gesichtsausdruck verschloss sich. Sie wünschte sich, dass er von einem Schlag, einem elektrischen Stoß getroffen wurde. Irgendwas, das ihm weh tat.

„Wie lange geht dein Impuls schon?“

„Lindsey“, versuchte Matthew, das Gespräch zu unterbinden. Er rückte auf sie zu, griff nach ihrer Hand, die sie mit einem heftigen Ruck zurücknahm.

„Fass mich nicht an!“

„Lindsey, bitte.“

„Wie lange?“

„Es passiert nicht wieder. Ganz bestimmt. Ich verspreche dir …“

„Wie lange schon?“, setzte sie nach und starrte Matthew an, der seinen Versuch abbrach, beschwichtigend auf sie einzuwirken.

Er schien zu merken, dass er keine Chance mehr hatte. Dass er sich aus einem unbedachten Moment in eine Ecke manövriert hatte, aus der er aus eigener Kraft nicht entkommen konnte. Wie ein Tier, das seine Erfolgsaussichten abwog, wohin es fliehen konnte, schaute er sich um, rückte von Lindsey ab. „Das ist nicht leicht zu beantworten“, erwiderte er, als sie ihn erneut aufforderte, mit der ihr wie ein scharfes Messer ins Fleisch schneidenden Antwort herauszurücken.

„Dann mache es dir schwer.“ Lindsey spürte, dass der noch immer durch sie hindurchtobende Schmerz einen neuen Grad an Intensität erlangte. War er wie ein unerwarteter Stich gekommen, so spürte sie jetzt ein Brennen. Ein loderndes Fauchen in ihr entzündeter Flammen. Gedanken voller Hass, voller Wut schossen ihr durch den Kopf. Ihr zum Zerreißen bereites Herz schlug wie wild in ihrer Brust. In ihren Ohren rauschte der heiße Zorn. Sie musste sich kontrollieren, um nicht in Tränen auszubrechen. Und damit sie ihm nicht mit der flachen Hand mitten in seine dämliche Visage haute, ließ sie wohlwollend ihren Gefühlen freien Lauf.

Matthew, der stocksteif vor ihr saß, leckte sich über die Lippen. Er schien in ihr zu lesen, Rückte mehr von ihr ab und sagte: „Es ist einfach passiert.“

„Wie, passiert?“

„Na, passiert.“ Er wandte sich von ihr ab, versuchte, eine Position zu finden, die es ihm ermöglichte, offener sprechen zu können.

Als ob er verhindern wollte, auf der Anklagebank zu sitzen.

Darauf sitzt du, mein Freund. Oh, ja, darauf sitzt zu, dachte sie und verzog erneut das Gesicht.

„Es hat sich so entwickelt.“ Matthew schluckte und begriff offenbar, dass er sich um Kopf und Kragen redete.

Lindsey verschränkte die Arme vor der Brust.

„Es war ein Spruch hier und da. Du weißt schon, so ein Geplänkel und dann …“ Er räusperte sich und sprach mit belegt klingender Stimme weiter. „Ist es irgendwie passiert. Wir standen uns gegenüber, berührten aus Versehen unsere Hände und konnten nicht mehr zurück.“

„Arschloch!“ Lindsey sprang von der Couch auf. Ihr schossen die Tränen in die Augen. Ein kurzer, intensiver Schauer aus Scham und Verletzbarkeit zerschnitt ihr das Herz, fuhr ihr in den Magen und ließ sie glauben, sich übergeben zu müssen. In dem Moment, als sie um den Tisch herum war und auf die Wohnzimmertür zuschoss, erhob sich Matthew von seinem Platz.

Er rief ihren Namen, schaffte es aber nicht, sie aufzuhalten.

Sie blieb stehen, hob die Hand und brüllte: „Du blöder Idiot!“

„Es war nur der Impuls!“, entschuldigte er sich erneut, versuchte, ihr auf irgendeine verquere Art deutlich zu machen, dass es nicht seine Schuld war. Als er sagte: „Ich habe es nicht genossen“, schlug es für sie dem Fass den Boden aus.

„Soll mich das glücklich machen?“, schrie sie und stürmte in die Küche. Als sie eine der Schubladen öffnete, in der die Messer lagen, hörte sie Matthew abrupt stehen bleiben.

„Was hast du vor?“, wollte er mit zitternder Stimme wissen.

„Nicht das, was du denkst“, zischte sie. „Obwohl ich dazu sehr viel Lust hätte.“

„Ich schwöre dir“, setzte er erneut an.

Sie unterbrach ihn, indem sie erneut die Hand hob. Lindsey stand vor der aufgezogenen Messerschublade. Sie betrachtete die im dämmrigen Licht des aufkommenden Abends matt funkelnden Klingen und schüttelte den Kopf, während sie ihre Wut unter Kontrolle brachte.

„Hau ab, oder ich vergesse mich“, stieß sie mühsam hervor. „Ich schwöre dir, ich kann für nichts garantieren, wenn du auf mich zukommst, mich anfasst und mich trösten willst.“

„Was hast du mit den Messern vor?“, fragte er vorsichtig.

„Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, deine Reifen zu zerstechen“, gab sie zu und schloss die Schublade wieder. „Das würde dir vielleicht genauso wehtun, wie es mich schmerzt, was du mir angetan hast. Aber man soll nicht Gleiches mit Gleichem vergelten …“ Sie brachte den Satz nicht zu Ende, sondern weinte hemmungslos.

***

Lindsey seufzte, während sie den Blinker setzte und die Fahrbahn wechselte.

Sie wollte sich nicht wieder von ihren Gefühlen übermannen lassen. Wollte nicht, dass ihr die heißen Tränen des Schmerzes über ihre Wangen rollten. Aber gerade jetzt, wo sie dabei war, das Ziel ihrer Reise zu erreichen, kamen ihr die Erinnerungen an die vergangenen drei Tage in den Sinn. An die von Matthew kümmerlich unternommenen Versuche, mit ihr ins Gespräch zu kommen, die sie davon überzeugen sollten, dass das alles gar nicht so schlimm sei. Dass sie über alles reden konnten.

Lindsey, die all diese Floskeln, all diese inhaltsleeren Worte nicht hören wollte, hatte abgeblockt.

Das, was sie ihm sagte, als er wieder vor der Tür ihres Gästezimmers stand, klopfte und mit traurig klingender Stimme darum bat, eingelassen zu werden, war: „Du hast zwei Wochen Zeit, um deine Sachen zu packen.“

Die Stille war bezeichnend gewesen.

Matthew, der, wie es schien, nicht damit gerechnet hatte, dass Lindsey Nägel mit Köpfen machte, bekam kein Wort heraus. Er stand da, als sie die Tür aufriss und ihn böse anfunkelte. „Zwei Wochen.“

„Ja, aber …“

„Ich habe einen Auftrag bekommen, der mich zwei Wochen in den Norden bringt. Nach Cumbria, zum Lake District. Zwei Wochen für dich, eine neue Wohnung zu finden, deine Sachen zu packen und von hier zu verschwinden.“

„Lass uns doch bitte noch einmal miteinander reden“, bat er sie, während er sichtlich darum bemüht war, seine Fassung zu wahren.

„Worüber? Dass du deine Kollegin noch einmal geküsst hast?“

Matthew hatte angefangen zu stammeln, was Lindsey nicht verstand. Sie war in ihre weiß abgesetzten Sneakers geschlüpft, als sie es zu genießen begann, wie sich das schlechte Gewissen durch das Gemüt ihres Ex-Freundes grub.

Obwohl sie sich innerlich ausgelaugt fühlte, von ihren Gefühlen her müde und erschöpft, war es für sie ein kleiner Lichtstrahl am dunkel erscheinenden Horizont, Matthew so vor sich stehen zu sehen.

Natürlich wusste sie, dass ihr Ex-Freund auf verlorenem Posten stand.

Egal, was er sagte, egal, was er tat, sie konnte ihm alles im Mund herumdrehen und gegen ihn verwenden.

Was fies ihrerseits war.

Andererseits: Es war ihr egal. Total. Sie hatte all ihre Wut, all ihren Zorn in ihre Frage gelegt und genüsslich dabei zugesehen, wie sich Matthews Blick senkte. Wie um seinen Mund herum ein bekümmerter Ausdruck Einzug hielt. Dass der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, mit der gleichen Wucht auf ihn zurückgeschmettert wurde und Matthew einen eisernen Gesichtsausdruck bekommen ließ.

„Ich habe ihr gesagt, dass es ein Fehler gewesen sei.“

„Fein.“

„Ich möchte mich entschuldigen. Dir sagen, wie leid es mir tut. Aber … aber … unser Zusammenleben …“

Lindsey hatte nicht weiter zuhören wollen. Sie wusste, dass eine Beziehung immer von zwei Seiten zerbrechen konnte. Dass jeder seine Schuld dazu beitrug, wenn etwas aus dem Ruder lief oder man seinen Partner auf unerwartete Art und Weise aus den Augen verlor. Aber in dem Augenblick, als sie Matthews dahingeworfene, lieblos hervorgebrachte Erklärung zu hören bekam, fühlte sie sich erneut wie in den Bauch geschlagen.

Im ersten Moment hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihm eine Brücke zu bauen, wenn man so wollte, die es Matthew ermöglichte, das feindliche Ufer verlassen zu können, auf dem er sich befand.

Er soll drüben bleiben, dachte sie nun und folgte dem Kreisverkehr. Im nächsten Moment meinte Lindsey, während sie die sich wie ein Band durch Englands Seele ziehende Straße hinter sich ließ, ihr würden die Augen aus dem Kopf fallen. Vor ihr breitete sich eine Idylle aus, die sich augenblicklich auf sie niederschlug. Sie hätte niemals erwartet, dass sie sich so sehr für einen See begeistern konnte.

Lindsey hatte sich, kurz bevor sie London verlassen hatte, mit dem Cumbria, dem Lake District und besonders mit dem Ullswater beschäftigt. Hatte in Erfahrung gebracht, dass der See der malerischste Platz in England war. Ein Ort, an dem man nicht nur die Seele baumeln lassen, sondern auch mit diversen Aktivitäten Leib und Auge erfreuen konnte.

Allein jetzt, wo sie das Ticktick, Ticktick, Ticktick ihres Blinkers hörte, sie über den Rand ihrer Sonnenbrille starrte, war es ihr, als machte es in ihr klick.

All die negativen Gefühle, die in ihr tobten, während die Erinnerungen ihr durch den Kopf jagten, waren dabei, an Intensität zu verlieren. Lindsey spürte, wie sich in ihr eine innere Tür öffnete, wenn man es plump beschreiben wollte. Eine Tür, durch die ihr Kummer gehen konnte. Die in ihr angestaute Wut, der Schmerz, die Trauer waren auf einem Rückzug. Sie hämmerten ihr nicht mehr durch den Kopf und ließen sie nicht jede Einzelheit ihrer Trennung minuziös durchleben. Stattdessen hielt Entspannung in ihr Einzug und ihre journalistische Neugier den flüchtig gelesenen Text ihres Redakteurs an Schärfe gewinnen ließ. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass es da einen Edward McBright gab, der das ökologische Projekt leitete, der in all seinem Tun aber einen distanzierten und wortkargen Anschein machte.

Sie schob den Gedanken beiseite.

Ihr Wunsch, einen passenden Artikel zu schreiben, verlor sich. Da war keine innere Anspannung mehr. Nicht der Versuch, jetzt schon schön formulierte Sätze innerlich abzuspeichern.

Etwas anderes breitete sich in ihr aus.

Ihr einstiger, immer wieder wie ein einzelner Lichtreflex in der Dunkelheit aufleuchtender Wunsch nach der Malerei stieg in ihr auf. Es war ihr, als verschiebe sich ihre innere Perspektive. Als verliere sie den Sinn für Worte, um mit jeder ihrer in ihr wohnenden Faser für ihre Zeichnungen zu brennen.

Sie brauchte nur die lang gestreckte Landzunge zu betrachten, die sich am Ufer ausbreitenden Wälder, die in der Ferne aufsteigenden, den Himmel berührenden Berge anzusehen, um das Zucken in ihren Fingerspitzen zu fühlen. Das Gefühl, einen Herlitz Bleistift in der Hand zu halten, war unbeschreiblich. Sie meinte, den Skizzenblock auf ihrem Schoß liegen zu spüren und den Geruch des Papiers in der Nase zu tragen.

Ebenso das Stirnrunzeln, mit dem sie seine Bitte gelesen hatte.

Frank hatte sie verwirrt.

Er hatte etwas in ihr in Gang gesetzt, das sich bis jetzt nicht gelegt hatte. Das sich noch mehr verstärkte, je länger sie ihren Mini über die Straße am Ufer des Sees entlangführte.

Sie wollte ein Projekt der Naturverbundenheit beschreiben, erfahren, wie McBright es versuchte, dass der Mensch einen ökologischen, grünen Daumenabdruck in seinen Häusern und Wohnungen am Seegebiet hinterließ. Dass er nicht wie sonst seinen Plastikmüll überall liegen ließ, dass er sein Wasser nicht verschwendete, seinen allgemeinen Abfall nicht in die Wälder oder an die Ufer des Sees warf.

Darüber hinaus, und das war ihr am wichtigsten, wollte sie wissen, wie die Häuser, die dabei waren zu entstehen, frei von Gas, Öl und anderen schädlichen Verbrennungsrückständen waren. Wie es gelingen sollte, dass man es schaffte, mit der Natur zu leben, anstatt von ihr.

Sie hatte schnippisch geantwortet, was sie ihrer emotionalen Verfassung zuschrieb, dass sie an dem Projekt und nicht an dem Mann interessiert sei.

Woraufhin sie eine Nachricht von Frank erhalten hatte, in der stand, dass das Porträt wichtig sei. Dass der Edward, der den Bau mitleitete, ebenso vorgestellt werden müsse wie die einzelnen Elemente seiner Idee.

Habe verstanden, hatte sie zurückgeschrieben und sich im Hinterkopf bereits die ersten Fragen überlegt und in Erinnerung gerufen, was sie über McBright bisher in Erfahrung hatte bringen können.

Nicht viel.

So gut wie gar nichts.

Was sie neugieriger machte.

Lindsey hatte sich natürlich angekündigt, hatte versucht, ein kurzes Telefonat mit Edward zu führen. Der hatte weder auf ihre E-Mail geantwortet, noch auf ihren Versuch reagiert, mit ihm zu sprechen.

Was mir gerade egal ist, dachte sie, während sie die Geschwindigkeit reduzierte und ihren Blick über das blauschimmernde Wasser schweifen ließ, auf dem sich die Sonnenstrahlen brachen. Sie fühlte sich von den am Ufer des Ullswater wachsenden Wäldern wie verzaubert. Ihre Fantasie begann, Kapriolen zu schlagen. Sie malte sich aus, was man hier alles erleben, was man alles erreichen konnte. Wie sie zwischen den dicht bewachsenen Bäumen entlangschlenderte, wie sie eine kreisrund angelegte Lichtung erreichte, sich auf diesem im Sonnenlicht getauchten Fleckchen Erde niederließ und ein Picknick veranstaltete.

Ihr noch immer romantisch veranlagtes Herz begann, Bilder in ihr zu projizieren, die sie innerlich schmachten und gleichzeitig weinen ließen. Sie begriff, während sie die auf dem See fahrenden Schiffe sah, dass Matthews Betrug in ihr schmerzhafte Stiche hinterlassen hatte. Kleine, blutende Wunden, die, wo sie sich da im saftig grünen Gras sitzen sah, ein Sandwich in der Hand, einen aus Stroh geflochtenen Hut auf dem Kopf, anfingen, unangenehm zu brennen.

Es hätte alles so schön sein können, dachte sie.

Lindsey wollte nicht trübsinnig werden. Sie wollte nicht wieder in ihr altes, trauriges Verhaltensmuster hineingleiten. Aber als sie sich ernsthaft vorstellte, wie es sein könnte, bei einem lauen Lüftchen da an der Landzunge zu sitzen, zu essen, zu reden, sich näherzukommen, um sich womöglich auch leidenschaftlich zu küssen, schlugen zwei Herzen in ihrer Brust.

Eines, das jubelte und in Chören sang.

Eines, das schrie und Flüche ausstieß.

Lindsey schüttelte den Kopf und war im gleichen Augenblick glücklich darüber, als sie das Pling ihres Handys vernahm. Es war nur ein kurzer Blick auf ihr in der Halterung steckendes Telefon, um zu sehen, dass Frank ihr erneut geschrieben hatte. Eine in Mousecode verfasste Textnachricht, in der stand:

Treffen mit McBright organisiert. Ein Uhr am Eingang seines Anwesens. Du wirst in Empfang genommen.

Na dann, dachte sie, lächelte und war insgeheim glücklich darüber, dass ihr Redakteur ein akribischer Mann war. So nachfassend, so zielorientiert. Hätte sie ihn in diesen Momenten der inneren Unruhe nicht an seiner Seite, hätte sie nicht gewusst, was sie getan hätte.

Ob sie ernsthaft an einem Treffen mit diesem rätselhaft erscheinenden McBright interessiert gewesen wäre. Sie hätte ihren Plan verfolgt, über die Ökologie zu schreiben, über alles, was es über das langsam entstehende Dorf zu berichten gab. Aber mehr nicht.

Sie flüsterte: „Danke, Frank.“ Und merkte, wie sich ihre ins Ungleichgewicht geratende Gefühlswelt wieder zu beruhigen begann.

Nur ein kleines, wehmütiges Pulsieren schlug in ihr an. Ließ sie kurz mit den Tränen kämpfen, als sich ein Gedanke in ihren Kopf schlich, den sie nicht hatte kommen sehen. Der mit solch einer Gewalt hinter ihrer Stirn entlang zog, dass sie sich an einen Kometenschweif aus einem Captain-Future-Comicfilm erinnert fühlte. Daran, wie Sterne und Nebelschwaden in den Weiten des Alls glitzerten und funkelten, in der Unendlichkeit der eisigkalten Schwärze des Weltraums verloren gingen. Ein Gedanke, der ihr flüsternd entgegenwehte und sagte: „Es hätte alles schön sein können, wärst du nicht du, sondern jemand anderes. Wärst du nicht du, Lindsey, wärst du liebenswerter und man hätte dich nicht betrogen.“

***

„Kommen Sie, ich habe keine Zeit!“

Lindsey, deren erster Gedanke war: Wow, sieht der gut aus, verzog bei der eiskalten Begrüßung die Nase kraus und schaffte es nur mit Mühe, ein freundliches, liebenswertes Lächeln auf ihre Lippen zu legen. Sie ignorierte die schroffe Art McBrights und ging mit der ausgestreckten Hand geradewegs auf ihn zu.

Der schaute sie verwundert an, hob seinerseits die Hände und sagte: „Keine Berührungen bitte.“

„Corona, verstehe.“

„Nein, ungerne Kontakt mit Menschen“, erwiderte er und sank in Lindseys Ansehen noch mehr. Reihte sich in einer Linie mit Matthew ein, der es ebenso schnell geschafft hatte, aus ihrer Wohlfühlskala zu fliegen.

Lindsey, die sich gedanklich eine gepfefferte E-Mail für Frank überlegte und nicht darauf verzichten wollte, McBright mit Attributen zu benennen, die sich mit arrogant, hochnäsig, unnahbar und distanziert am besten umschreiben ließen, lächelte weiter. Sie war so freundlich, dass ihr schlecht wurde. „Schlecht, wenn man einen Ort schaffen möchte, der für sozial benachteiligte Kinder geeignet ist.“

„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, entgegnete McBright, machte einen Schritt zurück und gab den Weg frei, damit Lindsey an ihm vorbei hin zum Herrenhaus treten konnte.

Sie hatte es aus der Ferne schon bewundert und es war ihr als malerischer, irgendwie versteckter, schwarzer Farbklecks in der prächtig gedeihenden und beinahe ungestört wuchernden Natur erschienen. Da waren die Zäune, die das McBright House umgaben und dennoch wirkten, als gehörten sie in die hochwachsenden Büsche, Bäume und Sträucher. Sie hatte die ungebändigten Buchen ebenso gesehen wie die einzelnen Weintraubenreben, die sich über das Gatter schlängelten, durch das sie ihren Mini gelenkt hatte.

Es war ihr, als versuche jemand, etwas Offensichtliches zu verstecken. Als gäbe es da jemanden, der vermeiden wollte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Hinzu kam, dass ihre ohnehin schnell übersprudelnde Fantasie hinter ihrer Stirn Kapriolen zu schlagen begann. Sie hatte die ersten Zeilen sofort im Kopf, die sie in ihren Artikel packen wollte. Sie wollte damit beginnen, wie es war, wenn man die Umgebung betrachtete. Wie einem zumute war, wenn man einen Blick auf den See warf und sich irritiert davon zeigte, dass da, im Schutz einer malerisch angelegten Bucht, das Herrenhaus der McBrights stand.

Oh, und ich werde über McBright schreiben, dachte sie, als sie ihren Notizblock aus der Hosentasche zog, den Bleistift zwischen die Finger nahm und es nicht lassen konnte, in das Gesicht des Hausherrn zu schauen.

Wie soll ich ihn beschreiben?, dachte sie in einem ehrlichen Anflug von Verzweiflung. Ihr erster Impuls war, ihn als distanziert, als arrogant zu beschreiben, um sich dann zu fragen, was das denn sollte? Was hatte sie davon?

Nichts.

Daher dachte sie: Ich werde das Anwesen beschreiben und dann den Bogen spannen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie Kinder sich an diesem idyllischen Ort wohlfühlen könnten, wenn sie von jemandem wie Edward McBright begrüßt werden.

O ja, führte sie ihren Gedanken weiter, während sie merkte, wie ihre Ideen zu sprießen begannen. Ich werde darauf hinweisen, dass ich ernsthaft hoffe, McBright wird einen sympathischen, liebenswerten, die Menschen mit offenen Armen empfangenden Parkleiter einstellen.

Und ich werde schreiben, wie hübsch er doch sei und welche Enttäuschung resultiere, so abgekanzelt zu werden.

Hübsch …

Nein, nicht hübsch, attraktiv. Mit einer Lindsey abschreckenden Kälte um den Mundwinkel herum, womit sie sich ihr plötzlich in Bewegung geratenes Gedankenkarussell nicht erklären konnte.

Ihre sich überschlagenden Gedanken begannen, sich wie wild im Kreis zu drehen, und fanden ein abruptes Ende. Eigentlich, und da war sie ehrlich zu sich selbst, hatte sie den in ihr herrschenden Gedanken keinen Platz geben wollen. Was sie gewollt hatte, war, sich nicht provozieren, geschweige denn aus der Fassung bringen zu lassen.

Aber in dem Moment, als sie auf Edward McBright zuging, er ein kurzes, ehrliches, sie faszinierendes, nur in seinem Mundwinkel zuckendes Lächeln zeigte, kamen die sie aufwallenden Gefühle wieder zu ihr zurück. Sie waren ebenso intensiv, ehrlich und offen wie in dem Moment, als sie ihren Mini zum Stehen gebracht hatte und ihren vor Staunen offen stehenden Mund nicht geschlossen bekommen hatte.

Ihre mit einem Rotstich versehenen, blonden, zu einem losen Pferdeschwanz geknoteten Haare kamen ihr plötzlich ungestylt vor. Ihre sportliche, schwarze Leggings und die dazu passenden weißen Sneaker waren für sie ein abrupter Ausdruck ehrlich gelebten Proletentums.

Was albern war. Lächerlich. Total an den Haaren herbeigezogen.

Aber in dem Moment, als sie den da auf seine Uhr schauenden, in seinem maßgeschneiderten Anzug dastehenden Edward McBright sah, war ihr der Hals trocken geworden. Ein Blitzlichtgewitter an Gedanken schoss ihr durch den Kopf und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus, das sie so niemals im Leben verspürt hatte.

Was verschwand. Schlagartig. Sofort. Und einem anderen, ebenso intensiven Gefühl von Abscheu Platz machte.

So erinnerte sie auch die Begrüßung an eine ihr nur zu vertraut klingende Stimme ihres jugendlichen, sich gern verliebenden Ichs. Jene Stimme, die sie sich auf merkwürdige Art und Weise erhalten hatte.

Ein kleines, verträumtes Mädchen in ihr, das nicht wahrhaben wollte, dass die Welt, in der sie lebte, von berechnenden, manipulativen und nur dem eigenen Gewinn hinterherhechelnden Menschen dominiert wurde. In ihr lebte jene Unschuld weiter, die es mochte zu fühlen und zu spüren. Die es liebte, wenn sie auf einen Menschen zuging und in ihm lesen und studieren konnte.

Dann musste sie sich etwas von „Ungern Kontakt mit Menschen“ anhören. Eine Zurückweisung, mit der sie, verwirrenderweise, nicht gut zurechtkommen konnte.

Sie fühlte sich, und das war ein weiterer Punkt auf ihrer inneren List der Verwirrung, von McBright auf merkwürdige Art und Weise angegangen. Sie hatte ein Gefühl bei ihm, als wäre sie es nicht wert, hier bei ihm zu stehen.

Was sollte das?

So war sie noch nie gewesen und so wollte sie niemals sein.

Bisher hatte sie es immer mit Leichtigkeit geschafft, sich von ihrem Gegenüber nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie war es, die mit ihren kecken Fragen und dem frechen Auftreten selbst die steifsten Engländer dazu brachte, sich den Stock aus dem verlängerten Rückenmark zu ziehen und ebenso leicht und locker wie Lindsey zu reden.

Jetzt aber war es ihr, als würde sie gegen eine Wand laufen.

Mit dem Kopf voran.

Offenen Auges.

Was dazu führte, dass sie tief Luft holte und an McBright vorbeischaute, hin zu dem da in der Ferne stehenden, allein wirkenden Anwesen. Zu den Baumgruppen, die nach und nach in den das Haus umschließenden Wald hineinverliefen.

„Einsam hier“, meinte sie, während sie noch immer darum kämpfte, ein Lächeln auf den Lippen zu tragen. „Sie mögen das?“

Er nickte. „Manchmal ist es schöner, sich keine Gedanken machen zu müssen, wem man begegnen könnte.“

„Was heißt, dass es Menschen gibt, denen Sie nicht unter die Augen drehen wollen.“

„Mit Ihnen muss nicht die Sensationsjournalistin durchgehen“, erwiderte McBright mit einem schmalen, angedeuteten Lächeln auf den Lippen. Einem Lächeln, das ihr vorhin schon aufgefallen war und sie dazu brachte, für einen kurzen Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren.

„Keine Sorge, die reitet jeden Tag Galopp mit mir.“

„Dann zügeln Sie Ihr Pferd und tun das, weshalb Sie hier sind. Sachlich und kompetent über das hier zu schreiben!“ McBright machte eine ausschweifende, alles einschließende Armbewegung und ließ Lindsey sich wieder ärgern, dass sie ehrlich versucht gewesen war, erneut auf das Grübchen da im Mundwinkel hereinzufallen.

„Keine Sorge, ich werde das tun, weshalb ich hier bin.“

„Fein“, sagte McBright. „Sie haben sicherlich Gepäck dabei?“

„Im Wagen.“

„Das holen wir am besten später, um …“

Er unterbrach sich, als Lindsey, einem Impuls folgend, fragte: „Es leben nicht noch andere Menschen hier auf dem Anwesen?“

„… um …“, versuchte McBright, seinen verloren gegangenen Faden wieder aufzunehmen.

Seine Reaktion, so bildete sich Lindsey ein, hatte etwas zu bedeuten. Da war etwas, das sie meinte, hier und jetzt analysieren zu müssen. Ein stoischer, maskenhafter Ausdruck von antrainierter Gleichgültigkeit. Eine Fassade, die er errichtet hatte, um auf solche plumpen Attacken nicht eingehen zu müssen.

Nur um dann zu merken, dass es weder eine Fassade war, die McBright aufrechthielt, noch eine andere unter den Tisch fallen lassende Reaktion, die etwas verheimlichen sollte.

Er war von ihrer Frage überrascht worden, ja. Weil sie völlig aus dem Zusammenhang gerissen war. Eben noch hatte er sich mit ihr über das Gepäck unterhalten, um sich dann plötzlich einer Frage ausgesetzt zu sehen, die nicht einmal Bestandteil ihrer losen, oberflächlichen Unterhaltung gewesen war.

„Nein“, sagte McBright, der ihren auf ihn gerichteten, starren Blick missdeutete. „Ich bin die meiste Zeit allein. Ab und zu ist meine erste Assistentin, Ann, zu Gast.“

„Ah“, machte sie und wünschte sich nichts sehnlicher, als keinen weiteren Blödsinn zu reden, um sich dann selbst sagen zu hören: „Eine Frau des Hauses gibt es nicht?“

„Ich glaube, wir sollten uns auf ein anderes Sachgebiet begeben“, sagte Edward McBright dünn lächelnd und deutete auf den Wald. „Ich werde Ihnen Ihre Unterkunft zeigen, die Sie die nächsten Tage bewohnen werden.“

„Kalte Aristokratie“, bemerkte sie und wusste beim besten Willen nicht, warum sie das sagte.

Weil ich ihn kitzeln möchte. Aus der Reserve locken. Was habe ich davon?

Sie fragte sich das ernsthaft. Sie begriff nicht, wie es sein konnte, dass dieser Mann sie so sehr unter Druck setzte.

Er hatte nichts getan.

Nur dagestanden, sie begrüßt und etwas in ihr losgetreten, das sie nicht analysieren oder begreifen konnte.

Lindsey schloss die Augen.

Sie ärgerte sich. So richtig.

Um dann, als sie einen Schritt nach vorn machte, um McBright zu folgen, zu merken, dass noch etwas anderes in ihr in Gang gesetzt worden war.

Etwas, das sie schon immer geliebt hatte, nachdem sie sich das erste Mal in ihrem Leben damit beschäftigt hatte, Journalistin werden zu wollen.

Ein innerer Flug über weitem Lande gleich.

Sie hieß ihr Gefühl willkommen und kannte seinen Namen in- und auswendig.

Neugier.

Vergangenheit, 1987

Dumpf durch die Tür hörte Vincent McBright die Stimme von Albert Spangler, der einem Patienten gerade erklärte, wie er die von ihm verschriebenen Medikamente einnehmen sollte. Die hinter dem Tresen sitzende Arzthelferin, Nancy With, wenn Vincent sich richtig erinnerte, schaute ihn freundlich lächelnd an.

Der, nervös, schaffte es kaum, die von seinem Vater immer wieder heraufbeschworene Haltung zu wahren. Eine Haltung aus Würde, Distanziertheit und unschmeichelhafter Herablassung.

Attitüden, mit denen sich Vincent bis heute weder identifizieren noch sie so offen leben konnte wie sein Vater Augustus.

Er war immer der Meinung gewesen, dass man Menschen aufgeschlossen gegenübertreten sollte; egal, woher sie kamen, wer sie waren und was für ein Bankkonto sie besaßen.

So hatte er es damals in der Schule gehalten und auch auf der Universität, wo er so viele freundliche und liebe Mitstudenten getroffen hatte.

Wie seine Vivien.

Jene ihn noch immer faszinierende Frau, für die ein inneres, nicht mehr zu löschendes Feuer brannte.

Die mich hassen wird, wenn sie wüsste, was ich hier gerade tue.

„Ich dachte, es wäre Mittagspause“, sagte er mit einem um Ruhe bemühten Ton, der nicht nur Nancy, sondern auch sich selbst galt.

Er hatte gehofft, als er mit seinem Wagen vor das rote Backsteinhaus gefahren war und kein anderes Fahrzeug gesehen hatte, allein zu sein.

Um schweigend zu sein. Verschlossen. Ohne dass irgendwer sehen konnte, dass er sich hier aufhielt, in der neuen Praxis eines Arztes, den er ebenso wenig einschätzen konnte wie die Launen seines Vaters zurzeit.

Andererseits aber war Spangler der Einzige gewesen, den McBright in den vergangenen Tagen, ach was, Wochen, begegnet war, der ein ehrliches Interesse an ihm gehabt hatte.

Wenn auch unbeholfen geäußert. Merkwürdig hervorgebracht.

Aber dennoch auf eine Vincent erfreuende Art.

Weshalb er sich überhaupt dazu entschlossen hatte hierherzukommen.

„Es war heute etwas voll, Mister McBright“, entgegnete Nancy leise mit einem Lächeln auf den Lippen. „Daher haben wir beschlossen, auf unsere Mittagspause zu verzichten. Was Ihnen ja zugutekommt. Was haben Sie denn?“

McBright spürte, wie ihm die Kehle trocken wurde. „Vertraulich.“

Nancy With legte ihren blonden Wuschelkopf schief, blinzelte und sagte: „Vertraulich?“

Er konnte das Fragezeichen hinter ihrem Wort deutlich spüren.

„Vertraulich“, bestätigte Vincent und hätte nicht gedacht, dass die da vor ihm sitzende Frau so spitzfindig war. Dass sie es schaffte, ihn mit dem schiefgelegten Kopf und der einem Entenschnabel gleichen Skepsis auf den Lippen so aus der Fassung zu bringen.

Was sie schaffte.

Überraschenderweise.

Sie fragte, als er nicht weiter ausführte: „Dann ohne Rechnung?“

„Ich würde die Beratung bar bezahlen“, erwiderte er und musste sich dazu zwingen, nicht hinterherzuschieben: Wenn es geht.

Allein dass er in die Verlegenheit gekommen war, sich unsicher zu fühlen, nervte ihn. Er konnte seinen immer wie einen drohenden Schatten über ihm liegenden Vater hinter sich stehen sehen. Wie dieser die Arme vor der Brust verschränkte, ihn kopfschüttelnd betrachtete und enttäuscht sagte, von einem Seufzer begleitet: „Ich habe dir eine andere Haltung beigebracht, Junge.“

Vincent gewann ein wenig seiner Fassung zurück und nickte Nancy zu, um dann wieder nervös zu werden. Denn in dem Moment öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer von Albert Spangler. Der kleine, untersetzte Mann mit dem schütteren, braunen Haar und der schweren Hornbrille auf der Nase hatte seinem Patienten freundschaftlich die Hand auf die Schulter gelegt und meinte: „Sollte es zu keiner Besserung kommen, dann sehe ich Sie in drei Tagen wieder und wir überlegen uns eine weitere Taktik.“

„Das machen wir, Doc“, sagte der stämmige, hochgewachsene Brutus Light, der Wirt des Orts, der einen gequälten Gesichtsausdruck auf seinem faltig roten Gesicht trug. Er machte einen unsicheren Schritt in den Wartebereich hinaus und bemerkte erst, als er den Kopf hob, den vor ihm stehenden Vincent McBright.

Der lächelte.

Er mochte Brutus.

Wenn auch nicht hier in der Praxis von Albert Spangler. So fleißig und gewissenhaft Light auch war, so gesprächig war er auch. Jeder aus dem Ort wusste, wollte er ein Gerücht streuen, musste er es nur dem Wirt vom Point Inn erzählen. Keine vierundzwanzig Stunden später war es im Umlauf und nahm seine wie Unkraut wuchernden Formen an.

„Sie hier, Vinc?“, fragte Brutus, ein ausgefülltes Rezept in den Händen. „Wieder die scheußliche Migräne. Quält mich immer wieder.“

Vincent wusste, was die Gesprächseröffnung bedeutete.

Er blieb distanziert, ignorierte den auffordernden Blick des dickbäuchigen Mannes, dessen Haare immer weiter zurückwichen und seinen Kopf nur noch als Kranz umschlossen. „Tut mir sehr leid für Sie.“

Vincent wusste, dass der Wirt erwartete, dass er erzählte, warum er die Praxis von Spangler aufsuchte. Weshalb er sich auf den Weg hierher gemacht hatte.

Was Vincent nicht tat.

Er schaute nur zum Arzt und sagte: „Ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“

„Natürlich. Kommen Sie herein!“ Der Arzt machte eine einladende Handbewegung, während er mit der anderen Light noch einmal auf den Rücken klopfte.

„Danke“, sagte Vincent, ging an Brutus vorbei, ignorierte den Wirt und wunderte sich, wie spartanisch der Arzt sein Behandlungszimmer eingerichtet hatte. Natürlich waren einige der typischen Einrichtungsgegenstände zu sehen. Aufbewahrungsbehälter für Spritzen, Kanülen. Spender für Tupfer und Leukosilk.

Es gab nur ein einfaches an die Wand befestigtes Regal, auf dem einige medizinische Bücher standen. Keine Urkunden, keine Belege, wie viele Fortbildungen er gemacht hatte oder was er sonst alles in seinem medizinischen Leben auf die Beine gestellt hatte.

Vincent war beeindruckt.

So etwas hatte er nicht erwartet.

Besonders nicht, nachdem er diesen unsicheren, kleinen Mann vor wenigen Tagen bei sich auf seinem Anwesen kennengelernt hatte. Als da dieser stammelnde Mediziner stand, der händeringend um die richtigen Worte feilschte.

Gerade bei diesen unsicheren Menschen war oft der Hang zur Präsentation vorhanden. Sie wollten zeigen, was sie konnten, wer sie waren, warum sie ihren Beruf ergriffen hatten.

Und, fügte er in Gedanken hinzu, wie gut sie waren. Dass es einen Grund gab, warum sie die waren, die sie waren.

So wie mein Vater …, kam ihm ein weiterer, leiser, ihn beschämender Gedanke.

Ein Gedanke, der ihn in der letzten Zeit immer wieder heimsuchte. Besonders seit dem Moment, in dem Vivien auf ihn zugekommen war, ihn bei der Hand genommen und ihm zuflüstert hatte: „Ich habe eine Überraschung für dich.“

Eine Überraschung, die Vincent von den Füßen geholt hatte.

Was er wörtlich meinte.

Denn als sie ihm diese Worte ins Ohr säuselte, war der dumpfe Verdacht in ihm aufgestiegen, der ihm Magenschmerzen bereitete. Der ihn denken ließ: Das willst du nicht. Das wolltest du nie. Und du weiß, warum du das nicht willst.

Deshalb war er hier und nahm Platz, als Spangler meinte: „Setzen Sie sich.“

Mein Vater wird herrischer, und von seinen Plänen würde er nicht mehr abweichen. Und er würde keine Verzögerungen für seine Projekte hinnehmen.

Er würde …

… mich unangespitzt in den Boden rammen.

„Was führt Sie zu mir?“

„Ein Belangen“, sagte Vincent nach einem Räuspern und schämte sich dafür, dass er diese Worte überhaupt in den Mund nahm. Und wäre am liebsten im Erdboden verschwunden, als er sich fragen hörte: „Nehmen Sie Abtreibungen vor?“