1. Kapitel
Es war eine Sache, davon zu träumen, in Nöten zu sein, doch ganz etwas anderes, sich tatsächlich in Schwierigkeiten zu befinden. Besonders irritierend fand Katherine, dass der Ritter, der sich in ihrer Einbildung sonst stets rechtzeitig einfand, jetzt nirgendwo zur Stelle war. Sie würde sich allein behelfen müssen. Zwar gewöhnte sie sich an den Gedanken, doch das machte ihr die missliche Lage nicht angenehmer.
„Nun begreifst du, dass alles erledigt ist, meine Liebe“, sagte Simon Ralston. „Die Passage wurde vor einer Woche gebucht.“ Er schaute von den Unterlagen seines verstorbenen Bruders auf, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, und sah dann, da Katherine nichts äußerte, wieder auf die Papiere. Nach einem Moment murmelte er: „Es ist alles arrangiert.“
„Ich reise nicht ab!“, erwiderte Katherine und starrte auf den Teppich, auf dem sie als Kind so oft gespielt hatte. Sie ballte die Hände, um der Versuchung nicht nachzugeben, sich undamenhaft aufzuführen. „Das ist mein Heim!“
„Nun, da ich dir von deinem Vater zum Vormund bestimmt wurde, verfüge ich über dieses Haus, wie es mir genehm ist, und in den nächsten zwei Jahren werde ich hier leben. Du wirst in dieser Angelegenheit nicht gefragt und die freundliche Einladung deiner Patentante annehmen, zu ihr nach London zu kommen.“
Diese Aufforderung musste ihrem Onkel sehr genehm sein. Katherine war überzeugt, dass er, sobald sie nicht mehr in Crestley Hall war, das Anwesen umgehend veräußern und den Erlös in seine Tasche stecken würde. Sie hatte ihn nie gemocht, und in den seit dem Tod ihrer Mutter verflossenen Monaten war die Abneigung gegen ihn noch gestiegen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihren Vater bewogen haben mochte, seinen jüngeren Bruder zu ihrem Vormund zu bestimmen, bis sie zweiundzwanzig Jahre alt war. Indes war damals, da er diese Verfügung getroffen hatte, noch nicht daran zu denken gewesen, dass er bei einem Kutschenunfall ums Leben kommen und ihre Mutter zwei Jahre später an Lungenentzündung sterben würde. Und nun sah Katherine sich ihrem Onkel ausgeliefert, der ihr Zuhause verkaufen und das Geld verwetten würde.
Er sah ihrem Vater nicht sehr ähnlich. Er war braunhaarig, wohingegen sie, ihr Vater und alle anderen Verwandten schwarzes Haar hatten. Lediglich die braune Augenfarbe war gleich. Ihr Vater hatte jedoch immer einen sanften, gutmütigen Blick gehabt, während in den Augen ihres Onkels stets ein kalter, abweisender Ausdruck stand. Katherine war froh, dass sie der von irischen Ahnen abstammenden blauäugigen Mutter nachschlug. Es tröstete sie, dass sie und ihr Onkel sich nicht ähnlich sahen. Je weniger sie mit ihm gemein hatte, desto besser.
„Schmolle oben weiter und kümmere dich um dein Gepäck“, sagte Simon Ralston, ohne seine Nichte anzusehen. „Ich will nicht noch einmal einen deiner Temperamentsausbrüche miterleben müssen. Die Kutsche fährt in aller Frühe.“
Absichtlich blieb Katherine aus Trotz noch einen Moment sitzen, erhob sich dann widerwillig und verließ den Raum. In der vergangenen Woche hatte sie sich mehrmals mit ihrem Onkel über die von ihm befohlene Abreise gestritten. Ihr war klar geworden, dass sie ihn nicht umstimmen konnte. Daher hatte sie bereits die wenigen Habseligkeiten eingepackt. Sie wurde mit dem fortgeschickt, was sie tragen konnte, und bezweifelte, dass der Rest ihrer Sachen ihr nachgesandt wurde, wie ihr Onkel angekündigt hatte.
Seit seiner Ankunft vor neun Monaten waren die meisten Dienstboten von ihm entlassen worden. Die Kündigungen hatten eingesetzt, als ihre Mutter zu krank geworden war, um das Schwinden des Personals zu bemerken. Katherine wiederum war zu sehr um das Befinden der Mutter besorgt gewesen, als dass sie ihr mitgeteilt hätte, was im Haus vorging.
Nun wirkte es noch ruhiger denn sonst, und sie fragte sich, ob die düstere Stimmung ihrem Onkel ebenso auf das Gemüt schlug wie ihr. Sie hoffte, es möge so sein, doch nach kurzem Überlegen bezweifelte sie, dass er die Grabesstille überhaupt bemerkte.
Zwei Jahre zuvor war sie anlässlich ihres gesellschaftlichen Debüts in London gewesen. Nach vierzehn Tagen hatte sie jedoch, bedingt durch den Tod ihres Vaters, auf weitere Vergnügungen verzichten müssen. Es war ihr gleich, ob sie je wieder in die Hauptstadt kam. Sie musste nur dorthin, weil ihr Onkel, wie er ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte, sie loswerden wollte. Sie erwog die Möglichkeit, ob er dahintersteckte, dass sie vor einem Monat von Lady Clarey, der besten Freundin ihrer Mutter und ihrer Patentante, eingeladen worden war, glaubte es indes nicht. Der Gedanke, Lord Clarey oder dessen Gattin könnten sich von jemandem wie ihrem Onkel für dessen Zwecke einspannen lassen, war selbst für sie, bei aller Einbildungskraft, unvorstellbar.
***
Am nächsten Morgen erschien der betagte Butler, einer der wenigen noch im Haus verbliebenen Dienstboten, um das Gepäck hinunterzutragen. Er nahm die beiden Koffer, ging zur Tür und blieb kurz davor stehen.
Er räusperte sich, drehte sich um und fragte: „Miss Ralston?“
„Ja, was gibt es, Timms?“ Sie hatte, wahrscheinlich zum letzten Mal, in den Park und auf die dahinterliegenden Wälder geblickt, und wandte sich widerstrebend um.
„Geben Sie gut auf sich acht, Madam.“
„Das werde ich“, erwiderte sie mit gezwungenem Lächeln und verließ bald darauf den Raum. In der Halle sah sie ihren Onkel warten, und ihre Stimmung wurde noch gedrückter. Sie hatte gehofft, er möge sich nicht die Mühe machen, so zeitig aufzustehen. Sie wollte nicht, dass ihr letzter Blick auf Crestley Hall ihn einschloss. Das würde sich nun jedoch nicht vermeiden lassen, da er ihr, wiewohl sie schweigend an ihm vorbeiging, zur Droschke folgte. Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um und bedauerte, dass sie nicht so hochgewachsen war wie ihr Vater. „Ich warne dich“, sagte sie kühl. „Es kommt dich teuer zu stehen, sollte während meiner Abwesenheit auch nur ein Gegenstand aus dem Haus verschwinden.“
„Benimm dich ordentlich, wenn du bei Lord und Lady Clarey bist“, erwiderte Simon Ralston unbeeindruckt. „Vielleicht bitte ich sie, einen Gatten für dich zu suchen, vorausgesetzt, jemand will einen solchen Zankapfel wie dich zur Frau haben. London ist ein gefährliches Pflaster, also sei auf der Hut.“
Einen Moment lang starrte Katherine ihren Onkel an. Sie schwankte zwischen Zorn über die von ihm ausgesprochene Kränkung und jähem Unbehagen. Falls er die letzte Beteuerung als Warnung verstanden wissen wollte, hatte er ihr jetzt zum ersten Male offen gedroht. Er hatte bestimmt Arges im Sinn.
Sie ließ sich vom Butler in den Wagen helfen. Die Droschke sollte sie zum „Roten Bären“ bringen, wo sie Anschluss zu der nach London fahrenden Postkutsche hatte. Der Wagen rollte an, und auf der langen Allee warf sie einen Blick zurück auf Crestley Hall, dem bereits die Anzeichen des vom Onkel verursachten Verfalls anzusehen waren. Ihr Onkel stand am Fuß der Freitreppe und schaute der Kutsche hinterher. Katherine schwor sich, zurückzukehren und einzufordern, was rechtens ihr gehörte.
***
„Noch eine Runde, Sommesby“, sagte Francis Dupres und beugte sich vor.
Nicholas Varon, Duke of Sommesby, überging die Aufforderung, stand auf und erwiderte: „Es tut mir leid, meine Herren, doch auch ich brauche gelegentlich Schlaf, selbst wenn man das Gegenteil von mir behauptet.“
„Ihr Schlafbedürfnis hat doch wohl kaum etwas damit zu tun, dass Sie jetzt Ihre Gewinne einstreichen und gehen wollen.“
„Nein, in der Tat nicht“, sagte Simon Ralston, nahm eine Münze aus dem vor ihm liegenden Haufen und schob sie, ohne sich ihres Wertes zu vergewissern, Mr. Dupres zu. „Mit meinen besten Empfehlungen“, fügte er leichthin an.
Neben ihm lachte Thomas Elder, Viscount of Sheresford. „Hören Sie auf, sich zu beschweren, Dupres“, warf er ein. „Der Sovereign ist mehr wert, als Sie heute Abend eingenommen haben.“ Er steckte das wenige ihm verbliebene Geld ein und fragte scherzhaft: „Was hältst du davon, Nicholas, wenn du mir auch einen Sovereign zukommen lässt?“
„Nicht viel“, antwortete Nicholas und bemühte sich, nicht zu gähnen. „Hoffentlich ist dir das Lehre genug und du verzichtest darauf, dein Geld für den Lusitano-Hengst auszugeben, mit dessen Kauf du liebäugelst.“
„Mit ,nicht viel‘ ist der heutige Abend gut beschrieben“, schaltete Francis Dupres sich ein.
„Wie sollen wir das verstehen?“, fragte Nicholas steif und überlegte, ob er auf dem besten Wege sei, sich in dieser Saison mehr Ärger denn je einzuhandeln. Zwei Tage zuvor hatte er sich auf reichlich spektakuläre Weise von der schönen Miss Bettreaux getrennt, und nun reizte ihn Mr. Dupres. Die Saison hatte soeben erst begonnen. Mr. Dupres war ein unangenehmer Partner beim Faro gewesen und schien jetzt auch noch gewillt zu sein, die Gerüchte über Nicholas’ Jähzorn auf die Probe stellen zu wollen. So es an dem war, würde Nicholas ihm gern den Gefallen tun.
„Sie wissen, worauf ich angespielt habe“, antwortete Francis Dupres selbstsicher und stand auf.
„Seien Sie kein Narr, Sir“, mischte Captain Reginald Hillary sich ein, zweiter von vier Söhnen der äußerst fruchtbaren Hillary-Familie, ergriff ihn beim Arm und wollte ihn auf den Stuhl zurückziehen.
Nicholas legte die Handschuhe auf den Tisch, da Mr. Dupres nicht wieder Platz nahm, und murmelte: „Also, was haben Sie mir vorzuwerfen?“
Jeder, der ihn kannte, hätte gemerkt, dass seine Stimme gefährlich leise geklungen hatte und sein Blick drohend geworden war.
Thomas ahnte, was geschehen würde, und wich vom Tisch zurück.
Auch Reginald zog sich aus Mr. Dupres’ Nähe zurück.
Das Gemurmel im Raum erstarb, und neugierige Blicke wurden herübergeworfen. Francis Dupres spürte sich erbleichen, war jedoch nicht zum Nachgeben bereit. „Heute Abend haben Sie kaum eine Partie verloren, Sir“, sagte er missmutig. „Ich verstehe nicht, warum man uns so anstarrt. Jeder kennt doch Ihren Ruf, Sir …“
Nicholas schlug zu. Mr. Dupres torkelte rückwärts, stürzte über seinen Stuhl und krachte gegen den dahinter stehenden Tisch. Etliche Gläser ergossen den Inhalt auf ihn, als er auf den Fußboden fiel, und ruinierten ihm den Abendfrack und das brokatene Gilet. Reglos blieb er liegen. Blut sickerte aus der verletzten Unterlippe und ließ ihn noch blasser aussehen, als er ohnehin gewesen war.
„Parbleu!“ murmelte Thomas staunend. „Du hast ihn mit einem Hieb bewusstlos geschlagen.“
Nicholas schaute sich mit verengten Augen um. Niemand wagte, sich ihm zu nähern. Die Herren sahen ihn wachsam an. Er lächelte spöttisch und sagte sich, dass, falls er sich nicht irrte, und das war selten der Fall, in der nächsten Zeit niemand sich erdreisten würde, Beschuldigungen gegen ihn zu erheben. Er schob dem Saaldiener eine noch gültige Guinee zu, sah den Mann ihn dankbar anlächeln und warf dann einen weiteren Sovereign auf Mr. Dupres’ Brust. „Das dürfte für den Kauf einer neuen Weste genügen“, äußerte er verächtlich und wandte sich zum Gehen.
Thomas schloss sich ihm an. Die Leute wichen ihnen aus, und einige Minuten später war er mit dem Freund auf der Straße.
Da Nicholas nicht weit von White's entfernt wohnte, schickte er den Kutscher mit der Equipage voraus und zog es vor, zu Fuß heimzukehren, um sich etwas zu beruhigen und die Wirkung des genossenen Champagners abklingen zu lassen.
Thomas zögerte einen Moment und folgte ihm dann. „Das hättest du nicht tun dürfen“, bemerkte er kopfschüttelnd.
„Und warum nicht?“
„Mr. Dupres hat sich dumm verhalten, aber er ist durchtrieben, Nicholas. Du hast ihn jetzt zum zweiten Mal beleidigt.“
„Auf dem Fußboden wirkte er nicht durchtrieben“, erwiderte Nicholas spöttisch. „Im Übrigen war ich nicht bereit, mir anzuhören, was er an Unverschämtheiten über mich sagen wollte.“
„Er hält sich für einen Beau. Du hast ihn der Lächerlichkeit preisgegeben.“
„Er ist ein Lackaffe, der nicht den mindesten Geschmack hat.“
„Nun, nicht jeder ist so wie du.“
Nicholas schmunzelte und erwiderte, die Äußerung absichtlich falsch interpretierend: „Dafür solltest du dankbar sein.“
„Ich befürchte, du hast dir Mr. Dupres zum Feind gemacht. Hüte dich vor ihm.“
Nicholas ging nicht auf die Bemerkung ein.
„Ach, fahr zur Hölle!“ brummte Thomas, machte kehrt und ging zu seiner Kutsche.
***
Nicholas sah sich genötigt, zeitiger aufzustehen, als ihm lieb war. Er konnte nicht mehr schlafen, weil ihm der Schädel dröhnte und der Lärm sich auf der Straße streitender Kutscher ihn störte. Er läutete dem Kammerdiener, machte Toilette und begab sich dann in das Arbeitszimmer. Er setzte sich und hörte, als er begann, die tags zuvor eingegangene Post durchzusehen, dass jemand am Haupteingang Einlass begehrte. Auf die meisten der erhaltenen Einladungen würde er mit einer höflichen Absage reagieren. Flüchtig überlegte er, wie viele Damen der Gesellschaft bedauern würden, ihn zu sich gebeten zu haben, nachdem sie erfahren hatten, dass er zum zweiten Mal in einen Skandal verwickelt war. Andererseits hatte er den Eindruck, dass die Zahl der Einladungen stieg, je größer das von ihm erzeugte Aufsehen war. Seufzend blickte er auf die vor sich stehende Säulenpendule und sah, dass es erst neun Uhr war. Die Saison hatte erst vor fünf Tagen begonnen, er hatte indes dem guten Namen seiner Familie bereits ein weiteres Mal Schande gemacht.
Er hob den Kopf und sah seine Mutter in der offenen Tür stehen. Sie war wie immer sehr elegant gekleidet. Das Chemisenkleid aus lindgrünem Foulard stand ihr vorzüglich und brachte ihr schwarzes Haar sowie die grauen Augen gut zur Geltung. „Du siehst bezaubernd aus, Mama“, bemerkte er anerkennend und erhob sich.
„Bezaubernd ist ein Wort, das den jungen Damen vorbehalten sein sollte, denen du so viel Kummer bereitest. Ich glaube, ich bin in dem Alter, in dem man mein Aussehen als ,distinguiert‘ bezeichnen sollte.“
„Du wirkst sehr distinguiert, Mama“, sagte Nicholas lächelnd.
„Überwindest du nie diese Tendenz, Ärger zu machen?“, fragte sie, nahm auf dem Sofa Platz und ließ sich vom Butler Tee einschenken.
„Diesmal bin ich nicht schuld“, nahm Nicholas sich in Schutz. „Ich habe lediglich unseren guten Namen verteidigt.“
„Und Miss Bettreaux?“
Er straffte sich, drehte sich zum Fenster um und antwortete: „Auch das kann man mir nicht anlasten.“
„Nein?“
„Nein! Ich habe sie nicht fortgeschickt, irgendeinen jungen Trottel zu finden und ihn zu ermutigen, auf mich zu schießen. Das war ihr Einfall.“ Er wäre in jener Nacht daheim geblieben, hätte er geahnt, was seiner einfallsreichen ehemaligen Mätresse in den Sinn gekommen war, um seine Eifersucht zu wecken.
Juliette furchte die Stirn und äußerte tadelnd: „Ist es nicht ein wenig früh, um schon Cognac zu trinken?“
Nicholas wurde sich bewusst, dass er nach der Karaffe gegriffen hatte. Im allgemeinen schätzte seine Mutter ihn nicht so falsch ein, aber vermutlich war sie wütend auf ihn. „Noch etwas?“, fragte er gereizt, zog jetzt absichtlich den Stöpsel aus der Karaffe und schenkte sich ein. Er trank einen langen Schluck und warf seiner Mutter über das Glas einen Blick zu, der sie warnen sollte, ihn nicht noch mehr zu verärgern.
„Nachdem du Mr. Dupres gedemütigt hast, kommst du hoffentlich nicht auf den Gedanken, ihn zum Duell zu fordern, oder doch?“
Seine Mutter sprach zwar ausgezeichnet Englisch, befleißigte sich indes noch immer gern eines melodischen Akzents, da sie aus Frankreich stammte.
„Ich erinnere mich an Zeiten, da du um mein Wohlergehen besorgt warst“, erwiderte Nicholas.
„Ja, aber damals ging es um dich“, sagte Juliette in täuschend ruhigem Ton und nippte an der Teetasse.
„Ich glaube, Mr. Dupres hat seine Lektion gelernt. Da ich Miss Bettreaux geraten habe, eine Weile in Frankreich zu leben, nehme ich an, dass auch sie zur Vernunft kommen wird.“
„Mir ist ohnehin nicht klar, wie deine Wahl ausgerechnet auf jemanden wie sie fallen konnte. Sie hat kein Gefühl für Anstand.“
„Das ist kein Thema, das ein Mann mit seiner Mutter bespricht“, entgegnete Nicholas, leerte den Schwenker und schenkte sich ein. Er wusste, dass er sie damit noch mehr gegen sich aufbringen würde.
„Jemand muss mit dir darüber reden. Du hast alle Leute, auf deren Rat du dich verlassen könntest, aus deiner Umgebung vertrieben.“
Nicholas drehte sich um, hob in geheucheltem Erstaunen die Brauen und sagte: „Ich habe niemanden verstört.“
„Du vergisst, dass ich durch deinen Vater seit dreißig Jahren dieses ungebärdige Wesen kenne und weiß, wie ich damit umgehen muss. Wenn du verärgert bist, hast du eine Art, die deine Umgebung einschüchtert. Und du hast Angst, Leuten, die dir wohlwollend gesinnt sind, Vertrauen zu schenken.“
Nicholas setzte sich in einen Fauteuil, ließ den Cognac im Schwenker kreisen und hielt ihn gegen das Licht. Er wusste, er war leicht reizbar, und sein aufbrausendes Naturell diente ihm oft dazu, Menschen auf Distanz zu halten.
„Du musst nicht jemanden wie Miss Bettreaux um dich haben“, sagte seine Mutter ruhig. „Ist dir das nicht klar?“
„Bist du hergekommen, um mir meine Verfehlungen vorzuhalten und den Versuch zu unternehmen, mich zur Heirat zu bewegen?“ Nicholas trank noch einen Schluck Cognac und genoss den süffigen Geschmack. „Auf wen bist du diesmal verfallen? Ich habe dich neulich mit Lady Belning im Gespräch gesehen. Geht es um ihre Tochter? Wie heißt sie? Azalea? Althaea? Amarintha?“
„Antonia“, sagte Juliette unwirsch. „Hast du je ein Wort mit ihr gewechselt?“
„Im vergangenen Jahr habe ich versucht, mit ihr zu reden. Sie sah aus, als fiele sie gleich in Ohnmacht.“
Juliette nippte wieder an der Tasse und bemerkte dann, wider Willen lächelnd: „Du kannst sehr einschüchternd sein.“
„Nun, ich bin nicht willens, mit einer Frau verheiratet zu sein, die jedes Mal, wenn ich das Wort an sie richte, in Ohnmacht fällt. Zudem habe ich damals in einer Minute über alles mit ihr gesprochen, was sie und ich gemein haben.“
Juliette lachte leise und wurde schnell wieder ernst. „Du bist fast dreißig Jahre alt“, sagte sie, stellte die Tasse ab und schaute streng ihren Sohn an. „Wann gedenkst du, dich zu binden?“
„Vielleicht nie“, antwortete er, stand auf und schlenderte erneut zum Fenster. Diese Art Fragen erzeugte ihm jedes Mal Unbehagen. Hin und wieder hatte er daran gedacht, sich zu vermählen, doch die Ehe als solche und sein Wesen schienen unvereinbar zu sein. „Meinst du nicht, dass es für die Gesellschaft ein Segen wäre, wenn das aufbrausende Temperament der Varons nicht weitervererbt würde?“
Die verwitwete Duchess erhob sich, schaute ihn strafend an und antwortete spitz: „So etwas darfst du nicht sagen! Damit beleidigst du deinen Vater und mich!“
Nicholas bedauerte die Äußerung. Er hatte nicht die Absicht gehabt, seine Mutter zu kränken, sondern nur zum Ausdruck bringen wollen, was ihm in dieser Hinsicht in der letzten Zeit durch den Kopf gegangen war. „Du hast kein hochfahrendes Wesen, Mama“, entschuldigte er sich.
„Ich habe mich jedoch in diesen Charakterzug deines Vater verliebt.“
Nicholas wusste, dass sie noch immer unter dem Tod ihres Gatten litt, obwohl sein Vater inzwischen seit acht Jahren unter der Erde lag. Rasch ging er zu ihr, umarmte sie und sagte trocken: „Ich glaube, ohne uns beide wäre es in London reichlich langweilig.“ Er hatte sich mit seinem Vater nicht immer gut verstanden, doch es gab Zeiten, da er ihn sehr vermisste.
Sacht löste sich seine Mutter von ihm und erwiderte lächelnd: „Bitte, halte dich von Miss Bettreaux und Mr. Dupres eine Weile fern.“
„Nein, das tue ich nicht. Ich verstecke mich nicht vor ihr und diesem ungehobelten Klotz. Sollten die beiden mir jedoch aus dem Weg gehen, habe ich nichts dagegen.“
„Danke.“
Nicholas nickte und setzte sich wieder. „Du weißt so gut wie ich“, fuhr er fort, „dass ich irgendwann erneut mit jemandem aneinandergeraten werde. So ist es immer. Es ist eine meiner größten Begabungen, Leute zu verärgern.“
„Ich würde diese Eigenschaft nicht kultivieren.“