Kapitel eins
Juni 1961
Ernestine nahm das schwere Buch aus dem Regal. Der rötliche Ledereinband, der beinahe die gleiche Farbe wie ihr Haar hatte, duftete ganz leicht nach ihrem Lieblingsgericht.
Grüner Knurrhahn, das Geheimrezept ihrer Familie … Der Dunst, der beim Kochen entstand, war hundertfach in das weiche, von vielen Berührungen verfärbte Material gesunken und rief bei ihr augenblicklich einen unstillbaren Appetit hervor.
Unstillbar, weil sie selbst nicht kochen konnte. Eigentlich eine Schande für eine Frau Anfang zwanzig, doch seit stetig deutlicher wurde, dass ihr älterer Bruder Emil es gesundheitlich nicht schaffen würde, das Antiquariat zu führen, bezogen ihre Eltern sie immer mehr in die Geschäfte mit ein.
Sie seufzte und strich über den Buchdeckel, auf dem sie jeden Fettspritzer einzeln kannte. Dieser große hier war beim letzten Mal hinzugekommen, als Adelheid, ihre neue Köchin, den schmackhaften Eintopf zubereitet hatte. Sie hatte ihre Sache mehr als gut gemacht und sich geradewegs in Ernestines Herz gekocht.
Ein wenig neidisch war sie auf diese Kunst. Viel lieber würde sie selbst die Hauswirtschaftsschule besuchen, so wie es ihre Freundinnen von früher getan hatten. Sie wollte kochen lernen, nähen, stricken und alles, was man brauchte, um einen Haushalt zu führen. Wie sollte sie jemals einen Mann finden, wenn sie das nicht konnte?
»Ernestine! Nun lass doch dieses Buch und kümmere dich um die Geschäftsbücher! Deinem Bruder geht es nicht gut, das weißt du doch.«
Ernestine fuhr herum und hätte beinahe das alte Kochbuch fallengelassen.
Ihre Mutter hatte die hauseigene Bibliothek betreten und blickte sie streng an. Wie fast immer stemmte sie dabei die Hände in die Hüften und zog die Brauen derart zusammen, dass zwischen ihnen, direkt über der Nasenwurzel, eine steile Falte erschien. Ehrlich gesagt hatte sich diese Falte längst in die Haut gegraben und glättete sich auch nicht, wenn Mutter einmal entspannt aussah. Wohlgemerkt kam das auch eher selten vor.
»Natürlich, Mutter«, sagte sie und räusperte sich. Die Buchhaltung war ihr ein Graus.
Behutsam legte Ernestine das Buch zurück ins Regal. Es würde ihr nicht gefallen, wenn damit etwas geschehen würde. Sie war vielleicht die einzige, der dieses alte Familienerbstück etwas bedeutete, doch da konnte sie nicht aus ihrer Haut: Einem guten Essen konnte sie einfach nicht widerstehen. Und dieses Buch steckte voller guter Gerichte.
Ihre Mutter wartete, bis sie an ihr vorbei in den Flur getreten war, und schloss geräuschvoll die Tür hinter ihnen. Ernestine spürte ihren missbilligenden Blick auf sich ruhen.
»Heute Abend solltest du wirklich das Essen ausfallen lassen, Ernestine«, sagte sie scharf.
Ernestine konnte es nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. Obwohl sich ihr Magen bei dem Gedanken, nichts mehr zu bekommen, jetzt schon schmerzhaft verzog, nickte sie. »Natürlich, Mutter.«
Wenn sie ihr jetzt in die Speckröllchen kniff, die sich über ihrem Rocksaum wölbten, könnte sie für nichts garantieren.
»Und wie du aussiehst. Deine Haare kräuseln sich schon wieder. Kind, du hast das störrische Haar deiner Großmutter, da musst du …«
Ernestine strich sich über ihre hochgesteckten rotbraunen Locken, die sie in Wahrheit sehr schön fand. »Sicher hast du recht, Mutter.«
So schnell, wie es gerade noch damenhaft war, ließ sie ihre Mutter stehen, spurtete den Flur entlang und öffnete die schwere Tür, die in die Geschäftsräume des Antiquitätengeschäfts führte, das ihre Familie in mittlerweile dritter Generation betrieb.
Sofort umfing sie die Geschäftigkeit Bremens, die durch die einladend geöffnete Glastür quoll. Absätze klickten auf dem Kopfsteinpflaster in der Jakobistraße. Einige Jungs in knielangen Hosen boten ihre Dienste beim Schuhputzen an, ein weiterer verkaufte die Tageszeitung, die er lautstark anpries.
»Extrablatt! Moorleiche im ewigen Meer bei Aurich entdeckt! Lesen Sie bei uns alles über den grausigen Fund!«
Ernestine musste lächeln. Sie kannte die Geschichte der berühmten Moorleiche von Bernuthsfeld, die vor über fünfzig Jahren im Moor gefunden wurde. Sie selbst hatte sie sich als Kind einmal ansehen dürfen, wenn auch nur heimlich. Ihr Bruder Emil hatte sie mitgenommen. Auch wenn es schon fünfzehn Jahre her war, erinnerte sie sich immer noch an die Aufregung, die sie den ganzen Tag über nicht losgelassen hatte.
Seitdem machte das Moor häufig Schlagzeilen, in den meisten Fällen entpuppte sich die vermeintliche Leiche jedoch als entlaufenes Schaf, das den Weg aus dem Moor nicht finden konnte.
Dennoch juckte es sie in den Fingern, sich eine Ausgabe der Zeitung zu kaufen. Immerhin besaß ihre Familie ein Sommerhaus in der Gegend, das sie sehr liebte. Sie konnte es jedes Jahr gar nicht erwarten, wenn sie dorthin aufbrachen.
Sie kramte schon in der Tasche ihres biederen Rockes nach Kleingeld, als ihr Vater von seinem Platz hinter dem Tresen aufstand und die Tür ins Schloss drückte.
»So ein Lärm, da kann ja kein Mensch arbeiten.« Mit seinen lustigen Fältchen um die Augen sah er immer freundlich aus, wie er sie über seine Brillengläser hinweg anblickte. »Stimmt es nicht, Mädchen? Gut, dass du da bist. Dem Emil geht’s nicht gut. Es wird sicher besser, wenn du ihn ablöst und er sich ein wenig hinlegen kann.«
Ernestine nickte und lächelte ihren Vater an. »Natürlich, Vater.«
Wieder einmal fiel ihr auf, wie sehr sich ihre Eltern im Typ unterschieden. Sie hatten die Fältchen an völlig unterschiedlichen Stellen, und, auch wenn sie beide das gleiche von Ernestine erwarteten, schaffte Vater es, sie dazu zu bewegen, es gern zu tun.
Sie klopfte an die Tür zum Hinterzimmer. Ein leises Husten erklang, dann folgte die Stimme ihres Bruders. »Herein.«
Sie öffnete die Tür und schob sich durch den Spalt. »Ich übernehme die restliche Buchhaltung, Emil. Leg du dich doch ein wenig hin. Du siehst müde aus.«
Müde war stark untertrieben. Sein hageres Gesicht war noch eingefallener als sonst. Sie hatte ihn über ein Stockwerk hinweg die ganze Nacht husten hören, immer im Wechsel mit dem Geschrei des kleinen Konrads, der noch bei Emil und seiner Frau Merle im Zimmer schlief – oder eben nicht schlief, wenn sein Vater dauernd Geräusche machte.
Ausnahmsweise protestierte Emil nicht. Das zeigte, wie schlecht es ihm an diesem Tag wirklich ging. Das und der Berg an handschriftlichen Rechnungen, die noch ins Rechnungsbuch eingetragen werden mussten. Schrecklich viele Rechnungen. Ihr wurde ganz flau bei dem Anblick.
Weit war er nicht gekommen.
»Vielen Dank, Ernie. Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist. Irgendwie habe ich schlecht geschlafen.« Er erhob sich mit einem Ächzen, das einem viel älteren Mann deutlich besser gestanden hätte.
Wie immer versuchte er, seine Krankheit herunterzuspielen. Dabei konnte sogar Ernestine an den sorgenvollen Mienen der Ärzte ablesen, wie es um ihn stand.
Traurig blickte sie ihm nach, als er viel zu gebeugt für sein Alter durch die Tür verschwand. Noch Minuten später vernahm sie sein unterdrücktes Husten. Es hallte durch das Treppenhaus, während er sich hinauf in die kleine Wohnung schleppte, die er mit seiner Familie bewohnte.
Ergeben setzte sie sich auf seinen Platz. Er war noch warm, und ein leichter Hauch seines Rasierwassers lag in der Luft.
Das und der würzige Geruch einer Portion Labskaus. Sie entdeckte die Leckerei hinter dem alten Abakus, den niemand mehr benutzte. Wie es aussah, hatte der Appetit Emil sehr früh verlassen. Es fehlten höchstens zwei oder drei Löffel der roten Masse.
Ernestine konnte es nicht verhindern, sich darüber zu freuen. Sofort mischte sich Scham darunter. Natürlich wünschte sie sich, dass es ihrem Bruder bald wieder besser ginge.
Labskaus verkommen zu lassen, war auch keine Lösung, vor allem, wenn Adelheid es zubereitet hatte.
Mit einem genüsslichen Seufzen schob sich Ernestine den ersten Löffel zwischen die Lippen. Diese neue Köchin war ein wahrer Segen für dieses Haus.
Kapitel zwei
Gegenwart
Was für ein Segen, dass sie es bald geschafft hatte! Helmke schleppte einen weiteren Karton die dunkle Stiege hinauf, die in den ersten Stock führte.
Von oben vernahm sie ein leises Rumpeln. Ihre Tochter Konstanze räumte offenbar mit viel Elan ihre Sachen ein. Als sie das große Zimmer mit dem altmodischen Himmelbett erblickt hatte, das nun ganz allein ihr gehören sollte, hatte sie vor Freude gequietscht. Vor allem, weil es direkt mit einem weiteren Raum verbunden war, den sie zu ihrem Arbeitszimmer auserkoren hatte.
Der Gedanke daran entlockte Helmke ein Lächeln. Sie sollte froh sein, dass Konstanze nicht dagegen rebellierte, aus ihrem Freundeskreis, ihrer Schule und ihrem Zuhause in Oldenburg gerissen zu werden, um in einem muffigen, dunklen Herrenhaus in einem ostfriesischen Kaff zu leben.
Ja, sie war froh darüber, überhaupt keine Frage. In der großen Kinderlotterie hatte sie die beste Tochter der Welt erwischt; fantasievoll, genügsam, abenteuerlustig und unglaublich neugierig.
Helmke hatte nur ihr Los ein wenig zu früh gezogen – jedenfalls wenn man den Großteil ihrer Familie fragte. Da half es auch nichts, dass sie ihren Abschluss an der Wirtschaftsschule mit Auszeichnung abgelegt, sich eine Garnitur eleganter Hosenanzüge gekauft und das Familiengeschäft im Alleingang aus der Misere gezogen hatte, und all das in Rekordzeit.
Sie sah an sich hinab. Besagter Hosenanzug in gedecktem Dunkelblau war an diversen Stellen eingestaubt. Am Knie könnte sogar ein schmaler Riss entstanden sein.
Sie biss sich auf die Lippe. Das war ihre Lieblingshose, jedenfalls von den seriösen. Hoffentlich ließ sie sich stopfen.
»Mama!«, rief Konstanze von oben. »Weißt du, wo mein Kuschelkissen ist?«
Helmkes Blick fiel auf den türkisfarbenen Zipfel, der aus ihrem Karton hervorlugte. »Ich bringe es dir sofort, Maus!«
Schnell nahm sie die letzten Stufen. Die Höhen waren teilweise so unregelmäßig, dass sie ins Straucheln geriet.
Kein Wunder, dass Großtante Ernie lieber im Erdgeschoss ihr Lager aufgeschlagen hatte und ihnen den kompletten ersten Stock überließ. Immerhin war sie inzwischen fünfundachtzig Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuß.
Im nächsten Moment streckte Konstanze ihren blonden Wuschelkopf durch die Tür ihres neuen Zimmers.
»Ich glaube, ich werde hier große Geheimnisse entdecken, Mama«, sagte sie strahlend und strich sich eine Locke aus der Stirn.
Instinktiv hatte Helmke das Bedürfnis, es ihr nachzutun. Sie sahen sich mit ihren blonden Locken nicht nur sehr ähnlich, sondern hatten auch die gleichen Angewohnheiten.
Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel stolz hoben. »Da bin ich mir sicher, Maus.«
»Wusstest du, dass es hier ein Tau gibt? Das führt einfach in die Decke! Was das wohl bedeutet?«
»Hm, zeig mal.« Sie trug den Karton an ihrer Tochter vorbei ins große Schlafzimmer.
»Hier!« Konstanze zeigte auf ein dickes rotes Seil mit einer Quaste am Ende und hüpfte dabei auf und ab. Jedes Mal, wenn sie oben war, überragte sie Helmkes ein Meter siebzig bereits um etliche Zentimeter. Es würde nicht mehr lange dauern, dann schaffte sie das auch im Stehen.
»Ich denke, damit konnte man früher eine Glocke läuten. Dann kamen die Dienstboten und haben einem alles gebracht, was man haben wollte.«
»Meinst du, das funktioniert immer noch?« Ihre Tochter strahlte sie an, als hätte sie sie bereits zu ihrer Lieblingsdienstbotin erkoren.
»Auf keinen Fall funktioniert das noch. Nicht mehr, seit Tante Ernie nicht mehr hier schläft. Jetzt gibt es immer Stubenarrest, wenn man da läutet.«
Konstanze kicherte. »Und du hast wirklich nichts dagegen, dass ich Tante Ernies altes Zimmer bekomme?« Sie ließ sich auf das Bett fallen. Ihre Pose machte deutlich, dass die Entscheidung ohnehin gefallen war, egal was Helmke jetzt dazu sagte.
»Ach was. Mir passt das auch viel besser.«
Sie brauchte nicht so viel Platz und arbeiten würde sie ohnehin unten in der Bibliothek. Dort stand ein riesiger Tisch, auf dem sie sich ausbreiten konnte. Das Internet funktionierte da auch viel zuverlässiger.
Zwar hatte sie es nicht weit bis nach Aurich, wohin Ernie vor über fünfzig Jahren die Hauptfiliale des Antiquitätenhandels verlegt hatte, aber hin und wieder würde es sicher möglich sein, auch von zu Hause aus zu arbeiten.
Momentan war sie jedoch einfach nur erleichtert, dass sie nicht mehr die weite Strecke von Oldenburg nach Aurich fahren musste. Wie viel mehr Zeit ihr dadurch für Konstanze bleiben würde!
Konstanze sah sie an und lächelte. »Ich freu mich, dass wir jetzt viel mehr Zeit füreinander haben werden, Mama.«
»Auch wenn wir die Zeit hier am … am Ende der Welt verbringen müssen?« Sie biss sich grinsend auf die Unterlippe, als sie das Blitzen in Konstanzes Augen wahrnahm. Ihre schlaue Tochter hatte natürlich sofort verstanden, was sie eigentlich hatte sagen wollen.
»Dieser Ort wird meinen wissenschaftlichen Studien zuträglich sein.« Konstanze zog ihr Kissen und einen Panamahut aus dem Karton.
Beides landete auf ihrem Bett. Seit sie lesen konnte, bekam sie nicht genug von allem, was mit Archäologie zu tun hatte, und plante mit Inbrunst ihre eigene Ausgrabung.
»Wusstest du zum Beispiel, dass in diesem Moor, dem Ewigen Meer, schon mal eine Leiche gefunden wurde?«
Sofort lief Helmke ein Schauer über den Rücken. »Du meinst diesen archäologischen Fund, nicht wahr?«
»Natürlich! Aber das heißt nicht, dass ich dort nicht auch noch etwas finde!« Sie lachte auf und umarmte ihr Kissen.
»Ach, Maus!« Helmke schlang die Arme um sie.
Was für ein Glück sie doch hatte, so eine tolle Tochter zu haben.
Kapitel drei
Juni 1961
»Was für ein Unglück«, murmelte Ernestines Mutter.
Ernestine fühlte sich von ihr gemustert und hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie damit gemeint war. Ihre Existenz in ihrer Gesamtheit.
Dabei war es ihr Bruder, der sich zum Abendessen hatte entschuldigen lassen. Sein Platz war frei geblieben. Nur seine Frau saß mit dem Rest der Familie am Tisch und blickte verschüchtert in die Runde. Die meiste Zeit jedoch musste sie sich ohnehin um das kleine Kind kümmern, das neben ihr in einen Kinderstuhl geklemmt worden und gerade dabei war, ein eingespeicheltes Brot in seinen Haaren zu verteilen.
In Ernestines Eingeweiden krampfte sich die Sorge unangenehm zusammen. Sorge um ihren Bruder, um sein Leben. Und natürlich auch die daraus resultierende Angst davor, das Geschäft in einigen Jahren allein führen zu müssen.
Sie wollte das doch gar nicht!
Unauffällig sah sie zum Tischhaupt hinüber. Ihr Vater stocherte in seinem Essen herum. Er wurde immer magerer.
Ihre Mutter war immer schon die zäheste in der Familie gewesen.
Um ihren Bauch zu beruhigen, griff Ernestine nach der Schüssel mit den Klößen. Sie schaufelte sich zwei Stück auf den Teller, und, als ihr der warnende Blick ihrer Mutter auffiel, nahm sie noch einen dritten. Dabei hatte sie gar nicht mehr so viel Hunger. Diese Frau brachte sie dazu, aus reinem Trotz mehr zu essen.
Sie zerkleinerte die soften, runden Bälle und übergoss sie mit viel zu viel brauner Soße.
Die Falten ihrer Mutter vertieften sich. Ihr würde ein bisschen mehr braune Soße ebenfalls hervorragend stehen, dann wäre sie nicht so hager. Wer weiß, vielleicht wäre sie sogar ein wenig zufriedener.
Ernestine schaufelte sich ein viel zu großes Stückchen Kloß in den Mund und kaute selig. Sie selbst war nach dem Genuss von gutem Essen jedenfalls immer sehr zufrieden, vor allem, wenn es so schmeckte wie heute.
Die Soße war hervorragend, viel vollmundiger und intensiver als die ihrer früheren Köchin. Bestimmt gab es eine geheime Zutat, und Ernestine wüsste nur zu gern, um was es sich dabei handelte.
Wie aufs Stichwort betrat die neue Köchin Adelheid den Raum. Sie war eine zierliche Frau mit kräftigen Händen. Ihren langen blonden Zopf hatte sie geflochten und um ihren Kopf gelegt wie einen Haarreif. Mit gesenktem Blick trug sie eine weitere Schüssel zum Tisch. Grüne Bohnen schwammen in einem hellen Dressing, zusammen mit einigen Zwiebelstückchen.
Mutter griff sie am Arm, bevor sie wieder verschwinden konnte. »Was ist das, bitte?«
Nicht wenige Menschen schafften es, das Wort »bitte« so unfreundlich klingen zu lassen wie Ernestines Mutter.
Sogar Vater hob kurz den Blick. Seine Augen weiteten sich bei dem Anblick der Bohnen, und Ernestine kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
»Das ist Bohnensalat, gnädige Frau«, antwortet Adelheid bescheiden, ohne den Blick zu heben. Es fehlte nur, dass sie einen Knicks machte.
Ernestine betrachtete sie aufmerksam, studierte ihre ernsten, etwas bedrückt wirkenden Gesichtszüge unter dem zurückgekämmten Haar. Sie schätzte sie auf etwas älter als sich selbst, vielleicht Mitte zwanzig, doch das konnte auch an ihrer Ernsthaftigkeit liegen.
»Bohnen!« Mutter gab sich ordentlich Mühe, entrüstet zu wirken. »Wissen Sie, was Bohnen mit meinem Mann anstellen?«
Adelheids dunkle Augen blitzten auf, aber sie war klug genug, den Kopf zu schütteln. »Es ist ein Rezept meiner Mutter«, fügte sie lediglich hinzu.
Schrecklich, dass Mutter es jedem so schwer machen musste. Adelheid war noch neu, woher sollte sie wissen, dass Mutter es nicht schätzte, wenn Vater Bohnen aß?
Entschlossen griff Ernestine nach der Schüssel. »Das probiere ich sehr gern. Du doch auch, Mutter?« Sie löffelte eine Portion Bohnen auf den Teller und zwinkerte der jungen Frau zu, die erst so kurz in ihrem Haus lebte.
»Bohnen!«, krähte Konrad und klopfte mit seinem Löffel auf den Tisch.
Adelheid zwinkerte zurück. Ein zurückhaltendes Lächeln umspielte ihre Lippen, und sofort wirkte sie jünger.
Vielleicht würde Ernestine morgen in den Unterlagen einmal nach ihrem Alter sehen. Eine Sache wusste sie bereits: dass Adelheid, im Gegensatz zu ihr, bereits ein Kind hatte. Da sie zudem immer schwarze Kleider trug, konnte sich Ernestine den traurigen Hintergrund zusammenreimen.
Ernestine seufzte. So tragisch es war, immerhin war Adelheid einst verheiratet gewesen. Ein Glück, das ihr selbst wohl für immer verwehrt bleiben würde.
Welcher Mann würde schon eine Frau heiraten, die ein großes Antiquitätengeschäft führen musste? Männer wollten eine Frau, die sich um sie kümmerte, die ihnen etwas kochte, ihre Sachen flickte.
Das konnte sie alles nicht. Sie war nur in der Lage, die Buchhaltung zu machen und den Wert eines alten Buches einzuschätzen oder die Epoche, in der ein bestimmtes Möbelstück oder Kunstwerk geschaffen worden war.
Trotzig schob sich Ernestine eine Gabel voller Bohnen in den Mund und kaute. Das würzige Dressing war genau nach ihrem Geschmack. Adelheids Talent würde noch ihr Untergang werden, wenn sie alles so gut zubereitete.
Als die Köchin den Nachtisch servierte – dunkle Schokomousse in flachen Dessertschalen, bei deren Anblick Ernestine das Wasser im Munde zusammenlief –, und jeder beherzt zugriff, räusperte sich Mutter laut vernehmlich, sobald das Tablett bei Ernestine stoppte.
»Meine Tochter verzichtet heute auf den Nachtisch«, sagte sie laut.
Adelheid zögerte und sah von Ernestine zur Herrin des Hauses. Langsam ging sie weiter zu Merle, Ernestines Schwägerin.
Ernestines Gesicht wurde heiß. Sie senkte den Blick und fixierte die Tischdecke. Das weiße, eingewebte Blumenmuster verschwamm vor ihren Augen, und kalte Wut kroch ihr in die Kehle. Nur das verhinderte, dass sie etwas sagte.
Der kleine Konrad, dessen Haare wieder brotfrei waren, langte mit seinen dicken Händchen nach einem Schälchen. Bei ihm regte sich am Tisch kein Widerstand, obwohl es sicher jedem bewusst war, dass er den größten Teil des Desserts in seinem Gesicht und auf der Tischwäsche verteilen würde. Und die Menge, die in seinem Bäuchlein landete, war für ein kleines Kind garantiert auch alles andere als empfehlenswert.
Diese Demütigung war zu viel. Ernestine schob den Stuhl zurück. »Entschuldigt, mir geht es nicht …«, murmelte sie, bevor sie, ohne jemanden anzusehen, den Raum verließ.
So schnell sie konnte lief sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Es gelang ihr, die Tür hinter sich zuzuwerfen, bevor die erste heiße Träne über ihr klammes Gesicht lief.
Wie früher als Kind warf sie sich auf das Bett und vergrub den Kopf in der Menge an Zierkissen, die sich am Kopfende türmte. Sie dämpften alles um sie herum: den Straßenlärm, die Tauben, die auf dem Sims über ihrem Fenster nisteten, das Husten ihres Bruders und das Geklapper von Geschirr aus der Küche direkt unter ihrem Zimmer.
Nur ihre Gedanken, die behielten ihre volle Kraft und schrien sie in ihrem Kopf an.
»Du dicke Kuh!«
»Niemand liebt dich, wenn du so weiter frisst!«
»Was soll nur aus dir werden?«
Sie stöhnte in die weiche Wattefüllung ihres Lieblingskissens. Darüber hätte sie beinahe das leise Klopfen überhört, das plötzlich ertönte.
Abrupt hob sie den Kopf. Was war das? Es hatte beinahe so geklungen, als hätte jemand an ihre Tür geklopft, doch wer sollte das gewesen sein? Alle außer ihrem Bruder waren beim Essen, und ihn hatte sie gerade noch in seiner Wohnung husten hören. Er ahnte nicht, dass sie bereits in ihrem Zimmer war, und wusste natürlich nicht, was sich zugetragen hatte.
Sie lauschte, aber das Klopfen wiederholte sich nicht. Zum Glück, denn sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt mit jemandem zu reden.
Dennoch bewegte sie irgendetwas dazu aufzustehen und nachzusehen. Vielleicht hatte sie sich nur verhört.
Behutsam öffnete sie die Tür einen Spalt breit.
Niemand stand davor, der Flur war verwaist. Die gegenüberliegende Schlafzimmertür ihrer Eltern war geschlossen, der Zugang zur Wohnung ihres Bruders ebenfalls. Nur ein leises Husten erklang dahinter.
Sie musste sich verhört haben.
Ernestine wollte die Tür gerade wieder schließen, als ihr Blick auf den Fußboden fiel.
Dort stand ein kleines Silbertablett und darauf ein Glasschälchen mit einer duftenden Schokomasse. Ein silberner Löffel lag auf einer weißen Serviette bereit.