Leseprobe Denying Love

Kapitel 1

Megan

»Wenn Sie derart schnell die Nerven verlieren, sind Sie für den Beruf als Bewährungshelferin ungeeignet.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Megan ihren Boss Patrick Barns an. Eine imaginäre Hand zerquetschte ihre Organe, raubte ihr die Luft zum Atmen. Dabei hätte sie mit dieser Reaktion rechnen müssen.

Es ging um einen ihrer Klienten, der wegen schwerer Körperverletzung acht Jahre eingesessen hatte und vor einer Woche auf Bewährung entlassen worden war. Nachdem er einen anderen Mann durch massive Provokationen zur Schlägerei animieren wollte, saß er nun wieder ein, weil sie ihn erneut der Polizei ausgeliefert hatte.

So was brachte ihren Boss jedes Mal auf die Palme. Aber sollte sie tatenlos zusehen, wie ihre Probanden munter weiter gegen das Gesetz verstießen? Niemals. Dann hätte sie den Job wirklich verfehlt.

Barns musterte Megan abschätzig von oben bis unten. Seine grauen Augen stachen durch die zu klein geratene, uralte Brille auf der Adlernase. Allein dieser Anblick ließ in ihr die Galle aufsteigen. Noch schlimmer wurde es, wenn er den Mund aufmachte.

»Mister Major ist gerade entlassen worden und Sie sorgen dafür, dass er direkt zurück in den Knast geht. Wieder einer in unserer Statistik, den Sie wegen einer Kleinigkeit ans Messer liefern. Langsam bezweifle ich ernsthaft, dass Sie dem Job gewachsen sind.« Immer mehr redete er sich in Rage, bis er innehielt und tief durchatmete. Sie von oben bis unten musterte. »Vielleicht würden ein paar Kilo weniger und ein Rock helfen, Ihre Unsicherheit gegenüber den Klienten zu vertuschen. Sie sollten Ihre weiblichen Reize nutzen, wenn Sie in dem Job weiterkommen wollen. Eine andere Chance sehe ich da nicht mehr.«

Megans Mund klappte auf. Obwohl ihr Boss sie seit ihrem ersten Tag wie Dreck behandelte, überwog auch dieses Mal die Fassungslosigkeit. Sprachlos starrte sie ihn an, ließ die Worte Revue passieren. Sie hoffte inständig, sie hätte sich verhört und diese Unverschämtheit wäre nie aus seinem Mund gekommen. Oder er würde sich wenigstens dafür entschuldigen. Aber das konnte sie noch so sehr herbeisehnen – es würde niemals passieren.

Wut und Enttäuschung krochen in ihr hoch. Ihr Gehirn rotierte, sie bekam keinen klaren Gedanken zu fassen.

Barns hingegen fuhr mit seiner Predigt fort. »Entweder Sie zeigen mir, dass Sie es besser können, oder Sie werden sich beim nächsten Fehlversuch nach einer anderen Stelle umsehen müssen.«

Als Megan nicht reagierte, auf der vergeblichen Suche nach einer passenden Antwort, wedelte er mit der Hand. »Na los! Anstatt hier dumm herumzustehen, sollten Sie sich besser auf Ihren neuen Probanden vorbereiten!« Kopfschüttelnd wandte er sich seinem Bildschirm zu.

Megan blinzelte und atmete tief durch. Sie würde jeden Augenblick losheulen. Wie immer, wenn sie vor Wut platzen könnte. Diese Genugtuung würde sie Barns nicht auch noch gönnen.

Nachdem sie zitternd die Tür hinter sich geschlossen hatte, platzte die Frustration geballt aus ihr heraus. Tränen verschleierten ihre Sicht und tropften auf die Bluse, während sie zu den Toiletten eilte. So sollte sie kein Kollege sehen. Wer würde ihr denn den wahren Grund für die Heulerei abnehmen? Für die anderen wäre es nur die Bestätigung ihres Irrglaubens, sie sei geschlechtsbedingt untauglich für den Job. Es würde noch mehr Sprüche in der Richtung hageln, als sie ohnehin schon täglich zu hören bekam.

Glücklicherweise arbeitete hier nur eine weitere Frau, die heute nicht im Büro war. So konnte sie sich in aller Ruhe frisch machen, nachdem die Tränenflut endlich nachgelassen hatte.

Wenigstens war sie diesen Klienten jetzt los. Major hatte grundsätzlich das Gegenteil von dem gemacht, was sie sagte. Jede Möglichkeit genutzt, sie zu schikanieren. Und Mist zu bauen. Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als ihn wegen der Verstöße zurück ins Gefängnis zu schicken. Auch wenn ihrem Boss die Rückfallquote nicht gefiel und sie, wie so oft, als schwächliches Weibsstück darstellte.

Die Erinnerung daran jagte einen erneuten Schwall heißen Zorns durch Megans Adern. Sie war nicht unfähig, im Gegenteil. Nicht nur, dass ihr diese Arbeit wichtig und sie mit Herzblut bei der Sache war. Sie schien hier auch die Einzige zu sein, die ihren Job ernst nahm und durch ihr Handeln unschuldige Menschen schützte. Denn solch brutale, jähzornige Menschen wie Major hatten auf der Straße nichts verloren. Sie war im Recht und das würden die anderen auch noch einsehen. Dafür würde sie sorgen.

Der Job bedeutete ihr alles. Sie wollte Menschen helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Nach einer Verhaftung oder gar einem Knastaufenthalt hatte man es in den USA verdammt schwer. Um nicht zu sagen – ein Leben in der Obdachlosigkeit war so gut wie sicher. Es sei denn, man bekam die richtige Unterstützung. Und die wollte sie den Menschen bieten, die es verdienten. Wie viele wurden zu Unrecht verurteilt oder hatten wirklich gute Gründe für ihre Taten. Wie diese Mutter, die Essen für ihr Baby gestohlen hatte. Oder Megans Dad, der kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag zu Unrecht wegen Mordes angeklagt worden war. Es hatte ihre Familie zerstört, ihr die Jugend genommen. Ihr ganzes Leben verändert.

Das sollte anderen nicht passieren. Dafür kämpfte Megan mit vollem Einsatz und aus dem Grund wollte sie den Job so gut wie eben möglich machen. Würde sie auch. Und zwar so, wie es das Gesetz vorgab, nicht Barns.

Trotzig knöpfte Megan ihre Bluse bis oben zu und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ihre Augen waren noch leicht gerötet, was das Blaugrün der Iris regelrecht leuchten ließ.

Vielleicht sollte ich öfter heulen oder die Lider rot schminken.

Bei dem Gedanken grinste sie. Die Flecken waren aus ihrem Gesicht verschwunden, bald würde sie wieder normal aussehen. Megan strich sich eine blonde Haarsträhne, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das Ohr und straffte die Schultern. Vor der Tür zögerte sie und lauschte. Als sie nichts als Stille vernahm, trat sie auf den Flur hinaus und eilte in ihr Büro, wo sie die Motivationswelle bereits wieder verlassen hatte. Zu groß war die Angst, ihren Traumjob zu verlieren.

Megan ging auf direktem Wege zum Aktenschrank, auf dem die Kaffeemaschine stand, und befüllte sich mit zitternden Händen eine Tasse. Den hatte sie jetzt bitternötig.

Gleich würde eine neue Chance vor ihr sitzen, die musste sie nutzen. Mit geschlossenen Augen atmete Megan tief durch und öffnete die Datei ihres nächsten Klienten.

Jay Harvey, sechsundzwanzig, verurteilt wegen Besitzens illegaler Substanzen. Aufgrund der geringen Menge, seines Geständnisses und des Erstvergehens wurde das Strafmaß außergerichtlich auf sechs Monate zur Bewährung festgesetzt.

Nach der nächsten Zeile überkam Megan ein eisiger Schauer. Er war ein Soldat. Wie Tucker, von dem sie sich vor einem Monat getrennt hatte. Der hatte nur die Army im Kopf gehabt, wie scheinbar alle in dem Job. Ach nein, es war ja kein Job, sondern eine Berufung. Darauf hatte er immer bestanden.

Megan atmete tief durch und gönnte sich einen weiteren Schluck Kaffee.

Sie scrollte zur nächsten Seite, die ein Foto von Harvey zeigte – und verschluckte sich. Ihr nachfolgendes Herzrasen schob sie jedoch nicht nur darauf. Was für ein Charisma! Ohne es benennen zu können, war ihre Neugierde allein durch den Anblick geweckt.

Sie schürzte die Lippen und nickte bedächtig.

Herausforderung angenommen.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Ohne aufzusehen, rief sie: »Herein.«

Bitte nicht Barns!

Sie nahm all ihren Mut zusammen und hob den Kopf. Es war nicht ihr Boss. Dennoch raubte ihr der Anblick des Mannes, der mit seinem Körper ihren Türrahmen nahezu ausfüllte, für einen Moment den Atem. Tiefbraune undurchdringliche Augen in einem markanten Gesicht fixierten sie. Eine Narbe teilte die linke Augenbraue. Die dunklen Haare waren bis auf ein paar Millimeter abrasiert, kaum länger als der Dreitagebart. Himmel, der Kerl sah in der Realität noch besser aus als auf den Fotos! Trotz seiner unnahbaren Mimik hatte er auf sie eine wahnsinnige Ausstrahlung.

»Mein Name ist Jay Harvey. Ich bin etwas früh.« Seine tiefe Stimme ging ihr durch Mark und Bein.

Räuspernd setzte sich Megan aufrecht hin und warf einen raschen Blick auf die Uhr. Es war eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin. Das hatte bisher keiner ihrer Klienten geschafft.

Sie deutete auf die Sitzgruppe links neben ihm. »Bitte, kommen Sie rein und schließen Sie die Tür. Da können Sie sich setzen, ich bin gleich für Sie da.«

Er ließ sich auf den Holzstuhl in der Ecke gleiten, geschmeidig wie eine Raubkatze.

Megan wandte sich wieder dem Bildschirm zu, begriff aber nicht ein Wort von dem, was da stand. Ihr Gehirn erinnerte sie an einen löchrigen Käse. Nur warum? Machte Harvey sie derart nervös? Oder war es die Angst, ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie erneut …? Vielleicht sollte sie sich den Rest des Tages freinehmen und erst mal zu Verstand kommen.

Den Teufel würde sie tun. Sie hatte sich ihren Problemen immer gestellt. Das würde sie jetzt garantiert nicht ändern!

Ohne den Kopf zu bewegen, schielte sie zu Harvey herüber. Er sah sich gründlich im Raum um, schien jeden Zentimeter zu inspizieren. Perfekt, umso länger konnte sie ihn beobachten. Nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper konnte sich sehen lassen. Unter dem Stoff des schlichten schwarzen Shirts zeichnete sich die Muskelbewegung seiner Schultern ab, als er die Arme vor der Brust verschränkte.

Es war nicht nur das, was ihre Innereien rumoren ließ. Seine ausdruckslose Wachsamkeit hatte nichts mit dem kindlichen Stolz eines frisch gebackenen Soldaten gemein. Vor ihr saß ein Mann, der seit Jahren im Job war und unweigerlich viele grausame Dinge gesehen und erlebt haben musste. Schreckliche Ereignisse, die ihn abgehärtet hatten und es ihr schwer machen würde, an ihn heranzukommen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass es funktionierte.

Harvey machte sie nervös. Mehr als ihr lieb war. Warum saß da nicht ein einfacher Junkie, der froh über ihre Unterstützung war?

Erst jetzt bemerkte Megan, dass ihr Proband sie ebenfalls ansah. Ihr stockte der Atem. Zeitgleich wurde ihr bewusst, dass sie sich selbst verrückt machte. Verdammt, wo war ihre Seriosität?

Mit zusammengepressten Lippen wandte sich Megan ab und stand auf. Auf dem Weg zur Sitzgruppe klammerte sie sich an der Thermoskanne fest wie an einem Rettungsanker. Ein angenehm holziger Duft mit einem Hauch Vanille schlug ihr aus Harveys Richtung entgegen.

»Möchten Sie etwas trinken?« Sie starrte auf die Kanne und ärgerte sich über ihre auffällig hohe Stimme.

»Nichts. Danke.«

Höflich ist er. Wenigstens das.

Hüstelnd setzte sie sich ihm gegenüber und trank einen Schluck.

»Geht’s Ihnen gut? Sie zittern.« Sein Gesicht zeigte nicht den Hauch einer Regung.

Wieder durchfuhr Megan ein Schauer. Er hatte recht, wobei sie es nicht mal selbst bemerkt hatte. Wieso sah er das, verdammt?

»Ich habe noch nichts gegessen, Entschuldigung.« Zumindest nicht in den letzten zwei Stunden, was sie wohlweislich verschwieg.

Seine Miene ließ keine Vermutung zu, ob er ihr die Ausrede abnahm oder nicht.

Megan zog den Notizblock von der Tischmitte zu sich heran und zögerte, ehe sie den Kugelschreiber in die Hand nahm. Wenn sie jetzt noch mehr schlotterte als eben, würde er es auf sich beziehen und sie hatte verloren.

Sie musste sich zusammenreißen. Erneut rief sie sich zur Ruhe und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen. Fest entschlossen, seinem Blick standzuhalten.

»Gut, Mister Harvey. Mein Name ist Megan Sterling … das wissen Sie sicher.« Was redete sie denn da? Offensichtlich machte sie die Tatsache, dass sie es nicht vermasseln durfte, nervöser als angenommen. Harvey war ihre Chance. Wenn sie ihn knackte, hatte sie gewonnen. Den Macho-Kollegen und vor allem Barns gegenüber. Darauf musste sie sich konzentrieren.

Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. »Ihr Vorname ist Jay. Ist das eine Abkürzung?«

»Steht das nicht alles in Ihren Papieren?«

Sie hob die Augenbrauen. »Das ist richtig. Nur, so leid es mir tut, wir müssen das noch mal durchgehen. Hat man Sie nicht darüber aufgeklärt, was hier passiert?«

»Doch, dass Sie mir erzählen, wie weit ich mich von zu Hause entfernen darf und wann ich mich hier zu melden habe.«

»Dazu kommen wir später. Erst muss der Papierkram passen. Also, noch mal. Ist Jay Ihr richtiger Vorname?«

»Korrekt.«

»Sie sind am 27.7.1997 in Chicago, Illinois, geboren, wohnen mit ihrer älteren Schwester zusammen hier in Lawrence, Kansas, und haben noch einen drei Jahre älteren Bruder, der in Kanada lebt. Ist das richtig?«

Ohne eine Miene zu verziehen, nickte er knapp. »Korrekt. Verheiratet, zwei Kinder, beides Jungs. Schuhgröße …«

»Augenblick!« Stirnrunzelnd sah sie auf. »Von wem reden Sie?«

»Von meinem Bruder. Offensichtlich müssen Sie ja alles ganz genau wissen. Also, er fährt einen Ford Explorer, ist gelernter …«

»Stopp!«

Entweder Sie zeigen mir bei dem nächsten Klienten, dass Sie es besser können, oder Sie werden sich nach einer anderen Stelle umsehen müssen.

Die Worte ihres Chefs hallten durch Megans Gehirn. Und schon vergeigte sie es wieder.

Wut kroch unaufhaltsam in ihren Adern hoch, vermischt mit Enttäuschung. Er wollte sie also auf den Arm nehmen? Das konnte er vergessen. Von ihm ließ sie sich nicht auf der Nase herumtanzen. Er würde nicht der Grund sein, warum sie ihren Traum aufgeben musste. Kein Soldat!

Megan warf ihm einen finsteren Blick zu. »Erstens geht es hier um Sie und nicht Ihren Bruder. Zweitens wäre es am unkompliziertesten, wenn Sie einfach nur meine Fragen beantworten würden. Denn drittens sind wir dann umso schneller fertig.«

Er sah ihr fest in die Augen, sagte jedoch nichts. Nach wie vor zeigte er keinerlei Regung, was ihren Gefühlsmix in Unsicherheit verwandelte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn einschätzen sollte, und konnte seinem Blick nur mit Mühe standhalten.

Oder auch nicht – Megan wandte sich ihrem Zettel zu und atmete tief durch. »Gut, kommen wir zum Tathergang. Würden Sie mir erzählen, was genau …?«

»Jetzt wird’s lächerlich«, unterbrach er sie. Sogar während dieser Unterstellung blieben seine Stimme und die gesamte Ausstrahlung die Ruhe selbst. »Sie haben den Bericht der Cops, das Urteil und was weiß ich noch alles. Lesen Sie es einfach nach und dann ist gut. Aber bitte nach unserem Treffen, ich habe nicht ewig Zeit.«

Megan musterte ihn. Passend zu diesem Moment verschwand die Sonne hinter dicken Wolken und tauchte das Zimmer in nahezu schauriges Dämmerlicht. Als könnte er das Wetter steuern und sie dadurch einschüchtern.

Harvey schien die ganze Sache nicht ernst zu nehmen, respektierte nicht, wer sie war: die Einzige, die ihm aktuell half. Allerdings war er auch der Einzige, der ihr helfen konnte, was die Situation noch absurder machte. Sie musste sich durchsetzen.

»Da irren Sie sich. Ich habe lediglich eine kurze Zusammenfassung, das Urteil und den Bewährungsbeschluss vorliegen. Alles andere möchte ich gern von Ihnen hören.«

Er sah sie an. Und schwieg.

Sie schluckte den aufkeimenden Ärger herunter. Es würde zu nichts führen und sie sollte es nicht bereits am ersten Tag ausreizen.

Mit zusammengepressten Lippen nahm sie sich die Kurzfassung der Cops vor. Las sie durch und sah Harvey an, der nach wie vor keine Miene verzog.

»Hier steht, dass bei einer geplanten Razzia in der Bar Whiskey Hut in Lawrence etwa fünf Gramm Koks in Ihrer Jackentasche gefunden wurden. Der Handel damit konnte Ihnen später weder nachgewiesen noch widerlegt werden. Sie haben angegeben, es ausschließlich für den Eigenbedarf genutzt zu haben, ist das richtig?«

»Jedes Wort.«

»Dennoch war Ihr Drogentest negativ. Wie erklären Sie das?«

»Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass ich das Zeug noch nicht genommen habe. Immerhin steckte es noch in meiner Tasche. War’s das? Alles, was da steht, ist korrekt. Ich würde jetzt wirklich gern gehen.«

Resigniert hob Megan die Hände und ließ sie auf ihren Schoß fallen. »Okay, wie Sie wollen. Verschieben wir das. Vielleicht können Sie sich bis zum nächsten Termin ein paar Gedanken machen, was Sie mir erzählen möchten. Und, nur zum Verständnis: Je mehr Sie mir verraten, desto besser kann ich Ihnen helfen, Sie ins Leben da draußen zu integrieren.«

Er stand auf, während in der Ferne ein Donner grollte.

»Mister Harvey, ich darf Sie daran erinnern, dass Sie die Stadt nicht verlassen dürfen?«

»Ist mir bekannt. Was noch?«

Megan blinzelte. »Ich habe das Gefühl, dass Sie es eilig haben. Dabei wissen Sie seit drei Tagen von unserem Termin, der sogar …« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »… erst in zwei Minuten offiziell beginnt. Darf ich fragen, was Sie vorhaben?«

»Nur zu.«

Megan wartete. Vergebens. Der Typ war unglaublich. »Also, langsam reicht es mir. Wenn ich eine Frage stelle, erwarte ich eine Antwort.«

»Die haben Sie bekommen.«

Die nächsten Worte presste Megan betont höflich hervor, um sich selbst zu beruhigen. »Mister Harvey, was haben Sie vor, sobald Sie hier raus sind?«

»Ich werde in mein Auto steigen und nach Hause fahren. Keine Angst, ich habe nicht vor, heute noch mal rauszugehen.«

»Warum dann die Eile?«

»Um vier kommt ein wichtiges Football-Spiel. Das will ich sehen.«

Es dauerte einen Moment, bis die Worte bei ihr angekommen waren. Dann traf sie es wie ein Blitzschlag, der nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Megan krallte ihre Hände in die Lehnen und ärgerte sich über sich selbst. »Es geht um Ihre Zukunft. Ich will Ihnen helfen. Ein Fehler und Sie sitzen. Das versaut Ihre gesamte berufliche Laufbahn.«

»Das hat es sowieso schon. War’s das?«

Langsam ließ sie sich zurücksinken. Warum hatte sie ihn nicht einfach gehen lassen?

Sie griff in das Schränkchen neben sich und holte einen Plastikbecher hervor, den sie vor ihm auf den Tisch knallte.

»Drogentest. Alle drei Tage. Die Toilette ist links den Flur runter, zweite Tür rechts. Sie haben zwei Minuten, sonst gehe ich das nächste Mal mit.«

Wow, nicht mal darauf reagierte er. Kommentarlos verschwand er mit dem Becher und schloss leise die Tür hinter sich.

Megan vergrub das Gesicht in den Händen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr Herz einer Kalaschnikow alle Ehre machen könnte. Ihre Handflächen waren schweißnass. Mit gekrauster Nase wischte sie diese an der Jeans ab und atmete so tief ein, wie es eben ging.

Harvey konnte als Jobretter nicht ungünstiger sein. Sie hatte gelernt, Mimik und Gestik zu lesen. Darin war sie gut, dadurch wusste sie ihre Gegenüber einzuschätzen.

Nicht bei ihm. Da war nichts. Nur diese starre, nichtssagende Maske. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen. Wie auch immer sie das schaffen sollte.

Megan erschrak, als er wieder hereinkam. Waren die zwei Minuten etwa schon um?

Es waren eineinhalb. Offensichtlich hatte er es wirklich eilig.

Er hob den zur Hälfte gefüllten Becher an. »Wohin?«

Sie deutete auf ein kleines Körbchen, das neben dem Schreibtisch stand.

Nachdem er es dort abgestellt hatte, sah er sie an. »Und jetzt?«

»Jetzt gehen Sie nach Hause und kommen Freitag um zehn Uhr wieder her. Dann bringen Sie bitte etwas mehr Zeit mit. Und kommen Sie pünktlich, ich werde keine Minute eher anfangen.«

Er nickte knapp und verschwand. Ohne ein Wort. Was sie auch nicht mehr wunderte.

Sie sackte in sich zusammen und schloss die Augen. Ihr Magen flatterte ähnlich stark wie ihre Hände. Womit hatte sie das verdient?

Ein einzelner Gedanke löste sich aus dem Chaos in ihrem Kopf, setzte sich fest. Harvey war ihre Chance. Wenn sie einen wie ihn knackte, hatte sie endgültig gewonnen. Daran würde sie sich jetzt klammern und alles dafür tun.

Dennoch würde sie nach ihm nie wieder einen Soldaten betreuen.

Kapitel 2

Jay

Während er zu seinem Auto eilte, riss Jay sein Handy aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung. Eine Frauenstimme meldete sich.

»Jay, geht es dir gut?«

Als würde eine Dampfwalze seine Eingeweide plätten, nagte das schlechte Gewissen an ihm. Seine Schwester sollte Besseres zu tun haben, als sich um ihn zu sorgen, verdammt!

Mit aufeinandergepressten Kiefern schwang er sich auf den Sitz. »Jap. Komme jetzt nach Hause.«

Sally seufzte. »Denk daran, du darfst dir keinen Fehler erlauben. Pass auf, dass du nicht zu schnell fährst.«

»Ich komm schon klar.« Damit beendete er das Gespräch.

Er krallte seine Hände um das Lenkrad, atmete tief durch und gab gezwungen langsam Gas. Immer wieder erwischte er sich dabei, dass er das Tempolimit überschritt. Das fehlte noch, wegen so einer Lappalie in den Knast zu gehen, weil er damit seine Bewährungsauflagen verletzte. So ein Bullshit. Wobei – diesen Quatsch waren sie gar nicht durchgegangen. Vielleicht hätte er nicht so drängen sollen.

Dann eben beim nächsten Mal. Jetzt durfte er keine Zeit verlieren. Die Wolken wurden dichter, das Grummeln kam zügig näher.

Scheiß drauf!

Er trat das Gaspedal voll durch, der rasende Puls brachte seine Trommelfelle zum Vibrieren. Mit zitternder Hand erhöhte er die Musik auf volle Lautstärke, um das Grollen zu übertönen. Starrte auf die Straße vor ihm, blendete alles andere mühsam aus.

Eine rekordverdächtige Viertelstunde später bog Jay in Lawrence von der Chieftain Road auf die schmale Straße ab, die nach einer halben Meile in seiner Auffahrt mündete. Der dunkle Himmel tauchte die einsame Gegend in ein beklemmendes Dämmerlicht. Unwillkürlich musste er an einen Horrorfilm denken. Beinahe rechnete er damit, dass die zwei irren Brüder aus Muttertag aus dem Wald traten, der seinen Weg flankierte. Wobei ihm die beiden Spinner lieber wären als die Realität. Selbst hier, abseits der Zivilisation, mitten im Nirgendwo. Dann hätte er wenigstens etwas Handfestes vor sich.

Ungebremst driftete er die viel zu lang geratene, kurvige Auffahrt entlang, die Kieselsteine spritzten in alle Richtungen hoch. Erst kurz vor dem Garagentor brachte er die Reifen zum Stehen. Er sprang aus dem Auto und stürmte ins Haus. Knallte die Haustür hinter sich ins Schloss, stützte sich keuchend daran ab und atmete mehrmals tief durch. Er war in Sicherheit. Langsam lockerten sich seine angespannten Muskeln, er konnte wieder freier atmen.

Mit immer noch zitternden Händen rieb sich Jay das schweißnasse Gesicht und ging betont langsam in die Küche, wo Sally die dicken Vorhänge zugezogen und damit das Unwetter ausgesperrt hatte.

Dort lehnte er sich mit verschränkten Armen an den Kühlschrank und hörte in sich hinein. Sein Puls beruhigte sich ebenso wie der Druck in der Magengegend. Der Stress fiel von ihm ab. Er hatte es geschafft.

Die Klospülung dröhnte durch den Flur, wenig später gesellte sich Sally mit besorgter Miene zu ihm. Er stieß sich ab und zog sie in seine Arme.

»Alles okay, Kleine?«

Sie nickte und stemmte die Hände gegen seine Brust, um ihm in die Augen sehen zu können. »Ja, aber wie geht’s dir?«

Ein schiefes Grinsen trat auf sein Gesicht. »Blendend.«

»Wie die Blitze, vor denen du gerade noch geflohen bist, ja? Deine Witze waren schon mal besser.«

»Echt? Ich fand den super.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du machst mich fertig, weißt du das?«

Er wurde ernst. »Ja, das weiß ich. Und das kotzt mich an.«

Einen kurzen Moment stockte Sally, dann verzog sie genervt das Gesicht. »Das meinte ich nicht und das weißt du auch.«

»Nicht?« Unschuldig hob er die Brauen.

»Blödmann! Verarsch mich nicht. Ich mache mir Sorgen um dich.«

Jay holte sich kopfschüttelnd ein Wasser aus dem Kühlschrank und sah sie erneut an. »Na, wie gut, dass ich schon groß bin.«

Für den Spruch kassierte er einen Fausthieb. »Mann, lass dein Getue! Du weißt, was ich meine. Draußen geht gerade das Gewitter los. Du hast es nur ganz knapp bis nach Hause geschafft und machst jetzt einen auf Mister Obercool. Hallo, ich bin deine Schwester! Hör auf, mir gegenüber den Seal raushängen zu lassen!«

Jay stellte die Flasche wieder weg, hielt Sally an beiden Schultern und sah ihr in die rehbraunen Augen. »Kleine, ich komme klar. Ich bin dankbar, dass ich dich habe, aber das heißt nicht, dass du mir den Hintern pudern musst. Okay? Lebe dein Leben, mir geht’s gut!«

Wie auf Kommando grollte draußen der Donner und ließ ihn zusammenzucken.

Sally schürzte die Lippen und verschränkte ihrerseits die Arme vor der Brust. »Süß. Wirklich süß.«

»Nicht wahr?« Das verzückte Lächeln wollte ihm nicht gelingen, also gab er es auf. Sie hatte recht und das nervte ihn. Es war frustrierend, von jemandem abhängig zu sein, selbst wenn es eine Blutsverwandte war. Damit bürdete er ihr eine riesige Last auf, und das nur, weil er sich hin und wieder benahm wie ein Dreijähriger in einem brennenden Haus. Der Ex-Seal als Weichei, das am Rockzipfel der Schwester hing und bestenfalls noch einen Schnuller brauchte. Peinlicher ging es nicht mehr.

»Ich brauch ’nen Kaffee. Du auch?«

Sie nickte. »O ja. Hast du bei der Bewährungshelferin eigentlich auch den Seal raushängen lassen?«

Jay hob eine Augenbraue. »Ich hab mich von meiner besten Seite gezeigt.«

»O Gott, die Arme. Sie wird dich hassen.«

Er verkniff sich ein Lachen, was ihm aber direkt wieder verging. Sally hatte recht. Das würde sie tatsächlich, was ihn mehr belastete als es sollte. Nur anders als mit diesem sturen Verhalten wäre er da nicht so schnell rausgekommen.

»Weiß sie von deinen Schwierigkeiten?«

Er warf einen Blick über die Schulter zu ihr. »Warum sollte sie?«

»Sie wird es herausfinden.«

Ihm stockte der Atem, für einen Moment war er wie erstarrt. Jay fixierte Sallys Gesicht, ohne sie wirklich wahrzunehmen. In seinem Kopf spielte sich ein Film ab, wie Sterling mit dem Finger auf ihn zeigte und sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. Und dann begann, ihn konsequent fertig zu machen. Weil er ein verfluchtes Weichei geworden war.

Schwäche zu zeigen ist für einen Seal das Todesurteil. Und das wird kein schneller Tod werden. Egal, was passiert, egal, was sie dir antun – bleib stark und sage kein Wort.

Die Worte, die ihm während seiner Ausbildung von sämtlichen höherrangigen Offizieren in regelmäßigen Abständen eingebläut worden waren, begleiteten sein Kopfkino wie ein Mantra. Immerhin weckten sie ihn nun aus seiner Starre.

Jay fuhr herum und funkelte Sally an. »Ach ja? Wie soll sie davon erfahren? Außer uns beiden weiß keiner was davon und das wird verdammt noch mal so bleiben!«

Abwehrend hob seine Schwester die Arme. »Hey, ich will dir nichts. Entspann dich. Ich hab nichts gesagt und das werde ich anderen gegenüber auch niemals tun.«

Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und sah sie entschuldigend an. »Ich weiß, Kleine. Sorry, wollte dich nicht blöd anmachen.« Zwinkernd fügte er hinzu: »Außerdem gibt es genügend andere Macken an mir, die erwähnenswerter wären.«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Stimmt. Vor allem wirst du nie lernen, dass ich über ein Jahr älter bin als du. Oder warum nennst du mich immer Kleine?«

»Weil ich dich um mehr als einen halben Kopf überrage?«, erwiderte er schmunzelnd.

Lachend wehrte er ihre Faust ab, die sie gern mal auf seinem Oberarmmuskel platzierte. Mit einer nahezu hundertprozentigen Trefferquote.

Er wandte sich um und bereitete nachdenklich Sallys heißgeliebten Milchschaum zu.

Seine Gedanken wanderten zu seiner Bewährungshelferin. Obwohl er sie als selbstbewusst genug einschätzte, seine blöden Sprüche problemlos zu kontern, hatte sie einen verunsicherten Eindruck auf ihn gemacht. Nur den Auslöser verstand er nicht. Theoretisch dürfte sie nicht mal von seinem ehemaligen Seal-Status wissen, da es durch seine Einsätze geheim gehalten werden musste. Sonst hätte er ihre Unsicherheit zumindest etwas nachvollziehen können.

Vielleicht hatte sie andere Gründe, die nichts mit ihm zu tun hatten. Allerdings sprachen ihre Blicke dagegen. Seltsame Frau. Und doch war sie ihm sympathisch.

Er hielt Sally das fertige Getränk hin. »Hier. Und jetzt mal ehrlich – hätte ich es Sterling ernsthaft sagen sollen? Also, den wahren Grund, warum ich schnell wegmusste?«

»Was hast du denn jetzt gesagt?«

»Hab das Football-Spiel vorgeschoben, das ich gerade verpasse.«

Sie runzelte die Stirn. »Welches Football-Spiel? Heute läuft doch gar keins.«

»Oh, schade. Dann können wir uns ja einen Film reinziehen.«

Der nächste Schlag landete auf seiner Schulter. Toll, wieder ein blauer Fleck. »Du bist ja schlimmer als die Jungs!« Murrend rieb er sich die Stelle, während Sally laut auflachte. »Weichei.« Treffend formuliert.

Die Betitelung versetzte Jay einen Stich, was er aber nicht zeigte. Stattdessen zwang er sich zu einem Grinsen und folgte seiner Schwester ins Wohnzimmer.

Seit ihre Eltern vor zehn Jahren einen tödlichen Unfall erlitten hatten, waren sie beide ein Herz und eine Seele. Und er war dankbar dafür, denn außer ihr würde er sich niemals jemandem anvertrauen.

Niemals!