Eine verrückte Idee
Aufbewahren oder Altpapier? Unschlüssig wog Sonja den schweren Aktenordner mit den gesammelten Bewerbungen in der Hand und seufzte. Wenn sie nur schon eine neue Wohnung hätte. Der nächste Erste rückte bedrohlich näher.
Entschlossen warf sie den Ordner in die Altpapierkiste. Es waren ohnehin nur Absagen. Anhand der Anschreiben auf ihrem Laptop wusste sie, welche Hotels sie bereits angeschrieben hatte, und würde so nicht den Fehler begehen, eine Doppelbewerbung hinauszuschicken.
Gerade gestern hatte sie eine weitere Bewerbung per Mail verschickt. Ob es darauf schon eine Antwort gab?
Sie überließ die Umzugskisten sich selbst und setzte sich mit dem Laptop auf den Boden. Tatsächlich gab es einige neue Nachrichten: Werbung, eine weitere Absage, noch mehr Werbung. Enttäuscht presste sie die Lippen zusammen.
Sonja archivierte die Absage, ehe sie Mail für Mail löschte. Bei einer stockte sie kurz. Ein Online-Casino bot für die Erstanmeldung einen Bonus, um gleich losspielen zu können. Gerade wollte sie den Löschen-Button anklicken, als ihr Blick an einigen Worten hängenblieb: Blackjack-Turnier. Live. In Frankfurt. Sonja klickte auf den Link. Den Finalteilnehmern winkte ein Wochenende im Luxushotel, dem Gewinner schließlich fünfzigtausend Euro. Das klang verlockend. Um teilzunehmen, musste es ihr lediglich gelingen, online den Bonus zu verdoppeln.
Sie las sich die Bedingungen durch und tatsächlich: Es wurde kein eigenes Geld, das sie ohnehin nicht besaß, als Einsatz gefordert, um die Fünfzigtausend zu gewinnen.
Aber.
Sollte sie sich wirklich noch einmal auf Glücksspiel einlassen? Damit hatten schließlich all ihre Probleme angefangen.
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»Salut, Lubaid!« Hassan stellte eine Papiertasche, aus der es süß duftete, auf den Tisch und begrüßte seinen Freund mit einer kurzen Umarmung.
Dieser schnupperte. »Mandeln, Honig, Zimt. – Du hast doch nicht wieder Mhancha mitgebracht? Willst du mich mästen?«
Hassan schmunzelte: »Ich weiß doch, was du gern magst. Außerdem habe ich extra nur einen für jeden gekauft.«
»Einer ist keiner.« Lubaid grinste und orderte bei seiner Assistentin Kaffee, den diese nach kurzer Zeit zusammen mit zwei Tellern und Servietten hereinbrachte. Schon bald mischt sich der Duft frischen Kaffees mit dem Mandelaroma.
Die Männer ließen sich einander gegenüber in den bequemen Sesseln nieder, die in der kleinen Sitzecke von Lubaids Büro standen, ehe Hassan in sein Mhancha biss, wobei er achtgab, dass weder Mandelsplitter noch Teigkrümel auf seinen dunklen Anzug fielen. »Hm«, murmelte er und schloss für einen Augenblick genießerisch die Augen, während er sich die letzten Reste der honiggetränkten Mandelsplitter von den Fingern leckte. Auch Lubaid schwelgte in der kleinen Köstlichkeit und schien sich kaum davon losreißen zu können.
»Ich glaube, in einem solchen Moment könnte ich alles von dir verlangen, oder?« Hassan, der schneller gegessen hatte als Lubaid, hatte den Freund beobachtet.
Lubaid schluckte. »Keine Chance. Ich kann genießen und anschließend knallhart feilschen, wie du weißt.«
Das weiß ich allerdings und ich könnte mir keinen Besseren als Hotelmanager hier in Aachen vorstellen, dachte er, während er sich in dem kleinen Badezimmer, das an Lubaids Büro angrenzte, die klebrigen Finger wusch.
Hinter ihm erklang Lubaids Stimme. »Meine Schwester kommt mich übrigens am Wochenende besuchen, sollen wir gemeinsam etwas unternehmen?«
»Ich werde nicht in Aachen sein, désolé.«
»Ach, nein?«
»Heute Nachmittag habe ich noch einen Termin wegen der Übernahme in Düsseldorf und dann fahre ich nach Frankfurt. Wie lange bleibt Fatima denn?«
»Bis Sonntagmittag, sie muss ja am Montag wieder arbeiten.«
»Dann werden wir uns wohl nicht sehen.« Hassan zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Kannst du den Termin in Frankfurt nicht verschieben? Sie freut sich darauf, dich zu treffen.«
Hassan lachte. »Diesen Termin kann ich beim besten Willen nicht verschieben. Ich habe mir freigenommen und mich bei einem Turnier angemeldet. Ich will einfach mal was anderes sehen, als die Arbeit.«
♥♥♥
»Mach es.«
Zweifelnd sah Sonja ihre beste Freundin an. Die Idee war aberwitzig – ohne Risiko, damit hatte Marie zwar recht –, aber eben aberwitzig.
»Was hast du schon zu verlieren? Wenn du früh aus dem Wettbewerb ausscheidest, ist es ein vertaner Tag. Erreichst du die Finalrunde, hast du ein Wochenende im Luxushotel gewonnen und wenn du gewinnst, ist es vielleicht die Lösung für all deine Probleme.«
Die Lösung. Das wäre wirklich zu schön. Auf einen Schlag alle Schulden loszuwerden, war ein verlockender Gedanke.
Eine leise Stimme im Hinterkopf mahnte zur Besonnenheit. Es werden Blackjack-Spieler mit mehr Erfahrung mitmachen. Um überhaupt Erfolg zu haben, musst du abgebrüht sein, als ginge es um nichts.
Und eben nicht um die Existenz. Aber um die ging es ja ohnehin, ob sie nun dieser verrückten Idee folgte oder nicht.
Sonjas Blick schweifte zwischen den Umzugskartons umher. Der Gedanke hier herauszukommen, und sei es nur für einen Tag, war verlockend.
Sie seufzte. »Gut, dass ich meine Klamotten noch nicht eingepackt habe. Es gilt doch sicher ein Dresscode, wenn die Veranstaltung in diesem Nobelschuppen steigt.«
Marie strahlte. »Wir machen die Online-Anmeldung fertig und dann suchen wir gemeinsam die Sachen aus.« Eifrig griff sie nach dem Laptop und rief die Seite des Veranstalters auf. Als das Anmeldeformular zu sehen war, reichte sie das Gerät an Sonja weiter.
»Meinst du wirklich?« Sonja kaute auf ihrer Unterlippe.
»Jetzt mach keinen Rückzieher!«
Mit einem Schnauben griff Sonja nach dem Computer und begann, die Maske auszufüllen. Erst als sie fertig war und die Eingaben noch einmal auf ihre Richtigkeit prüfte, sah sie, dass sie ihren Mädchennamen angegeben hatte. Müller stand dort, nicht Reinhard, der Name ihres verhassten Ex. Anfangs war sie froh gewesen, den Allerweltsnamen ihrer Mädchentage los zu sein. Wie lange war das her? Egal. Bald würde sie wieder so heißen. Einen letzten Termin vor Gericht würde es noch geben, dann war diese Ehe Geschichte. Trotzdem, heute hieß sie Reinhard und an der Namensangabe sollte es nicht scheitern. Sie korrigierte den Eintrag und kontrollierte akribisch die anderen Felder: 28 Jahre, Köln … Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, klickte sie auf Senden.
Postwendend kam die Bestätigungsmail mit dem Zugangscode zur Online-Vorrunde.
»Fünfzigtausend Euro«, Maries Stimme bekam einen schwärmerischen Klang.
»Die wollen erst einmal gewonnen werden. Nur der Beste erhält Geld. Alle anderen Finalteilnehmer werden mit dem Wochenende abgespeist.«
»Abgespeist. Also ehrlich. Es ist ein angesagtes Hotel mit Sternerestaurant und grandiosem Wellnessbereich, Massagen, Zimmerservice …«, Marie schüttelte den Kopf.
»Langsam«, bremste Sonja die Freundin. »Vor dem Livespiel in Frankfurt muss ich die Vorrunde im Online-Casino überstehen.« Sie loggte sich mit dem Code aus der Mail ein.
»Wie spielt man Blackjack eigentlich?« Marie reckte den Hals, um mit Sonja gemeinsam auf den kleinen Bildschirm des Laptops schauen zu können.
»Weißt du noch, wie wir früher Siebzehnundvier gespielt haben? Blackjack funktioniert genauso. Du bekommst zwei Karten und kannst weitere einfordern, mit dem Ziel, möglichst nah an die Einundzwanzig zu kommen.« Sonja klang leicht abgelenkt, weil sie gleichzeitig versuchte, sich ein Bild zu machen, wie das Spiel online ablief.
»Stimmt, wer mehr als einundzwanzig Punkte hat, verliert. Aber wie gewinnt man dabei Geld?«
Mit einem Seufzen wandte sich Sonja vom Bildschirm ab und ihrer Freundin zu. »Bevor ich Karten bekomme, setze ich einen Geldbetrag und dann spiele ich gegen den Dealer, also den Kartengeber.«
Maries Augen weiteten sich erschrocken. »Dann kannst du dabei Geld verlieren?«
Sonja schmunzelte. »Im echten Casino ja. Hier spiele ich online im Rahmen dieser Werbeaktion mit virtuellem Geld, meinem Bonus für die Neuanmeldung. Wenn ich den Betrag verdopple, darf ich am Livespiel in Frankfurt teilnehmen, ohne Geld einzusetzen.«
»Puh, da bin ich aber erleichtert! Jetzt hatte ich doch einen Moment Angst, es ginge dabei um dein Geld.«
Sonja umarmte die Freundin herzlich. »Keine Bange.« Sie konzentrierte sich jetzt wieder auf den Bildschirm. »Na dann.« Mit ihrem Einsatz startete sie das Spiel, und erhielt Karten. Gleich beim ersten Mal hatte sie Glück und bekam ein Ass und eine Zehn.
»Das ist übrigens ein Blackjack. Der gibt mehr Geld, vorausgesetzt der Dealer hat weniger Punkte«, kommentierte sie.
Schweigend spielte sie die nächsten Runden und langsam aber stetig vergrößerte sich ihr Guthaben.
»Mist!«
»Was ist?« Marie schaute verständnislos auf den Bildschirm.
»Das war ein sogenannter Bust, ich habe mich überkauft und mehr als einundzwanzig Punkte. Der letzte Einsatz ist weg.«
Nun spielte Sonja vorsichtiger weiter, was zwar den Kontostand hielt, aber nicht vermehrte. So kann das nicht weitergehen, dachte sie und verdoppelte den Einsatz, als sie eine Zehn bekam. Sie hielt den Atem an, während sie auf die zweite Karte wartete. Wenn sie nun einen kleinen Zahlenwert erhielt, würde sie wahrscheinlich verlieren, da sie nur noch eine Karte bekommen konnte. Das war der Preis für die Verdopplung, die eben im Gewinnfall auch mehr einbrachte. Die zweite Karte war ein Bube. Jetzt muss nur noch der Dealer unter Zwanzig bleiben, hoffte sie. Tatsächlich hatte der Geber in dieser Runde nur neunzehn Punkte und sie strich den doppelten Gewinn ein. Nach einem tiefen Durchatmen ging es in die nächste Partie.
Wie viel Zeit verstrichen war, wusste Sonja nicht, als ein goldener Schriftzug auf dem Display aufblinkte.
»Du hast es geschafft!«, jubelte Marie. Sie hatte im Gegensatz zu Sonja gelesen, dass dort zur Verdopplung des Startkapitals gratuliert wurde. »Wow, war das spannend!«
Ein Ton meldete eine eingegangene Mail und ein Fenster öffnete sich, um anzuzeigen, dass die Eintrittskarte zum Turnier angekommen war.
Marie fiel ihr um den Hals. »Dann werden wir dich mal herausputzen. Komm!«
Sonja folgte ihrer Freundin langsam in ihr Schlafzimmer. Marie schob bereits die Bügel auf dem Kleiderständer hin und her. Einen Schrank gab es nicht mehr.
»Das brauchst du unbedingt für das Dinner am Samstagabend.« Sie hielt ein rotes Cocktailkleid in der Hand. Ausgerechnet. In dem Kleid hatte Sonja damals geheiratet. Ihr erster Impuls war, das Ding zu nehmen und es in den Müll zu werfen, aber dann hätte sie nichts, um gegebenenfalls am Dinner teilzunehmen. Ein neues Kleid war auf keinen Fall drin.
»Hier sind auch die passenden Schuhe, Handtasche. Was ist mit einer Strumpfhose?«
Die Frage war berechtigt, schließlich trug Sonja fast nie Kleider oder Röcke. Für den besonderen Anlass damals hatten es halterlose Strümpfe sein müssen. Auch die lagen noch in einer unscheinbaren Schachtel; trotz aller Erinnerungen waren sie so teuer gewesen, dass Sonja sie nicht hatte entsorgen mögen.
»Wow. Habe ich dich jemals in diesen Sachen gesehen?«
Ein Kopfschütteln. Sonja war gerade nicht nach Reden, was Marie bemerkte und mit einer kurzen Umarmung quittierte, bevor sie sich wieder der Kleiderstange zuwandte.
Schließlich lagen zwei Hosenanzüge mit passenden Blusen, Ballerinas und eben jenes Cocktailkleid mit den zugehörigen Accessoires auf dem Bett.
»So müsste es gehen.«
»Ein Schlafanzug fehlt noch.«
Marie lachte. »Dann traust du dir also doch zu, ins Finale zu kommen?«
Ein Schulterzucken.
»Na komm, ich lade dich heute zum Essen ein und morgen früh bringe ich dich zum Bahnhof.«
Dann komme ich nicht zum Grübeln und fahre auch sicher dorthin. Sonja verstand die unausgesprochenen Hintergedanken der Freundin und war froh darüber.
Beim Essen in der kleinen Pizzeria an der Ecke kam die angekündigte Mail des Veranstalters. Der Ablauf war angehängt, aber den würde Sonja sich während der Zugfahrt morgen anschauen.
Wie vereinbart, klingelte am nächsten Morgen Marie mit einer Brötchentüte und zwei Kaffeebechern an der Tür, und ließ ihren Blick über Sonja gleiten. Mit einem anerkennenden Nicken bestätigte sie Sonjas eigene Einschätzung.
Der Hosenanzug stand ihr ausgezeichnet. Die langen Beine wurden durch das dunkle Blau betont und wirkten noch schlanker, als sie es ohnehin waren. Die Bluse war eng und umschmeichelte Sonjas Figur, gleiches galt für den kurzen Blazer.
»So kann ich dich auf die Menschheit loslassen«, verkündete Marie, nachdem sie ihre Freundin auf jede Wange geküsst hatte.
»Ich wäre ja gerne Mäuschen«, ergänzte sie, »wenn du in dem Aufzug schon so viel hermachst, würde ich dich gern in dem Kleid sehen. Den Männern an deinem Spieltisch wird es schwerfallen, sich auf ihr Blatt zu konzentrieren.«
»Auch Frauen spielen«, wandte Sonja ein und wies auf sich, »und wenn Profis dabei sind, wird sie nichts aus der Fassung bringen können.«
»Trotzdem kann es nicht schaden, wenn du noch einen Knopf deiner Bluse öffnest.« Unbefangen nestelte sie an dem besagten Knopf und grinste anerkennend. »Schicker BH.«
»Lass das. Erst einmal muss ich den Zug erreichen. Ich möchte auch keine Missverständnisse hervorrufen, weder unterwegs noch beim Empfang.«
»Ich möchte ja auch nicht, dass dich die Sitte wegen unerlaubter Prostitution im Nobelhotel gleich einkassiert.«
Sonja verdrehte die Augen.
»Aber du solltest die Möglichkeit im Hinterkopf haben. Wenn es heiß wird, kannst du beiläufig den Knopf öffnen und deine Gegner mit deinen Mädels da ablenken.« Marie deutete auf den offenen Ausschnitt, den Sonja gerade wieder zuknöpfte.
Schwatzend ging sie hinunter zu Maries Auto, den kleinen Koffer in der Hand, und Sonja war froh über die Ablenkung, die ihre Freundin ihr bot. So brauchte sie nicht über das bevorstehende Wochenende nachzudenken.