Leseprobe Dem Herzen so nah

1.

„Die Augentropfen geben Sie bitte zweimal täglich. Und in einer Woche sehen wir uns noch einmal zur Kontrolle.“ Dr. Andrew Martinez hob die amerikanische Bulldogge vom Behandlungstisch und setzte sie behutsam auf den Boden. Mit einem flüchtigen Lächeln verabschiedete er die ältere, sichtlich erleichterte Besitzerin. Mrs. Miller war in steter Sorge, Rüde Charlie könnte in alte Verhaltensmuster zurückfallen und beißen. Eigentlich müsste sie inzwischen wissen, dass ihr Hund sich in dieser Praxis mustergültig verhielt. Andrew vermutete, dass immer noch frühere Bilder vor dem inneren Auge der älteren Dame aufblitzten. Bilder, in denen Charlie versuchte, Tierarzthände zu schreddern.

„Danke, Herr Doktor!“ Sie schob sich eine graue Locke aus der verschwitzten Stirn und bückte sich umständlich, um ihren Hund anzuleinen.

Andrew verkniff sich ein Schmunzeln. Körperbau und Bewegungen von Frauchen und Hund ähnelten sich verblüffend. Nachdem die Tür mit einem leisen Klicken ins Schloss gefallen war, lehnte Andrew sich seufzend gegen einen der Schränke. Manche Menschen bezeichneten ihn als „Dr. Doolittle“, der imstande war, mit Tieren zu sprechen. Zu seinem Bedauern konnte er das nicht. Aber seine Stärke lag darin, zu erkennen, was seine Patienten ihm klar mit Ausdruck und Körpersprache vermittelten. Charlies Vertrauen zu gewinnen, war einfach gewesen. Das einzige, was es hierfür gebraucht hatte, war, dem Rüden mit Respekt und Freundlichkeit zu begegnen. Ein plumpes Begrapschen stellte für ihn eine grobe Unhöflichkeit dar, auf die er prompt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln reagierte. Viele Hunde tolerieren schlechtes Verhalten stoisch, Charlie nicht. Nachdem er merkte, dass hier ein freundlicher Umgang mit den Patienten als selbstverständlich erachtet wurde, war das Eis schnell gebrochen gewesen. Andrew mochte solche besonderen Charaktere.

Sein Blick fiel auf den Kalender neben der Tür. Obwohl ihm seit dem Aufwachen am frühen Morgen sehr bewusst war, welches Datum heute war, krampfte sich seine Brust dennoch schmerzhaft zusammen, als er es jetzt wieder schwarz auf weiß las. Fünfter Februar. Heute vor sechs Jahren war Lisa gestorben, der wichtigste Mensch in seinem Leben. Still und leise war sie gegangen. Nichts hatte ihn darauf vorbereiten können. Nicht die schlechte Prognose, die bereits ein Jahr zuvor von diversen Ärzten gestellt worden war. Nicht die langsame, aber stetige Verschlechterung ihres Zustands. Nicht zuletzt konnte ihm auch das eigene medizinische Wissen kaum dabei helfen zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Lisa wird sterben. Dieser Satz, den er hundertfach gedacht hatte, und der es dennoch nie geschafft hatte, sein Herz zu erreichen. Sein Herz hatte trotzig und unbeirrt auf ein Wunder gewartet. Bis zum fünften Februar. Die Wucht, mit der die Erkenntnis sich endlich durchgesetzt hatte, raubte ihm mitunter noch heute den Atem. Daran konnten auch sechs lange Jahre ohne sie nichts ändern. Er hatte weitergemacht mit dem Leben. Irgendwie. Was sollte er auch sonst tun, die Tiere brauchten ihn schließlich. Er schien zwei Herzen besessen zu haben. Eins für die Tiere, das unverändert weiter existierte. Das andere war mit Lisa gegangen. Er holte tief Luft und straffte sich. Heute Abend war noch genug Zeit zu trauern. Am Morgen hatte er weiße Rosen, Lisas Lieblingsblumen, zu ihrem Grab auf dem Green-Wood Friedhof gebracht. Einen weiteren Strauß hatte er im Atelier im Obergeschoss ihres Hauses arrangiert. Eins der Rituale, das er nach ihrem Tod ganz selbstverständlich beibehielt. Dort würde er sich heute Abend wie gewohnt zur stillen Zwiesprache mit Lisa zurückziehen. Aber erst musste er seine Patienten versorgen. Seine Hand lag schon auf dem Türgriff, als ein dumpfer Knall von der Straße ihn innehalten ließ. Er eilte zum Fenster, schob die Gardine zur Seite und blickte hinaus in den verregneten Februarnachmittag. An der Kreuzung, die kaum fünfzig Meter von der Praxis entfernt war, standen zwei Autos schräg ineinander verkeilt. Ein Kleinwagen, dessen Marke er nicht identifizieren konnte, weil nicht mehr viel von ihm übriggeblieben war, und ein Dodge, der seltsam unversehrt wirkte. Die Härchen auf Andrews Armen stellten sich auf und in seinem Magen bildete sich ein heißer Knoten. Sein erster Impuls war hinauszulaufen und Hilfe zu leisten. Schnell konnte er aber erkennen, dass neben einigen Ersthelfern bereits ein Krankenwagen am Unfallort stoppte und zwei Sanitäter hinaussprangen. Eine glückliche Fügung. Zögernd zog Andrew die Gardine wieder vor das Fenster. Seine Anwesenheit wurde hier gebraucht, dort draußen bei dem schrecklichen Unfall wurde schon für alles gesorgt. Vielleicht sah es schlimmer aus, als es war. Er hoffte es für die Unfallbeteiligten. Verdrängte den Gedanken, dass Raserei oder ein unbedachter Blick aufs Smartphone die Ursache des Unglücks gewesen sein könnte.

Der nächste Patient war eine junge schwarze Labradorhündin, die hektisch durch den Behandlungsraum sauste und auf den ersten Blick gesund, aber vollkommen überdreht wirkte. Erst beim dritten Anlauf gelang es dem Besitzer, seinen Wildfang auf den Behandlungstisch zu platzieren.

„Marla kratzt sich, als wolle sie sich den Pelz runterreißen.“ Mit einer hilflosen Geste tätschelte der magere, junge Mann seiner Hündin den Kopf.

„Seit wann macht sie das?“ Andrew teilte bereits das Fell, um die darunterliegende Haut in Augenschein zu nehmen.

„Sie hat sich eigentlich schon immer ab und zu gekratzt, aber in letzter Zeit wurde es richtig schlimm.“ Der Besitzer hob die Schultern und sah Andrew aus blassblauen Augen unsicher an.

„Ihr erster Hund?“

Der junge Mann nickte. „Meine Freundin wollte Marla haben. Na ja, inzwischen ist sie meine Ex-Freundin und nach dem Hund hat sie kein einziges Mal gefragt, seitdem sie ausgezogen ist.“

„Wurde das Kratzen nach dem Auszug Ihrer Freundin so schlimm? Dann wäre es möglich, dass Marla mit dem Verlust noch nicht zurechtkommt.“ Andrew musterte Hund und Herrchen, die auf ihn denselben verlassenen Eindruck machten.

Die Antwort war ein zögerndes Nicken.

„Das könnte schon die Erklärung sein. Zur Sicherheit können wir aber auch testen, ob vielleicht eine Nahrungsmittelallergie dahintersteckt. Parasiten sind jedenfalls nicht zu erkennen.“

„Ich glaube, dann warten wir erstmal ab. Seitdem ich alles alleine bezahlen muss, ist es finanziell ganz schön eng …“ Der junge Mann sah angestrengt auf den Boden. Die Ehrlichkeit kostete ihn offensichtlich Überwindung.

„Unternehmen Sie einfach so viel Schönes wie möglich zusammen. Joggen im Park, Spielen mit anderen Hunden, alles, was der Seele guttut.“ Andrew lächelte schief. Es gab Verluste, bei denen die einfachen Rezepte halfen. Ob das hier der Fall war, musste man abwarten.

„Ist gut, das machen wir.“ Leise Resignation klang in der Stimme des jungen Mannes, der seine Hündin nun vom Behandlungstisch herunternahm.

Andrew wollte sich gerade von den beiden verabschieden, als ein kurzes Klopfen an der Tür ertönte, die praktisch im selben Moment aufflog.

Überrascht hob Andrew eine Augenbraue.

„Wir brauchen dich, Doc! Sofort!“ Der uniformierte Beamte, der im Türrahmen stand, machte auf dem Absatz wieder kehrt. Andrew überlegte nicht, sondern folgte ihm sofort durch den Flur Richtung Ausgang. Er kannte Bob Connely schon einige Jahre, und wenn er seine Hilfe verlangte, dann ging es um ein Tier in Not. Mehr musste Andrew nicht wissen. Als sie auf der Straße angekommen waren, deutete der Polizist in Richtung des Unfalls.

„Wir haben eine verletzte junge Fahrerin und einen sehr schlecht gelaunten Rottweilermischling. Entweder schaffst du es, ihn mitzunehmen oder …“ Bobs Blick wanderte zu seiner Waffe am Hosenbund.

Andrew schluckte. Es war großes Glück für den Hund, dass ausgerechnet Bob im Dienst war. Jeder andere hätte längst kurzen Prozess gemacht. Menschenwohl ging immer vor, aber bei Bob kamen die Hunde direkt danach. Es gab allerdings Kollegen, die behaupteten, dass beide Spezies für Bob dieselbe Wertigkeit besaßen.

Stillschweigend hasteten die Männer den Gehweg entlang, wichen gekonnt Passanten aus und sprinteten gleichzeitig über die sechsspurige Fahrbahn, als eine Lücke im dichten Verkehr sichtbar wurde. Die Unfallstelle war inzwischen abgeriegelt worden. Rund um die Absperrung drängten sich unzählige Schaulustige. Einigen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, bei anderen war Andrew sicher, eine Sensationslust zu erkennen, die ihn schaudern ließ. Und dann sah er sie. Seine Patientin Gina, die Rottweiler-Labradorhündin. Er erkannte sie sofort. Nicht nur wegen ihres leuchtendroten Halsbandes, sondern auch wegen ihres beachtlichen Körperumfangs und vor allem wegen des besonderen Gesichtsausdrucks, der sich während ihrer Termine tief bei ihm eingeprägt hatte. Er stoppte abrupt. Schätzte den Abstand zwischen Hund, dem völlig demolierten Auto, das einmal ein Mini Cooper gewesen war, und den Rettungskräften, die angespannt darauf warteten, zu der reglosen Gestalt zu gelangen, die über dem Lenkrad lag. Noch war der Weg versperrt durch den Hund, der sich direkt vor dem Einstieg zum Fahrersitz postiert hatte. Die Tür existierte nur noch in Resten. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, sah Andrew Gina die Zähne fletschen. Es wirkte seltsam grotesk, aber absolut entschlossen.

„Du hast genau dreißig Sekunden.“ Bobs Miene war undurchdringlich und sein Blick fest.

Andrew nickte. Dreißig Sekunden würden reichen. Falls er zu Gina durchdringen würde. Wenn nicht, war ihr Schicksal besiegelt.

2.

Ginas sanftes Wesen hatte Andrew von Anfang an berührt. Er wusste, dass die meisten Menschen in ihr nur einen riesigen schwarzen Hund mit einem ebenso riesigen Schädel und unförmigen Körper sahen, der stolze 120 Pfund auf die Waage brachte. Vom Vorbesitzer ins Tierheim abgeschoben, hatte sie dort der sicheren Todesspritze entgegengesehen. Die Chancen, dass irgendjemand diesen Hund adoptieren würde, lagen bei Null. Und so war die Zeitspanne, in der ein Wunder passieren konnte, sehr kurz bemessen. Das Wunder geschah, als Amber Scott das Tierheim betrat. Amber – eigentlich auf der Suche nach einem kleinen Gefährten, einem, der problemlos in ihren Mini-Cooper passte – war auf der Stelle verzaubert gewesen von der geballten Liebenswürdigkeit dieser voluminösen Hündin. Amber blieb keine Wahl, sie adoptierte Gina und war erstaunt, dass sie tatsächlich genug Platz im Mini fand. Den Platz in ihrem Leben nahm sie so selbstverständlich ein, als wäre es schon immer ihrer gewesen.

Andrew liebte solche Geschichten. Und er mochte Menschen, die Tieren wie Gina eine Chance gaben. Tieren, die absolut perfekt waren, auch wenn sie nicht so aussahen. Gina war auch jetzt perfekt in ihrer bedingungslosen Loyalität. Die Hündin wusste genau, dass Amber verletzt und schutzbedürftig war. Und es war ihre Aufgabe, auf Amber aufzupassen. So, wie Amber normalerweise auf sie aufpasste.

Andrew holte tief Luft. Gina vertraute ihm, das wusste er. Aber bislang war dieses Vertrauen nur in der sicheren Atmosphäre seiner Praxis mit Amber an ihrer Seite erprobt worden. Langsam aber entschlossen bewegte er sich auf Gina zu. Es musste klappen, er hatte nur eine einzige Chance.

„Braves Mädchen“, murmelte er und streckte seine Hand nach der Leine aus, die an ihrem roten Halsband befestigt war. Ein Raunen ging durch die Menge. Ginas Zähne blieben gefletscht, fast sah es aus, als wäre ihre Mimik mit diesem Ausdruck eingefroren. Andrew blickte mit aller Dringlichkeit in die dunklen Hundeaugen. Für einen Moment hielt er die Luft an. Fünf Sekunden, mehr Zeit hatten sie bestimmt nicht mehr. Schließlich senkten sich die Lefzen in Zeitlupe, die weißen Zähne verschwanden darunter. Der Blick der Hündin schnellte von Andrew zum Mini und zurück.

„Es ist alles gut, Gina. Glaub mir, die Leute werden Amber helfen.“ Andrews Hand tastete ein Stück weiter nach vorn.

In diesem Moment traf die Hündin eine Entscheidung. Sie senkte den Kopf und machte einen winzigen Schritt auf Andrew zu. Vielleicht sogar froh, ihm damit die Verantwortung zu übergeben.

Andrew packte die Leine und zog Gina sanft zu sich heran. Ohne anzuhalten, dirigierte er sie dann weiter den Bürgersteig entlang, zurück in Richtung seiner Praxis. Gina folgte ihm, warf aber immer wieder zögernde Blicke zurück. Erst als Andrew den Eingang erreicht hatte, über die Schwelle trat und die Tür hinter sich und der Hündin zuwarf, wagte er aufzuatmen.

3.

Gina trottete im Gleichschritt neben Andrew her. Gelegentlich sah sie zu ihm auf, als bräuchte sie immer wieder die Bestätigung, dass alles seine Richtigkeit hatte.

Er tat ihr den Gefallen und murmelte jedes Mal ein beruhigendes Okay. Der Weg zu seinem Haus in Greenwich Village war gepflastert mit unzähligen Menschen, die wie er auf dem Weg in ihren Feierabend waren. Die meisten von ihnen waren in Eile. Einige wichen ängstlich aus, als sie den großen schwarzen Hund auf sich zukommen sahen.

Der Regen hatte nachgelassen und einem frischen Wind Platz gemacht. Wäre Andrew alleine unterwegs, hätte er längst seinen Schritt beschleunigt. Der übergewichtigen Gina zuliebe passte er sich ihrem gemäßigten Tempo an. Er wusste, dass sie bereits fünf Kilo abgenommen hatte. Das hatte zumindest die Waage in seiner Praxis bestätigt. Zu sehen war von der dringend nötigen Gewichtsabnahme noch nicht viel.

Schließlich kamen sie an dem stuckverzierten Stadthaus in Greenwich Village an, in dem Andrew seit über zehn Jahren zuhause war. Er stieß das schmiedeeiserne Tor auf und ging über den mit Natursteinen ausgelegten Weg zur Haustür. Gina wurde noch langsamer, sandte erneut einen fragenden Blick zu Andrew.

„Pass auf Honey, bis du wieder nach Hause kannst, musst du leider mit der Unterbringung hier vorlieb nehmen. Drinnen warten vier Kollegen auf dich, die sehr freundlich sind. Ich bin sicher, ihr kommt gut miteinander klar.“ Andrew nestelte den Schlüssel aus der Jackentasche. Dabei wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, ob das stimmte. Seine vier Hunde waren verträglich, aber von Gina wusste er es nicht. Darüber hatte Amber bislang nichts gesagt. Vermutlich hätte sie es getan, wenn Gina aggressiv auf ihresgleichen reagierte. Sicher war Andrew allerdings nicht. Gina war ein absoluter Schatz im Umgang mit Menschen. Er konnte nur hoffen, dass ihre Freundlichkeit sich auch auf Artgenossen erstreckte. Sicherheitshalber dirigierte er sie hinter sich, als er die Tür ein Stück aufsperrte. Natürlich warteten seine Jungs und Mädels bereits sehnsüchtig und drängelten sich im Flur. Sanft aber entschieden schickte er alle auf ihre Plätze. Nachdem alle gehorcht hatten, öffnete er die Tür ganz. Vier Augenpaare waren überrascht und erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Normalerweise folgte bei seinem Heimkommen ein ausgiebiges Begrüßungsritual, auf ihre Plätze geschickt worden waren sie noch nie. Andrew hätte schwören können, dass Mac, der alte Schäferhund, eine Augenbraue hob. Luke, der Terrier, bebte vor Aufregung am ganzen Körper, aber das war für ihn nicht weiter ungewöhnlich. Es fiel ihm grundsätzlich schwer, sich nicht zu bewegen. Eva, die dreibeinige weiße Schönheit harrte wie üblich hoheitsvoll und entspannt der Dinge, die da kamen. Einzig Mikey, der Chihuahua, schien ernsthaft verunsichert von dieser Abweichung ihrer Abendroutine. Und von dem riesigen Hund, der auf einmal bei ihnen auftauchte. Mikey hatte die Ohren angelegt und den Kopf eingezogen. Auf seiner Stirn leuchtete für Andrew gut lesbar ein Schild: Kann die bitte wieder gehen?!

„Jungs, Mädels, darf ich euch Gina vorstellen? Sie braucht vorübergehend eine Bleibe, seid also bitte gastfreundlich.“ Andrew musterte den Rottweilermischling hinter sich, der immer noch verunsichert und traurig, aber keineswegs aggressiv aussah. Andrews Gefühl sagte ihm, dass es kein Problem unter den Hunden geben würde. Er leinte Gina ab und trat mit einer auffordernden Geste beiseite. Die Begrüßung der Hunde fiel entspannt und freundlich aus. Nur Mikey zog es vor, zunächst auf seinem Kissen liegen zu bleiben und den Neuankömmling argwöhnisch zu beobachten. Gina reagierte freundlich, aber die Traurigkeit in ihrem Blick blieb, während sie ihr Neue-Hunde-Kennlernprogramm routiniert abspulte. Andrews Hunden blieb das natürlich nicht verborgen, sie wahrten eine eher ungewöhnliche Zurückhaltung. Selbst Luke schraubte seine Erregung auf ein selten niedriges Level hinab. Eva und Gina begegneten sich höflich auf Augenhöhe, Mac musste schnell einsehen, dass sein charmantes Gentlemanverhalten an Ginas Mauer der Traurigkeit abprallte. Mikeys Augen weiteten sich, als Gina ihren großen Kopf in seine Richtung wandte. Gleich darauf drehte sie sich zu Andrew um und sah ihn auffordernd an. Mikey entspannte sich erleichtert.

„Bravo, Ladies and Gentlemen, das habt ihr toll gemacht! Dann zeigen wir Gina mal ihren Schlafbereich, okay?“ Er ging ins Wohnzimmer vor. Alle Hunde folgten ihm, Gina klebte dabei fast an seinem Bein. Er schaltete das Licht ein, das den großen Raum warm flutete. Mit einer ausladenden Geste wies er auf die Hundekörbe, die rund um den Kamin und neben der großzügigen Sitzgruppe aufgestellt waren.

„Na, ihr einigt euch schon untereinander, wer wo liegt.“ Liegen wollte allerdings gerade niemand. Zumindest seine vier Hunde wussten genau, was jetzt eigentlich auf dem Programm stand: Abendessen! Seufzend machte er sich auf den Weg in die Wohnküche. Ausnahmsweise war er nicht mit ganzer Aufmerksamkeit bei seinen tierischen Mitbewohnern. Seinen Plan, gleich nach dem Essen ins Atelier hinaufzugehen, hatte er bereits nach hinten verschoben. Zunächst musste er in Erfahrung bringen, wie es Amber Scott ging. Die junge Frau tat ihm leid. Und mindestens genauso leid tat ihm die liebe Gina, die plötzlich ohne ihre vertraute Bezugsperson dastand. Andrew ahnte, was das für einen Hund mit ihrer Vorgeschichte bedeutete.

In der Küche angekommen registrierte er dankbar, dass das Chaos vom Morgen wie von Zauberhand einer blitzblanken Optik gewichen war. Natürlich wusste er, wessen Zauberhände dafür verantwortlich waren. Die seiner Hunde- und Haussitterin Gloria – der Lichtblick in seinem Leben. Seit Lisas Tod wäre er ohne die resolute 60-Jährige im normalen Alltag untergegangen. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es genau dazu gekommen war, aber irgendwann hatte die Nachbarin eine Festanstellung bei ihm bekommen. Neben der Führung seines Haushalts sorgte sie dafür, dass die Hunde regelmäßig Auslauf bekamen, genügend Hundefutter in der Vorratskammer lagerte und Andrew ein richtiges Abendessen im Kühlschrank vorfand. Andernfalls würde er vermutlich längst an Krankheiten leiden, die einer Mangel-Ernährung geschuldet waren. Seine vorher praktizierte rigorose Alleinversorgung mit Käse-Sandwiches hätte irgendwann Tribut gefordert.

Gedankenverloren holte er das Hundefutter aus der Kammer und reihte die Näpfe auf der Arbeitsplatte auf. Fünf Augenpaare beobachteten jede seiner Handbewegung genau. Mikey achtete dabei peinlich auf einen reichlichen Sicherheitsabstand zu Gina, die am dichtesten bei Andrew stand. Er ahnte, dass ihr Interesse weniger der Nahrung galt. Noch immer konnte er Verunsicherung und Traurigkeit in ihrem Blick lesen, er war der letzte Halt, der ihr noch geblieben war. Sobald die Abendfütterung erledigt war, musste er dringend im Krankenhaus nachfragen. Ein Flattern lief durch seinen Magen. Er war sicher, dass nicht Hunger die Ursache war. Was, wenn Amber es nicht geschafft hatte? Müde strich Andrew sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Langsam ließ er den Löffel sinken, mit dem er das Futter verteilt hatte.

Ein kurzes dumpfes Bellen riss ihn aus den dunklen Gedanken. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Mac, der alte Schäferhund, der in seinem früheren Zuhause fast verhungert war, wusste noch immer sehr genau, wo er Prioritäten setzen musste.

„Schon gut, mein Alter, es geht ja gleich los.“ Andrew beeilte sich, die Näpfe zu füllen. Für Gina holte er eine Schüssel aus einem der oberen Küchenschränke. Die Verteilung verlief wie gewohnt problemlos. So unterschiedlich die Hunde waren, alle hatten sich schnell mit den Hausregeln arrangiert. Eine davon war: Kein Drängeln bei der Essensausgabe!

Als Andrew die Schüssel vor Gina stellte, überraschte es ihn wenig, dass sie den Kopf wegdrehte. Er schluckte. Natürlich, die Hündin stand immer noch unter Schock. Ein Zustand, in dem weder Menschen noch Hunde Nahrung zu sich nehmen mögen. Mit einem Seufzen stellte er die Schüssel weg. Dann setzte er sich an den Küchentisch und stützte den Kopf schwer in beide Hände. Zunächst einmal musste er herausfinden, in welchem Krankenhaus Amber lag. Dabei würde ihm Bob helfen.

4.

Andrews Finger trommelten im unruhigen Rhythmus auf der Pinienholzplattes des Küchentischs. Er wartete bereits minutenlang darauf, mit Dr. John Mitchell verbunden zu werden. Nachdem sich kurz Erleichterung in Andrew breitgemacht hatte, dass die Patientin nach Bobs Auskunft ins St. Anne’s Hospital, eines der besten Krankenhäuser New Yorks, eingeliefert worden war, folgte die Ernüchterung auf dem Fuße. Die Ansage der Schwester war unmissverständlich gewesen: Keine Auskunft für Nicht-Familienangehörige! Die Tatsache, dass er den Hund der Patientin in Obhut genommen hatte, ändere daran gewiss nichts. Andrew seufzte genervt. Sie hatte ja recht. Trotzdem war er ärgerlich angesichts dieser Regel, die zwar grundsätzlich gut und nachvollziehbar war, ihm in diesem Fall aber den letzten Nerv raubte. Beinahe fühlte er sich wie ein Stalker, der versuchte, an Informationen ranzukommen, die ihm nicht zustanden. Und nun musste er ein weiteres Mal seine Kontakte spielen lassen, etwas, das ihm normalerweise zuwider war. Wieder seufzte er. Sein Blick traf sich mit dem von Gina, die neben ihm lag und nun zu ihm aufsah. Sein Herz zog sich zusammen angesichts ihres Kummers. Okay, für sie war er bereit, auch zu unlauteren Methoden zu greifen.

„Andrew, mein Lieber, schön von dir zu hören! Wie geht es dir?“ Die tiefe Stimme von Dr. Mitchell, dem Leiter der Neurologie des St. Anne’s, riss Andrew aus seinen Gedanken.

„Könnte besser sein“, gab Andrew unumwunden zu. Er sah den befreundeten Arzt vor sich. Sah die braunen Augen, die warm in einem bärtigen Gesicht leuchteten. John Mitchell schaffte es mit seiner ruhigen, freundlichen Art meist im Handumdrehen, selbst ängstlichen Patienten Momente der Ruhe und Zuversicht zu vermitteln. Vor einigen Jahren war er einer der ersten gewesen, der offen für die Arbeit von Therapiehunden bei Komapatienten gewesen war. Im Zuge des Aufbaus der Dog’s Help For Human Beings Foundation war er Andrews engster Verbündeter und guter Freund geworden. Ohne ihn wäre die Organisation nicht das geworden, was sie heute war.

Andrew räusperte sich. „John, ich brauche deine Hilfe. Es geht um Amber Scott, sie hatte heute Nachmittag einen schweren Autounfall und wurde bei euch eingeliefert. Ich wurde zum Unfallort gerufen, um ihren Hund zu beruhigen. Gina ist bei mir Patientin, und ich habe sie nun vorübergehend aufgenommen. Natürlich steht mir kein Auskunftsrecht zu. Aber ich weiß, dass Amber momentan keinen Kontakt zu ihrer Familie hat und noch relativ neu in New York ist. Dem Hund zuliebe …“ Er brach ab, mit einem Mal kam er sich selten blöd vor.

„Amber Scott.“ Das Zögern in Johns Stimme jagte einen kalten Schauer über Andrews Rücken.

„Ist sie …?“ Andrew stockte, sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

„Nein, nein, sie lebt.“ Nach einer kurzen Pause sprach John weiter. „Es ist nur so, dass wir medizinisch vor einem Rätsel stehen.“

Andrew war sicher, dass der Freund jetzt nachdenklich über seinen dunkelblonden Bart strich und die Brille zurechtrückte. Für einen Moment löste Johns Bedächtigkeit eine seltene Ungeduld bei ihm aus. Was war mit Amber?!

„Sie liegt im Koma, allerdings konnten wir bislang keinen Grund dafür finden. Ihre Verletzungen sind alle erstaunlich leicht. Bis auf eine angebrochen Rippe und oberflächlichen Schnittwunden, ist sie unverletzt.“

„Schädel-Hirn-Trauma …?“

„Ausgeschlossen.“ John seufzte. „Die Tests gehen natürlich noch weiter. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass ich so etwas noch nicht erlebt habe.“

Andrew lehnte sich auf dem Küchenstuhl zurück. Seine Gedanken fuhren Karussell. Ein Koma bedeutete immer eine ernste Situation. Aber ein Koma ohne Grund? Auf diese Nachricht war er nicht vorbereitet gewesen. Er hatte damit gerechnet, dass Amber schwer verletzt war, auch damit, dass sie um ihr Leben kämpfte oder diesen Kampf bereits verloren hatte. Bestenfalls war er davon ausgegangen zu hören, dass alles doch halb so wild war und die Patienten sich auf einem guten Weg befand. Aber diese überraschende Ansage brachte ihn aus dem Konzept.

„Es tut mir leid, dass ich dir keine präzisere Auskunft geben kann.“ John räusperte sich. „Willst du die Patientin morgen besuchen?“

„Aber …“ Andrew brach ab. Nichts lieber als das. Aber ihm war bewusst, dass er als Fremder normalerweise nicht zu einem Koma-Patienten vorgelassen werden würde. Es sei denn …

„Ihr habt doch sicher noch Kapazitäten frei im Besuchs-Programm der Foundation?“ Ein Lächeln erhellte die Stimme des Leiters der Neurologie.

„Klar!“ Andrew brach ab und setzte sich aufrecht hin. Wieder fiel sein Blick auf Gina, die ihn aufmerksam beobachtete. Er nickte ihr erleichtert zu. Die Hündin schien zu wissen, was das bedeutet. Mit einem zufriedenen Seufzen senkte sie den Blick und drehte sich entspannt auf die Seite. Auch in Andrew löste sich eine Anspannung, die er vorher kaum wahrgenommen hatte.

„Dann sehen wir uns morgen? Sagen wir zur Mittagszeit, wenn in deiner Praxis Pause ist?“

„Sehr gerne! Danke, John.“

„Keine Ursache.“

Sie verabschiedeten sich und Andrew ließ das Telefon langsam auf den Küchentisch sinken. Die Information, die er bekommen hatte, klang in ihm nach. Amber Scott lag im Koma. Und einer der besten Neurologen des Landes hatte nicht die geringste Erklärung, woran das lag. Andrew entschied sich, das trotzdem erstmal als gutes Zeichen zu werten. Immerhin hätte er auch die Auskunft erhalten können, dass jede Hilfe zu spät gekommen war. Behutsam strich er Gina über den breiten Kopf. Sie sah nicht auf, gab nur ein zufriedenes Brummen von sich.