Leseprobe Der Anrufer

Kapitel 1

„Sie haben sich hier sehr geschmackvoll eingerichtet.“ Brittany Westwood flanierte auf ihren hohen Schuhen über die Galerie, von der aus man in das großzügige Wohnzimmer und die Küche blicken konnte. Das Geräusch ihrer Schuhe hallte durch das ganze Haus, verschlang das träge Ticken der antiken Standuhr im Wohnzimmer. Das einzige Stück, das weder modern noch von zeitlosem und makellosem Design war und daher für das ein oder andere Auge wie ein Fremdkörper wirken mochte.

Als sie in seinem minimalistisch eingerichteten Büro standen, wandte sie sich nicht der Fensterfront zu - wie jeder andere es sonst tat. Hinter den Scheiben sah man die Wellen an den Strand rollen, Felsen, die von dem goldenen Sonnenlicht in eine kontrastreiche Szene vor dem malerisch purpurnen Horizont gesetzt wurden. Sie warf ihr langes lockiges Haar schwungvoll über die Schulter, atmete hörbar ein. Ganz offensichtlich ein Ausdruck der Entzückung. Sie deutete auf das Gemälde, das an der gegenüberliegenden Wand hing, sodass man es vom Ende des Raumes aus betrachten konnte. „Ist das Jenny Saville?“

Frank nickte einmal, während er sich an seinen Schreibtisch lehnte und ein Bein über das andere schlug. „In the Realm of the Monster 1.“

Es war eine Kohlezeichnung, die drei übereinanderliegende Personen zeigte. Sie waren ineinander verschlungen. Die Gesichter ließen keinen Schluss darüber zu, ob es eine Melange aus Lust war oder ob sich etwas anderes hinter den chaotischen Kohlelinien verbarg. Sicher war, es hatte etwas Hypnotisches an sich.

Brittany blickte mit leuchtenden Augen über ihre Schulter, lächelte breit und betrachtete dann wieder das Gemälde.

Frank legte den Kopf schief. Brittany Westwood, Reporterin der Los Angeles Times, war Mitte dreißig und stand in der Blüte ihrer Karriere. Der Rock und die feminin geschnittene Bluse betonten ihre Figur. Mit überkreuzten Beinen stand sie vor dem Bild, das Frank ein Vermögen gekostet hatte, hielt in einer Hand das Weinglas und gestikulierte mit der anderen. „Ich liebe ihre Kunst. Es ist so aufregend und gleichzeitig so …“ Sie suchte nach einem Wort.

„Verstörend.“

Brittany drehte sich um und trat hinter einen der Sessel, die vor dem Schreibtisch standen. Ihre dunklen Augen glänzten. „Ja.“

Frank schmunzelte. Sie war eine schöne, attraktive Frau und wäre er zehn Jahre jünger gewesen und nicht Vater zweier Mädchen, hätte er sie sicherlich in ein Restaurant ausgeführt. Doch er konnte nicht anders, als sie aus den Augen eines Vaters zu betrachten.

Er deutete mit einer Hand auf den Sessel. „Aber wir sind ja nicht hier, um über Künstlerinnen des Neoexpressionismus zu debattieren, oder? Bitte setzen Sie sich doch.“

Ein kaum merklicher Ruck zuckte über Brittanys Züge, doch ihr Lächeln blieb intakt. Sie setzte sich. Frank wusste genau, was ihr in diesen Sekunden durch den Kopf ging. „Dieser Typ erträgt es nicht, zwei Sekunden nicht über sich zu reden.“

Wobei das nicht stimmte. Die meiste Zeit vermied Frank es, sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Grundsätzlich mied er Menschen im Allgemeinen, außer es war nicht zu verhindern. Die Intellektuellen waren kaum zu ertragen mit ihrem Geschwätz über Kunst und Kulturgüter, das oft nur eine Farce war. In Wirklichkeit sprachen sie über Werte, Geldanlagen und Investitionen, um den eigenen aufgeplusterten Egos zu schmeicheln.

Noch schlimmer aber waren für Frank Unterhaltungen mit Menschen ohne jeglichen Intellekt, die sich über aktuelle Geschehnisse unterhielten wie dem Gebaren des Präsidenten – das dem eines Demenzpatienten glich –, der aktuellen Inflation und dem Wetter.

„Fangen wir also an?“, fragte Brittany, klickte zweimal mit ihrem Kugelschreiber und schlug ein Bein über das andere.

„Natürlich“, sagte Frank, ohne sich anmerken zu lassen, dass er gedanklich abgeschweift war, und setzte sich ihr gegenüber in den anderen Sessel.

Brittany holte ein Diktiergerät hervor, schaltete es ein und legte es auf den Schreibtisch.

Lächelnd sah Frank sie an. „Sie notieren und nehmen auf?“

Brittany schmunzelte leicht und nickte dabei. „Das habe ich mir so angewöhnt.“ Sie steckte eine Locke hinter ihr Ohr. „Das Diktiergerät nimmt unser Gespräch auf und mit den Notizen halte ich die Atmosphäre, Ihre Mimik und alles, was mir noch so auffällt, fest.“

Frank lehnte seinen Kopf auf seinen Zeigefinger und musterte die junge Erfolgsjournalistin. „Interessante Herangehensweise.“

Brittany räusperte sich. „Also, Mr. Lamber, vielen Dank, dass Sie Zeit gefunden haben für meine Serie Erfolgsautoren des Jahrhunderts.“

Frank nickte, nippte an seinem Wein, der eigentlich nur Traubensaft war. Er mied Alkohol. Noch mehr mied er es, anderen zu erklären, warum.

Obwohl er das Autorendasein an den Nagel gehängt hatte, gab er gern das ein oder andere Interview. Vorausgesetzt, die Thematik sagte ihm zu.

„Mit Ihren Thrillern waren Sie regelmäßig wochenlang auf den Bestsellerlisten. Sie haben dieses Genre mit Ihrem Stil und den einmaligen Prämissen geprägt und es geschafft, ihm Ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Mehrere Bücher wurden verfilmt, waren sehr erfolgreich und haben Ihnen die Türen ins Filmbusiness geöffnet. Was ist Ihre größte Inspiration?“

Sie schmierte ihm Honig ums Maul. Frank genoss es, aber er hatte während seiner Karriere mit genügend Journalisten gesprochen, um zu wissen, dass man immer aufmerksam sein und seine Antwort mehrmals überdenken sollte. Er schlug ein Bein über und wippte leicht mit dem Fuß. „Die menschlichen Abgründe, würde ich sagen“, erwiderte er.

Brittany nickte langsam und lächelte wieder breit. Dieses Mal war es eine andere Art Lächeln im Vergleich zu dem, das sie ihm vor dem Gemälde zugeworfen hatte. Es war angespannter, wie aufgedreht. „Könnten Sie das noch etwas erläutern?“

Frank hatte beide Ellenbogen in die Sessellehne gebohrt, während seine Hände nichtssagend durch die Luft wirbelten. „Sehen Sie, der Mensch ist egoistisch. Er möchte eigentlich immer nur über sich selbst sprechen und alles über sich selbst lesen und hören. Reale Abgründe durch meine Figuren zu spiegeln, gibt den Menschen einerseits das Gefühl, dass sie nicht die Einzigen sind, die eine animalische, primitive Seite in sich verstecken. Und andererseits ist es die Erhabenheit über die Charaktere. Zu wissen, dass die Abgründe des Lesers nicht so tief und niederträchtig sind. Das gibt ihnen ein gutes Gefühl.“

Brittany musterte Frank lange, wobei sie mit dem Kugelschreiber klickte. Meist dreimal schnell hintereinander. Pause.

Klick. Klick. Klick.

Es war nervtötend, dachte Frank und presste seine Kiefer aufeinander, während er versuchte, sein Lächeln aufrechtzuerhalten.

„Das ist sehr düster ausgedrückt. Unterstellen Sie Ihren Lesern damit, dass sie den Monstern in Ihren Büchern nicht unähnlich sind und es sie nur darin unterscheidet, dass sie solche grausamen Dinge nicht tatsächlich ausführen?“ Sie fügte ein kurzes Lachen an, das Frank signalisierte, dass sie hoffte, dass das nicht seine Antwort war.

Er nickte. „Im Grunde genommen ist es das.“

„Das ist etwas arrogant, nicht?“

Frank legte seinen Kopf schief. „Inwiefern?“ Er machte eine kurze Pause. „Haben Sie schon einmal Erfahrungen mit Rassismus und Sexismus machen müssen?“

Brittany notierte etwas, sah dabei nicht auf. „Leider ja. Worauf wollen Sie hinaus?“ Nun sah sie doch auf und verengte ihre Augen.

„Sind Sie nie wütend geworden? Hatten Sie nie das Bedürfnis, diesen Leuten eins auszuwischen?“ Frank machte eine kurze Pause. „Rassismus und Sexismus sind übrigens ebenfalls Abgründe, die viele Menschen in sich tragen, eigentlich fast jeder. Es ist eine Plage.“

Brittany zuckte vor Empörung zusammen. Das Lächeln auf ihren Lippen erlosch. Sie presste sie aufeinander, weil sie offenbar nicht aussprechen wollte, was Frank glaubte zu wissen. Darum fuhr er fort. „Denken wir an den sexistischen Vorgesetzten. Die gibt es doch auch en masse. Wie oft haben Sie sich bereits als inkompetent abgestempelt und unangemessen angesprochen oder sogar angefasst gefühlt? Will man diese Idioten da nicht an den Hoden aufhängen und wie ein Schwein ausbluten lassen?“

„Ich –“ Brittany blinzelte irritiert. „Ich –“

„Ich bin mir sicher, dass Sie hin und wieder mal einen dieser intrusiven Gedanken in sich hatten. Sie sind unsere kleinen Teufel. Aber unsere Vernunft ist der Engel, der uns rügt. Und ich als Autor kann diese Abgründe in meinen Büchern entfesseln und den Leser daran teilhaben lassen.“

„Nun.“ Sie räusperte sich und rutschte auf ihrem Platz herum, wechselte das Bein und warf ihr Haar erneut über die Schulter. „Hier geht es ja nicht um mich. Sie kennen mich nicht.“ Sie wahrte ihr Lächeln, doch Frank sah in ihren Augen ein Funkeln. Er war sich sicher, dass sie viel Vernunft in sich trug. Es war ihr offenkundig anzusehen, dass sie ihm ganz andere Dinge sagen wollte.

„Stimmt.“ Frank nippte am ‚Rotwein‘.

Brittany kniff die Augen zusammen. „Dann drehe ich die Frage um. Wie steht es um Ihr inneres Monster?“

Nun war Frank es, der zusammenzuckte. Nicht, weil es ihn überraschte, dass sie ihn das fragte. Aber er wollte wahrscheinlich noch weniger darüber sprechen als sie. Er lächelte milde, nippte an seinem Glas. „Nun, es wäre idiotisch, wenn ich sagen würde, ich hätte keines. Ich hab eines und ich gebe auch zu, dass ich oft abgrundtief dunkle Gedanken hatte.“ Er hatte sich etwas vorgelehnt. „Aber dahingehend gibt es doch nur zwei Arten von Menschen. Diejenigen, die an ihren eigenen Abgründen stehen, aber gegensätzlich zu dem Flüstern handeln, und die, die sich vom Abgrund verschlingen lassen und all diese schrecklichen Dinge tun, an die sie denken.“

Brittany legte ihren Kopf schief.

Klick. Klick.

Kurz kritzelte sie eine Notiz.

Frank hob sein Kinn, in der Hoffnung, Einblick in ihre Gedankenwelt auf dem Papier zu gewinnen, doch sie fing seinen Blick ein, als sie kurz aufsah, und hielt den Block dann noch etwas höher, sodass er nicht lesen konnte, was sie schrieb.

„Wie stehen Sie zu Ihrer Vergangenheit?“, fragte sie dann und musterte Frank intensiv durch ihre dunkelbraunen, katzenhaft geformten Augen. „Gibt es dort etwas, das Sie getan haben, das Sie bereuen? Haben Sie mal das Monster gewinnen lassen?“

Frank biss sich auf die Innenseite seiner Unterlippe. Es kostete ihn Kraft, sich nicht vollständig in seinem Sessel zu verkrampfen. Dabei spannten sich die Sehnen an seinem Hals, als er versuchte, betont locker dazusitzen. „Welche Annahme treibt Sie zu dieser Frage?“

Brittany spitzte die Lippen, notierte kurz etwas.

Klick. Klick.

Wie Kugelschüsse ließ ihn das Geräusch des Kugelschreibers innerlich zusammenfahren. Frank umschloss fester den Stiel des Glases. In der nächsten Sekunde mahnte er sich, sich zu entspannen, atmete kaum hörbar ein und wieder aus, sodass sich seine Finger wieder lockerten.

Brittany ließ ihren Blick kurz über seinen Körper wandern, dann blieb er an seinem Gesicht hängen. „Wir haben doch alle Abgründe, oder nicht? Wir haben doch sicher alle etwas getan, worauf wir nicht stolz sind.“ Ihre Worte hallten nach.

Franks Atem ging flach und in seinem Kopf rauschten die Gedanken. In diesem Moment bereute er es, ihr zugesagt zu haben. War er ebenso wie einige dieser Vorgesetzten gewesen? Hatte er ihre Kompetenz – ihre journalistische Genialität – unterschätzt? Am liebsten hätte er sich für seine Arroganz selbst in den Arsch getreten. Sicherlich hatte sie recherchiert. Frank spannte sich an, schob sich tiefer in den Sessel. Nun war die Frage, die sich ihm stellte: Wie viel hatte sie in Erfahrung bringen können?

Bei diesen Gedanken wurde seine Kehle trocken. Er schluckte. Leise und zittrig atmete er durch die Nase ein und aus. Ruhe bewahren. Journalisten verstanden es, durch provokante Fragestellungen Informationen zu entlocken. Nervosität machte unachtsam, unvorsichtig.

Nun schien es Frank, als säßen sich zwei Raubtiere in Lauerstellung gegenüber. Sie hatten die Blicke analytisch ineinander verhakt, darauf wartend, wer zuerst zuckte, wer zuerst zum Sprung ansetzte.

In diesem Moment wusste Frank nicht, wie lange er geschwiegen hatte. Die Stille breitete sich wie ein Gas aus, das den Sauerstoff aus dem Raum verdrängte. Er räusperte sich, löste das Bein von seinem Knie und setzte sich etwas breitbeiniger hin. „Na ja, natürlich habe ich Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Aber wie das im Leben so ist, lernt man daraus.“ Er bemühte sich, ehrlich zu sein, aber in der Fülle der Informationen vage. „Wir sprechen ja auch über Frank den Autor und nicht über meine Kindheit oder Vergangenheit.“

Offenbar schien er mit einem Wort Brittanys Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Wie ein Greifvogel legte sie den Kopf schief. Kindheit.

Klick.

Klick.

„Was war denn in Ihrer Kindheit, Mr. Lamber?“

Franks Kiefer verhärtete sich. „Wie ich schon sagte, sprechen wir über mich als Autor, oder?“

Brittany lächelte versonnen. „Wir sprechen über Sie vollumfänglich als Person und wie Sie zu der Person wurden, die Sie heute sind.“

„Fragen aus meiner Kindheit beantworte ich nicht“, sagte Frank knapp. Seine Antwort peitschte durch die dicke Luft.

Brittany leckte sich über die Unterlippe. Sie hatte eine Fährte aufgenommen, das wusste Frank.

Ihre unteren Lider zuckten. Offenbar schien sie abzuwägen, ob sie noch einen weiteren Schritt wagen oder sich zurückziehen sollte.

Klick. Klick. Klick.

Nun war es ihr Schweigen, das sich ausdehnte. Inzwischen war die Luft vor Anspannung geschwängert. So sehr, dass es nur noch einen Funken bedurfte, um eine Explosion zu verursachen.

Die Haare stellten sich auf seinen Armen auf. Doch er blieb ruhig sitzen und bewahrte eine kühle Miene.

Klick.

Brittany hatte eine Entscheidung getroffen. Seufzend zog sie sich zurück. „Bitte entschuldigen Sie.“ Die Worte kamen nur träge über ihre Lippen.

Frank nickte.

Sie fuhren fort mit einigen Fragen über Buchverfilmungen und wie es Frank die Tür zu so vielen weiteren Möglichkeiten eröffnet hatte, bis hin zu einigen privaten Fragen, die Frank vage beantwortete.

Vor ihrer nächsten Frage klickte Brittany wieder mehrmals, studierte ihre Notizen.

Klick. Klick. Klick.

Frank bohrte die Finger kaum merklich in das Leder des Sessels.

„Sie haben sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Warum?“ Sie sah auf und ihr Gesichtsausdruck war ernst. So wie sie ihre Stirn in Falten legte, was sie mit Absicht tat, konnte man beinahe glauben, dass sie sich sorgte.

„Der ganze Rummel und all der Stress sind mir zu viel geworden und haben sich negativ auf mich und mein Leben ausgewirkt. Deswegen habe ich beschlossen, das Schreiben hinter mir zu lassen.“ Frank bediente sich der Antwort, die er beinahe jedem Journalisten auf diese Frage gab. Eine Lüge. Aber die Wahrheit hatten diese Blutsauger nicht verdient. Abgesehen davon, dass niemand außer Frank selbst sie kannte.

Die Art, wie Brittany mit ihrem Kugelschreiber klickte und einen Mundwinkel zur Seite zog, zeigte Frank, dass sie nicht zufrieden mit seiner Antwort war.

Klick. Klick.

Frank reckte seinen Hals und Nacken, atmete einmal tief ein.

„Zwar sind Sie in Rente gegangen, aber dennoch scheinen Sie die Aufmerksamkeit zu genießen. Fürchten Sie, vergessen zu werden, wenn Sie sich nicht ab und an blicken lassen, oder warum suchen Sie dann doch noch immer wieder die Öffentlichkeit?“ Brittany lehnte sich vor.

Lachend stützte er seinen Kopf mit einem Zeigefinger ab. „Ich suche die Öffentlichkeit nicht. Sie haben mich angefragt und ich wollte Ihnen den Gefallen mit Ihrem Artikel tun.“ Unter anderen Umständen hätte er diesen Satz so niemals formuliert. Er wusste, dass er vor Arroganz nur so triefte. Aber Frank war jemand, der zurückschlug, wenn man ihn provozierte.

Und es zeigte Wirkung. Brittany zuckte zurück. Die Sehnen an ihrem Hals traten hervor.

Klick. Klick. Klick.

Frank drückte sich in seinem Sessel hoch und grinste. „Ich bin mir sicher, dass ich jetzt diese intrusiven Gedanken finden würde, habe ich recht, Ms. Westwood? Sie würden mir sicherlich gern diesen Kugelschreiber in die Kehle rammen, oder?“

Brittany zog die Oberlippe nach oben. „Wieso bilden Sie sich ein, Sie wüssten, was in meinem Kopf vorgeht?“

„Wieso bilden Sie sich ein, sich ein Urteil über meine Entscheidungen zu bilden?“ Frank lächelte.

Brittany erhob sich, schnappte sich das Diktiergerät vom Tisch und stopfte es mitsamt ihrem Kugelschreiber in die Tasche. „Ich denke, wir haben alles.“

Frank erhob sich. „Wenn Sie meinen.“

Er geleitete sie zur Tür. Ihre Schritte hallten wie Kanonenschüsse durch das Haus. Vor der Tür wandte sie sich roboterhaft zu ihm um und streckte ihm mechanisch die Hand hin. „Vielen Dank für Ihre Zeit.“

Frank ergriff sie. Sie war warm und schwitzig. „Sagen Sie doch einfach, was Sie denken.“

Brittany schnaubte, verdrehte die Augen und wirbelte herum. Sie trat über die Schwelle, hielt aber noch einmal inne und drehte sich um. „Wissen Sie, was ich denke, Frank Lamber? Sie sind ein arroganter, selbstgerechter Arsch, der glaubt, Menschen zu kennen. Dabei verstecken Sie sich selbst hinter Lügen, die Sie der Öffentlichkeit auftischen wie einen zehn Tage alten Braten.“ Frank hatte die Arme verschränkt und amüsierte sich über Brittanys vor Wut zitternde Unterlippe. Das machte sie noch wütender. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf ihn. „Ich bin mir sicher, dass Sie einen so tiefen Abgrund in sich tragen, vor dem Sie sich selbst fürchten. Irgendwann wird er Sie mit Haut und Haaren verschlingen.“ Mit einem letzten Schnauben wandte sie sich um und stapfte davon.

Frank sah ihr dabei zu, wie sie das Auto entriegelte, den Wagen wendete und von seiner Auffahrt schoss. Es kostete ihn Kraft, seine ruhige Fassade aufrechtzuerhalten.

Noch bevor sich das Tor geschlossen hatte, verschwand Frank wutentbrannt im Haus. Er stürmte ins Badezimmer, wo er sich mit zitternden Händen auf den Rand des Waschbeckens stützte. Nach all den Jahren war er es gewohnt, ein kühles Äußeres zu mimen, auch wenn es in seinem Inneren brodelte. Doch es kostete ihn mehr Kraft, vor allem jetzt, da er sich größtenteils aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.

Mit den Händen formte er eine Schale, um das eisig kalte Wasser aufzufangen und sich in das Gesicht zu spritzen. Dann blickte er in sein Spiegelbild. Blaue Augen starrten ihm entgegen. Er besaß ein schlankes Gesicht, weshalb die Wangenknochen scharf hervorstachen. In all den Jahren war seine Haut mehr zerknittert und Furchen zierten nun neben seinen tiefen Lachfalten um die Augen und den Mund das Bild. Ein leichter Bartschatten zog sich über Kinn und Oberlippe.

Er sah sich an. Frank Lamber. Wusste Brittany Westwood mehr über ihn, als ihm lieb war? Fragend sah Frank sich an, als wartete er darauf, dass sein Spiegelbild ihm antwortete. „Unmöglich“, sagte er dann und lachte, um die Anspannung zu lösen, die seine Brust umklammerte. Tief atmete er ein. Es war unmöglich, beruhigte er sich.

Er fuhr sich mit den Händen über das müde Gesicht, dann durch sein braunes, mit grauen Strähnen meliertes Haar. Kurz hielt er inne und atmete nochmals durch, um sich wieder vollständig zu entspannen, ehe er das Bad verließ.

Zuerst ging er ins Arbeitszimmer zurück, wo er die Sessel wieder so anordnete, dass ihre Füße ihren Platz wieder in der Kuhle im Teppich fanden, die sie dort hinterlassen hatten. Dann sammelte er die Weingläser ein und warf einen Blick auf das Gemälde, das Brittany Westwood bewundert hatte.

Sie war eine verbissene Journalistin und berechnend. In einer Sache waren sie sich aber ähnlich, was sie beide aneinander hassten: Sie hatten große Egos – mit dem Unterschied, dass Frank keinen Hehl daraus machte. Er war ein Arschloch, das ein Ego in der Größe eines Lastwagens besaß. Brittany Westwood hatte sicherlich ebenso ein großes Ego – zumindest als Journalistin, gab es aber nicht gern zu.

Vielleicht lag es daran, dass er ein Mann war und im Grunde nie Gegenwind bekam, auch wenn er sich aufplusterte. Ihm war bewusst, dass die Gesellschaft einen anderen Blick auf Frauen hatte. Sie durften keinen Raum einnehmen, sich nicht groß machen. Tatsächlich hatte Frank erst ein größeres Bewusstsein für die unterschiedlichen Wahrnehmungen bekommen, seit er seine Töchter aufgezogen hatte.

Er stellte die leeren Weingläser in die Spüle und ließ Wasser ein, ehe er auf die Veranda trat, um aufs Meer hinauszuschauen. Es rauschte und die Seeluft wehte Frank um die Nase. Die Hitze des Tages, der sich langsam, aber sicher dem Ende zuneigte, strahlte noch immer von den Steinen unter seinen Füßen und dem Strand ab.

Am Horizont glühte das restliche Sonnenlicht. Wie hypnotisiert starrte Frank auf die Wellen. Beobachtete, wie sie sich auftürmten, ehe sie brachen. Schäumend rollten sie an den Strand und zogen sich wieder zurück.

Immer wenn Frank auf das Wasser sah, dachte er, dass es das Leben repräsentierte. Manchmal war es ruhig, angenehm, dass man von einer sanften Strömung dahingetragen wurde. Dann gab es Zeiten, die einen zu ertränken drohten. Probleme türmten sich auf, krachten wieder und wieder auf einen nieder, während man verzweifelt versuchte, über der Oberfläche zu bleiben. Atmen.

Ja, das Leben war ein Auf und Ab. Mal befand man sich hoch oben auf der Welle, fühlte sich unbesiegbar, bis sie brach und einem den Boden unter den Füßen wegzog.

Frank löste seinen Blick vom Meer und ließ ihn weiter über den Strand gleiten. In der Ferne sah er die Häuser, die sich in einigen Metern Entfernung dicht an dicht am Strand aneinanderreihten.

Während er die funkelnden Lichter betrachtete, hingen seine Gedanken dem Interview nach.

Wie eine Welle die Tausenden Sandkörner hatte es Erinnerungen in ihm aufgewirbelt. Und nun brach diese Welle und begrub ihn unter sich.

1985

Frank hörte das Rauschen des Flusses in seinen Ohren. Oder war es das Blut? Er spürte das schmerzhafte Rasen seines Herzens. Es war ihm, als könnte er jede Arterie, jede Ader spüren, jeden noch so kleinen Muskelstrang. Er spürte den Pulsschlag hinter seinen Augen. Er spürte so viel und doch nichts. Da war diese lähmende Taubheit, die ihn ereilt hatte, nachdem der Zorn, die Verzweiflung und all der Hass abschwollen. Sie zogen sich zurück wie das Meer bei Ebbe und offenbarten die Verwüstung, die die Wasseroberfläche geheim gehalten hatte.

Franks Atmung ging flach. Zitternd umklammerten seine Finger den großen Stein in seiner Hand. Langsam senkte er seinen Blick, sah das Blut daran kleben. Rot. Es war so rot. Die Farbe stach in seinen Augen.

Gebannt sah er dabei zu, wie sich die Flüssigkeit an der unteren Spitze des Steins sammelte, bis sich ein Tropfen löste.

Wie in Zeitlupe stürzte dieser zu Boden, fiel in die staubige Erde.

Es war, als könnte Frank hören, wie er aufschlug. Ein Donnergrollen in seinen Ohren.

Seine Sicht, sein Gehör, seine Sinne waren so scharf wie die Klinge eines Schwerts. Die Erinnerungen aber waren verwaschen. Verschwommen wie die eingeschränkte Sicht ohne Brille.

Frank sah zu den Büschen, die sich grün am Fluss entlangreihten. Das Wasser plätscherte über Felsen und Steine. Steine wie der in seiner Hand.

Erneut sah er auf das Blut. Dann taumelte er in Richtung Flussufer. Das Rauschen des Flusses schwoll an. Langsam holte Frank aus, spürte das Gewicht des Steins – oder war es die Schuld, die so schwer wog, dass es ihm schwerfiel, ihn überhaupt anzuheben?

Er nahm seine Kraft zusammen und warf ihn. Hörbar schlingerte er durch die Luft und tauchte dann mit einem lauten Platschen ins Wasser.

Frank stand da und meinte, dass das Rauschen, jetzt, da ein weiterer Stein im Flussbett ruhte, sich verändert hatte. Das Wasser musste sich nun einen Weg um einen weiteren Stein bahnen. Einen Weg um eine weitere Schuld, während es das Blut fortwusch und mit sich nahm, so wie Franks Erinnerung daran, was zuvor geschehen war.

Kapitel 2

Ich muss sagen, ich hatte es mir schwerer vorgestellt. Es war ziemlich einfach, den Flieger zu nehmen, mich im Flughafen in ein Taxi zu setzen und zu diesem beeindruckenden Gebäude direkt am Central Park zu fahren.

Zunächst habe ich mich gefragt, wie sie sich das leisten konnte. Dann ist mir eingefallen, dass sie das mit deinem Geld finanziert hat, richtig? Mit dem Geld, das sie nach der Scheidung erhalten hat. Oder hast sogar du ihr das finanziert, Frank? Freiwillig. Vielleicht war es aber auch das schlechte Gewissen. Eine Entschädigung für die Dinge, die du getan hast. Wenn du mich fragst, bist du zu weich, obwohl andere Leute sicherlich etwas anderes behaupten würden. Aber jeder hat eine Schwachstelle. Einen Punkt, der nachgibt, wenn man ihn eindrückt.

Zugegeben, es war kein Kunststück, es bis hierher zu schaffen. Die wahre Herausforderung lag darin, mir Zugang in das Gebäude zu verschaffen, ohne gesehen zu werden. Aber auch das war einfach. Als hätte das Schicksal es gut mit mir gemeint, Frank.

Ziemlich schnell habe ich das Büro des Hausmeisters gefunden, der offenbar an diesem Tag verhindert war. Also habe ich mir seinen Overall übergezogen. Er war etwas zu groß, aber das würde niemandem auffallen. Reiche Schnösel sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie auf einen Hausmeister achten, nicht wahr, Frank? Das solltest du ja wissen.

Ab hier war alles sehr einfach. Ich schob den Putzwagen durch die Lobby, das Käppi schützte mein Gesicht. Wobei sogar das unnötig gewesen wäre. Nicht einmal der Portier schenkte mir sonderlich Beachtung. Aber keine Sorge, Frank, das bin ich gewohnt. Ich lebe in den Schatten, das habe ich schon immer.

Also bin ich in den Aufzug. Hab mich zu so einem Snob gestellt. Einem Jungspund, der wahrscheinlich einen gut bezahlten Job in einer Bank ergattert hatte. Am Telefon hat er mit einer Frau über ihre Pläne für den Abend gesprochen. Dass er sie nach dem Essen in sein Penthouse bringen und ihr die beste Nacht ihres Lebens bescheren würde. Immer diese leeren Versprechungen, nicht wahr, Frank?

Schließlich stieg der Typ ein Stockwerk vor mir aus. In dem Korridor war ich allein. Die Wohnung habe ich schnell gefunden. Deine Frau – pardon Ex-Frau – ist aber nicht so wie die meisten Menschen mit mehr Geld als Verstand. Sie schaut den Menschen ins Gesicht. Sie hat dieses breite Lächeln, wenn sie ihr Gegenüber begrüßt.

Aber das ist schnell verblasst, Frank. Du hättest sie sehen sollen.

 

Frank erwachte an einem Montagmorgen im September. Wie immer weckte ihn das Meeresrauschen, das zusammen mit der noch kühlen Morgenluft durch die geöffnete Terrassentür drang.

Blinzelnd öffnete Frank seine Augen und schob sich an die gepolsterte Wand, an der sein Kingsizebett in Richtung Fensterfront stand. Manchmal dachte er darüber nach, ob er sich in diesem riesigen Bett einsam fühlte. Doch dafür schlief er viel zu gut.

Kurz fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Bart kratzte über seine Haut. Dann tastete er über das Nachtschränkchen, wo seine Brille lag, immer mit einem Brillenflügel an dem Glas Wasser gelehnt, das er sich vor dem Schlafengehen auf dieselbe Stelle stellte.

Akribisch betrachtete er es, stellte fest, dass es noch immer so voll war wie am Vorabend, und trank einen Schluck. Dann griff er über seine Lampe zu dem Buch, das er gerade las. Edgar Allan Poe war einer seiner liebsten Schriftsteller und er liebte es, wenn seine Finger das abgegriffene Hardcover und die vergilbten Seiten berührten. Der Geruch vergangener Zeiten und die Faszination der Leser kroch Frank in die Nase. So duftete ein altes Buch.

Während das Meer rauschte, die Möwen schrien und die Sonne ihre rot-goldenen Strahlen in sein Haus schickte, versank er im Gedicht „Der Rabe“.

Nach einer Stunde, in der er noch durch weitere Geschichten und Gedichte geschmökert hatte, schälte er sich aus dem Bett. Mit blinder Präzision schob er seine Füße in seine Hausschuhe, verließ das Schlafzimmer und schlenderte in die untere Etage des Hauses. Jeder Raum war verglast, sodass er, egal, wo er sich aufhielt, auf das Meer hinaussehen konnte.

In der Küche stellte er die Kaffeemaschine an. Sie rumorte, während Frank nach der Tasse griff, die immer in einer Mulde der Kaffeemaschine stand. Der Henkel zeigte dabei immer nach rechts, sodass Frank die Tasse greifen konnte, ohne hinsehen zu müssen. Doch heute schmiegten sich seine Finger nicht mit der immergleichen Präzision um den Griff. Denn dieser zeigte nach links, sodass seine Fingerkuppen gegen das Porzellan der Tasse prallten. Frank tauchte aus seinen Gedanken auf.

Stirnrunzelnd drehte er die Tasse mit spitzen Fingern, betrachtete sie, als wäre sie ein Fremdkörper. Und so fühlte es sich auch an. Sie hätte anders stehen sollen. Sie hätte anders stehen müssen.

Ximena, dachte er zähneknirschend und lauschte dem Rumoren der Maschine, während diese die braune Flüssigkeit in die Tasse spuckte.

Er schüttelte die Gedanken ab. Davon sollte er sich nicht den Morgen verderben lassen. Er inhalierte den Duft des frisch aufgebrühten Kaffees, während er nach draußen auf die Terrasse trat.

Vor einigen Jahren hatte er die Immobilie zu einem guten Zeitpunkt gekauft, als der Immobilienmarkt im Keller war. Zwar hatte er dennoch einige Millionen dafür hinblättern müssen, aber im Vergleich zu den Preisen, die in einem Hoch verlangt wurden, war das ein Schnäppchen gewesen. Zudem erfüllte es all seine Bedürfnisse nach Abgeschiedenheit und Idylle.

Der moderne Block aus Stahl, Beton und Glas – entworfen von irgendeinem Top-Architekten, der das Haus verkauft hatte, bevor er es bei einer teuren Scheidung an seine Frau verloren hätte – befand sich direkt am Strand.

Es war das letzte Haus, das sich am Strand entlangreihte. Dennoch war der nächste Nachbar weit genug weg, um ihn nicht jeden Tag begrüßen und sich mit einem Small Talk begnügen zu müssen.

Frank trank einen Schluck und beobachtete eine Gruppe Joggerinnen und Spaziergänger, die ihre Hunde ausführten. Der Wind trug ihr Bellen zu ihm herüber, vermischt mit dem steten Rauschen der Wellen.

Frank empfand Frieden, wenn er auf seiner Veranda stand, den dampfenden Kaffee in der Hand und den Blick auf den Sonnenaufgang gerichtet. An solchen Morgen wie diesen zog er sich in sein Malzimmer zurück. Von dort hatte er eine ungestörte Aussicht auf die sanft ansteigenden Berge und die Küste. Er verrührte die Farben, wie er sie vor sich sah. Violett, rot, gelb, blau, grün. Seitdem er das Schreiben an den Nagel gehängt hatte, gab die Malerei ihm noch das kreative Leben, das er an manchen Tagen durchaus vermisste.

Während er mit Spachtel und Pinsel über die Leinwand fuhr, vergaß er alles um sich herum. Beim Schreiben war es ihm auch oft so ergangen. Doch die Art des Vergessens war eine andere gewesen …

Dieser Gedanke ließ ihn zusammenfahren wie das plötzliche Kreischen von Metall bei einem Autounfall. Mit den Erinnerungen an das Interview spülte sich Wut in den Frieden ein wie eine unwillkommene Flut.

Franks Griff verhärtete sich. Das Schreiben hatte hier keinen Platz mehr, erinnerte er sich und entspannte sich, indem er mehrmals tief ein- und ausatmete.

Brittany Westwood hatte mit ihren Fragen mehr in ihm aufgewirbelt als gedacht. Nun galt es, alles wieder an seinen Platz zurückzubringen – sorgfältig. Wie man es mit Dingen tat, die man aus dem Zimmer seiner Geschwister genommen hatte, bevor diese es bemerkten.

Frank tauchte in das Bild ein, die Szenerie. Er roch das Meer, sah die Wolken, die sich nur subtil am Horizont ankündigten. Wie eine Krone brachen die Strahlen um sie herum gen Himmel.

Und mit diesen Bildern vor Augen vergaß er die unschöne Galerie seiner Erinnerungen. Er vergaß den Stein. Den Schmerz. Die Angst. Den Zorn …

Frank tauchte erst wieder auf, als Ximena Flores’ unüberhörbare Stimme durch das Haus schallte. „Fraaaaank.“ Sie rollte das R und zog seinen Namen unnatürlich in die Länge. „Frank, ich bin da!“

Er hasste es, wenn sie ihn so rief. Manchmal versetzte es ihn in seine Kindheit zurück. Zwar rief seine Mutter ihn nicht mit einem spanischen Akzent, aber auch sie hatte oft seinen Namen in die Länge gezogen. „Fraaaaank, komm den Tisch decken.“, „Fraaaaank, lass deine Schwester in Ruhe.“, „Fraaaaank, wir verpassen noch die Sonntagsmesse.“

Allerdings hatte seiner Mutter nicht die mütterliche Wärme innegewohnt, wie es bei Ximenas Rufen der Fall war, was es wiederum etwas erträglicher machte.

Außerdem war es damit ohnehin vorbei. Seine Mutter war seit einigen Jahren an Demenz erkrankt und würde nicht einmal sich selbst im Spiegel wiedererkennen.

Unten in der Küche stieß Frank auf Ximena. Sie schleppte die letzten Einkaufstüten, legte sie auf die Kochinsel und füllte den Kühlschrank auf.

„Guten Morgen, Ximena“, sagte Frank.

„Fraank.“ Nun zog sie ihn nicht mehr ganz so lang. „Wie geht es dir? Ich habe deinen Anzug aus der Reinigung geholt.“

„Vielen Dank.“

„Was macht die Arbeit?“ Geübt räumte sie die Einkäufe in Windeseile in ihre vorgesehenen Fächer. Frank war penibel, was die Ordnung in seinem Haushalt anging. Mit der Zeit hatte Ximena es sich allerdings nicht nehmen lassen, gewisse Lebensmittel in den Kühlschrank zu schmuggeln, die ihrer Meinung nach besonders wichtig für seine Gesundheit waren. Noch etwas, das sie mütterlicher als seine eigene Mutter machte.

Die hatte ihren Kindern die nötigste Fürsorge geschenkt. Um den Lieblingspudding der drei Geschwister zu kaufen, war meistens nicht genug Geld da und eine liebevolle Umarmung verweichlichte vor allem die Jungs. So hatte es Franks Vater immer in seine Bierdose genuschelt, wenn er auch nur die Anwandlung körperlicher Zuneigung gespürt hatte.

Frank tauchte aus dem Sumpf seiner Kindheit auf und zuckte mit den Schultern. „Wie immer. Ich male, das war’s.“

„Du bist ein sehr guter Maler, Frank.“ Sie schloss die Kühlschranktür und wischte über die Arbeitsfläche. „Du solltest deine Bilder in eine Galería bringen.“

Frank schmunzelte. Tatsächlich hatte er mal darüber nachgedacht. Er hatte die Kontakte, die ihn in die besten Galerien von L. A. bringen würden. Aber irgendetwas in ihm weigerte sich, seine Bilder einem Publikum zu zeigen. Manchmal glaubte er, dass alles, was er in die Öffentlichkeit brachte, früher oder später wie ein Fluch an ihm haftete. „Es freut mich, dass Ihnen meine Bilder gefallen.“

„Naturalmente.“ Ximena wuselte an ihm vorbei. Sie war eine kleine Frau. Ihr schwarzes Haar war bereits grau meliert und immer zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Für ihr Alter wirkte sie zehn Jahre jünger. Frank war sich sicher, dass sie ihm regelmäßig in die Wangen kneifen würde, wenn sie sein Gesicht erreichen könnte. Noch so eine mütterliche Art, mit der Frank nicht sonderlich viel anfangen konnte. „Ich gehe Wäsche machen. Am Samstag werde ich nicht kommen. Mein Sohn feiert seinen Geburtstag.“ Sie schnappte sich einen Wäschekorb, der am Fuß der Treppe stand.

„Natürlich“, rief Frank. „Ich gehe gleich spazieren. Wie immer.“

„Okidoki“, sagte Ximena und kicherte. Dann watschelte sie die Treppe hinab.

Frank, der auf dem Weg zur Kaffeemaschine war, wandte sich noch einmal um. „Ach, Ximena, was ich vergessen habe.“

„Sí?“ Sie sah ihn fragend an.

„Die Tasse stand heute Morgen nicht, wie sie sonst stehen sollte.“

Ximena blinzelte, öffnete den Mund. Ihre Augen wanderten in Richtung Küche, auch wenn sie von ihrer Position auf der Treppe diese nicht mehr sehen konnte. „Oh“, sagte sie kurz. „Tut mir leid, Frank. Eigentlich habe ich sie nicht –“ Sie unterbrach sich. „Ich achte drauf.“ Sie wich seinem Blick aus.

Frank nickte. „Danke.“

Er ignorierte das bedrückte Schweigen. Ximena klammerte sich an ihren Wäschekorb, stand da wie ein Soldat, der auf die Erlaubnis wartete, sich rühren zu dürfen.

Frank wandte sich ab und ging einfach. Kurz darauf hörte er Ximenas laute Schritte, ehe sie im Keller verschwand.

Sein Blick glitt zur Uhr. Es war bereits Mittag. Kurz überlegte er, ob er noch einen Kaffee trinken sollte. Dann entschied er sich dafür. Er würde einen Kaffee trinken, spazieren gehen und danach in sein liebstes italienisches Restaurant gehen.

Die Wellen rauschten an den Strand, umspülten Franks Füße, und die Sandkörner kitzelten über seine Haut. Der salzige Meeresduft erfüllte die vor Hitze flirrende Luft.

Das Lachen einer Gruppe Frauen in der Ferne wehte herbei, vermischte sich mit dem Kreischen der Möwen. Frank genoss die Sonnenstrahlen, die nun auf ganz Los Angeles herunterbrannten. Von hier aus war das Zentrum der Stadt weit weg, gebettet im Schoß der Hügel.

Trotzdem konnte Frank es hören – den Lärm der vollen Straßen. Er sah das Strahlen der verglasten Gebäude, in denen sich die Sonne spiegelte. Wie ein Schatz in einer gut behüteten Truhe lag dieser glitzernde Diamant da. So viele Menschen folgten seinem Ruf, ein verführerisches Säuseln. Wie Motten das Licht umschwärmten sie die Stadt, während Frank so weit weg wie möglich von dem Glanz und Glimmer sein wollte.

Das war nicht immer so gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er ganz berauscht von den aufblitzenden Lichtern der Kameras, den Rufen der Fotografen und dem süßen Geschmack des Champagners auf den After-Show-Partys gewesen.

Frank schmatzte, als die Erinnerung sich allzu lebendig auf seiner Zunge ausbreitete. Er war wieder da, am Tag der Premiere seines verfilmten Bestsellers. Er sprach mit den Schauspielern, die seine Romanfiguren verkörpert hatten. Er sah die jubelnde Menge, die bunten Kleider, den schillernden Schmuck, der im Blitzlichtgewitter funkelte. All diese Lichter blendeten. Der Jubel, die lobenden Worte, die hymnenartigen Kritiken, die Reporter, die sich regelrecht um ein Interview rissen. Ein süßer Rausch überkam ihn. Ein giftiger Cocktail aus Dopamin und Adrenalin. Das war einer dieser Momente, in denen er spürte: Er, Frank Lamber, war ganz oben.

Mit stolzgeschwellter Brust hatte er seinen Arm um Bridgets Taille geschlungen und sie mit sich auf den roten Teppich und in das grelle Scheinwerferlicht gezogen. Für die Fotografen hatte er ein breites Lächeln aufgesetzt und Bridget damit bedacht. Dass er es schon lange nicht mehr zu Hause, fernab der Kameras, getan hatte, vergaß er in diesem Moment. Genauso wie die Tatsache, dass sie keine Zärtlichkeiten mehr austauschten. Das Gefühl ihrer Haut am Rücken unter seinen Fingern wirkte nahezu aphrodisierend.

„Du siehst wunderschön aus“, raunte er in ihr Ohr und meinte es so.

Eines ihrer selten gewordenen Lächeln trat auf Bridgets Lippen. Sie hatte ein einnehmendes Lachen. Wie kaum jemand, den er kannte, verstand sie es, Menschen für sich einzunehmen, ohne ihre Stimme zu erheben oder etwas Besonderes dafür zu tun. Wenn sie einen Raum betrat, ging die Sonne auf.

Ein Knoten bildete sich in seinem Magen, als er realisierte, was er so sehr an ihr liebte und dass er es so lange nicht geschätzt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde entglitt ihm seine Maske. Er schluckte gegen den Widerstand in seinem Hals.

Bridget sah es und auch ihr Lächeln verblasste. In ihren Augen, in denen sich das Aufblitzen der Kameras spiegelte, lag ein stiller Vorwurf: War es das wert?

Frank wich ihrem Blick aus und starrte lieber in das Blitzlichtgewitter, hinter dem er die Fotografen und Reporter nur schemenhaft wahrnahm, als ihm plötzlich ein Schatten ins Auge fiel.

Ein eisiger Hauch blies in seinen Nacken, krabbelte unter seine Kleidung. Franks Kehle wurde eng. Als könnte er so die Gestalt besser erfassen, kniff er seine Augen zusammen. Die Kameras gaben ein ratterndes Geräusch von sich. Immer wieder stach das Blitzlicht in seinen Augen.

Nur verzerrt konnte er das Gesicht der Gestalt wahrnehmen, die wie ein schwarzes Loch in dem bunten Treiben existierte und alles um sich herum aufsaugte. Den Rausch, die Rufe, das Lachen, das Licht – die Wärme.

Frank japste nach Luft, kurz kniff er die Augen zusammen, riss sie dann wieder auf, nur um festzustellen, dass die Gestalt verschwunden war.

„Ist alles in Ordnung?“, säuselte Bridget und sah ihn besorgt an.

Frank zwang sich ein Lächeln auf. „Natürlich. Natürlich.“

Das kalte Wasser einer Welle, die seine Füße umspülte, holte ihn zurück in die Gegenwart. Frank rümpfte die Nase. Dann ließ er seinen Blick über das Meer schweifen, dessen Oberfläche in der Ferne im Sonnenlicht funkelte. Damals war er nicht er selbst gewesen. Für nur kurze Zeit hatte er sich gefühlt, als stünde er an der Spitze. Dann hatte er im eisigen Hauch realisiert, dass es einsam dort oben war – und doch war er nicht allein gewesen …

Er schüttelte diese Gedanken von sich und beobachtete die Wellen, die seine Spuren im Sand davonwuschen – als wäre er nie dort entlanggelaufen.

Dabei wusste er, dass auch er, wenn er sterben würde, Spuren hinterlassen hatte, die noch Jahre sichtbar sein würden. Keine Welle konnte sie fortspülen. Seine Bücher waren sein Vermächtnis. Doch sosehr er wusste, dass es Menschen gab, die genau das erreichen wollten, was er erreicht hatte, und sosehr er sich selbst nach diesem Vermächtnis gesehnt hatte, umso schmerzhafter war die Erkenntnis, dass es ihn nicht so zufriedengestellt hatte, wie er geglaubt hatte. Vergleichbar mit der Vorfreude auf ein süßes Dessert, das mit seinem köstlichen Äußeren lockte, jedoch so ganz anders schmeckte, als man es sich vorgestellt hatte.

Frank bückte sich nach einem flachen Stein, rieb mit seinem Daumen die Sandkörner von der glatten Oberfläche und flitschte ihn in den Schlund der Wellen. Diese verschlangen ihn gierig, brachen über ihm zusammen und rasten auf Frank zu.

Kurz schloss Frank die Augen, lauschte dem Rauschen, spürte den Wind auf seiner Haut und wie er sich in seiner Kleidung fing. Daraufhin folgte ein Moment, in dem alles schwarz und still wurde.

Genauso schnell wie das Gefühl gekommen war, war es auch schon wieder fort. Als wäre sein Herz gestolpert. Als hätte sein Leben eine Sekunde übersprungen. Frank hörte wieder das Meer und das Säuseln des Windes. Er blinzelte gegen das Sonnenlicht an.

Stirnrunzelnd blickte er auf seine Hand, in der er einen weiteren Stein hielt. Kurz fragte er sich, wann er den aufgehoben hatte, ehe er ihn genauso flitschte wie den Stein zuvor.

Seufzend schob er die Hände in die Hosentaschen und lief weiter. Nach einigen Kilometern traf er auf einen Golden Retriever, der schwanzwedelnd auf ihn zurannte und den Ball in seiner Schnauze vor seine Füße spuckte. Durch seine großen braunen Augen starrte er Frank erwartungsvoll an, während er mit allen vier Pfoten auf der Stelle tapste.

Sein goldfarbenes Fell war lockig und nass. Salz trocknete an einigen Strähnen. Der Hund bellte.

Frank lachte, dann bückte er sich gemächlich. „Ja, ja, schon gut.“ Er hielt den nassen Tennisball in die Höhe. „Willst du den?“

Der Hund kläffte und sprang aufgeregt auf und ab. „Dann hol ihn dir.“ Frank holte zum Wurf aus und schmiss den Ball in die Wellen.

Augenblicklich raste der Hund los und stürmte in die Fluten. Lachend sah Frank ihm nach, während er den Sand von seinen Handflächen klopfte.

„Wieder eine Spazierrunde?“ Die Besitzerin des Goldies lief an Frank vorbei. Offenbar hatte sie Sport getrieben, denn sie trug dunkelblaue, eng anliegende Sportkleidung. Ein breites Lächeln lag auf ihren Lippen und Lachfältchen zierten ihre Augen. Sie wirkte sympathisch.

Fieberhaft überlegte Frank, wann er sie das letzte Mal getroffen hatte, oder ob er ihr überhaupt einmal begegnet war. Er konnte sich nicht erinnern. Dabei war es kein Wunder. Er traf jeden Tag viele Leute bei seinen Spaziergängen und er war noch nie gut darin, sich Gesichter einzuprägen, denen er nur mal zugenickt hatte. Er lächelte und nickte. „Schönen Tag“, sagte er.

Die Frau wandte sich im Gehen um und legte ihren Kopf schief. „Ihnen auch.“ Dann pfiff sie ihren Hund heran, der schon wieder Anstalten machte, auf Frank zuzurennen, den Ball im Maul. Er drehte ab und raste auf seine Besitzerin zu.

Frank wandte sich um und führte seinen Spaziergang fort. Er betrachtete die Häuser. Die modernen Bauten, die meistens auf schlanken Stelzen standen. Sie alle hatten große verglaste Fronten und einen direkten Strandzugang. Alle im Besitz von Schauspielern, Models, Immobilienmogulen und Unternehmern.

Nachdem er einige Kilometer gelaufen, Bälle für zwei, drei weitere Hunde geworfen hatte, machte Frank wieder kehrt und trat den Nachhauseweg an.

Sein Magen knurrte inzwischen und gedanklich ging er bereits die Speisekarte durch, die er in- und auswendig kannte. Heute hatte er Lust auf Pasta mit Trüffelsauce und Filetspitzen dazu.

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen betrat er das Haus über die Terrasse. Die weißen Vorhänge blähten sich im scharfen Küstenwind, der durch die offene Tür drängte. Mit seinem leisen Säuseln und dem fernen Rauschen des Meeres vertrieb er die Stille, die im Haus auf Frank wartete.

„Ximena?“, rief er in die Hallen seines Palastes hinein, nachdem er durch die offene Tür geschlüpft war. „Ximena?“

Wenn Ximena die Tür geöffnet ließ, war sie meistens in der Küche oder wuselte zwischen den großen Blumenkübeln umher.

Frank krauste die Stirn. Denn wenn er sie rief, antwortete sie meistens mit einem nervtötenden „Fraaank“.

Er ließ den Blick schweifen. Die Küche ging fließend in den Korridor und das großzügige Wohnzimmer über. Doch von Ximena gab es keine Spur.

Etwas versteckt hinter einer eingezogenen Wand lag der Eingangsbereich, sodass man von der Tür aus nicht direkt in die anderen Räume blicken konnte. Doch auch dort war sie nicht. Ein Gefühl von Unbehagen kletterte unwillkürlich an Frank empor. Egal in welchem Raum Ximena sich befand, Frank konnte sie immer hören. Und sie ihn.

„Ximena?“ Er kehrte in die Küche zurück.

Aus dem Keller drang ein dumpfes Geräusch, das nun in einem schnelleren Takt schlug. War sie etwa noch dort unten? Sie hatte doch schon vor seinem Spaziergang die Wäsche nach unten gebracht.

Frank folgte der Treppe. Die Kellerräume waren nicht nur Hauswirtschaftsräume. Frank besaß eine Werkstatt, die er aber noch nie wirklich genutzt hatte. Folgte man dem dunklen Korridor, gingen mehrere Türen zur Seite ab. Es gab einen Kinoraum, den seine Töchter gern nutzten, wenn sie ihn besuchten. Außerdem gab es eine Vorratskammer und eine Kammer mit großen Regalwänden, in denen Frank seine Gemälde aufbewahrte, die er selbst gemalt, aber nie aufgehängt oder verschenkt hatte.

Die Hände in den Taschen vergraben, trat Frank in den Waschraum und erstarrte auf der Stelle.

Das dumpfe Geräusch war die Waschmaschine, die die Wäsche schleuderte und dabei leicht auf den Boden schlug und hüpfte.

Aber das war nicht, was wie ein Kälteschock über seinen Körper herfiel.

Davor lag Ximena, die Beine und Arme von sich gestreckt. Die Waschmaschine schlug gegen ihren Schädel, sodass dieser in einem grotesken Takt hin- und herwippte, während die Augen der Haushälterin leer gen Decke starrten.

Ein Schauder erfasste ihn. Es gelang ihm, sich aus seiner Starre zu befreien. „Ximena“, krächzte er und taumelte auf sie zu.

Er kniete sich neben sie, rüttelte an ihren Schultern. Dabei kippte ihr Kopf zur Seite weg. Um ihren Hals schlang sich ein Gürtel. Franks Gürtel.

Erschüttert schlug er sich die Hand vor den Mund. Er wollte ihren Puls fühlen, doch ein weiterer Blick in ihre Augen verriet ihm, dass er zu spät kam. Sämtliche Äderchen waren geplatzt, sodass ihre Pupillen in Blut schwammen. Das Leben und freundliche Strahlen waren aus ihnen gewichen. Stattdessen fand der Schrecken ein ewiges Echo in ihrem Blick.

Fahrig fummelte Frank an dem Gürtel, um ihn zu öffnen. Es gelang ihm aber nicht. Seine Finger zitterten zu stark. Doch durch sein Gezerre erhaschte er einen Blick auf die Würgemale auf ihrer Haut. Was sollte er nur tun?

Schließlich presste er doch noch einen Finger an ihren Hals. Ihre Haut war noch weich und warm.

Aber das Pochen suchte Frank vergeblich. Ximena war tot.