Prolog
Wie in jeder Nacht der vergangenen vier Monate klingelte William Tones Wecker pünktlich um drei Uhr morgens. Tone, der schon vor einigen Minuten aufgewacht war und gerade am Küchentisch saß, um seinen Kaffee zu trinken, hastete so schnell und so leise wie möglich ins Schlafzimmer. In der Dunkelheit tastete er nach dem Schalter, der das Gerät zum Schweigen bringen würde. Während er noch nach dem Knopf suchte, wurde er immer nervöser, denn die Frau neben ihm im Bett fing an, sich unruhig zu bewegen. Endlich ertastete er den Schalter und drückte ihn so fest, dass das Gehäuse des Analogweckers schmerzhaft knackte. Tone atmete leise durch und rieb sich mit den Handflächen über das stoppelige Gesicht und den kahlrasierten Kopf, dann warf er einen Blick auf die auf der anderen Seite des Bettes liegende Frau. Georgina war anscheinend wieder eingeschlafen. Er hatte sie vor fünf Jahren kennengelernt, und schon, als er sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie war schlank und durchtrainiert. Ihre Figur erinnerte ihn an eine griechische Statue, die er einmal beim Besuch des Metropolitan Museum in New York gesehen hatte. Ihr langes, lockiges, schwarzes Haar wallte um ihren Kopf und umrahmte ihn wie ein Heiligenschein. William liebte sie abgöttisch. Bis heute wusste er nicht, warum sie sich zu jener Zeit ausgerechnet für ihn entschieden hatte, denn Bewerber hatte es mehr als genug gegeben, und einigen war er seiner Ansicht nach klar unterlegen gewesen. Als er seinen Blick weiter schweifen ließ, blieb dieser unweigerlich an dem kleinen, zarten Wesen hängen, welches in einem von ihm selbst gebauten Gitterbettchen lag. Der gelb-schwarze Schnuller mit dem Bild einer lächelnden Biene, den William und Georgina während der Vorbereitungen für die Geburt gekauft hatten, war unmittelbar neben dem kleinen Mund des Kindes postiert und wartete dort geduldig auf seinen Einsatz. Francis war vor etwas mehr als vier Monaten zur Welt gekommen und seitdem das größte Glück des Pärchens. Dass William wegen dieses kleinen Wonneproppens einen Job hatte annehmen müssen, der ihn um drei Uhr morgens aus dem Bett warf, war zwar anstrengend, aber er tat es gern. Schließlich wollte er nicht den Fehler wiederholen, den sein eigener Vater gemacht hatte, als William erst vier Jahre alt gewesen war. Sein Erzeuger, wie er ihn nur nannte, hatte sich damals darauf verlegt, sich auf das Trinken zu konzentrieren und eines Nachts dann einfach davonzuschleichen.
William überlegte, ob er noch seinen Kaffee austrinken sollte, entschied sich aber nach einem Blick auf die Uhr dagegen. Stattdessen tappte er auf Zehenspitzen ins Badezimmer, darum bemüht, keinen Lärm zu machen, der seinen Jungen oder seine Frau wecken würde. Er schloss die Tür hinter sich und spülte sich das Gesicht ausgiebig mit Wasser ab, trocknete es mit einem Handtuch und betrachtete anschließend die Stoppeln, die sich auf Kinn und Wangen gebildet hatten. Er würde sich bald wieder rasieren müssen, denn seine Frau mochte es nicht, wenn sich seine Haut wie ein Reibeisen anfühlte. Aber jetzt hatte er keine Zeit dafür, denn er musste sich beeilen, wenn er pünktlich auf der Arbeit sein wollte. Als er die Badezimmertür wieder öffnete, geschah etwas, das er unbedingt hatte vermeiden wollen: Die Tür knarzte. Zwar nur leicht, aber das reichte schon aus. Im Gitterbett regte sich sofort etwas. Stumm fluchend schloss William die Augen und hoffte, dass der kleine Racker nicht aufwachen würde. Doch seine Hoffnung zerstob, als der Junge die Augen aufschlug, tief einatmete und dann einen lauten Schrei ausstieß. Georgina erwachte augenblicklich und griff nach dem wütend umherschlagenden Händchen ihres gemeinsamen Sohnes.
»Tut mir leid«, sagte William und blickte betreten zu Boden.
»Schon gut«, murmelte sie, während sie nach dem Schnuller tastete. »Musst du schon los?«
»Ja«, lautete die kurze Antwort.
Als Georgina schließlich den Sauger gefunden und dem Kleinen in den Mund gesteckt hatte, wandte sie sich William zu und stützte sich auf einen Ellbogen auf. »Du machst dich noch kaputt«, flüsterte sie.
»Ich bin hart gesotten«, versicherte er ihr ebenso flüsternd mit einem Lächeln. »Außerdem seid ihr es mehr als wert.«
»Du solltest Urlaub nehmen, und dich ein wenig erholen.«
»Ich habe genug Erholung«, wiegelte William ab.
Seine Frau setzte sich auf und legte den Kopf schief. »Wann denn?«, fragte sie skeptisch.
»Na ja, zum Beispiel, wenn ich mit dem Bus zur Arbeit unterwegs bin, und heute bin ich sogar der Fahrer bei der Tour, also kann ich es etwas ruhiger angehen lassen.«
»Wenn du meinst …«
»Hör mal«, antwortete er in beschwichtigendem Tonfall. »Nur noch wenige Monate, dann schläft Francis durch. Danach wird es ruhiger, und ich kann mich nach einem anderen gut bezahlten Job umsehen, bei dem ich trotzdem noch Zeit mit ihm verbringen kann.«
Er trat zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich zu seinem Jungen hinabbeugte, der inzwischen schon wieder eingeschlafen war.
»Wir sehen uns nachher«, verabschiedete er sich.
»Hoffentlich bald«, antwortete sie und legte sich wieder hin.
»Guten Morgen«, sagte William zu seinem Kollegen Fred, einem fülligen Weißen.
»Morgen«, raunzte Fred zurück.
»Schlecht geschlafen?«
»Nee«, antwortete sein Kollege gedehnt. »War mit ein paar Jungs auf Tour. Ich glaube, ich werde langsam zu alt dafür.«
William wusste, was Fred mit Tour meinte. Er und einige ehemalige Schulfreunde trafen sich traditionell einmal im Jahr zu einer Kneipentour in der Stadt und ließen es dabei ziemlich krachen.
»Ich glaube nicht, dass du zu alt wirst«, beschwichtigte er seinen Kollegen.
»Versuch nicht, mich aufzumuntern«, erwiderte Fred mürrisch. »Wenn ich mir Fotos von mir von vor zwanzig Jahren anschaue, sehe ich doch die voranschreitende Verwelkung.«
»Du bist gerade mal vierzig«, antwortete William. »Du wirst doch nicht etwa jetzt schon eine Midlife-Crisis entwickeln?«
Daraufhin musste Fred grinsen. »Vielleicht bin ich auch einfach nur nicht mehr gewöhnt, so viel zu saufen.«
»Komm, lass uns fahren«, forderte William ihn auf. »Wo ist eigentlich Tom?«
»Der hat sich krankgemeldet.«
»Echt jetzt?«
»Ja, irgendwas mit Erkältung.«
»Haben wir denn einen Ersatz?«
»Nope«, antwortete Fred. »Nur du und ich.«
»Na super.«
»Jammere nicht, das macht nur Falten«, sagte sein Kollege und runzelte zur Verdeutlichung seine Stirn.
»Schon gut«, wiegelte William ab. »Wir schaffen es auch so. Jetzt aber los, sonst kriegt der Boss wieder hohen Blutdruck.«
»Das wollen wir ja nicht«, pflichtete ihm Fred grinsend bei und stieg auf den Beifahrersitz des großen, orangefarbenen Müllwagens.
Die Mülltonnen waren wie immer randvoll, obwohl sie erst vor zwei Tagen geleert worden waren.
»Ein Gutes hat dieser Job ja«, sagte William zu Fred, während sie die Mülltonnen eine nach der anderen zum Wagen brachten. »Man bekommt Training.«
Das war nicht gelogen, denn seit er als Müllmann arbeitete, hatte er zwanzig Kilo verloren und einige Muskeln aufgebaut. Er schob die graue Plastiktonne zum Müllwagen, befestigte die Hebeklammern und drückte dann auf den Knopf, der den Behälter nach oben und über seinen Kopf hob, um den Inhalt in den unergründlichen Schlund des Lasters zu schütten. Als er die Tonne zurückgeschoben hatte und sich gerade die nächste vornehmen wollte, sah er im Halbdunkel der schmalen Gasse, in der er sich gerade befand, ein Paar Füße hervorragen.
»Hey Fred, wieder einer von den Pennern«, rief er seinem Kollegen zu. Mit der Spitze seines Schuhs trat er gegen einen der Füße, doch dieser regte sich nicht.
Besinnungslos gesoffen, dachte Tone, und sagte laut: »Hey Mister, aufwachen.« Um besser an den Mann heranzukommen, schob er die Mülltonne ein Stück beiseite. Der Anblick, der sich ihm daraufhin bot, war so verstörend, dass William unwillkürlich aufschrie und einen Satz zurückmachte.
Denn vor ihm lag eine Leiche.
Er versuchte, die in ihm aufsteigende Panik im Zaum zu halten, während er sich den toten Körper genauer ansah. Der Mann war unzweifelhaft tot, denn so verdreht, wie er dalag, konnte er unmöglich nur schlafen. Der Anblick der Leiche brannte sich so sehr in sein Gedächtnis ein, dass er ihn nie wieder vergessen würde.
»Fred«, schrie er, als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. »Ruf die Cops an.«
Kapitel 1
Es war sieben Uhr, als das Telefon von FBI Special-Agent Frank Bernstein zum Leben erwachte. Er selbst war bereits seit zwei Stunden wach, hatte sein morgendliches Work-out hinter sich gebracht und saß nun an seinem Küchentisch und genoss den belebenden Geschmack seines schwarzen Kaffees. Dass sein Handy genau jetzt meinte, klingeln zu müssen, reihte sich in die Dinge ein, von denen er gern als Murphy’s Gesetz sprach. Gestern Abend hatte er mit seiner Verlobten und einigen Freunden seinen Abschluss an der FBI-Akademie gefeiert, und es war ziemlich spät geworden. Er nahm noch einen Schluck von dem dampfenden Gebräu, bevor er sein Smartphone ergriff und einen Blick auf das Display warf. Der Name seiner Vorgesetzten Sarah Penske wurde angezeigt. Mit vierundfünfzig Jahren war sie zwar bei Weitem nicht die jüngste Abteilungsleiterin der FBI-Geschichte, aber dafür war sie die erste Frau gewesen, die diesen vergleichsweise hohen Posten erhalten hatte. Nachdem sie vor einigen Jahren bei einer Ermittlung schwer verletzt worden und nach ihrer Genesung vor die Wahl gestellt worden war, ehrenhaft aus dem Dienst auszuscheiden oder in den Innendienst versetzt zu werden, hatte sie sich für Letzteres entschieden.
»Bernstein«, meldete er sich mit einer tiefen Stimme, die so gar nicht zu seinem jugendlichen Aussehen passte.
»Guten Morgen«, antwortete Penske. »Haben Sie gut geschlafen?«
»Es ist gestern ein bisschen spät geworden. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir haben einen Mordfall, bei dem ich Sie brauche.«
»Gibt es dafür nicht ein eigenes Team?«, fragte er verwirrt.
»Seit heute früh gehören Sie dazu«, verkündete Penske. »Ich weiß, Sie haben gerade erst die Akademie hinter sich, aber ich dachte, dass Sie vielleicht Lust haben, gleich in die Vollen zu gehen.«
Bernstein spannte sich innerlich an. Ein Mord war ein ganz anderes Kaliber als die Fälle, die er während seiner Zeit bei der Polizei untersucht hatte.
Seine Vorgesetzte betrachtete sein Schweigen offenbar als Zeichen der Zustimmung und fuhr fort. »Ich möchte, dass Sie zur Virginia Avenue, Ecke Fourth Street Southwest fahren. Dort befindet sich der Tatort.«
»Alles klar, ich mache mich gleich auf den Weg.«
»Sehr gut«, lobte Penske. »Treffen Sie sich dort mit Agent Hancock, der wird in dieser Sache Ihr Partner sein.«
»Meinen Sie Pete Hancock?« Bernstein kannte den Kollegen und wusste, dass dieser, wenn man es nett formulierte, als schwieriger Charakter galt.
»Genau den. Haben Sie damit ein Problem?«
»Nein, kein Problem«, antwortete der Agent.
»Gut.« Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch.
Bernstein nahm sich Zeit, um sich anzukleiden, denn er wollte bei seinem ersten Einsatz einen guten Eindruck machen. Daher wählte er einen navy-blauen Anzug, ein weißes Hemd und eine gediegene, aber nicht übertrieben wirkende Krawatte, die sich farblich gut einfügte. Eine seiner Ex-Freundinnen hatte vor ihrer Trennung einige Zeit damit verbracht, ihm die Feinheiten guten Aussehens, was Kleidung anbetraf, näher zu bringen. In ihren Augen hatte er sicher noch einiges zu lernen, aber während er sich im Spiegel betrachtete, fand er, dass er ganz gut aussah. Er kämmte sich die kurzen Haare nach hinten und benutzte noch etwas Gel um ihnen Halt zu verschaffen, schließlich wollte er nicht aussehen, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Zu guter Letzt legte er sich sein Holster um die Schultern und steckte seine Dienstwaffe, eine Glock 22, hinein, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie geladen und gesichert war. Von einem Schränkchen im schmalen Flur nahm er seinen Dienstausweis, dessen Etui nach frischem Leder duftete und verließ die Wohnung.
Die Straßen waren um diese Uhrzeit voll, aber dennoch schaffte es sein Taxifahrer mithilfe einiger Schleichwege, in relativ kurzer Zeit zum Tatort zu gelangen. Dort fiel ihm als Erstes auf, dass die Abriegelung einwandfrei war. Die Polizeiwagen standen dicht an dicht, und dahinter hatten die Einsatzkräfte hölzerne Absperrungen postiert, die alle paar Meter von Uniformierten gesäumt waren. Wie üblich hatten sich einige Schaulustige an den Absperrungen versammelt, einige davon mit Handys in der Hand, die sich auf Zehenspitzen stellten, um verwackelte und unscharfe Aufnahmen machen zu können, die später im Internet landen würden.
»Guten Morgen«, begrüßte er einen der Uniformierten, den er noch von seiner eigenen Zeit bei der Polizei kannte.
»Frank, was machst du denn hier?«, fragte der Polizist, der um die fünfzig war und einen stattlichen Bauch hatte.
»Ich untersuche den Fall hier.«
»Ich dachte, das sei Sache des FBI?«
»Seit gestern gehöre ich offiziell zur Truppe«, erklärte Bernstein stolz.
»Meinen Glückwunsch«, antwortete der Uniformierte. »Wenn du deinen Kollegen suchst, der ist dort hinten.«
Der junge Agent folgte dem ausgestreckten Zeigefinger und sah Hancock einige Meter jenseits der Absperrung, wie er sich gerade über etwas beugte, das unter einer blauen Plane verborgen war. Pete Hancock, der einige Jahre älter war als Bernstein, sah schlampig aus. Sein Anzug saß schlecht, die Krawatte baumelte locker um seinen Hals, und die ehemals schwarzen Lackschuhe waren schmutzig und hätten eine Politur dringend nötig gehabt. Außerdem war dessen Gesicht unrasiert und die lockigen Haare des Agenten standen unordentlich vom Kopf ab und untermalten den Eindruck, dass es sich hier um einen Menschen handelte, der die Kontrolle über sein Leben verloren hatte.
»Guten Morgen«, begrüßte Bernstein den anderen fröhlich, nachdem er durch die Absperrung gelangt war.
»Morgen«, murmelte Hancock, ohne den Blick zu heben.
»Was haben wir denn hier?«, wollte der junge Agent wissen und ging in die Hocke.
»Ziemlich hässliche Sache«, sagte sein Kollege und deutete auf die Plane, unter der sich, dem Abdruck nach zu urteilen, das Opfer befand. »Ein junger Mann, wahrscheinlich um die zwanzig, gut gebaut und mit Bisswunden übersät.«
»Bisswunden?«
»Ja«, bestätigte er. »Sieht aus, als hätte sich ein Tier an ihm gütlich getan, und das ist noch nicht alles. Mindestens zwei Zehen fehlen, und zwar mitsamt Knochen, und wenn ich sage, dass er mit Bissen übersät ist, dann meine ich das auch so. Es scheint so, als sei jede Stelle seines Körpers in Mitleidenschaft gezogen worden.«
»Lassen Sie mich mal sehen.« Bernstein machte Anstalten, die Plane zurückzuziehen.
Hancock ergriff ihn am Oberarm und drehte ihn zu sich um. Sein Gesicht war jetzt nur noch wenige Zentimeter von Bernstein entfernt. Der junge Agent roch dessen nach Alkohol stinkenden Atem.
»Wollen Sie ihn sich wirklich hier ansehen?«, fragte Hancock.
»Klar, warum denn nicht?«
Anstatt zu antworten, machte der ältere Agent eine nickende Kopfbewegung zu den Schaulustigen hinüber, unter denen sich offenbar auch einige Vertreter der örtlichen Presse befanden und fleißig in ihre Mikrofone sprachen, während sie vor Kameras posierten.
Bernstein verstand, was er meinte. Wenn er die Plane hier anhob, würde es garantiert jemandem gelingen, einen Schnappschuss zu machen, und schon in wenigen Stunden wäre das Internet damit geflutet. Er zuckte mit den Schultern. »In Ordnung, lassen wir ihn abtransportieren. Ich schaue ihn mir später an. Wissen wir schon, wer das Opfer ist?«
»Bisher noch nicht«, erwiderte Hancock. »Die Leiche ist komplett nackt, und in der Nähe befinden sich keine Kleider, also hat der Täter sie entweder mitgenommen, oder das Opfer wurde woanders getötet und dann hierhergebracht.«
»Worauf tippen Sie?«
»Dass hier eine Orgie stattfand und dieser Typ offenbar zu schwach war.«
»Wie bitte?«
»Damit will ich sagen, dass es zu früh für irgendwelche Spekulationen ist.«
»Okay, schon verstanden. Dann werden wir ihn eben auf die herkömmliche Art und Weise identifizieren müssen«, überlegte Bernstein. »Fingerabdrücke, Zahnabdruck, das ganze Programm.«
»Ist schon veranlasst. Die Forensiker warten bereits auf den neuen Kunden.«
Der junge Agent nickte und ließ seinen Blick auf der Suche nach Hinweisen durch die Gegend schweifen. Leider gab es nicht viel, was ihnen helfen könnte, herauszufinden, warum das Opfer genau hier lag. Er warf einen Blick auf die rote Backstein-Fassade des vor ihm aufragenden Gebäudes.
»Museum of the Bible«, las er laut das große Schild an der Seitenwand.
»Der perfekte Platz für einen Mord«, merkte Hancock an und griff in seine Hosentasche, um ein Päckchen Zigaretten herauszufischen, nur um sich dann doch dagegen zu entscheiden, denn er wollte den Tatort nicht kontaminieren. »Kann er wenigstens direkt einen Segen erhalten, um in den Himmel aufzufahren.«
»Gibt es Zeugen?«, wollte Bernstein wissen.
»Ein Müllfahrer namens William Tone und sein Kollege Fred Wilkins. Sie befinden sich gerade in psychologischer Betreuung.«
»Sind sie vernehmungsfähig?«
»Vermutlich. Kann aber sein, dass sie noch ein wenig brauchen, um sich von dem Schock zu erholen. Schließlich findet man nicht oft eine Leiche.«
»Punkt für Sie«, gab Bernstein zu. Er blickte erneut auf das Gebäude. »Dieses Museum verfügt doch bestimmt über Videokameras.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, erklärte der ältere Agent. »Es sei denn, die legen ihre Sicherheit ausschließlich in die Hände Gottes.«
Bernstein beäugte seinen Kollegen und überlegte, ob er dessen Zynismus kommentieren sollte, entschied sich aber dagegen. Er wollte es sich nicht sofort an seinem ersten Tag mit einem der alten Hasen der Abteilung verscherzen.
Nachdem der Leichnam abtransportiert worden war und sich sowohl die Nachrichtenteams als auch die Schaulustigen langsam zerstreuten, hakte Bernstein im Geiste eine Checkliste ab, die er auf der Akademie beigebracht bekommen hatte, während Hancock an einer Ecke stand und gelangweilt umherblickte. Die nähere Umgebung musste überprüft werden. Vielleicht gab es ja Obdachlose unter der südlich gelegenen Unterführung, die etwas gesehen hatten. Der jüngere Agent würde einige Beamte darauf ansetzen.
»Hey, Hancock, wie wäre es, wenn wir …«, setzte Bernstein an, wurde aber direkt von einem kalten Blick des anderen unterbrochen.
»Lassen Sie uns eines klarstellen«, sagte der ältere Agent zwischen zwei Zügen. »Ich leite die Ermittlungen. Sie laufen schön mit und machen sich Notizen. Penske mag vielleicht der Ansicht sein, dass Sie so weit sind, aber in meinen Augen sind Sie nur ein ahnungsloser Welpe, der viel Führung braucht. Nachdem Sie mir aufs Auge gedrückt wurden, ist es meine Aufgabe, Sie an die Leine zu nehmen. Sie tun nichts, sondern stehen einfach nur neben mir, lächeln freundlich und halten ansonsten die Klappe, bis ich Sie auffordere, etwas zu sagen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Vollkommen klar«, erwiderte Bernstein.
Hancock musterte ihn noch einige Sekunden, bevor er sich abwandte. »Wir werden jetzt mal das Museum genauer in Augenschein nehmen. Mal sehen, was wir dort finden.«
Das Bibel-Museum öffnete zwar generell erst am späten Vormittag, aber als Hancock energisch an die Tür hämmerte, öffnete sich diese nach kurzer Zeit und eine Frau von vielleicht sechzig Jahren steckte den Kopf heraus.
»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich.
»Guten Morgen«, antwortete der Agent und zog seinen Dienstausweis hervor. »Mein Name ist Special-Agent Pete Hancock, das hier ist Special-Agent Bernstein. Wir haben einige Fragen an Sie.«
»Wir öffnen leider erst um zehn«, erklärte die Dame freundlich. »Mitglieder und Gruppen bekommen bereits ab neun Uhr Zutritt.«
»Wir sind nicht hier, um Ihre Exponate zu betrachten«, erklärte der ältere Agent. »Wir ermitteln bezüglich des Mordes an einem jungen Mann, der gleich hier um die Ecke ums Leben gekommen ist. Haben Sie das nicht mitbekommen?«
Die Frau sah sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck an. »Ich habe mich heute früh, als ich ankam, schon gefragt, was die Polizei hier tut. Ein Mord, sagen Sie? Was ist denn passiert?«
»Das wollen wir ja herausfinden. Verfügt Ihr Haus über Überwachungskameras?«
»Ja. Leider ist das heutzutage nötig.«
»Wir müssen uns die Aufnahmen der vergangenen vierundzwanzig Stunden ansehen.«
Die Frau schien zu überlegen. Dabei bewegte sie ihren Kopf leicht hin und her wie ein Huhn auf der Suche nach Nahrung.
Dies gab Bernstein die Zeit, sie genauer zu betrachten. Sie trug ein langes, geblümtes Kleid, das bis zum Kehlkopf zugeknöpft war und ihr bis zu den Knöcheln reichte. Die grauen Haare waren straff zurückgebunden und mündeten in einem Dutt.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie schließlich. »Ist das wirklich nötig?«
»Nur, wenn Sie uns helfen möchten, den Täter ausfindig zu machen und seiner gerechten Strafe zuzuführen«, erwiderte der ältere Agent sarkastisch. »Wenn Sie aber lieber die Hände in den Schoß legen und es Gott überlassen wollen …«
»Agent Hancock, ich arbeite zwar für das Bibel-Museum, und ich glaube aus tiefstem Herzen an Gottes Gerechtigkeit, aber ich bin nicht weltfremd«, antwortete die Frau. »Schon im Buch der Römer steht geschrieben: Alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz verurteilt werden. Ich habe gefragt, ob es nötig sei, weil es nicht ganz einfach ist, an die Aufnahmen unserer Überwachungskameras zu gelangen. Sie müssen wissen, dass diese nicht hier gelagert werden, sondern auf einem Server bei unserem Dienstleister gespeichert werden.«
»Wo befindet sich dieser Dienstleister?«, fragte Hancock ungeduldig.
»Drüben in Arlington. Ungefähr zwanzig Minuten von hier, wenn Sie gut durchkommen. Wenn Sie möchten, rufe ich dort an und kündige Ihr Kommen an. Wissen Sie, man kann dort aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen nicht einfach so reinspazieren.«
»Dann tun Sie das bitte«, antwortete der ältere Agent. »Wie lautet die Adresse?«
»Kennen Sie das Ballston Quarter?«
»Ja«, schaltete sich Bernstein ein und erntete dafür einen bösen Seitenblick seines Partners.
»In einem Nebengebäude befindet sich die Firma, die das für uns handhabt«, erklärte die Frau. »Die Firma heißt US Surveillance Inc.«
»Vielen Dank«, sagte Bernstein.
Hancock bedankte sich ebenfalls und trat dann mit seinem Partner zurück auf die Straße.
»Was sollte das gerade?«, fragte der jüngere Agent, als sie in Hancocks Wagen, einen alten und nicht gut gepflegten Ford, eingestiegen waren und sich in den Verkehr einfädelten.
»Was meinen Sie genau?«
»Die Art, wie Sie die Frau behandelt und sich über ihren Glauben lustig gemacht haben. Sie war doch bereit, uns zu helfen.«
»Es geht Sie zwar nichts an, aber ich erkläre es Ihnen trotzdem, weil Sie ja jetzt mein Partner sind. Mir geht dieses christliche Gehabe auf den Keks. Ging es schon immer. Sie hat so getan, als würde sie uns einen Gefallen tun.«
»Hat sie doch auch. Sie hätte auch stur sein und ein offizielles Schriftstück verlangen können.«
Hancock zuckte mit den Schultern. »Scheiß drauf. Wir haben die Adresse. Wissen Sie wirklich, wie man dorthin gelangt?«
»Ja«, bestätigte Bernstein. »Als Jugendlicher bin ich oft mit meinen Freunden dort gewesen.«
»Das ist mir egal«, gab Hancock zurück. »Sagen Sie mir einfach, wo ich hinfahren muss.«
Der ältere Agent steuerte den Wagen von der Fourth Street auf die Independence Avenue, die sie am Smithsonian National Air and Space Museum vorbeiführte. Dabei passierten sie auch einige Denkmäler, unter anderem das Washington Monument, einen hundertneunundsechzig Meter hohen Turm in Form eines Obelisken, welcher zu Ehren des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten errichtet worden war, sowie das Lincoln Memorial, welches mit seiner überlebensgroßen Statue des berühmten Staatsmannes Abraham Lincoln einer der Touristenmagnete der amerikanischen Hauptstadt war. Über die Interstate 66, die sie über den Potomac River und in den Bundesstaat Virginia brachte, erreichten sie schon nach wenigen Minuten das Ballston Quarter. Dabei handelte es sich um eine Shopping Mall, wie Bernstein seinem Partner während der Fahrt erklärte. Dieser schien aber nicht zuzuhören, sondern blickte starr auf die Straße und ließ die bebaute Landschaft an sich vorüberziehen.
Schließlich lenkte Hancock den Wagen in eine Parklücke und schickte sich an, auszusteigen.
Bernstein beugte sich vor und öffnete das Handschuhfach.
»Was machen Sie da?«, wollte der ältere Agent argwöhnisch wissen.
»Ich suche nach Kleingeld für die Parkuhr.«
»Wir sind Federal Agents, schon vergessen?«
»Natürlich nicht, aber auch wir müssen uns an die Regeln halten.«
»Wenn Sie meinen …«, antwortete der Ältere. »Jedenfalls werden Sie da drin kein Kleingeld finden.« Außerhalb des Autos zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete die Fassade der Shopping Mall, wo sich der Server-Anbieter befinden sollte. Während ein Teil des Gebäudes aus rotem Klinkerstein errichtet worden war und eher altmodisch wirkte, reckten sich drumherum hohe Türme aus Glas in den Himmel. Die Sonne schien hell an diesem Juni-Tag, und die Strahlen wurden von den Fensterscheiben gespiegelt und auf die Straße geworfen. Der ältere Agent griff in seine Jacketttasche und zog seine Sonnenbrille hervor. Dann ging er ein wenig auf dem Bürgersteig auf und ab, auf der Suche nach einem Firmenschild oder Ähnlichem, das ihm verraten würde, wo sich diese US Surveillance Inc. befand.
»Hier«, sagte er schließlich und zeigte auf einen Nebeneingang, an dem in winzigen, mit Maschine geschriebenen Buchstaben der Firmenname zu lesen war.
Als sein Partner nicht antwortete, drehte er sich suchend um. Bernstein stand vor einem Parkautomaten und war gerade damit beschäftigt, ein Geldstück nach dem anderen in den kleinen Geldschlitz einzuwerfen.
»Sind Sie bald fertig, oder wollen Sie sich von jeder Münze einzeln verabschieden?«, kommentierte Hancock das Geschehen.
»Ich möchte nur sichergehen, dass …«
Mit einer unwirschen Handbewegung gab der ältere Agent seinem jungen Partner zu verstehen, dass dieser den Mund halten sollte. Dann ging er zum Wagen, öffnete die Tür und legte einen augenscheinlich zu oft gefalteten Zettel auf das Armaturenbrett.
»Fertig«, sagte er.
Bernstein betrachtete das Blatt Papier und schüttelte den Kopf. Auf dem Zettel war in krakeliger Handschrift notiert, dass es sich hierbei um ein Polizeifahrzeug handelte und aus Ermittlungsgründen kein Strafzettel ausgestellt werden durfte.
»Zusehen und lernen«, antwortete Hancock auf die unausgesprochene Frage und ging zurück zur Eingangstür der US Surveillance Inc.
Da er keine Klingel fand, klopfte er versuchsweise an die Metalltür und war überrascht, wie dumpf das Echo klang. Anscheinend war die Tür dicker, als sie aussah. Er ballte die Hand zur Faust und hämmerte mehrfach gegen die Pforte, in der Hoffnung, von drinnen gehört zu werden. Plötzlich erwachte auf Augenhöhe ein Ausschnitt der Tür zum Leben und offenbarte einen bis dahin unsichtbaren, kleinen Bildschirm. Darauf erschien eine computergenerierte Figur, die an einen Menschen erinnern sollte, für den Agenten aber eher wie eine Comicfigur aussah.
»Name und Ausweis bitte«, verlangte eine angenehm modulierte männliche Stimme, die garantiert genauso unecht war wie die Figur. So eine schöne Stimme hat niemand, dachte Hancock.
Die beiden Agents zogen gleichzeitig ihre Ausweise hervor.
»Special-Agents Hancock und Bernstein. Wir kommen gerade vom Bibel-Museum. Uns wurde gesagt, dass wir bereits erwartet werden.«
»Einen Augenblick bitte.«
Der Bildschirm wurde dunkel und nahm wieder das Stahlgrau der Tür an.
Nach wenigen Augenblicken hörten sie ein leises Klacken, dicht gefolgt von einem Geräusch, das sich anhörte, als würde ein Schlüssel im Schloss gedreht werden. Die Tür schwang daraufhin leise nach innen auf und gab den Weg in einen gedämpft, aber immer noch ausreichend ausgeleuchteten Gang frei. Die beiden FBI-Agenten traten ein und waren überrascht über die wohltemperierte und frisch duftende Luft. Zumindest Hancock hatte erwartet, dass es eher muffig riechen würde, und Bernstein musste zugeben, dass er ebenfalls nicht mit so einer guten Sauerstoffzufuhr gerechnet hatte. In seiner Jugend hatte er ein Praktikum bei einer Software-Firma gemacht, und er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie muffig und abgestanden die Luft in den Räumlichkeiten generell und in den Server-Räumen im Besonderen gerochen hatte. Von einem über ihnen in die Decke eingelassenen Lautsprecher erklang jetzt wieder die modulierte Stimme.
»Bitte warten Sie hier, Sie werden gleich abgeholt.«
Hancock zuckte mit den Schultern und setzte einen missmutigen Gesichtsausdruck auf. Er wartete nur ungern auf etwas oder jemanden, vor allem nicht, wenn es dabei um Ermittlungen ging.
Nur eine Minute später kam ihnen ein junger Mann mit schulterlangen Haaren entgegen. Sein Lächeln war so breit, dass ihm wahrscheinlich bald der Unterkiefer herunterfallen würde, dachte der ältere Agent und stellte sich die Szene in seinem Geiste vor.
»Guten Tag, Special-Agents Hancock und Bernstein«, begrüßte der junge Mann die beiden Beamten und streckte seine Hand zum Gruß aus. »Willkommen bei US Surveillance. Es freut mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Ich heiße Tim Wilson und bin der Leiter der Datensicherheitsabteilung.«
Die Agents ergriffen nacheinander die angebotene Hand und schüttelten sie, wobei der Griff des älteren Agenten so kräftig war, dass Wilson kurz das Gesicht zusammenkniff. Hancock registrierte dies mit Befriedigung.
»Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden«, riss er das Gespräch an sich. »Wir sind hier, weil wir in einem Mordfall ermitteln. Gestern Nacht ist es in der Nähe des Bibel-Museums an der Virginia Avenue zum gewaltsamen Tod eines Menschen gekommen. Wir möchten daher die Videoaufzeichnungen sehen.«
»Sehr gerne«, erwiderte der Angestellte. »Folgen Sie mir bitte.«
Er drehte sich um und ging beinahe schlendernd den Gang entlang, von dem in regelmäßigen Abständen andere Gänge abzweigten. Vermutlich führten diese zu den Büros, dachte Hancock. Er sah sich aufmerksam um und wäre fast in den Sicherheitsleiter hineingerannt. Dieser schien es nicht bemerkt zu haben, als er sich wieder an die beiden Agenten wandte.
»Um die Aufzeichnungen sehen zu können, müssen wir ins Untergeschoss« erklärte Wilson. »Dort stehen die Terminals, die für die Kunden vorgesehen sind. Sie müssen wissen, dass wir hier sehr viel Wert auf Datenschutz legen und daher nur bestimmte Computer verfügbar sind.«
»Sparen Sie sich bitte die Werbeveranstaltung«, grätschte Hancock dazwischen. »Zeigen Sie uns einfach, wo wir hinmüssen.«
»So einfach ist es bedauerlicherweise nicht. Zuerst müssen wir Ihre Personalien aufnehmen und Ihnen einen Besucherausweis ausstellen. Danach begleitet Sie einer meiner Mitarbeiter zu den Terminals.«
»Wie lange wird das denn dauern?«, fragte der ältere Agent und warf ungeduldig einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Nicht lange«, beschwichtigte ihn Wilson. »Aber wie gesagt, wir legen hier sehr viel Wert auf …«
»Ich weiß, Datenschutz. Bringen wir es hinter uns.«
Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war der Datensicherheitsleiter so eine Schroffheit nicht gewohnt, aber er hielt den Mund und führte die beiden FBI-Agenten zum Empfangsbereich.
»So eine Show habe ich ja noch nie erlebt«, murrte Hancock.
»Kommen Sie schon, es ist nur eine kleine Formalität«, versuchte Bernstein, positiv auf seinen Kollegen einzuwirken.
Dieser schnaufte als Antwort nur vernehmlich.
Am Empfangstresen zeigten Hancock und Bernstein erneut ihre Ausweise vor und erhielten nach einer kurzen Einweisung ihre Besucherpässe, die sie sich artig ans Revers klemmten.
»Vielen Dank«, sagte Wilson. »Mein Kollege Jamal Madan wird sich um alles Weitere kümmern. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Auch Madan, der während der Prozedur zu ihnen getreten war, trug ein so breites Lächeln auf dem Gesicht, dass sich der ältere Agent unwillkürlich fragte, ob es hier eine Einstellungsvoraussetzung war, wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen. Dann hätte er garantiert keinen Job hier bekommen, denn Hancock lächelte grundsätzlich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Der Techniker führte die Beamten wieder ein Stück zurück bis zu einer Wand, an der sich ein kleiner Knopf befand. Er presste seinen rechten Daumen auf eine rechteckige und etwa zehn mal fünf Zentimeter große Fläche und wartete auf ein helles Ping-Signal, wodurch sich in der Wand ein Spalt öffnete, der rasch größer wurde und einen herabführenden Treppengang freigab.
»Hier entlang bitte«, sagte Madan und machte eine einladende Handbewegung.
»Ziemlich ausgeklügelt«, kommentierte Bernstein bewundernd, wofür er sich einen bösen Blick seines Kollegen einfing.
Madan ging sofort auf das Lob ein und lächelte noch breiter. »Unser Gründer wollte bewusst gegen das muffige Image von IT-Firmen angehen, darum hat er sich dafür entschieden, Eleganz und Nutzen in Einklang zu bringen.«
»Schön für Sie«, sagte Hancock entnervt. »Können wir jetzt endlich zum Wesentlichen kommen?«
»Selbstverständlich. Folgen Sie mir bitte.«
Der Techniker ging die mit indirektem Licht ausgeleuchtete Treppe hinab, gefolgt von Hancock und Bernstein. Unten angekommen, wiederholte er die Prozedur mit dem Öffnungsmechanismus und betrat anschließend einen in angenehme Farben getauchten Raum.
»Setzen Sie sich bitte, ich hole die Computer für Sie«, erklärte der Mitarbeiter.
Die beiden Agenten ließen sich auf den weichen Ledersesseln nieder.
»Darf man hier rauchen?«, fragte Hancock.
»Leider nicht«, erwiderte Madan, ohne sein Lächeln auch nur ansatzweise einzuschränken. »Wir haben hier äußerst empfindliche Geräte, daher sind die Rauchmelder sehr scharf eingestellt.«
»Schade.«
Madan beließ es dabei und ging in den hinteren Bereich des Zimmers, von wo er nach kurzer Zeit mit zwei Laptops unter dem Arm zurückkehrte.
»Die Daten, die Sie möchten, sind bereits auf diese Geräte überspielt worden. Sie können sie sich sofort ansehen.«
»Woher wissen Sie denn, welche Daten wir brauchen?«, fragte der ältere Agent misstrauisch.
Der Techniker grinste noch breiter. »Tim hat mich bereits instruiert.«
»Wann denn?«
»Während er Sie begrüßt und zum Empfang gebracht hat. Wir sind hier mit modernster Technik ausgerüstet. Als Sie mit ihm gesprochen haben, wurde alles in Echtzeit an meinen PDA übertragen. Wir wollen hier so reibungslos wie möglich arbeiten.«
»Faszinierend«, sagte Bernstein.
Hancock warf seinem Kollegen einen weiteren finsteren Blick zu, bevor er sich dem ihm zur Verfügung gestellten Gerät zuwandte.
Der einzige Dateiordner, den er finden konnte, befand sich in der Mitte des Bildschirms, also mussten dies die Daten sein, die er benötigte. Allerdings fragte er sich, wie er den Ordner öffnen sollte, denn an seinem Laptop befand sich keine Maus und auch ein Touchpad suchte er vergebens. Madan schien seine Verwirrung bemerkt zu haben, denn er beugte sich leicht zu dem Beamten hinüber und sagte: »Das ist ein Touchscreen«.
Hancock streckte den Zeigefinger aus und tippte versuchsweise auf den Ordner. Dieser verschwand sofort und machte Platz für eine ganze Ladung von Dateien, die fein säuberlich und chronologisch aufgelistet waren.
»Wollen wir mal sehen«, sagte der Agent zu sich selbst und drückte auf eine Videodatei, die den Titel Museum of the Bible_06/05/21_10pm trug. Dies teilte ihm mit, dass es sich dabei um eine Aufnahme vom Bibel-Museum um zehn Uhr abends am fünften Juni handelte, also gestern nach Einbruch der Nacht. Hancock war erfahren genug, dass er wusste, dass Morde meist um diese Zeit oder noch später geschahen. Selten kam es früher zu solchen Taten, denn auch wenn die Sonne bereits untergegangen war, befanden sich bis etwa zweiundzwanzig Uhr noch oft Leute auf den Straßen. Die Datei öffnete sich nun und zeigte die Gasse, in der das Opfer gefunden worden war. Die Ausleuchtung war nur schwach und ließ leider nicht viel erkennen, aber das musste sie auch nicht, denn der Beamte sah auch so, dass sich dort noch keine Leiche befand. Er ließ die Aufnahme weiterlaufen und warf verstohlen einen Blick auf seinen Kollegen. Dieser hatte sich über seinen eigenen Laptop gebeugt und betrachtete die ihm gezeigten Szenen konzentriert.
»Haben Sie schon etwas gefunden?«, wollte er von Bernstein wissen.
»Leider nicht«, erklärte dieser. »Sie?«
»Nope.«
Damit wandte er sich wieder seinem Computer zu und ließ die Aufnahme weiterlaufen. Wenn das so weiterging, würden sie noch Stunden hier verbringen müssen, dachte Hancock missmutig.
Erneut schien Madan seine Gedanken gelesen zu haben. »Wenn Sie nach etwas Bestimmtem suchen, würde ich vorschlagen, dass Sie die Abspielgeschwindigkeit verdreifachen. Dann können Sie immer noch genau sehen, was passiert, aber Sie sparen sich einiges an Zeit.«
»Das wollte ich gerade tun«, log Hancock und suchte den Bildschirm nach der genannten Funktion ab.
»Hier«, mischte sich Bernstein ein und zeigte auf die untere linke Ecke von Hancocks Laptop. Der ältere Agent drückte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm und war erfreut, dass alles so funktionierte, wie er es wollte. Als die Aufzeichnung endete, ohne etwas Interessantes zu offenbaren, schloss er die Datei und betrachtete die Liste. Er öffnete die nächste Datei und folgte der gleichen Prozedur. Bei der dritten Videoaufzeichnung, die den Titel Museum of the Bible_06/05/21_12am trug, wurde er schließlich fündig. Nicht lange nach Mitternacht regte sich plötzlich etwas am Eingang der Gasse. Er schaltete die Wiedergabe wieder auf normale Geschwindigkeit und beobachtete das Geschehen.
Die Uhr an der Mittelkonsole seines Pick-ups zeigte 00:15, als er in der Gasse anhielt. Er drehte den Zündschlüssel und schaltete den Motor aus, dann streifte er sich seine ledernen Handschuhe über, zog die Kapuze über den Kopf und öffnete schließlich die Fahrertür. Als er ausstieg, platschte es leise unter ihm. Der Regen, der vor wenigen Minuten aufgehört hatte, hatte eine große Pfütze genau unter ihm gebildet. Da er schwere Arbeitsschuhe trug, konnte ihm die Feuchtigkeit allerdings nichts anhaben. Er blickte sich aufmerksam um, sah aber niemanden. Er ging um den Wagen herum und öffnete die Klappe der Ladefläche, auf der sich unter einer Plane etwas befand, was er dringend loswerden wollte. Mit Schwung zog er es zu sich heran und ließ es dann auf den Asphalt fallen. Das Geräusch, das es beim Aufprall verursachte, hörte sich an, als würde ein Stück Fleisch von der Küchenanrichte auf den gefliesten Boden klatschen. Im Endeffekt handelte es sich ja auch um nichts anderes, zumindest nicht für ihn. Er zog die Plane in eine kleine Nische rechts von sich, schlug sie dann beiseite und schälte den verdrehten Körper heraus. Natürlich würde er die Verpackung wieder mitnehmen, denn wenn er sie gewaschen hatte, würde er sie weiterhin gut gebrauchen können. Er warf noch einen letzten Blick auf den toten Körper vor sich, schnaufte verächtlich und stieg wieder in seinen Wagen. Dann setzte er zurück und fuhr in die Nacht hinaus.
Danach änderte sich nichts mehr an dem Bild. Hancock ließ die Datei dennoch weiter vorlaufen, für den Fall, dass der Täter noch einmal zurückkäme oder sich sonst etwas ereignete. Doch leider geschah nichts mehr. Als die Datei geendet hatte, warf er einen Blick auf seinen Partner.
»Hey, Bernstein, ich habe unseren Mann gefunden«, erklärte er.
Der jüngere Beamte blickte auf. »Haben Sie etwas erkennen können, was uns weiterhilft?«
»Nur wenig«, gab Hancock zu. »Aber wir wissen jetzt wenigstens, dass er einen Pick-up Truck fährt, oder zumindest gestern Nacht einen fuhr. Er war schlau genug, eine Kapuze zu tragen, damit wir nicht erkennen können, wie er aussieht. Sein Truck ist vorwärts in die Seitenstraße gefahren, das heißt, dass wir das Nummernschild ebenfalls nicht sehen können. Wir wissen lediglich die Marke des Fahrzeugs.«
»Aber das ist doch schon etwas«, sagte Bernstein in dem Versuch, optimistisch zu klingen. »Wir können die Datenbank abfragen, wie viele solche Trucks es in Washington gibt und anschließend deren Halter aufsuchen.«
»Sie werden garantiert ganz viel Freude dabei haben, die Tausenden Besitzer abzuklappern«, gab der ältere Agent zurück. »Wenn Sie sich die Bänder richtig angeschaut hätten, hätten Sie bestimmt bemerkt, dass die Aufnahmen in Schwarz-Weiß sind. Wir können also nur raten, welche Farbe der Pick-up hat. Nein, das hilft uns überhaupt nicht weiter.«
»Aber so viele Trucks kann es hier doch nicht geben«, wandte Bernstein ein.
Hancock schüttelte über so viel Naivität nur den Kopf. »Wenn Sie schon so lange dabei wären wie ich, dann wüssten Sie, dass es in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom gab. Jeder will einen Pick-up fahren, um seinen kleinen Pimmel damit zu kompensieren.«
»Lassen Sie uns bitte trotzdem die Datenbank anzapfen. Vielleicht finden wir ja etwas, was uns später weiterhilft.«
»Natürlich werden wir das«, meinte der ältere Agent. »Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon.«
»Wollen wir uns noch mehr ansehen?«
»Ich glaube nicht, dass noch viel zu sehen ist, aber wenn Sie nichts anderes vorhaben, fühlen Sie sich frei. Ich gehe jetzt erst einmal eine qualmen.«
Mit diesen Worten erhob sich Hancock.
Madan, der sich bis dahin ruhig verhalten hatte, sprang sofort auf. »Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er pflichtbewusst.
»Für den Anfang reicht es, wenn Sie mir sagen, wo ich hier eine rauchen kann.«
»Wir haben eine Terrasse mit sehr schöner Aussicht. Wenn Sie kurz warten, rufe ich einen Kollegen, der Sie hinbringt.«
»Meinetwegen«, beschied Hancock.
Zwei Minuten später trat eine schlanke und mit einem knapp geschnittenen Kostüm bekleidete Frau zu ihnen.
»Agent Hancock, mein Name ist Sharon Wilco«, stellte sie sich vor. »Folgen Sie mir bitte.«
»Sehr gern«, erwiderte der Beamte.
Während er hinter ihr die Treppe hinaufging und ihr dann weiter durch das Gebäude folgte, bewunderte er ihre Figur. Sie war nicht älter als Mitte Zwanzig, und ihr langes, blondes Haar fiel geschmeidig über ihre Schultern und ihren Rücken. Er musste zugeben, dass der Ausblick wirklich sehr schön war.
Das Gebäude war nicht besonders hoch, aber das galt für die meisten Bauten in dieser Gegend, daher hatte er einen guten Blick über die gesamte Stadt. In der Ferne meinte er sogar den Arlington Nationalfriedhof erkennen zu können. Hier wurden seit über einhundertfünfzig Jahren Militärangehörige der USA beerdigt, und auch zwei Präsidenten waren hier begraben. Nicht, dass dieser Umstand Hancock dazu verleitet hätte, den Friedhof zu besuchen. Er hielt von der Politik im Allgemeinen nicht viel, und auch das Soldatentum hatte es ihm nie wirklich angetan.
Er zog genüsslich an seiner Zigarette, während er sich überlegte, was sie wirklich an Informationen hatten. Es war leider nicht viel. Was er seinem Kollegen gesagt hatte, war die Wahrheit gewesen. Sie mussten hoffen, dass die Forensik etwas herausfand. Am wichtigsten war es, zu erfahren, wie das Opfer hieß und woher es stammte. Dann könnte er die Verwandten des Toten ausfindig machen und diese befragen, was ihm vielleicht weitere Spuren bescheren würde. Bisher wusste er nur eines, aber das mit Sicherheit: Jemand, der seinem Opfer solche Wunden zufügte und ihm obendrein noch Gliedmaßen entfernte, war nicht einfach nur ein Krimineller. Derjenige, der für die Tat verantwortlich war, befand sich erst am Anfang. Unwillkürlich erschauderte Hancock bei dem Gedanken daran, dass es bald noch mehr Morde geben würde. Er zweifelte keinen Augenblick daran, während er den Rauch inhalierte und langsam durch die Nase ausstieß.
»Hey«, sagte Bernstein, der soeben hinter ihm auf die Terrasse getreten war.
»Was ist los?«, wollte Hancock wissen.
»Ich habe mir noch mehrere Aufnahmen angesehen, aber es scheint nichts Interessantes mehr zu finden zu sein.«
»Das habe ich mir fast gedacht. Wir werden aber dennoch alle Aufnahmen konfiszieren und sie in der Zentrale auswerten lassen.«
»Glauben Sie nicht, dass dieser Wilson etwas dagegen hat, wenn wir die Videos mitnehmen?«
»Es ist mir ehrlich gesagt scheißegal, ob er ein Problem damit hat«, antwortete der ältere Agent unwirsch. »Wir sind Federal Agents, und wenn wir sagen, dass wir diese Bänder wollen, dann kriegen wir sie auch. Wenn dieser Penner protestiert, kriegt er die Wir sorgen uns um Datenschutz und wollen nicht, dass die Hinterbliebenen durch irgendjemand anderen als uns davon erfahren-Keule um die Ohren gehauen. Kümmern Sie sich darum.«
»Alles klar«, lenkte Bernstein ein. »Noch etwas?«
»Ich möchte, dass Sie die Forensik darüber informieren, dass wir in einer halben Stunde da sind. Bis dahin will ich, dass Ergebnisse vorliegen.«
»Wird gemacht.«
Da Hancock nichts mehr sagte, tat Bernstein wie befohlen und ging in die gegenüberliegende Ecke, um zu telefonieren, bevor er sich wieder nach unten begab, um Wilson über die Entscheidung in Kenntnis zu setzen.
Hancock wandte sich nun der jungen Frau zu. »Miss Wilco, darf ich Sie etwas fragen?«
»Selbstverständlich«, antwortete sie mit einem sanften Lächeln.
Anscheinend waren die Frauen hier instruiert, nicht so übertrieben breit zu grinsen wie die Männer.
»Haben Sie einen Freund?«
»Nein, ich habe eine Freundin.«
»Oh«, meinte der Agent. »Nichts für ungut.«
»Keine Ursache«, sagte sie und winkte ab. »Mister Hancock?«, fragte sie.
»Ja?«
»Haben Sie eine Freundin?«
»Nein. Ich hatte eine Frau, aber die wollte mich irgendwann nicht mehr. Vielleicht war ich einfach zu hübsch für sie.«
»Da bin ich mir ganz sicher«, erwiderte sie lächelnd.
Er quittierte ihre Aussage mit einem schiefen Grinsen. Er wusste ganz genau, dass weder sein Körper in Form war noch, dass sein Gesicht hübsch war, und dass seine Frau ihn ganz bestimmt nicht verlassen hatte, weil sie neidisch auf ihn gewesen war. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich mit den Worten Leck mich am Arsch, du hässliches Schwein von ihm verabschiedet. Das Letzte, was er von ihr gehört hatte, war, dass sie sich in Kalifornien niedergelassen und einen reichen Schönheitschirurgen geheiratet hatte. Wenigstens hatte er sich dadurch die Alimente gespart.
»Ich bin dann mal weg. Sie müssen mich nicht hinausbegleiten, ich finde den Weg schon allein«, sagte er und wandte sich in Richtung der Treppe.
»Es ist mir eine Freude, Sie zu begleiten«, sagte Wilco und trat hinter ihn. »Außerdem ist uns der Datenschutz …«
»… sehr wichtig«, vervollständigte Hancock seufzend den Satz.
Als sie wieder an ihrem Wagen angelangt waren, warf Hancock einen Blick auf die Windschutzscheibe. Unter einem Scheibenwischer war fein säuberlich ein amtlich aussehendes Papier eingeklemmt worden, das in einer Plastikhülle steckte, um vor den Witterungseinflüssen geschützt zu sein. Mit einer Handbewegung riss er den Zettel ab, schaute kurz darauf und ließ ihn dann mit einem abschätzigen Grunzen auf den Boden fallen.
»Was machen Sie denn da?«, wollte Bernstein entsetzt wissen.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich den Wisch bezahle«, erwiderte Hancock. »Da hat irgendeine übereifrige Streife wohl gemeint, sich profilieren zu müssen. Kollegenschwein.«
»Vielleicht wollte dieses Kollegenschwein ja einfach nur seinen Job machen«, wandte der jüngere Agent ein.
»Soll er mir doch die Eier schaukeln. Ich fahre jetzt.«
Während sie sich durch den Verkehr bewegten, breitete sich Schweigen im Fahrzeug aus. Hancock trommelte im Takt einer Musik, die nur er hören konnte, mit den Daumen auf das Lenkrad, während Bernstein aus dem Fenster blickte und die vorüberziehenden Häuserfassaden betrachtete.
»Hier habe ich früher oft mit meinen Freunden abgehangen«, brach er das Schweigen, als sie an einem Sportplatz vorbeifuhren.
Als Hancock nichts darauf erwiderte, fuhr der jüngere Agent fort: »Es waren schöne Jahre. Wir hatten viel Spaß, und in der Zeit habe ich mir auch meine Hörner abgestoßen.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte Hancock mürrisch.
»Weil ich denke, dass Sie wissen sollten, wer ich bin. Schließlich bin ich nun Ihr Partner.«
»Falls Sie mich vorhin nicht richtig verstanden haben, will ich es gern noch einmal klarstellen: Penske hat Sie mir aufs Auge gedrückt. Warum, weiß ich nicht, und es interessiert mich noch viel weniger. Sie sind vielleicht offiziell mein Partner, aber in meinen Augen sind Sie einfach nur ein Grünschnabel, der mich davon abhält, klar zu denken und effektiv zu arbeiten. Ich habe es Ihnen vorhin schon gesagt, und ich sage es Ihnen jetzt noch mal, für den Fall, dass Sie es vergessen haben … Sie halten die Klappe und schauen zu, wie ich arbeite. Vielleicht, ganz vielleicht, schaffen Sie es ja, sich etwas bei mir abzugucken. Was Sie auf der Akademie gelernt haben, nützt Ihnen nämlich einen Scheißdreck auf der Straße, und wenn Sie tatsächlich cleverer sind, als Sie aussehen, raffen Sie das bald von selbst.«
Bernstein überlegte, ob er eine Diskussion über den Sinn und Zweck der FBI-Akademie mit Hancock anfangen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Hancock hatte seine Meinung kundgetan und war offenbar nicht daran interessiert, sich davon abbringen zu lassen. Deshalb schnitt er stattdessen ein anderes Thema an.
»Die Sache mit Ihrem vorherigen Partner tut mir leid«, sagte er und wurde im nächsten Moment hart in seinen Gurt geworfen, als Hancock so abrupt bremste, dass die Reifen quietschten.
Die Fahrzeuge hinter ihnen schafften es gerade noch, rechtzeitig stehen zu bleiben. Das darauffolgende Hupkonzert hätte jedem Orchester zur Ehre gereicht.
»Das geht Sie verdammt noch mal nichts an!«, brüllte Hancock unvermittelt, nur um im nächsten Moment ganz leise und abgehackt zu sprechen. »Sie kannten ihn nicht … Sie haben keine Ahnung, wie er war und was ihm passiert ist … ich will nicht über ihn reden, und erst recht nicht mit Ihnen. Haben wir uns da verstanden?«
»In Ordnung, ist ja gut«, antwortete Bernstein beschwichtigend und hob entwaffnend die Hände. »Ich dachte nur …«
»Maul halten«, forderte ihn der ältere Agent wütend auf und fuhr wieder weiter.
Das nachfolgende Schweigen hielt an, bis sie bei der städtischen Forensik angekommen waren.
Das Gebäude zählte zu den jüngeren Bauten der Stadt und war an der East Street Southwest erbaut worden, welche wiederum nahe der Interstate 395 lag. Das FBI-Hauptquartier war nur rund zwei Kilometer entfernt. Agent Hancock parkte den Wagen auf einem für die Federal Agents reservierten Parkplatz direkt vor dem Gebäude und stieg aus. Er blickte an der Fassade hoch und stellte erneut fest, dass ihm das Äußere des Gebäudes nie wirklich gefallen hatte. Der größte Teil bestand aus weißem, glatt geschliffenem Gestein, allerdings hatte sich der Architekt – oder derjenige, der den Bau später zu modernisieren gemeint hatte – gedacht, dass es wohl gut sei, den der East Street zugewandten Teil mit einer Glasfront zu versehen. Dabei hatte derjenige aber anscheinend nicht bedacht, dass sich die Innenräume gerade bei starkem Sonnenschein extrem aufheizen würden. Die Folge war, dass eine Klimaanlage aufwendig hatte nachgerüstet werden müssen, um die Mitarbeiter zumindest ansatzweise davor zu bewahren, den Hitzetod zu sterben.
Glücklicherweise mussten sie sich heute nicht in den noch immer stickigen Büros aufhalten, sondern konnten direkt in die Räumlichkeiten im Untergeschoss gehen, wo die eigentliche Arbeit stattfand. Dort war es angenehm kühl und die Luft war getränkt von Formaldehyd, um die zahlreichen dort aufbewahrten Leichen vor zu schnellem Verfall zu schützen. Hancock, der sich auskannte und wusste, wo sich die Mordopfer befanden, stapfte durch die Gänge, dicht gefolgt von Bernstein. Der jüngere Agent war im Gegensatz zu seinem Partner noch nie zuvor hier gewesen. Während der Ausbildung in der Akademie war er zwar immer wieder auf einer so genannten Body Farm gewesen und hatte unter Anleitung der Ausbilder Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung untersucht, aber in eine echte Leichenkammer hatte es ihn noch nicht verschlagen.
»Ich hoffe, Ihnen wird nicht schlecht«, sagte Hancock über seine Schulter hinweg.
»Keine Sorge, mein Magen ist hart im Nehmen«, antwortete Bernstein.
»Wenn Sie das sagen …«
Der ältere Agent blieb vor einer Stahltür stehen und drückte auf eine daneben angebrachte Klingel. Kurz darauf schob sich die Tür zur Seite auf.
»Hallo Pete«, sagte der ältere, in einen weißen Kittel gekleidete Mann, der dahinter zum Vorschein kam.
»Helmut«, sagte Hancock und hob zum Gruß kurz die Hand.
»Kommst du wegen unseres neuesten Gastes?«, fragte der Pathologe.
»Na, bestimmt nicht wegen der guten Aussicht«, gab der Agent zurück.
»Dann komm mal rein. Willst du einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
»Und Sie?«, wandte sich der Mann nun an Agent Bernstein.
»Sehr gern«, antwortete dieser.
»Bringen Sie mir einen mit?«, fragte der Mann im weißen Kittel.
Bernstein war sich unsicher, was er darauf antworten sollte. Der Forensiker kicherte. »Nur ein Scherz. Wir dürfen hier unten keinen Kaffee trinken, das könnte die Toten wecken.«
Der jüngere Agent lächelte steif.
»Jetzt kommen Sie schon rein, es wird schon warm hier drin«, sagte Helmut und machte zur Unterstreichung eine einladende Handbewegung nach drinnen.
»Ich will ihn mir ansehen«, schaltete sich Hancock ein, als die drei Männer zu den blank polierten Stahltischen gingen.
»Kein Problem«, antwortete der Forensiker. »Ich bin gerade dabei, ihn auseinanderzunehmen.«
»Sagen Sie, Mister …«, setzte Bernstein an.
»Helmut Schneider. Nennen Sie mich ruhig Helmut.«
»Okay, Helmut. Sagen Sie mal, hatten Sie schon die Möglichkeit, das Opfer zu identifizieren?«
»Wir arbeiten daran. Die Zahnabdrücke sowie eine Genprobe sind schon genommen worden. Beides ist gerade in der Aufbereitung und wird danach in die Datenbank eingespeist. Sollte nur noch wenige Stunden dauern, bis wir wissen, wen wir hier vor uns haben.«
Wie Hancock und Bernstein bekannt war, war in den vergangenen Jahren ein großer Aufwand betrieben worden, um die diversen Datenbanksysteme des Bundes und der Staaten zu vereinheitlichen. Das Projekt lief zwar immer noch, trug aber bereits Früchte.
»Und sonst?«, schaltete sich Hancock wieder ein. »Was hast du an dem Opfer gefunden?«
»Weißt du was, schau ihn dir doch einfach selbst an«, antwortete der Forensiker und führte die beiden Beamten zu einer auf einem langen Metalltisch liegenden Leiche, die von einem weißen Tuch bedeckt war.
Als Schneider das Tuch zurückschlug, stockte Bernstein unwillkürlich der Atem, während Hancock stoisch blieb. Wie der ältere Agent am Morgen bereits gesagt hatte, war der Leichnam mit Bisswunden übersät. Augenscheinlich war keine Körperstelle ausgelassen worden. Manche Abdrücke waren nur oberflächlich, einige andere aber schienen durch die Haut bis zum Muskel hindurchgedrungen zu sein. Das offenliegende Fleisch war durch die Einwirkung von Sauerstoff und den diversesten Bakterien dunkel gefärbt und ließ den Toten wie einen chaotisch Tätowierten aussehen.
»Wer tut denn so etwas?«, fragte der jüngere Agent schockiert, nachdem er den aufsteigenden Brechreiz wieder unter Kontrolle gebracht hatte.
»Gute Frage«, antwortete Hancock und trat an die Leiche heran, um sie näher in Augenschein zu nehmen. »Helmut?«
»Der Mann ist unseren Schätzungen zufolge ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt, er ist einssiebenundsiebzig groß, und wie ihr sehen könnt, äußerst gut trainiert. Ich tippe auf Laufen in Verbindung mit etwas Kraftsport. Wenn man sich die Gesichtszüge, oder was noch davon übrig ist, ansieht, bemerkt man, dass er durchaus gut aussehend ist … war.«
Bernstein trat näher und musterte das ebenfalls von Bisswunden zerstörte Gesicht. »Moment mal … Ich kenne ihn!«
»Wie bitte?«
»Ich kenne diesen Mann. Das ist William Fitzroy junior, der Sohn von Senator William P. Fitzroy.«
»Wer soll das denn bitte schön sein?«, fragte Hancock.
»Sie kennen Senator Fitzroy nicht?«, wollte Bernstein wissen und sah den Mann ungläubig an.
»Nein, sonst würde ich ja wohl kaum fragen.«
»Senator Fitzroy ist einer der einflussreichsten Politiker in Washington und geht im Weißen Haus ein und aus. Er sitzt schon seit mehr als zwanzig Jahren im Senat.«
»Da sind Sie sich ganz sicher?«
»Ja, bin ich. Ich kenne mich ein wenig in der Politik aus und …«
»Das habe ich nicht gemeint«, unterbrach ihn der ältere Agent. »Ich meinte damit, ob Sie sich sicher sind, dass es sich bei der Leiche wirklich um den Sohn des Senators handelt.«
»Ziemlich«, entgegnete Bernstein. »Er sieht ihm jedenfalls sehr ähnlich. Schauen Sie … dieses Muttermal über seiner rechten Augenbraue, und der dunkle Fleck an seinem Kinn.«
»Sieht für mich wie ein Pickel aus«, sagte Hancock und wandte sich an den Forensiker. »Helmut, ich will, dass du das überprüfst. Von diesem Fitzroy wird es ja garantiert Zahnunterlagen geben.«
»Ich kümmere mich sofort darum«, antwortete Schneider und ging zu seinem Schreibtisch hinüber, auf dem sich ein altertümlicher Computer befand.
»Bernstein, wenn das wirklich wahr ist, haben wir eine Riesenscheiße am Hals«, wandte sich der ältere Agent an seinen Kollegen.
»Warum?«
»Weil wir dann nicht nur einem Senator mitteilen müssen, dass sein Sohn ermordet worden ist, sondern weil dann auch ganze Heerscharen von Presseleuten hinter uns her sein werden.«
»Ist das denn so schlimm?«
»Natürlich ist es das«, sagte Hancock unwirsch. »Der Wichser, der diesen jungen Burschen auf dem Gewissen hat, ist schließlich nicht einfach nur ein normaler Irrer, sondern ein komplett Wahnsinniger. Wenn er mitkriegt, dass seine Tat so hohe Wellen schlägt, wird er sich garantiert geschmeichelt, und zugleich herausgefordert fühlen, noch einen oben drauf zu setzen. Solche Typen leben von Aufmerksamkeit, und je mehr, desto besser, und die wird er unweigerlich bekommen, wenn etwas davon an die Presse durchsickert. Lassen Sie uns also direkt etwas vereinbaren: Außer uns Dreien«, er zeigte zuerst auf sich, dann auf den jungen Agenten, und zuletzt auf Schneider, der auf der Tastatur seines Computers herumhackte, »darf niemand etwas davon erfahren.«
»Was ist mit Penske?«
»Okay, die von mir aus auch. Aber erzählen Sie es sonst niemandem. Keinem Kollegen, nicht Ihrer Mutter, nicht mal Ihrem Goldfisch. Wenn ich mitkriege, dass Sie geplaudert haben, reiße ich Ihnen den Arsch so weit auf, dass ein Zug durchfahren kann. Kapiert?«
»Klar und deutlich«, antwortete Bernstein.
»Pete?« Schneider hatte seine Abfrage beendet und trat wieder zu den Agenten.
»Und?«, fragte Hancock den Forensiker.
»Der Junge hat recht. Es ist Fitzroy junior.«
»Fuck.«
Nachdem auch Schneider von Agent Hancock instruiert worden war, kein Wort nach außen dringen zu lassen, verließen die beiden FBI-Agenten das Gebäude. Vor dem Eingang zündete sich Hancock sofort eine Zigarette an und ging dann schweigend zum Wagen. Bernstein folgte ihm und setzte sich auf den Beifahrersitz. Mit quietschenden Reifen fuhr Hancock los und fädelte sich in den regen Verkehr ein.
»Wo fahren wir denn jetzt hin?«, wollte der jüngere Agent wissen.
»Zu Senator Fitzroy.«
»Wissen Sie denn, wo er wohnt?«
»Nö, aber das finde ich gleich heraus«, gab Hancock zurück und nahm das in das Armaturenbrett eingebaute Funkgerät zur Hand. Zwar hätte er auch sein Handy nehmen können, aber aus nostalgischen Gründen benutzte er lieber das altertümliche Gerät. Mit der anderen Hand tippte er eine kurze Nummer ein.
»Vielleicht sollten Sie lieber das Lenkrad im Griff behalten«, meinte der jüngere Agent.
»Habe ich doch«, erwiderte sein Kollege und nickte nach unten.
Er hatte die Knie ein wenig angezogen und damit die Lenkung mehr schlecht als recht fixiert.
Bevor Bernstein etwas sagen konnte, erwachte das Funkgerät zum Leben.
»FBI-Auskunft, was kann ich für Sie tun?«, meldete sich eine weibliche Stimme.
»Pete Hancock«, informierte der Agent die Frau und gab im Anschluss seine Identifikationsnummer durch. »Ich benötige die Anschrift von einem gewissen Senator William P. Fitzroy.«
»Sehr gerne. Einen Moment bitte.«
Der Agent legte die Sprechmuschel in seinen Schoß und fuhr weiter. Er musste nur wenige Sekunden warten.
»Die Adresse lautet: 5632 Potomac Avenue Northwest. Möchten Sie, dass ich Sie durchstelle?«
»Nein, auf Wiederhören.« Der ältere Beamte hängte die Sprechmuschel wieder an das Funkgerät und nahm zur Erleichterung seines Partners das Steuer wieder in die Hände.
»Die Adresse ist drüben in den Palisades«, erklärte Bernstein.
»Sie sind ein ziemlicher Klugscheißer, was?«, fragte Hancock.
»Nein, ich kenne mich nur …«
»Das war eine rhetorische Frage«, gab der andere kund.
Ohne den Blinker zu setzen, bog er an der nächsten Kreuzung ab, von wo aus sie zum gehobenen Stadtteil namens The Palisades gelangen würden.
»Ist dieser Fitzroy junior eigentlich berühmt?«, wollte Hancock wissen, während er den Wagen durch von hochgewachsenen Laubbäumen gesäumte Alleen lenkte.
»Nein, er ist nicht so sehr in der Öffentlichkeit bekannt«, antwortete Bernstein. »Aber er ist im Hintergrund sehr aktiv. Kommt nach seinem Vater.«
»Und was heißt das?«
»Er betreibt viel Lobby-Arbeit. Hat gute Kontakte in die NRA, die National Rifle Association, und wenn man da einmal drin ist und deren Meinung bei jeder sich bietenden Gelegenheit vertritt, hat man deren Unterstützung sicher. Soweit ich weiß, kandidiert Fitzroy junior ebenfalls für den Senat.«
»Kandidierte«, warf der ältere Agent ein.
»Wie bitte?«
»Präteritum. Er ist tot, schon vergessen?«
»Natürlich nicht«, erklärte Bernstein.
»Aber wenn er nicht so in der Öffentlichkeit stand, wie kommt es dann, dass Sie über ihn Bescheid wissen?«
»Wie ich schon sagte, ich interessiere mich für Politik, und besonders für den Nachwuchs. In meiner Jugend habe ich mich ebenfalls politisch engagiert. Allerdings nicht für die NRA«, fügte er nach einem Seitenblick seines Kollegen schnell hinzu. »Sondern mehr für Umweltthemen.«
»Dann sind Sie also einer dieser Ökos. Ist mir aber auch egal. Mir ist nur wichtig, dass wir Fitzroy senior ein wenig über seinen Sohn ausquetschen. Sein Junge ist bestimmt nicht zufällig gestorben. Da steckt noch etwas anderes dahinter. Entweder hat es mit seinem Papa zu tun, oder der Junge hatte Dreck am Stecken. Unser Job ist es, herauszufinden, warum gerade er sterben musste.«
»Das sehe ich ganz genauso.«
»Das freut mich aber«, sagte Hancock ironisch und zeigte dann auf ein Haus vor ihnen. »Wir sind da.«
Er stoppte den Wagen vor einer Villa, welche einige Meter zurückgesetzt von der Straße erbaut worden war. Die Beamten stiegen aus und nahmen die Umgebung genauer in Augenschein. Der ältere Agent stellte sofort fest, dass es hier, was den Verkehr anging, sehr ruhig war. Zahlreiche Vögel saßen unbehelligt in den Bäumen und trällerten ihre Lieder, während in der Ferne der Potomac River rauschte. Obwohl ganz in der Nähe eine Brücke über den Fluss führte, waren die dort fahrenden Autos nicht zu hören. Er wandte sich dem Gebäude zu und nahm die Fassade in Augenschein. Das Haus war aus weiß getünchtem Holz erbaut worden, zweistöckig und verfügte über einen großen Balkon, der den Eingangsbereich überragte. Der Eingang selbst war von einigen Säulen eingerahmt, die ihm fast den Eindruck eines griechischen Tempels verliehen. Der vorgelagerte Garten war nicht allzu groß, aber er bot genug Platz, um ein gemütliches Barbecue mit mindestens zwanzig Gästen abhalten zu können. Umrahmt wurde das Gelände von einer hüfthohen Mauer aus hellgrauem Stein. Hancock ging davon aus, dass hier öfter inoffizielle Veranstaltungen mit Vertretern diverser Lobbys abgehalten wurden. Natürlich waren es, wenn jemand fragte, nur einfache Treffen unter Freunden.
Schließlich hatte jeder Politiker eine blütenreine Weste, dachte der ältere Agent verbittert.
Als er im Kopf grob überschlug, was allein ein Quadratmeter dieses Grundstücks kostete, kam er zu dem Schluss, dass es sein Jahresgehalt garantiert um mindestens das Doppelte übersteigen würde.
»Wollen Sie klingeln, oder soll ich das übernehmen?«, fragte er seinen Partner, während sie die wenigen Steintreppen zum Haus hinaufgingen.
»Ich mache das gerne«, antwortete Bernstein.
»Können Sie vergessen. Ich leite die Ermittlungen und ich rede.«
Am oberen Treppenabsatz angekommen, streckte Hancock seinen Zeigefinger aus und drückte den Klingelknopf tief in die Fassung hinein. Ein melodisches Glockengeläut in Form der amerikanischen Nationalhymne setzte ein, was seine Abneigung gegen die in seinen Augen verlogenen Politiker nur noch mehr vertiefte. Drinnen hörte er nun einen Hund bellen.
Na super, dachte er, jetzt haben wir es auch noch mit einer Töle zu tun.
Als sich die Tür öffnete, sahen sich die Agenten einem schlanken Mann im Alter von gut fünfundsiebzig Jahren gegenüber. Das schlohweiße Haar war leicht lockig, aber so kurz geschnitten, dass es nicht vom Kopf abstand. Eingerahmt wurde das kantige Gesicht von einem ebenso blütenweißen Bart, der sich am Unterkiefer entlang hangelte und so sauber geschnitten war, dass man den Eindruck bekommen konnte, er sei gezeichnet worden. Was Hancock allerdings wirklich beeindruckte, war der wache Blick aus den hellblauen Augen des Senators. Er fühlte sich, als würde er in den wenigen Millisekunden, die sein Gegenüber ihn musterte, vollständig durchleuchtet, abgeschätzt und für unwürdig befunden werden. Plötzlich fühlte er sich unwohl in seiner zugegebenermaßen unordentlichen Kleidung.
Hancock gab sich einen Ruck. »Senator Fitzroy?«, fragte er.
»Ja, der bin ich und wer sind Sie?«
Die Stimme war tief und genau richtig moduliert.
»Mein Name ist Special Agent Pete Hancock vom FBI, und das hier ist Special Agent Frank Bernstein. Wir sind hier wegen Ihres Sohnes.«
»Will? Was ist mit ihm?«
»Können wir lieber reingehen? Ich denke nicht, dass hier der richtige Ort für eine solche Unterhaltung ist.«
»Nun gut«, antwortete der Senator und schob die Tür weiter auf, um den Beamten Platz zu machen.
Der Innenbereich des Hauses stand dem äußeren Erscheinungsbild in nichts nach. Auch hier fand sich eine weiße Holzvertäfelung, dazu schwere Teppiche, die jeden Lärm unterdrückten, sowie einige Kunstgegenstände, die für Hancock irgendwie Griechisch anmuteten. Sein Blick schweifte zurück zu den Wänden, an denen zahlreiche Bilder in unterschiedlichen Höhen angebracht worden waren. Die meisten davon zeigten Fitzroy in unterschiedlichen Altersstadien neben berühmten Personen. Hancock war erstaunt, als er auf einem Foto den Senator neben den ehemaligen Präsidenten Bush senior und Bill Clinton sah. Anscheinend war die Macht dieses Mannes größer, als er vermutet hatte. Er nahm sich vor, dies bei dem folgenden Gespräch zu bedenken.
»Schön haben Sie es hier«, kommentierte er, als sie in ein ausladendes Wohnzimmer geführt wurden, in dem eine Sitzecke so platziert war, dass die Sitzenden einen guten Blick nach draußen hatten.
»Danke. Hat viel Arbeit gemacht«, antwortete Fitzroy.
Sicher nicht für dich selbst, dachte Hancock.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke«, sagte der ältere Agent und gab seinem Kollegen mit einem kurzen Blick zu verstehen, dass dieser auch nichts wollte.
»Bitte setzen Sie sich«, forderte der Senator die beiden auf.
Als sich alle hingesetzt hatten, beugte sich Fitzroy ein wenig nach vorne.
»Agent Hancock, Sie habe gesagt, dass Sie wegen meines Sohnes hier sind. Was ist mit Will?«
»Es tut mir leid, Ihnen dies sagen zu müssen, aber Ihr Sohn ist vergangene Nacht Opfer eines Verbrechens geworden.«
»Sind Sie sicher, dass es sich wirklich um ihn handelt?«
»Es müssen zwar noch weitere Untersuchungen stattfinden, aber es ist so gut wie sicher, dass er es ist.«
»Geht es ihm gut?«
»Leider nein, er ist tot.«
In all den Jahren seines Lebens, die Hancock der Verbrechensbekämpfung gewidmet hatte, hatte er gelernt, genau auf die Reaktion seines Gegenübers zu achten, wenn er vom Tod eines Angehörigen berichtete. Man konnte viel herauslesen, wenn man genau hinsah. Er wurde nicht enttäuscht, denn Fitzroy blickte ihn zuerst ungläubig an, bevor er sich langsam zurücklehnte und den angehaltenen Atem geräuschvoll aus seinem Mund entweichen ließ. Sein Blick wurde trüb, als er den Kopf in Richtung Fenster drehte und irgendetwas fixierte, was nur er selbst sehen konnte.
Hancock ließ das darauffolgende Schweigen in der Luft hängen und nahm jedes Detail sorgsam in sich auf.
»Wenn das ein Witz sein soll, ist er Ihnen nicht gelungen«, sagte der Senator schließlich.
»Wenn ich humoristisch veranlagt wäre, wäre ich nicht zum FBI gegangen«, antwortete der ältere Beamte. »Leider ist es die Wahrheit. Ihr Sohn wurde in einer Seitenstraße gefunden. Er war nackt und schon seit einigen Stunden tot, bevor er entdeckt wurde.«
»Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Er hatte doch erst gerade begonnen, auf den rechten Weg zu kommen und etwas aus sich zu machen.«
»Der Tod sucht sich seine Opfer nicht gezielt aus«, gab ihm Hancock zu verstehen.
»Wissen Sie, wer dafür verantwortlich ist?«
»Noch nicht, darum sind wir hier. Hören Sie, Senator, ich verstehe, dass dies ein schwerer Schlag für Sie ist, aber ich bitte Sie trotzdem, meine Fragen so gut wie möglich zu beantworten.«
»Aber natürlich«, antwortete Fitzroy, fing sich wieder und setzte eine Miene auf, die undurchschaubar wirkte.
Faszinierend, wie schnell er seine Emotionen wieder unter Kontrolle bekommt, dachte der Agent.
»Wissen Sie, ob Will irgendwelche Feinde hatte?«
»Das ist mir nicht bekannt« antwortete Fitzroy. »Meines Wissens nach war er bei allen, mit denen er zu tun hatte, hoch angesehen, ja sogar beliebt. Er hatte ein sanftes Wesen, müssen Sie wissen.«
»Inwiefern?«
»Nun, er hatte immer ein offenes Ohr für die Anliegen anderer. Er hat sich stets die Zeit genommen, zuzuhören und Ratschläge zu erteilen.«
»Hat er sich politisch engagiert?«
»Ja«, bestätigte der Senator.
»Wofür genau?«
Fitzroy schwieg.
Hancock entschied sich vorerst, etwas anderes zu probieren, aber bald wieder auf die Frage zurückzukommen.
»Sagen Sie, Senator, wo ist eigentlich Ihre Frau?«
»Helena ist leider bereits vor einigen Jahren von uns gegangen«, antwortete Fitzroy.
»Das tut mir sehr leid. Wie ist es passiert?«
»Krebs. Als er erkannt wurde, war es bereits zu spät.«
»Und jetzt ist auch noch Ihr Sohn tot.«
Fitzroy schwieg erneut, aber in seinen Augen konnte der Agent deutlich sehen, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Haben Sie danach wieder jemanden kennengelernt?«
»Nein, dafür habe ich keine Zeit. Meine Arbeit im Kongress ist sehr wichtig, daher habe ich mich damals dafür entschieden, allein zu bleiben.«
»Es hatte nicht vielleicht etwas damit zu tun, dass Sie Ihre Frau geliebt haben und der Meinung waren, nie wieder jemanden zu finden, der ihr das Wasser reichen könnte? Oder hat man, wenn man in der Politik unterwegs ist, keine Zeit für die Liebe?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Fitzroy und verengte seine Augen zu Schlitzen.
»Nun ja, ich meine ja nur …«
»Agent Hancock, Sie kommen zu mir und berichten mir von Wills Tod, und dann fangen Sie an, mich über mein Privatleben auszufragen. Sagen Sie bitte klar und deutlich, was Sie von mir wollen.«
»Ich will nur herausfinden, wer Ihren Sohn auf dem Gewissen hat.«
»Dann fangen Sie besser mal damit an.«
»Das habe ich bereits. Auf meine Frage, wofür sich Ihr Sohn engagiert hat, haben Sie mir allerdings noch nicht geantwortet. Sagen Sie es mir also bitte.«
»Mit Verlaub, das sind Dinge, über die ich nicht reden möchte.«
»Ich muss es aber wissen, damit ich weiter ermitteln kann.«
»Agent Hancock, Ihre Aufgabe ist es, den Täter ausfindig zu machen. Sie haben sicher viel Erfahrung in solchen Dingen. Also nutzen Sie diese.«
»Senator, ich werde offen zu Ihnen sein. Ich möchte, dass Sie mir uneingeschränkt Informationen geben, denn ansonsten könnte ich in Versuchung geraten, Sie wegen Behinderung der Justiz zu belangen.«
»Ja, das könnten Sie, aber wissen Sie, wohin das führen würde? Ich würde nicht nur nicht belangt werden, sondern ich würde auch dafür sorgen, dass Sie von diesem Fall abgezogen würden. Mit etwas Glück würde es Ihnen vielleicht noch erlaubt werden, bis zu Ihrer Rente Strafzettel zu verteilen, aber davon sollten Sie nicht ausgehen. Wahrscheinlicher wäre es, dass Sie unehrenhaft entlassen und auf die Straße gesetzt würden. Also sollten Sie es sich lieber zwei Mal überlegen, ob Sie mir drohen wollen.«
»Ich will nur die Wahrheit herausfinden.«
»Dann sitzen Sie nicht hier herum. Der Mörder meines Sohnes ist noch auf freiem Fuß, und Sie verplempern Ihre Zeit, indem Sie mir indirekt vorwerfen, nur wegen des eigenen Vorteils geheiratet zu haben. Ich möchte, dass Sie mein Haus verlassen, und zwar auf der Stelle!«
»Sir«, schaltete sich nun Bernstein hastig ein. »Mit Verlaub, wenn wir unseren Job korrekt machen wollen, benötigen wir Ihre Hilfe.«
»Ich habe Ihnen alle Hilfe gegeben, die ich Ihnen geben kann«, antwortete Fitzroy. »Nun sind Sie an der Reihe. Schnappen Sie diesen Mistkerl, der Will getötet hat. Ich wiederhole nun meine Aufforderung: Verlassen Sie mein Haus.«
Bernstein wollte noch etwas erwidern, aber Hancock war bereits aufgestanden, also folgte der jüngere Agent seinem Beispiel.
Als sie an der Haustür angelangt waren, drehte sich der ältere Beamte noch einmal um. »Senator Fitzroy, nur noch eine Frage: Wie ist es so in den heiligen Hallen der Macht? Befriedigt Sie das?«
»Das ist ja unerhört. Gehen Sie jetzt!«
Hancock hob die rechte Hand an die Stirn, deutete ein Salutieren an und trat dann nach draußen, gefolgt von seinem Partner. Die Tür schloss sich daraufhin geräuschvoll hinter ihnen. Während sie ins Auto stiegen und Hancock den Motor startete, bemerkte er, dass der Senator sie von einem Fenster aus beobachtete.
»Was hatten denn die Bemerkungen über seine Frau und die Politik für einen Sinn?«, fragte Bernstein, während sie zurück in die Stadt fuhren.
»Mir war einfach danach«, gab Hancock zurück.
»Denken Sie nicht, dass es besser gewesen wäre, Ihrem Impuls nicht zu folgen und die Befragung ganz normal durchzuführen?«
»Ich kann dieses Gockel-Gehabe von solchen Leuten einfach nicht ausstehen. Nur, weil sie reich sind und Kontakte in die obersten Kreise haben, benehmen sie sich, als seien sie etwas Besseres.«
»Glauben Sie, dass Fitzroy uns etwas verschweigt?«
»Haben Sie nicht aufgepasst?«, stellte der ältere Agent die Gegenfrage. »Er hat massiv abgeblockt, als ich ihn nach dem politischen Engagement seines Sohnes gefragt habe. Ich glaube, dass da auf jeden Fall mehr dahintersteckt. Fitzroy kommt mir nicht vor wie jemand, der bescheiden ist. Ist Ihnen aufgefallen, dass es im ganzen Haus kein einziges Bild gab, welches ihn nicht mit irgendeiner bekannten Persönlichkeit gezeigt hat? Von seiner Frau keine Spur, ebenso wenig wie von seinem Sohn. Der Senator ist ganz sicher kein Familienmensch, und ich glaube, er schämt sich sogar für seinen Sohn. Warum er das tut, weiß ich allerdings noch nicht. Was er da sagte von wegen sanftes Wesen und auf den rechten Weg gekommen? Da steckt irgendetwas dahinter, was wir nicht wissen sollen. Leute wie er leben davon, sich in Schweigen zu hüllen und anderen das Gefühl zu geben, unterlegen zu sein.«
»Sie meinen also, dass Sie die Politiker durchschaut haben?«
»Um in eine solche Position zu kommen, wie er, muss man rücksichtslos sein. Politik auf solchen Ebenen ist ein Grabenkrieg, da werden keine Gefangenen gemacht und jeder nutzt den anderen aus, wo er nur kann.«
»Ich glaube, Sie haben zu viele schlechte Filme gesehen«, gab Bernstein kund.
»Und ich glaube, dass Sie zu wenig davon gesehen haben«, schoss Hancock zurück.
»Agent Hancock für Zentrale, bitte kommen«, knarrte das Funkgerät jetzt.
Hancock nahm die Sprechmuschel zur Hand. »Hier Hancock, was gibt es?«
»Fahren Sie unverzüglich zur folgenden Anschrift: 4444 Arlington Boulevard, Arlington, Virginia.«
»Warum sollte ich das tun?«, gab der Agent unwirsch zurück.
»Dort hat sich ein weiteres Ereignis nach Ihrem Geschmack zugetragen.«
Hancock schwieg zwei Sekunden, bevor er antwortete. »Verstanden, wir sind auf dem Weg.«
»Was ist denn damit gemeint?«, wollte Bernstein wissen.
»Ein weiterer Mord, augenscheinlich nach demselben Muster wie bei unserem ersten Kunden.«
»Oh mein Gott«, entfuhr es dem jungen Beamten.
»Der hat damit wahrscheinlich am wenigsten zu tun«, antwortete Hancock und wendete das Fahrzeug, was ihm ein Hupkonzert der ihn umgebenden Autos einbrachte.
Im Gegensatz zu der Leiche von Fitzroy junior war das zweite Opfer nicht in einer Seitengasse aufgefunden worden, sondern am Rande eines Parkplatzes unweit der Unitarian Universalist Church in Arlington. Die Polizei hatte das Areal bereits großflächig abgeriegelt und achtete peinlich genau darauf, dass niemand Unbefugtes die Absperrung überwand. Dennoch hatten es sich die örtlichen Medien nicht nehmen lassen, mindestens genauso zahlreich und mit voller Ausrüstung zu erscheinen wie diverse Schaulustige.
»Aasgeier«, kommentierte Hancock, als er den Wagen parkte und ausstieg. Die Szenerie glich beinahe einem Volksfest. Überall standen Menschen herum, unterhielten sich und schienen sich sogar gegenseitig den einen oder anderen Witz zu erzählen. Nur so konnte er sich erklären, dass immer wieder ein Lachen an seine Ohren drang. »Kaum verreckt jemand, kommen sie wie die Fliegen zum Fleisch. Oder wie die Nutten zum Geldschein.«
»Ignorieren Sie die Leute einfach«, riet ihm Bernstein, während sich beide den Weg zur Absperrung bahnten und dort einem der Uniformierten ihre Marken zeigten.
»Wer ist hier der zuständige Beamte?«, wollte der ältere Agent wissen.
»Detective-Lieutenant Wells«, antwortete der Polizist und wandte sich dann an einen nahe bei ihm stehenden Kollegen. »Mike, führe die beiden Herren bitte zum Detective.«
»Was haben wir?«, fragte Agent Hancock, als er gemeinsam mit dem Detective und seinem Kollegen neben der mit einer groben Plane bedeckten Leiche stand.
»Eine junge Frau, ungefähr dreißig Jahre alt. Sieht übel aus«, antwortete Wells.
»Wie übel?«
»Sehen Sie selbst.«
Der Detective schlug die Plane vorsichtig ein Stück weit zurück, wobei er darauf achtete, die versammelte Presse jenseits der Absperrung zwischen sich und der Abdeckung zu haben. Der Anblick der Leiche verursachte bei Bernstein ein Übelkeitsgefühl. Die junge Frau war ebenfalls über und über mit Bisswunden übersät, die aussahen, als wäre ein tollwütiger Hund über sie hergefallen.
»Fehlen Gliedmaßen?«, fragte Hancock.
»Ja, drei Finger an der linken Hand sind weg, und ein Finger der anderen Hand. Woher wissen Sie das?«
»Gut geraten«, log Hancock und ging in die Hocke, um sich das Opfer genauer anzusehen. »Sieht genauso aus wie bei dem anderen«, murmelte er, als er die Wunden genauer betrachtete. »Hey, Welpe, kommen Sie mal her.«
Der jüngere Agent, der sich einige Meter entfernt hatte, um frische Luft zu bekommen, holte ein Taschentuch hervor und hielt es sich vor Mund und Nase, bevor er nähertrat und ebenfalls in die Hocke ging.
»Kennen Sie diese Person auch?«, wollte der ältere Agent von ihm wissen.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Bernstein und versuchte, sich zu konzentrieren. »Warten Sie mal … das ist Iris Delano. Kongressabgeordnete seit zwei Jahren. Stammt ursprünglich aus Iowa.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Nein«, gab er zu. »Es ist nicht so einfach, jemanden zu identifizieren, der so zugerichtet ist.«
»Punkt für Sie«, gab Hancock zurück. »Okay, schauen wir mal, ob Sie was können. Ich will, dass Sie die Spurensicherung darauf ansetzen, in der näheren Umgebung nach Reifenspuren zu suchen. Die sollen mit denen von unserem anderen Tatort abgeglichen werden. Kümmern Sie sich persönlich darum, das macht immer einen guten Eindruck. Außerdem will ich, dass Sie die Presseleute verscheuchen.«
»Wie soll ich das denn machen?«
»Lassen Sie sich etwas einfallen. Erzählen Sie den Typen irgendeine Story, aber erwähnen Sie bloß nicht, dass es noch ein Opfer gibt. Wir wollen es den Fritzen nicht leichter machen als unbedingt nötig.«
»Alles klar, und was machen Sie währenddessen?«
»Ich rauche eine«, sagte Hancock.
Der jüngere Agent führte die Anweisungen seines Kollegen innerhalb weniger Minuten durch und ging zu einem der Streifenwagen, um in den Scheiben zu überprüfen, ob seine Haare noch immer so lagen, wie er es wollte, und ob auch sein Anzug noch immer korrekt saß. Schließlich wollte er kein schlechtes Bild abgeben, wenn er mit der Presse sprach. Anschließend betrachtete er die Sendewagen eingehend und suchte sich schließlich einen Sender aus, den er für seriös hielt. Mit BNN, einem größeren Regionalsender, hatte er gefunden, was er suchte und trat an die Absperrung.
Der Reporter, der bis gerade eben noch in die mitgebrachte Kamera gesprochen hatte, drehte sich hastig um, als sein Assistent die Kamera leicht senkte und ihn mit einem Fingerzeig auf die Anwesenheit des Agenten aufmerksam machte.
»Haben Sie Lust auf ein paar Informationen?«, fragte ihn Bernstein.
»Aber klar doch«, antwortete der Reporter.
»In Ordnung. Soll ich einfach loslegen, oder haben Sie vorab Fragen?«
»Legen Sie einfach los. Bill, nimmst du auf?«
»Natürlich«, antwortete der Kameramann.«
Der Agent räusperte sich kurz. »Heute Vormittag wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Die ersten Erkenntnisse zeigen, dass sie erst vor wenigen Stunden gestorben ist. Die Ermittlungen laufen selbstverständlich in alle Richtungen, um den Täter schnellstmöglich ausfindig machen zu können.«
»Es handelt sich also um einen Mord?«, fragte der Reporter wissbegierig.
Bernstein biss sich innerlich auf die Lippe. »Ja«, bestätigte er schließlich.
»Weiß man schon, wie das Opfer heißt?«
»Die Identifizierung dauert noch an. Wie gesagt, die Leiche wurde erst vor Kurzem gefunden.«
»Was vermuten Sie, warum sie gerade hier getötet wurde?«, wollte der Reporter wissen.
»Dazu kann ich im Moment noch nichts sagen«, antwortete der Agent. »Wie Sie wissen, stützen wir uns beim FBI nicht auf Vermutungen, sondern auf handfeste Fakten.«
»Was hat denn das FBI mit einem Mord zu tun? Ist das nicht die Aufgabe der normalen Polizei?«
Noch ein Faux pas, schalt sich Bernstein. »Mein Partner und ich waren gerade in der Nähe, als die Meldung hereinkam. Daher dachten wir uns, dass wir die örtlichen Einsatzkräfte vielleicht unterstützen könnten.«
»Ihr Partner ist Pete Hancock, oder?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich ihn da drüben herumlaufen sehe. Er ist einer der besten Ermittler, die das Bureau zu bieten hat«, meinte der andere. »Ich kann mir nur schwerlich vorstellen, dass er bei so einer – entschuldigen Sie bitte die Ausdrucksweise – Kleinigkeit wie dem Mord an einer jungen Frau ermitteln würde. Kommen Sie schon, erzählen Sie mir die Wahrheit.«
»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt sagen kann«, erwiderte Bernstein in dem Versuch, das Gespräch zu beenden, bevor er noch mehr Details ausplauderte.
»Agent …«
»Bernstein.«
»Agent Bernstein, ich bin schon seit einigen Jahren im Geschäft, und wenn ich eines dabei gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dass die Polizei nie mehr sagt, als sie unbedingt muss, und wenn noch dazu das FBI mit im Spiel ist, ist es noch schwieriger, etwas Brauchbares herauszubekommen. Helfen Sie mir, damit ich unseren Zuschauern etwas Konkretes sagen kann. Die Öffentlichkeit hat schließlich ein Recht darauf, zu erfahren, warum ein Mitglied der Gesellschaft gestorben ist.«
»Sie haben alle Informationen, die uns momentan zur Verfügung stehen. Sie sind doch der Reporter, also machen Sie etwas daraus.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Wie ich bereits sagte«, bestätigte der Agent. »Jetzt muss ich mich wieder den Ermittlungen widmen. Guten Tag!«
Das ist ja wunderbar gelaufen, dachte Bernstein mürrisch, während er zurück zu Hancock ging.
»Wie war es?« wollte der ältere Agent wissen.
»Okay«, antwortete sein Kollege und hoffte, dass Hancock nicht weiter nachfragte. Dieser Gefallen wurde ihm natürlich nicht getan.
Nachdem Bernstein alles berichtet hatte, sah der ältere Agent noch missmutiger drein als gewohnt.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«, wollte der jüngere Agent wissen.
»Sie haben dem Typen allen Ernstes gesagt, dass er was daraus machen soll? Können Sie sich vorstellen, was jetzt passieren wird?«
»Er wird wiedergeben, was ich ihm gesagt habe.«
»So einfach ist das nicht, Welpe. Er wird die Fakten nehmen und daraus eine reißerische Story zusammenbasteln, die an der Wahrheit ungefähr so nah dran sein wird wie Sie an einem Vollbart, nämlich gar nicht. Dass Sie ausgeplaudert haben, dass es sich um einen Mord handelt, ist schon schlimm genug, und dass er jetzt weiß, dass Sie vom FBI sind, macht es nicht gerade besser. Er hat jetzt Ihren Namen, und er weiß außerdem, dass ich ebenfalls im Spiel bin. Er wird also Eins und Eins zusammenzählen und uns so richtig auf den Keks gehen. Toll gemacht, Welpe, ganz toll.«
»Es tut mir leid«, sagte Bernstein entschuldigend. »Ich habe mit der Presse noch nicht so viel Erfahrung.«
»Dann hätten Sie das vorher sagen sollen. Woher soll ich denn bitteschön wissen, dass Sie keinen Schimmer haben von dem, was zu Ihrer Arbeit gehört?«
»Auf der Akademie wurde uns beigebracht, wie man gezielt ermittelt, nicht, wie man mit den Medien umgeht«, versuchte sich der junge Agent zu rechtfertigen.
»Verdammt noch mal«, entfuhr es Hancock. »Jeder Mensch mit einigermaßen gesundem Verstand weiß, dass die Presse niemals die volle Wahrheit sagt, sondern sich immer nur einzelne Stücke herauspickt und daraus eine Geschichte strickt. Wie soll ich Ihnen etwas beibringen, wenn Sie Ihr Hirn nicht einschalten?«
»Sie hätten ja auch selbst darauf kommen können, dass ich mich in manchen Dingen noch nicht so gut auskenne«, gab der andere unwirsch zurück.
»Wenn Sie beim FBI sein wollen, müssen Sie immer blitzschnell schalten und sich auf jede Situation sofort einstellen können. Auf der Akademie wurde Ihnen beigebracht, nach dem Lehrbuch zu handeln, aber das können Sie hier draußen vergessen. Nutzen Sie Ihren Kopf, denken Sie nach, und überlegen Sie vor allem, was Sie wem gegenüber sagen. Aber eines habe auch ich daraus gelernt.«
»Was denn?«, fragte Bernstein.
»Dass ich Sie nicht gebrauchen kann. Wenn Sie die Ermittlungen stören, arbeite ich lieber allein.«
»Es tut mir wirklich leid«, wiederholte der jüngere Agent. »Das nächste Mal werde ich Ihnen sofort sagen, wenn ich Unterstützung und Tipps brauche.«
»Das will ich auch hoffen …«, antwortete Hancock. »… um Ihretwillen. Denn wenn Sie sich noch einmal so einen Schnitzer leisten, sind Sie weg vom Fenster. Die Leiche wird in wenigen Minuten abtransportiert werden. Bis dahin will ich, dass Sie sich still verhalten und mit niemandem mehr reden.«
»Und danach?«
»Danach machen wir Mittagspause.«
»Ernsthaft?«
»Haben Sie etwa noch keinen Hunger?«
»Ein wenig, aber wir müssen doch weiter ermitteln.«
»Ermittlungen sind wesentlich einfacher, wenn man satt ist. Weniger Ablenkung, kapiert?«
»Verstanden.«
Hancock beäugte den jüngeren Agenten abschätzig und gab damit kund, dass er keineswegs davon ausging, dass dieser wirklich verstanden hatte. Danach griff er in seine Jackentasche, zog einen Notizblock heraus und machte sich auf den Weg, um vor dem Abtransport der Toten so viele Details wie möglich erfassen zu können.
Bernstein blieb, wo er war, und dachte über den soeben erfolgten Dialog nach. Er kam zu dem Schluss, dass er tatsächlich nicht korrekt gehandelt hatte, als er mit dem Pressevertreter gesprochen hatte. Er hätte warten sollen, was der Reporter fragte, um dann darauf zu antworten, anstatt frei zu sprechen. Er hatte diese Schelte durchaus verdient. Dennoch fühlte er sich ungerecht behandelt. Schließlich war es sein erster Tag als FBI-Agent, und jedem hätte klar sein müssen, dass er noch einiges zu lernen hatte. Hancock hingegen tat fast so, als würde er erwarten, dass Bernstein vollumfänglich wusste, wann was zu tun war. Dass er ihn die ganze Zeit Welpe nannte, zeugte ebenfalls nicht gerade von Respekt. Er nahm sich vor, seinen neuen Partner bei einer guten Gelegenheit darauf anzusprechen.
»Kommen Sie endlich?«, rief Hancock, der seine Notizen anscheinend bereits vervollständigt hatte.
Der jüngere Agent ging eiligen Schrittes zu ihm hinüber und setzte sich auf den Beifahrersitz des wartenden Autos. Hancock startete den Wagen und ließ den Motor aufjaulen, was ihm verwirrte Blicke der versammelten Presse einbrachte.
»Wo werden wir denn essen?«, fragte Bernstein.
»Ich kenne einen guten Imbissstand, die haben die besten Hotdogs der Stadt«, antwortete der andere Agent, der sich inzwischen eine weitere Zigarette angesteckt hatte.
»Sie rauchen viel, oder?«
»Nur, wenn ich in schlechter Gesellschaft bin.«
»Dann müssten Sie ja eigentlich durchgehend rauchen«, gab der jüngere Agent zurück.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Weil Sie manchmal wirklich ungenießbar sind.«
»Wenn Ihnen meine Nase nicht gefällt, können Sie gern jederzeit aussteigen. Ich tue Ihnen sogar noch einen Gefallen und setze Sie an einem Ort Ihrer Wahl ab.«
»Denken Sie nicht, dass das problematisch werden könnte? Penske hat mich schließlich persönlich angerufen, damit ich Sie bei diesem Fall unterstütze.«
»Geiles Gefühl, wenn sich die eigene Vorgesetzte so um einen sorgt, was? Aber sie wird es bestimmt akzeptieren, wenn Sie nicht mehr mit mir arbeiten wollen. Ob Sie dann allerdings eine weitere Chance erhalten, weiß ich nicht. Penske ist ziemlich hart, und wenn sie merkt, dass Sie zu weich sind, wird sie Ihnen nicht mehr den Rücken decken. Also, was soll es sein?«
»Ich möchte weiterhin mit Ihnen an diesem Fall arbeiten«, antwortete der junge Agent nach kurzer Bedenkzeit. »Ich möchte aber mehr eingebunden werden, und ich möchte, dass Sie mit mir sprechen und mich auch selbst Schlüsse ziehen lassen.«
»Ich will im Gegenzug, dass Sie nicht mehr so eine Scheiße machen wie mit der Presse, und quatschen Sie mich ja nicht noch mal so von der Seite an wie gerade eben, sonst fliegen Sie augenblicklich raus.«
»Einverstanden«, sagte Bernstein und hielt dem älteren Agenten die Hand hin.
Als Hancock die angebotene Hand nicht nahm, ließ der jüngere Agent sie langsam wieder sinken.
Der Imbissstand befand sich mitten in der Stadt, was ihnen eine Fahrt von rund zwanzig Minuten einbrachte. Als die beiden Agenten ausstiegen, wehte ihnen bereits der Duft von gebrühten Würstchen und gebratenem Fleisch entgegen. Bernstein merkte, wie sich sein Magen danach sehnte, mit etwas Herzhaftem gefüllt zu werden.
»Hey Pete«, begrüßte der Besitzer der Bude seinen Kollegen herzlich. »Was geht ab?«
»Alles paletti, Joe«, sagte Hancock und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.
»Wen hast du denn heute mitgebracht?«
»Neuer Kunde für dich. Bernstein, das ist Joe, der verteufelt beste Fleischbräter östlich des Mississippis. Joe, das ist Agent Bernstein, frischgebackener FBI-Agent.«
»Hallo«, begrüßte ihn der jüngere Agent.
»Da haben Sie sich ja einen tollen Begleiter ausgesucht, Bernstein«, meinte Joe ohne jegliche Ironie. »Für einen Anfänger im Dienst gibt es nichts Besseres, als mit Pete Hancock unterwegs sein zu dürfen. Der Kerl ist der beste Ermittler, von dem ich je gehört habe.«
»Ist das so?«, antwortete Bernstein.
Zur Unterstreichung seiner Aussage nickte Joe und ließ dabei sein üppiges Doppelkinn wabbeln. Dann wandte er sich wieder dem älteren Agenten zu. »Wie immer?«
»Klaro.«
Joe machte sich umgehend ans Werk, während die Beamten einen der zwei Stehtische in Beschlag nahmen. Nur wenige Minuten später waren sie damit beschäftigt, sich über ihre Hotdogs herzumachen. Joe hatte für sie beide einen gigantisch anmutenden Korb mit Pommes frites bereitgestellt.
Während sich Bernstein bemühte, keinen Soßenfleck auf seine Bekleidung tropfen zu lassen, schien es Hancock ziemlich egal zu sein, ob sein Hemd schmutzig wurde. Er biss so herzhaft in das Brötchen, dass das Gemisch aus Ketchup und Senf auf der anderen Seite herausspritzte und fast den Anzug des jungen Agenten getroffen hätte.
»Was machen Sie nun aus der ganzen Show?«, fragte Hancock seinen Kollegen zwischen zwei Bissen.
»Wie meinen Sie das?«
»Die beiden Opfer. Sie haben mir gesagt, dass ich Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen lassen soll, also legen Sie mal los.«
»In Ordnung«, antwortete Bernstein. »Beide haben gemeinsam, dass sie auf sehr ähnliche Art und Weise zugerichtet worden sind. Außerdem sind sie verhältnismäßig jung gewesen. Noch dazu sind beide in der Politik tätig gewesen, und zwar auf hoher Ebene.«
»Und weiter?«, ermutigte ihn Hancock, während er sich eine Handvoll Pommes in den Mund stopfte.
»Mehr wissen wir noch nicht.«
»Das ist doch schon mal ein guter Anfang«, lobte ihn der ältere Agent. »Aber es gibt noch einiges mehr, was wir herausfinden müssen. Die beiden Opfer sind Politiker, wie Sie bereits festgestellt haben. Zu beachten ist aber auch, dass die Väter der beiden ebenfalls in der hohen Politik unterwegs sind. Zufälligerweise weiß ich nämlich, dass Iris Delano die Tochter von Senator Francis Ford Delano ist, der im Ausschuss für Innere Sicherheit sitzt. Ist also ein ziemlich hohes Tier. Von dem jungen Fitzroy wissen wir durch die Videoaufzeichnungen, dass er gestorben ist, bevor er in der Gasse abgelegt wurde, und so, wie Delano aussah, war sie auch noch nicht lange dort, wo man sie gefunden hat. In der Akademie haben Sie bestimmt gelernt, wie schnell sich Bakterien und andere Kleinstlebewesen an einem guten Stück Fleisch gütlich tun, vor allem, wenn sich das Fleisch im Freien befindet. Hätte Delano also längere Zeit dort gelegen, hätte sie nicht mehr so frisch ausgesehen. Beide Opfer sind in derselben Region gefunden worden. Worauf deutet das hin?«
»Dass der Täter hier wohnt«, kombinierte Bernstein.
»Nicht unbedingt«, korrigierte ihn der ältere Agent. »Er könnte auch irgendwo in der Pampa leben und nur zu Besuch hierhergekommen sein. Darauf sollten wir uns also nicht verlassen.
Vergessen Sie nicht, dass wir es hier mit einem Wahnsinnigen zu tun haben. Solche Leute haben die leidige Eigenschaft, unzurechnungsfähig zu sein und zugleich äußerst berechnend vorzugehen. Wir sollten also nicht davon ausgehen, dass die Auswahl zufällig stattgefunden hat. Er wusste offenbar ganz genau, wen er töten wollte. Wenn Sie jetzt noch bedenken, dass beide Leichen noch frisch waren und nur wenige Meilen voneinander entfernt gefunden wurden, was fällt Ihnen dann auf?«
»Entweder wurden sie zur gleichen Zeit getötet, oder der Täter hat sie gekühlt.«
»Sehr gut, Welpe«, antwortete Hancock. »Sie können also doch denken. Beides ist plausibel, aber ich tippe eher auf Ersteres. Leichen zu kühlen ist ein erheblicher Aufwand. Außerdem war, zumindest bei Fitzroy, keine Spur davon zu entdecken, dass er gekühlt worden ist, denn das hätte Schneider uns gesagt.«
»Also wohnt der Täter doch in der Nähe?«
»Das ist keineswegs gesichert. Wie ich schon sagte, kann er genauso gut vom Arsch der Rocky Mountains her gekommen sein und sich hier ein Zimmer genommen haben. Er hat die beiden Opfer auf jeden Fall irgendwo hingebracht, wo er in aller Ruhe über sie herfallen konnte, ohne dass es jemand mitkriegt.«
»Und was fangen wir jetzt mit diesen Informationen an?«
»Tja«, meinte Hancock und schob sich das letzte Stück seines Hotdogs in den Mund. In seinen Mundwinkeln befanden sich jetzt Ketchup und Senf, was Bernstein ein wenig ablenkte. »Wir wissen, was er für ein Fahrzeug fährt, aber wir kennen nicht die Farbe. Wir wissen, dass er hier zumindest eine Unterkunft hat oder hatte und können das Gebiet auf diese Weise vielleicht ein bisschen eingrenzen, aber helfen wird uns das nicht, denn wir wissen nicht, ob er vielleicht eine private Unterkunft besitzt. Die würde nämlich durch das Raster fallen. Das Einzige, was uns vielleicht helfen kann, sind die Bisswunden. Wenn wir Glück haben, findet sich bei ihnen etwas, was uns auf die richtige Spur bringt.«
»Sie wollen damit also sagen, dass wir momentan keine anderen Anhaltspunkte haben?«
»Doch die haben wir«, erwiderte Hancock und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Francis Ford Delano wird sich wahrscheinlich gerade in Washington aufhalten, also werden wir ihn als Nächstes befragen.«
»Darf ich dieses Mal das Gespräch führen?«
»Warum?«
»Es ist vielleicht besser, wenn Sie sich voll und ganz auf Delanos Reaktion konzentrieren können, anstatt noch zusätzlich die richtigen Worte finden zu müssen.«
Der ältere Agent schien kurz darüber nachzudenken. »Aber versauen Sie es nicht, sonst landen Ihre Eier ganz schnell in der Pfanne«, erklärte er und schob sich noch eine Handvoll Pommes in den Mund.
»Wo ist er?«, fragte Hancock, während er sein Handy ans Ohr presste und neben seinem Auto auf und ab ging.
»Wie ich schon sagte, befindet sich Mister Delano aktuell auf seiner Ranch in Oklahoma«, gab die Sekretärin des Senators kund.
»Wann erwarten Sie ihn denn wieder zurück?«
»Nicht so bald. Ich denke, dass er bis zur nächsten Ausschusssitzung dort sein wird.«
»Wann ist die?«
»Anfang des kommenden Monats.«
»So lange kann ich aber nicht warten. Haben Sie seine Telefonnummer für mich?«
»Nein, tut mir leid. Mister Delano achtet sehr auf seine Privatsphäre, daher habe ich nicht die Befugnis, Ihnen seine Nummer zu geben.«
»Und wenn ich Sie dazu zwinge?«
»Hören Sie, Agent Hancock, ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich habe Ihnen schon mehr gesagt, als ich sollte.«
»Dann rücken Sie die Adresse der Ranch garantiert auch nicht raus, oder?«
»Wie ich Ihnen bereits sagte …«
»Schon gut«, unterbrach Hancock sie genervt und legte auf.
»Was haben Sie herausgefunden?«, wollte Bernstein neugierig wissen.
»Er ist irgendwo in Oklahoma. Seine Sekretärin meinte, sie darf weder seine Nummer noch seine Adresse rausrücken. Widerliche Schlange.«
»Vielleicht hängt ihr Job davon ab, dass sie sich an diese Anweisungen hält«, vermutete der jüngere Agent.
»Ein Senator muss jederzeit erreichbar sein und man muss wissen, wo er sich befindet. Da wir Federal Agents sind, müssen uns diese Daten zur Verfügung gestellt werden«, erklärte Hancock aufgebracht. »Wir werden wohl selbst herausfinden müssen, wo diese Ranch ist und dann hinfahren.«
»Wollen Sie heute etwa noch nach Oklahoma?«
»Natürlich. Haben Sie ein Problem damit?«
»Naja, es ist schon Nachmittag, und selbst wenn wir sofort einen Flug kriegen, ist es mitten Nacht, bis wir dort sind. Wir sollten ihn nicht abends aufsuchen«, meinte Bernstein. »Lassen Sie mich prüfen, wann morgen der erste Flug geht.«
Der ältere Agent nickte und bestätigte damit, dass er seinem Partner die Freigabe erteilte. Bernstein zückte sein Smartphone und wählte sich über das mobile Internet in die Webseite des Ronald-Reagan Washington National Flughafens ein. Dort erfuhr er, dass der einzige Direktflug aus der Hauptstadt nach Dallas, Texas ging. Von dort aus würden sie also mit einem Mietwagen weiterfahren müssen, was einige Stunden zusätzlicher Zeit beanspruchen würde.
»Buchen Sie den Flug«, verlangte Hancock, als ihm sein Partner die Informationen mitgeteilt hatte. »Wie sieht es mit Rückflügen aus?«
»Leider erst am darauffolgenden Tag«, erklärte Bernstein. »Wir werden also eine Unterkunft benötigen.«
»Suchen Sie ein gutes Hotel aus. Ich habe keine Lust auf eine billige Absteige.«
»Haben wir denn ein bestimmtes Budget?«
»Natürlich, aber lassen Sie das ruhig meine Sorge sein. Buchen Sie einfach, was in Ihren Augen passend erscheint.«
»Alles klar, und was machen wir den Rest des Tages?«
»Wir müssen immer noch herausfinden, wo sich diese Ranch eigentlich befindet. Sie wissen wahrscheinlich nicht, wo die junge Delano gewohnt hat, oder?«
»Leider nicht, aber ich kann versuchen, es herauszufinden.«
»Wie lange wird das denn dauern?«
»Nur kurz. Ich habe ja Zugriff auf die Datenbank des FBI, und dort ist ihre Adresse bestimmt gespeichert.«
»Wie wollen Sie denn von hier aus Zugriff haben? Haben Sie etwa einen Chip im Kopf?«
»Nein«, sagte Bernstein und hielt triumphierend sein Smartphone hoch. »Neueste Technik, und eine absolut sichere Verbindung.«
»Dann zeigen Sie mal, ob das auch wirklich funktioniert, Sie Genie.«
Der junge Beamte ließ sich nicht zwei Mal bitten und wählte sich über ein gesondertes Netzwerk in die Zentraldatenbank des FBI ein. Hierfür musste er sowohl seine Dienstnummer als auch ein selbst gewähltes Passwort eingeben und dann noch seinen Daumen auf das Display halten, um Zugriff zu erhalten.
»Wollen wir mal sehen«, murmelte er und wählte im Menü zuerst die Suchfunktion aus und gab anschließend den Namen des Opfers ein. Als die Datenbank daraufhin kein Ergebnis anzeigte, versuchte er es auf andere Weise. Er trug den Namen ihres Vaters ein, woraufhin die Anschrift seines Büros erschien, gefolgt von der Auskunft, dass er außerdem eine Ranch in Oklahoma besaß. Deren Adresse war durch einen weiteren Code gesichert, den Bernstein allerdings nicht hatte.
»Würden Sie mir bitte mal Ihre Dienstnummer und Ihren Identifizierungscode sagen?«, forderte er den älteren Agenten auf.
»Wozu?«
»Tun Sie es bitte einfach. Ich erkläre es Ihnen später.«
Hancock ratterte die gewünschten Nummern herunter, Bernstein gab sie ein und tippte anschließend den Identifizierungscode seines Partners in das dafür vorgesehene Feld.
»Jetzt bitte noch Ihren Daumenabdruck.«
»Wollen Sie auch einen Penisstempel?«
»Der Daumen genügt vorerst.«
Der ältere Agent presste seinen rechten Daumen übertrieben hart auf das Display. Bernstein meinte, ein leises Knacken von seinem Smartphone zu hören.
Nachdem das Gerät mit der Identifizierung einverstanden war, wurde die Anschrift der Oklahoma-Ranch in leuchtend grünen Buchstaben angezeigt.
»Jetzt wissen wir, wo wir morgen hinmüssen«, rief der junge Agent triumphierend.
»Glückwunsch«, erwiderte Hancock ohne große Euphorie in der Stimme.
Bernstein zog eine Grimasse und versuchte in den darauffolgenden Minuten erfolglos, die Adresse von Iris Delano in Washington, D.C. herauszufinden. Schließlich gab er frustriert auf und loggte sich wieder aus.
»Doch nicht so allwissend, Ihre Technik, was?«
»Anscheinend nicht«, gab Bernstein enttäuscht zu.
»Wenn schon unsere eigene Datenbank keine Informationen hat, wird die Auskunft garantiert erst recht nichts wissen«, erklärte Hancock ernst. »Vielleicht haben wir Glück, und Delano wird uns morgen mehr sagen können.«
»Hoffen wir es.«
»Heute werden wir nicht mehr viel ausrichten können«, sagte der ältere Agent. »Wir sollten also Feierabend machen.«
»Es ist doch noch früh am Nachmittag«, wandte der junge Agent ein.
»Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?«
»Was ist mit der Pathologie?«
»Die schnippeln noch am jungen Fitzroy rum, und Delano haben sie bestimmt noch nicht mal auf dem Tisch, das dauert immer ein wenig. Die sind nicht so schnell wie in den schlechten Krimis, die Sie offenbar gern schauen. Für heute ist Schluss. Ich lasse Sie an der nächsten U-Bahnstation raus, und morgen treffen wir uns direkt am Flughafen. Wann geht denn der Flug?«
»Um acht Uhr dreißig.«
»Früher ging es nicht, was?«, fragte Hancock mürrisch.
»Es gibt noch einen um fünf Uhr morgens«, antwortete Bernstein, ohne den Sarkasmus seines Kollegen zu bemerken. »Soll ich lieber umbuchen?«
»Lassen Sie mal, Sie Humorspritze. Wir treffen uns morgen um acht Uhr am Gate. Aber seien Sie pünktlich, ich warte nicht.«
Er lenkte seinen Wagen an den Straßenrand und ließ Bernstein aussteigen.
»Was machen Sie heute denn noch so?«, wollte der junge Agent wissen.
»Nichts, was Sie etwas angehen würde«, erklärte Hancock und fuhr los, sobald Bernstein die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Hancock wachte ruckartig auf. Neben ihm ertönte sein altertümlicher Wecker, den er vor gefühlt einem halben Jahrhundert auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Damals war er noch mit seiner Frau zusammen gewesen. Mit einer Mischung aus Melancholie und Verbitterung dachte er an die Zeit zurück, in der er der in seinen Augen glücklichste Mensch auf Erden gewesen war. Er hatte Melanie auf der FBI-Akademie kennengelernt und sofort gewusst, dass sie die Frau seines Lebens war. Sie hatte seine Hobbys geteilt und es genau wie er wunderschön gefunden, abends am Fluss spazieren zu gehen, wenn die meisten Tagesausflügler bereits wieder nach Hause gefahren waren und die Uferwege entsprechend leer waren. Sie hatten es genossen, Hand in Hand zu laufen und sich durch nichts auf der Welt davon abhalten zu lassen, in Ruhe die Natur zu genießen. Meist war es dann auf eine gute Runde Sex im Freien hinausgelaufen. Sie hatte Stellungen gekannt, von denen er noch nie im Leben gehört hatte, und sie hatte immer wieder ausgefallene Orte gefunden, wo sie sich einander hingegeben hatten. Er war zu dieser Zeit wirklich äußerst zufrieden gewesen. Nach dem Abschluss an der Akademie hatte sie eine Bürolaufbahn eingeschlagen, während er seinem Drang nachgegangen war, aktiv im Feld zu arbeiten und Verbrecher quer durch die Staaten zu jagen. Dass er dabei meist spät abends nach Hause gekommen oder sich sogar die ganze Nacht woanders um die Ohren geschlagen hatte, war ihr egal gewesen. Jedenfalls hatte sie das immer behauptet, wenn er sie danach gefragt hatte. Also hatte er sich in seine Arbeit gestürzt, Observationen durchgeführt, einige fantastische Orte Amerikas kennengelernt und dabei auch viele interessante Menschen getroffen … in der Gewissheit, dass er zu Hause einen sicheren Hafen hatte. Wenn er von einer erfolgreichen Jagd nach Hause gekommen war, hatte Melanie bereits auf ihn gewartet und ihm zugehört, wenn er in allen Details berichtet hatte, wie er einen Mörder, Vergewaltiger oder andersartig verbrecherische Menschen zur Strecke gebracht hatte. Sie waren die Nächte wach geblieben und hatten sich im Wohnzimmer unter einer Decke aneinander gekuschelt, während sie seinen Geschichten gelauscht hatte.
Eines Abends war er erst spät von einem Einsatz nach Hause gekommen und hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als ins Bett zu gehen und sich an seine Frau zu schmiegen. Doch als er sich in der Dunkelheit in sein Bett legte, hatte er bemerken müssen, dass seine Seite des Bettes wärmer als sonst war. In den Jahren, die er bereits als Ermittler tätig gewesen war, waren seine Sinne so geschärft worden, dass er selbst kleinste Temperaturunterschiede bemerkte. Seine Frau, die dem Wasserrauschen nach zu urteilen gerade unter der Dusche stand, hatte nicht schlecht gestaunt, als sie lediglich mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt ins Schlafzimmer getreten und ihn auf der Bettkante hatte sitzen sehen. Normalerweise hätte ihn der Anblick seiner wunderschönen, nackten Frau dazu veranlasst, sich die Klamotten vom Leib zu reißen und mit ihr einen Balztanz aufzuführen, aber dieses Mal war es anders gewesen. Melanie hatte sich zwar sehr schnell wieder gefangen – das Ergebnis jahrelangen Trainings –, doch Hancock war es nicht entgangen, dass sie für einen kurzen Augenblick ertappt ausgesehen hatte.
»Ist der Einsatz schon vorbei?«, hatte sie in dem Versuch gefragt, die Situation zu überspielen.
»War nicht der Typ, nach dem wir gesucht haben«, hatte er erklärt, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
»Schön, dass du wieder hier bist«, hatte sie daraufhin nicht gerade überzeugend erwidert.
In diesem Moment hatte er sich entschlossen, auf Konfrontation zu gehen. »Mit wem hast du dir hier währenddessen die Zeit vertrieben?«
Er hatte erwartet, dass Melanie lachte und ihn beschwichtigte, dass es außer ihm niemanden in ihrem Leben gab, aber stattdessen hatte sie ihn unverwandt angeblickt. »Woher weißt du es?«
»Das Bett ist noch warm.« Zur Verdeutlichung hatte er eine Handfläche auf das Laken gelegt und sanft darübergestrichen.
»Tut mir leid«, hatte sie nur gesagt.
Das war das Letzte gewesen, was sie in diesen vier Wänden jemals zu ihm gesagt hatte. Sie hatte nicht darauf reagiert, als er sie nach dem Warum gefragt hatte. Sie hatte einfach nur ihre Kleidung ergriffen, sich angezogen und dann wortlos das Haus verlassen. Wenige Tage später hatte er im Briefkasten eine Nachricht von ihr gefunden, mit der Bitte, ihre Sachen an ein Umzugsunternehmen zu übergeben, welches in wenigen Tagen eintreffen würde. Als die Umzugsfirma schließlich kam, hatten sie nichts als einen Haufen Asche mitnehmen können. Hancock, der in seinem Job bereits mehrfach als harter Hund bezeichnet worden war, hatte seiner Wut und Enttäuschung freien Lauf gelassen und alle Kleidungs- und persönlichen Erinnerungsstücke seiner Frau im Garten auf einen Haufen geworfen und ein Feuer entzündet, welches jedem Indianerstamm zur Ehre gereicht hätte. Dabei war er nackt mit einer Flasche Scotch um das Feuer herumgetanzt und hatte unanständige Lieder gesungen. Natürlich hatte ihm das einen nächtlichen Besuch der örtlichen Polizei und eine Übernachtung in der Ausnüchterungszelle eingebracht, aber das war es ihm Wert gewesen.
Schließlich hatte sie offiziell die Scheidung eingereicht. Melanie hatte ihm im ersten Gespräch seit Monaten vorgeschlagen, sich gütlich zu trennen, aber Hancock hatte eine Szene gemacht und ihr versprochen, dass er es ihr so schwer wie nur irgend möglich machen würde. Bis die Scheidung durch war, hatte es viele Monate und noch mehr Anwaltsschreiben benötigt, und Kosten verursacht, die ihn beinahe ruiniert hatten. Seitdem hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, Gewalttäter und Serienmörder mit aller Härte zu verfolgen und sie dingfest zu machen. Dabei hielt er sich auch nicht zurück, die Grenzen des Gesetzes notfalls zu dehnen oder gar zu überschreiten, wenn es in seinen Augen gerechtfertigt war.
Als er auf seinen Wecker hieb, um ihn ruhig zu stellen, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war bereits sieben Uhr dreißig.
Fuck!, dachte er. Glücklicherweise waren seine Reflexe noch immer so gut in Schuss wie früher. Er sprang aus seinem Bett, nahm einen tiefen Schluck aus der halb vollen Schnapsflasche von seinem Nachttisch und zog sich hektisch an. Danach griff er im Vorbeigehen nach seinen Autoschlüsseln und verließ die Wohnung, nicht ohne vorher in eine Pizzaschachtel mit inzwischen gammelig gewordenen Essensresten zu treten. Er ignorierte diesen Umstand und stürmte die vier Treppen hinunter.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn eine ältere Nachbarin.
Er antwortete nicht, sondern stieß sie fast die Treppe hinunter, während er an ihr vorbei durch die geöffnete Haustür lief und dann zu seinem Wagen rannte, den er irgendwo um die Ecke geparkt hatte. Mit einer schnellen Handbewegung riss er den Strafzettel unter dem Scheibenwischer hervor, zerknüllte ihn und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen, bevor er sich ans Steuer setzte und zum Flughafen raste.
Die gigantische Uhr am Eingang zeigte bereits acht Uhr fünfzehn an, als Hancock mit quietschenden Reifen auf dem ausgedehnten Parkplatz des Ronald Reagan Washington National Airports anhielt. Da er bereits spät dran war, stellte er den Wagen einfach direkt vor der Tür auf einen der Behindertenparkplätze ab, schmiss seinen laminierten Zettel auf das Armaturenbrett und betrat eiligen Schrittes und ohne sich umzusehen das Gebäude. Der Reagan, wie er seit 1998 genannt wurde, befand sich auf einer Halbinsel östlich der Hauptstadt und unterlag einigen der strengsten Sicherheitsvorkehrungen des gesamten Landes, was kein Wunder war, schließlich befanden sich in der Hauptstadt nicht nur der Präsident und der Kongress, sondern auch zahlreiche national und international bekannte Sehenswürdigkeiten. Der Agent wandte sich nun von der Eingangstür des Terminal C nach links und gelangte auf diese Weise zu dem Sicherheitsbereich, von wo aus er zu den Schaltern seiner Fluglinie gelangen würde. Er zeigte seinen Ausweis vor und wollte gerade die Sicherheitsschleuse durchschreiten, als er von einem Flughafen-Angestellten aufgehalten wurde.
»Entschuldigen Sie bitte, Sir, aber Sie müssen zuerst alle metallischen Gegenstände ablegen und durch den Scanner treten.«
»Ich habe es aber eilig«, gab er unwirsch zurück.
»Haben wir das nicht alle?«, erwiderte der Sicherheitsmitarbeiter entspannt und postierte sich so, dass an ihm kein Vorbeikommen war.
Der Agent betrachtete seine Armbanduhr und überlegte, ob er sich den Weg einfach freirammen sollte, entschied sich dann aber nach einem prüfenden Blick auf den Flughafen-Mitarbeiter dagegen. Er hätte es vielleicht geschafft, an dem Sicherheitsbeamten vorbei zu gelangen, wäre dann aber garantiert nur wenige Meter weit gekommen, bevor er niedergeschossen worden wäre. Er erinnerte sich noch gut an einen Fall vor einigen Jahren, als er einen Verdächtigen am internationalen Flughafen von Chicago verfolgt hatte. Der Mann hatte es geschafft, die Sicherheitsschleuse zu durchbrechen, nur um direkt danach von zahlreichen Kugeln durchsiebt zu werden. Das hatte zwar den Fall beendet, allen Beteiligten aber viel Ärger eingehandelt. Er wollte nicht als weitere Zahl in einer Statistik enden, also fügte er sich widerwillig seinem Schicksal. Hancock zog den Gürtel aus der Hose, legte seinen Schlüssel und sein altertümliches Handy auf das Rollband und vergaß auch nicht, seine Zigaretten und sein Feuerzeug abzugeben. Auch seinen Flachmann, den er immer in der Jackentasche bei sich trug, legte er dazu. Nur seine Dienstwaffe behielt er im Holster um die Schultern, was ihm einen abschätzigen Blick seitens der Sicherheitsleute einbrachte.
»Ich habe die Erlaubnis, diese Waffe zu tragen«, gab er kund und trat durch die Schleuse.
Selbstverständlich schlug diese sofort Alarm, und als sich ein Schrank von einem Mann mit einem Handscanner näherte, streckte der Agent ohne Widerworte die Arme seitlich von sich und ließ die ganze Prozedur über sich ergehen. Irgendwann schienen die Sicherheitsleute zufrieden zu sein und ließen ihn gehen.
»Mister Peter Hancock, bitte begeben Sie sich umgehend zu Gate Achtunddreißig! Die Türen werden in wenigen Minuten geschlossen! Mister Pete Hancock, zu Gate Achtunddreißig!«
Der Agent legte einen Schritt zu und schaffte es gerade noch so eben zur Gate-Tür, als sich ein jung aussehender Mitarbeiter der Fluggesellschaft daran machte, diese zu schließen.
»Hey, warten Sie«, rief Hancock.
Der Mitarbeiter hielt in seinem Tun inne, als ihm klar wurde, dass der schwitzende Mann, der gerade durch die Gänge stürmte, zu ihm wollte.
»Tür auf, ich muss da rein«, verlangte der Agent, der inzwischen vollkommen außer Atem war.
»Tut mir leid, aber das Gate ist bereits geschlossen«, teilte ihm der Angestellte mit.
Hancock fixierte den Mann wütend. »Ich bin ein Federal Agent, und wenn ich nicht auf diesem Flug dabei bin, müssen Sie sich um mehr als Ihre Frisur Gedanken machen, Freundchen. Also, ich sage es nur noch ein einziges Mal: Machen Sie die Tür auf.«
Anscheinend wirkte der FBI-Agent trotz seiner durchschnittlichen Körpergröße einschüchternd auf den jungen Mann, denn dieser schob die Tür tatsächlich wieder auf und ließ Hancock passieren. Danach nahm er einen Telefonhörer zur Hand und sprach kurz hinein. Anscheinend hatte er die Crew darüber informiert, dass noch ein Passagier kam, denn als der Agent am Ende des Zugangs angekommen war, wurde die Kabinentür von innen geöffnet und gab den Blick auf eine junge, wohl proportionierte Brünette frei. Sie hatte gewisse Ähnlichkeit mit seiner Ex-Frau, was sofort eine gewisse Abneigung in ihm weckte.
»Pete Hancock«, sagte er und beugte sich leicht vor, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
»Wir hatten nicht mehr mit Ihnen gerechnet«, erklärte die Flugbegleiterin. »Schön, dass Sie es doch noch geschafft haben. Haben Sie Ihre Bordkarte dabei?«
Der Agent kramte in seinen Taschen und fand schließlich das unordentlich zusammengefaltete Stück Papier. Er reichte es der Flugbegleiterin und wartete, während sie es überprüfte.
»Alles klar«, konstatierte sie. »Kommen Sie bitte herein und setzen Sie sich. Wir sind schon spät dran.«
Hancock ging an ihr vorbei und den schmalen Gang hinunter, bis er schließlich an seinem Platz angelangt war.
»Guten Morgen«, sagte Agent Bernstein fröhlich und lächelte seinen Partner an.
»Morgen«, brummte Hancock und ließ sich schwerfällig auf seinem Sitz nieder, bevor er sich anschnallte.
»Gut geschlafen?«, wollte der jüngere Agent nun wissen.
»Gut gevögelt?«, gab sein Partner bissig zurück.
»Ich hatte schon Sorge, dass Ihnen etwas passiert ist, weil Sie nicht am Gate waren, als der Flug aufgerufen wurde. Ich habe auch versucht, Sie telefonisch zu erreichen.«
»Hab keinen Anruf bekommen«, sagte Hancock. »Außerdem war ich beschäftigt.«
»Das ist seltsam«, erwiderte Bernstein. »Ich habe mehrfach das Freizeichen gehört. Schauen Sie doch mal bitte nach.«
Hancock wandte sich nun zu seinem Kollegen. »Lassen wir die Diskussion und konzentrieren uns lieber auf den Flug, in Ordnung? Ist alles bei unserer Ankunft bereit? Der Mietwagen und die Hotelzimmer gebucht?«
»Alles erledigt«, informierte der jüngere Agent seinen älteren Partner. »Die Adresse der Ranch habe ich außerdem in meinem Smartphone gespeichert.«
»Gut. Dann halten Sie jetzt die Klappe und lassen Sie mich nachdenken.«
Bernstein tat wie verlangt und blickte aus dem kleinen Fenster. Das Flugzeug war fast unmittelbar, nachdem Hancock angekommen war, vom Gate gerollt und befand sich nun auf dem Weg zur Startbahn. Die Maschine musste nur kurz warten und gab dann Schub, bis sie sich schließlich schwerfällig vom Asphalt und in die Luft erhob.
»Immer wieder ein tolles Gefühl, zu fliegen«, sagte Bernstein in Richtung seines Partners.
Doch dieser hing schräg in seinem Sitz und schnarchte.