Prolog
Die Wellen brachen sich am Strand, während sich Schaumkronen bildeten; die Luft war salzig und die Möwen kreischten. Ein lauer Wind umschmeichelte ihr Gesicht und brachte ihre Haare durcheinander. Maja vergrub ihre nackten Zehen im warmen Sand. Die Sonne war schon untergegangen, aber sie konnte sich dem Schauspiel des Meeres nicht entziehen. Langsam fühlte sie, wie sie zur Ruhe kam und die Anspannung von ihr abfiel. Doch der Schmerz in ihrem Inneren wurde nicht besänftigt. Er wütete in ihr und hatte sich in ihrer Seele festgekrallt. Die nächste Welle rollte heran, baute sich auf und verlor am Ufer an Kraft. Sie schlang die Arme um sich und zog sich das Schultertuch zurecht. Wie sie so dastand, musste sie ein seltsames Bild abgeben: eine einsame Gestalt am Meer, welche gebannt aufs Wasser starrte, als würde sie dort alle Antworten finden. Die Leere, die sich in ihr ausbreitete, war bodenlos.
Doch das Meer gab ihr Halt und die Hoffnung, dass es besser werden würde. Irgendwann.
Kapitel 1
»Ich muss weg«, sagte Maja, während sie den vollgepackten Koffer ins Auto warf.
»Was? Wohin willst du?«, fragte Valentina, ihre Cousine, am anderen Ende der Leitung.
Maja stieg ins Auto, schaltete die Freisprechanlage ein und startete den Wagen. »Keine Ahnung, Hauptsache weg.« Sie drückte das Gaspedal durch, wodurch das Auto ruckartig nach vorne schoss.
»Hast du das gut durchdacht?« Valentina klang besorgt. Maja sah sie vor sich, wie sie an ihren Fingernägeln knabberte. »Überstürzt du auch nichts?«
»Vale –«
»Ich verstehe, dass du einen Tapetenwechsel brauchst.« Sie zögerte. »Doch mir kommt es vor, als würdest du vor dir selbst wegrennen.«
Was war falsch daran? Überall war es besser als in München. Sie konnte nicht bleiben. Sie fühlte sich rastlos, als ob sie jeden Moment aus der Haut fahren würde. Maja hatte einen Plan gehabt, und wie ein Kartenhaus war dieser in sich zusammengefallen.
»Ich kann nicht so tun, als sei nichts geschehen. Ich …« Majas Stimme zitterte. »Ich kann nicht so tun, als sei alles, wie es vorher war. Weitermachen wie bisher …« Tränen rollten über ihre Wangen.
Der Schmerz in ihrem Inneren bäumte sich auf, drohte sie zu verzerren, tief atmete sie ein. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf die Straße.
»Süße, es tut mir so wahnsinnig leid.« In Vales Stimme klangen Schuldgefühle mit. »Versprich mir zu schreiben, wenn du dein Ziel erreicht hast – wo auch immer das ist.«
»Ja, das mache ich.« Maja legte auf und atmete tief ein.
Unentschlossen fädelte sie sich in den Kreisverkehr ein, drehte eine Runde, bis sie eine Ausfahrt nahm, die sie zur Autobahn führen würde. In ihrem Inneren wütete der Schmerz weiter, anstatt weniger zu werden, und schaukelte sich stetig nach oben. Maja krallte ihre Nägel in den Handballen und atmete zischend aus. Flashbacks blitzten vor ihrem inneren Auge auf, doch sie wollte sie nicht sehen – konnte sie nicht zulassen. Abwesend fuhr sie auf die Autobahn gen Süden, legte Kilometer um Kilometer zurück. Ihr Innerstes war betäubt, und wenn sich nicht die Tanknadel bedrohlich in den roten Bereich geneigt hätte, wäre sie immer weitergefahren.
Nachdem sie getankt, ihre Grundbedürfnisse befriedigt und sich mit Essen eingedeckt hatte, sah sie sich suchend um. Sie war wie in Trance gefahren, hatte Deutschland hinter sich gelassen, bis sie auf einer Raststätte in Österreich angelangt war. Kurz überlegte sie, ob sie zum Achensee fahren sollte, doch sogleich verwarf sie den Gedanken wieder. Es zog sie in den Süden, in die Wärme. Sie stieg ins Auto, fuhr, bis sie die Müdigkeit zu überwältigen drohte. Gähnend setzte sie den Blinker, um die Autobahn zu verlassen. Vor einer Stunde hatte sie Österreich hinter sich gelassen und italienischen Boden betreten. Auf dem Parkplatz der Ausfahrt buchte sie online ein Zimmer in einem Stadthotel in Brixen. Mit angespanntem Nacken legte sie die letzten Kilometer zurück, parkte und schleppte ihren Koffer zur Rezeption. Diese bestand aus einem langen Holztresen, die Einrichtung selbst war traditionell gehalten. Die Rezeptionistin trug eine rote Tracht. Als Maja eintrat, tippte die Frau gerade auf der Computertastatur.
»Good evening«, sagte Maja, die ihren mageren Italienischkenntnissen in ihrer Müdigkeit nicht über den Weg traute.
Die Empfangsdame blickte auf, schenkte ihr ein höfliches Lächeln, um sie dann auf Deutsch zu begrüßen. Verdutzt sah Maja sie an, denn sie hatte nicht damit gerechnet. Während die Rezeptionistin ihre Personalien entgegennahm, erzählte sie ihr die Geschichte der Alpenregion: Da Südtirol einmal zu Österreich gehört hatte, sprach man im Lande auch Deutsch. Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie dies heute nicht zum ersten Mal erklärte. Maja heuchelte Interesse, sehnte sich insgeheim aber nach einem Bett. Fünf Minuten später war der Check-in abgeschlossen und sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Das Kartenlesegerät an der Tür piepste, als sie die Karte davorhielt. Der Raum war schlicht und in hellen Tönen gehalten – mit Blick auf das Stadtzentrum. Erleichtert schloss sie die Tür hinter sich. Endlich Ruhe.
Nach einer erfrischenden Dusche warf sie einen zögerlichen Blick in den Spiegel. Dunkle Schatten lagen unter ihren nussbraunen Augen. Ihre blonden Haare fingen bereits an, sich zu kringeln. Sie trug sie zu einem lockigen Bob. Vereinzelte rosa Strähnchen, die sich nur um wenige Nuancen von ihrer Haarfarbe unterschieden, blitzten hervor.
Sie seufzte, fuhr sich sich mit einem Handtuch durch die Haare, ging ins Zimmer und setzte sich mit dem Handy in der Hand aufs Bett.
Zwei verpasste Anrufe von Vale. Fünf von Jannis. Irgendwann während der Fahrt hatte sie das Handy auf stumm gestellt.
Bin in Südtirol. Alles okay,
schrieb sie Valentina.
In diesem Moment leuchtete das Display auf. Jannis rief an.
Maja erstarrte. Ihre Finger verharrten unentschlossen in der Luft, bis er auflegte. Bevor sie losgefahren war, hatte sie ihm einen Brief auf den Küchentisch gelegt, in dem stand, dass sie ihn verließ. Sie hatte nicht die Kraft für eine Konfrontation gehabt. Es war alles gesagt. Ein Gespräch mit ihm würde zu nichts führen – sie hatte es oft versucht, war auf taube Ohren gestoßen. Es war, als würden sie verschiedene Sprachen sprechen und hätten ihre gemeinsame verlernt. Sie wusste, er hatte es nicht böse gemeint, doch während er sich in Sicherheit wiegte, hatte er sie in Wahrheit immer weiter weggestoßen. Seine Unnahbarkeit hatte sie verletzt. Die letzten Monate hatten sie entfremdet. Die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, war verdrängt worden, an deren Stelle war Einsamkeit getreten. Maja hatte für sich den notwendigen Schlussstrich gezogen, auch wenn Jannis damit vermutlich nicht gerechnet hatte. Entnervt vergrub sie das Gesicht in den Händen, versuchte, ihr Gedankenkarussell abzustellen. Gerade als sie erneut nach dem Handy griff – dieses Mal, um den Flugmodus zu aktivieren – ging Vales Anruf ein. Sie nahm ihn an und ließ sich aufs Bett zurückfallen.
»Was machst du in Südtirol?«, fragte Valentina vorsichtig, anstelle einer Begrüßung.
»Ich weiß es nicht.«
»Wirst du bleiben?«
Sie wiederholte ihre Worte.
Majas Cousine seufzte. »Wo bist du gerade?«
»In einem Hotel.«
»Okay, du bist noch bei Sinnen«, murmelte Vale. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Brauchst du nicht.«
»Maja –«
»Es ist alles gut.« War es nicht. Vale wusste das.
»Versprich mir, auf dich aufzupassen.«
»Ich bin ein großes Mädchen.« Maja schmunzelte wider Willen. Valentina war eine knallharte Anwältin. Das Studium hatte sie in Rekordzeit abgeschlossen, sich dadurch einen Platz bei der begehrtesten Kanzlei in München gesichert, doch bei ihr wurde sie zur Glucke.
»Schlaf gut und … ruh dich aus.« Maja wusste, was das Zögern in ihrer Stimme zu bedeuten hatte und wehrte sich gegen die schmerzhaften Erinnerungen, die in ihr aufstiegen. Der Schmerz fühlte sich scharfkantig und so real an, so als ob sie tatsächlich Scherben geschluckt hätte. Mühsam kroch sie unter die Bettdecke und schloss die Augen. Einatmen. Ausatmen. Während ihr Tränen über die Wange liefen, hoffte sie Trost im Schlaf zu finden.
***
Als sie am nächsten Morgen aufstand, war sie wie gerädert. Da konnte auch das gute Frühstück des Hotels nichts ändern. Sie warf sich eine Jacke über, um einen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen. Der historische Stadtkern von Brixen mit den vielen Gassen und bunten Häusern, zauberte ihr für einen Moment ein Lächeln auf die Lippen. Überall befanden sich duftende Blumen, die von der Sonne beschienen wurden. Am Rande bemerkte sie, dass alle Geschäfte geschlossen waren.
Sonntag. Es war Sonntag. Ein laues Lüftchen zerzauste ihre Haare. Sie hob das Gesicht und sah sich um. Die Berge, die sich in der Ferne abzeichneten, gaben ihr nicht wie erwartet das Gefühl von Sicherheit. Stattdessen fühlte sie sich von ihnen eingeengt.
Sie machte sich auf den Rückweg in ihr Hotelzimmer, während sie sich vornahm, irgendwann zurückzukehren und die Stadt zu erkunden.
Im Zimmer angelangt, schaltete sie ihren Laptop an. Unzählige E-Mails trudelten ein, als sie sich mit dem W-Lan des Hotels verbunden hatte. Unzählige Anfragen von Kunden, die letzte Änderungen an Designs vornehmen wollten. Sie ignorierte sie und erstellte eine Nachricht, in der sie ihre, Vorgesetzten mitteilte, dass sie aufgrund familiärer Umstände einige Tage Urlaub beanspruchen würde. Ihr Chef würde sich nicht darüber freuen. Maja arbeitete bei einer renommierten Werbeagentur als Mediendesignerin. Es war immer hektisch, die Deadlines waren eng gehalten und die Anforderungen hoch. Eine sechzig Stundenwoche war für sie nichts Ungewöhnliches.
Maja, du musst an dich denken!, hörte sie Vale gedanklich schimpfen.
Nach einem Blick auf die Uhr packte sie den Laptop wieder ein und checkte aus. Als sie im Auto saß, überkam sie Erleichterung. Nachdem sie Südtirol hinter sich gelassen hatte, spürte sie so etwas wie Frieden in sich aufsteigen.
Kurz überlegte sie, ob sie an den Gardasee fahren sollte, verwarf es jedoch sogleich. Denn auch der See war von Bergen umgeben, die sie zurzeit als bedrückend empfand. Maja fuhr Stunden, bis die Landschaft allmählich flacher wurde. Das Radio hatte sie schon lange ausgemacht, doch nun empfand sie die Stille als erdrückend. Schnell machte sie die Musik wieder an.
Ehi ciao, come stai?, plärrte es aus dem Radio.
Tief seufzte sie, denn nun vermisste sie die Ruhe. Zurzeit steckte Maja voller Gegensätze – konnte ihren Gefühlen nicht trauen. Es gab kein richtig oder falsch, nur VIELLEICHT. Ihr Magen knurrte lautstark und sie entschied sich, bei der nächsten Möglichkeit abzufahren. Sie hatte das Navi gen Küste gestellt, ohne ein konkretes Ziel vor Augen zu haben.
Eine halbe Stunde später fuhr sie in Viareggio aus und parkte nahe dem Hafen. Maja stieg aus, sogleich schmiegte sich ein warmer Wind an ihren Körper. Sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen. Ihr geschundenes Herz tat in seinem Abgrund einen Sprung. Es war später Nachmittag – fast schon Abend. Sie streckte sich. Als es laut knackte, zuckte sie zusammen, um dann über sich selbst kurz zu schmunzeln. Bei der Abfahrt hatte sie ihren Laptop und ihre Brieftasche in einen Anti-Diebstahl-Rucksack gesteckt, den sie sich nun überwarf. Jannis hatte ihn ihr einmal zum Geburtstag geschenkt. Der Gedanke an ihn versetzte ihr einen Stich, den sie durch einen Spaziergang loswerden wollte. Sie folgte dem Schild zum Hafen und als sie den Häuserblock umrundete, offenbarte sich das Meer in all seiner Pracht vor ihr. Keine Berge, die sie eingrenzen. Endlose Freiheit –
»Signora, attenzione.« Laut hupte jemand hinter ihr. Ein Motorrad schoss an ihr vorbei.
Erschrocken zuckte sie zusammen. Ohne es zu bemerken, war sie auf der Straße stehen geblieben. Schnell lief sie weiter, ließ kleine Cafés mit Bistrotischen und Restaurants mit rot-weißen Tischdecken hinter sich. Ihr Ziel war der Strand. Auf der nahe gelegenen Promenade streifte sie die Schuhe ab, damit sie den Sand unter ihren Füßen spüren konnte. Möwen kreischten, in einer Strandbar plärrte italienische Musik. Maja lief zum Meer, das Wasser kitzelte ihre Fußsohlen. Es war kalt – doch damit hatte sie gerechnet. Es war erst Ende April. Sie schloss die Lider, während sie versuchte, diesen Moment bewusst wahrzunehmen. Obwohl die Sonne ihr Gesicht wärmte, das Meer vor ihr lag, änderte sich nichts an der Leere in ihrem Inneren. Be gentle, mahnte sie sich und schlug die Augen auf. Es war Zeit, sich etwas zu essen und eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.
***
Am nächsten Morgen weckte sie das Knattern eines Motorrades. Sie hatte ein Zimmer mit Meerblick ergattert, das Glitzern des Wassers begleitete sie während der Morgentoilette. Sie warf einen Blick aufs Handy. Zehn Anrufe in Abwesenheit. Vierzig ungelesene Nachrichten. Sie hatte vergessen, Vale Bescheid zu geben. Die Arme hatte sicher die ganze Nacht kein Auge zugetan. Schnell schickte sie ihr ein Foto vom Meer, um ihr zu versichern, dass alles okay war.
Hasse dich, grr! – Vale
Maja sendete ihr ein Herz. Sie nahm sich fest vor, ihr jeden Abend zu schreiben. Valentina war die einzige Familie, die sie noch hatte. Die anderen Mitteilungen waren von Freunden – und Jannis. Zögerlich öffnete sie seinen Chat und las die letzte Nachricht.
Willst du wirklich alles hinter dir lassen? – Jannis
Bist du sicher, dass du weißt, was du tust? Da war sie, die Stimme, die ihre Gefühle und Taten hinterfragte. Sie sah ihn vor sich, wie er die Worte aussprach, sie mit einem nachsichtigen Blick ansah; versuchte, ihr zu erklären, dass sie sich Zeit lassen und ihre Entscheidung nicht überstürzen sollte. Er hatte nicht verstanden, dass sie sich in den letzten Monaten verändert hatte. Die Maja, die er kannte, gab es nicht mehr. Ein Augenblick hatte alles geändert – sie konnte nicht mehr zurück. Sie pfefferte das Handy in eine Ecke. Ihre Gefühle waren roh, ungeschliffen und wollten wahrgenommen werden. Niemand musste ihr erklären, was sie fühlte. Vor allem nicht Jannis! Ihr Atem ging hektisch. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Ihre Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung, ihren Fokus legte sie auf das glitzernde Meer vor ihr. Langsam beruhigte sie sich. Während sie zum Strand lief, erkannte sie, dass sie nicht hierbleiben wollte. Es zog sie nach Süden. Weit weg von Deutschland. Sie wollte ihrer Vergangenheit entfliehen, vergessen, was geschehen war. Maja zückte ihr Handy und rief die Karte von Italien auf. Sie war zwei Tage richtungslos unterwegs gewesen, aber sie konnte nicht endlos weiterfahren. Kurz musterte sie die Karte, bevor sie entschlossen zum Hotel zurückkehrte, denn nun wusste sie, wohin sie fahren wollte.
Kapitel 2
Gähnend erhob sie sich und reckte ihren steifen Nacken. In der Nacht hatte sie wenig geschlafen, denn die unbekannten Geräusche der Fähre hatten sie wachgehalten. Jedes Schaukeln hatte sie erstarren lassen. Eines konnte sie mit Sicherheit sagen: Sie hatte vorerst genug von Fähren!
Maja sah sich in ihrem kleinen Hotelzimmer des Hafenhotels um. In ihrer Müdigkeit hatte sie sich nur noch nach einer Dusche und einem Bett gesehnt. Es war spartanisch eingerichtet, aber sauber. Nach einer kurzen Katzenwäsche verließ sie das Hotel, denn ihr Magen knurrte hungrig und an Schlafen war deshalb nicht zu denken. Warme Luft schlug ihr entgegen – das Klima in Sizilien war anders, daran hatte sie nicht gedacht. Sofort bereute sie die Wahl ihrer Kleidung. Die Sonne brannte unbarmherzig, als Maja in die Stadt schlenderte. Das T-Shirt klebte nach wenigen Metern an ihrem Rücken. Die Geräusche von Palermo waren erschreckend laut: Autos, Motorräder, Musik, knallendes Knattern, ohrenbetäubendes Hupen, lautes Fluchen. Insgeheim hatte sie gehofft, in der Stadt Ruhe zu finden, doch diesen Gedanken konnte sie sich abschminken. Amüsiert verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. Italien, wie es leibt und lebt. Sie spazierte an pompösen Palästen, unzähligen Kirchen und Obstmärkten vorbei. Buntes Obst und Gemüse, soweit das Auge reichte. Wie aufs Stichwort fing ihr Magen an zu knurren, denn sie hatte heute noch nichts gegessen. Die Kirchenuhr schlug lautstark und sie zählte mit. Es war Mittagszeit. In einer Seitengasse fand sie eine Trattoria. Ein Kellner begleitete sie in den Innenhof. Olivenbäume in großen Töpfen spendeten Schatten. Verzückt betrachtete sie die zusammengewürfelten Tische und Stühle. Sie liebte es, ihre Wochenenden auf Flohmärkten zu verbringen, nach alten Schätzen Ausschau zu halten und diese mit nach Hause zu bringen. Maja hatte eine beeindruckende Sammlung an Knöpfen und Kleidern in Floralprint. Vale hatte sie spaßhalber Hippie getauft, denn sie sei so aufgeregt wie ein Kolibri, wenn sie zwischen den Ständen hin und her rannte, aus Angst etwas zu verpassen. Zumindest war es früher so gewesen. Die Erinnerung, wie sie im Krankenhaus lag, blitzte in ihr auf, sie versuchte sie mit aller Kraft auf die Seite zu schieben. Unscharf flimmerten die Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei. Sie ließen sich nicht einfach so verdrängen, sondern wollten wahrgenommen werden. Schmerz stieg in ihr hoch und –
»Ha già scelto, signora?«, unterbrach sie der Kellner, als er ihr eine Flasche Wasser hinstellte.
Überrumpelt sah sie ihn an, bevor sie ihre Bestellung nannte. Insgeheim war sie froh, ihren Gedanken entkommen zu sein, denn sie zogen sie in einen dunklen Abgrund. Als er ging, nahm sie einen milden und zugleich schweren Duft war. Waren es die Olivenbäume? Sie schnupperte, doch von ihnen schien der Geruch nicht auszugehen. In einer Ecke entdeckte sie kleine Bäumchen mit weißen Blüten, die ihr seltsam bekannt vorkamen. Maja stand auf, um sich ihn zu nähern. Vanille? Unwahrscheinlich.
Ein weiterer süßlich-ätherischer Hauch streifte sie und wie ein Blitz durchzuckte es sie: Sizilien war für seine Zitrusfrüchte bekannt. Doch ob es sich um Orangen- oder Zitronenbäume handelte, wusste sie nicht.
Als der Kellner ihre Nudeln mit Meeresfischen brachte, fragte sie ihn. Zuerst sah er sie verständnislos an, bevor er in gebrochenem Englisch sagte: »Orange.«
Geschafft schob sie den Teller von sich. Sie brachte nicht einen Bissen mehr hinunter, auch wenn es sie schmerzte, etwas übrig zu lassen: Es schmeckt einfach zu gut! Maja lehnte sich zurück; der Duft der Orangenblüten umschmeichelte sie. Sizilien fühlte sich richtig an, aber die Hauptstadt Palermo war ihr zu chaotisch und zu laut. Rastlosigkeit stieg in ihr auf und der Drang, weiterzuziehen. Sie atmete tief durch, während sie Vales Nummer wählte.
»Hi, Hippie«, begrüßte sie ihre Cousine.
Sofort legte sich ein Lächeln auf Majas Lippen. »Hi Tini.« Vale hasste den Spitznamen aus Kindheit. Sie hatte ihr sogar verboten, ihn zu benutzen.
»Wir hatten einen Deal – nein, sogar zwei! Du hast beide gebrochen«, empörte sich Vale im besten Anwaltstonfall.
»Hast du Beweise dafür?«, neckte Maja sie, dann fügte sie hinzu: »Ich bin in Sizilien.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Ich hasse dich.«
»Ich weiß, dass du mich lieb hast.« Das Gespräch war so herrlich normal, dass es sich wie einen Kokon um Maja legte. Für einen Moment war alles gut. Sie war glücklich, bis sie sich erinnerte, warum sie in Sizilien war.
»Da bin ich mir gerade nicht so sicher«, brummte Vale. »Schickst du mir Fotos vom Meer? Dann kann ich wenigstens so tun, als wäre ich bei dir.«
»Klar, das mache ich.« Maja lächelte.
Sie seufzte. »Ich wäre mitgekommen, wenn du mich gefragt hättest.«
Da waren sie wieder: die dunklen Wolken über ihr, die sich zu einem Unwetter verdichteten, und ihr das Gefühl gaben, dass Vale sie nicht verstand.
»Vale, ich …« Maja brach ab, sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Sie wollte alleine sein und ertrug ihre Fürsorge nicht? »Danke.«
»Ganz ehrlich, wie geht es dir?«, hakte Vale vorsichtig nach. »Ich fühle mich hilflos, weil ich dir nicht helfen kann.«
Maja sah in den strahlenden blauen Himmel, was die Schwere ihrer Gedanken milderte. »Niemand kann mir helfen. Zeit heilt allen Wunden, nicht?« Oder ließ sie zumindest verblassen.
»Maja …« Valentinas Stimme war weich.
Der Tonfall reichte, um ihr einen inneren Spiegel vor Augen zu halten. Sie sah sich, wie sie lächelt, während eine andere Version ihrer selbst an den Wänden des selbst erschaffenen Käfigs hämmerte.
»Was willst du von mir hören?«, brach es aus ihr heraus. »Nichts ist gut. Doch darüber zu reden, ändert nichts.«
»Es wird besser. Irgendwann. Jeden Tag.«
Vale war ihr Fels in der Brandung. Sie war da, als ihre Eltern bei einem Autounfall starben und sie mit zehn Jahren zur Waise machten. Selbst der Verlust ihrer Großmutter, die sie aufgezogen hatte, war durch Valentina erträglicher gewesen, doch nun fühlte sie sich so alleine wie nie zuvor. Eine innere Taubheit schien ihr innezuwohnen. Sie war wie ein See: An der Oberfläche war das Wasser warm, aber je tiefer man schwamm, desto kälter wurde es.
»Maja, bist du noch da?«
»Ja.« Es war gefährlich, wenn sie ihren Gedanken keinen Einhalt bot. Sie musste kämpfen. Stark sein. Niemand konnte ihr diesen Part abnehmen. Vale konnte ihr nicht helfen.
»Ich bin für dich da. Vergiss das nie.« Die liebe, treuherzige Valentina.
»Das weiß ich. Danke.« Sie verabschiedeten sich.
Auf dem Rückweg zum Hotel hatte Maja keine Augen mehr für die Schönheit der sizilianischen Hauptstadt, denn die Unterhaltung hatte sie aufgewühlt.
***
Maja blinzelte. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Den ganzen Vormittag war sie die Küste entlang gefahren, getrieben von den Schatten der Vergangenheit, doch nun protestierte ihr Körper. Die Reise forderte ihre Tribute. Entschlossen nahm sie die Gabelung nach Alba, in der Hoffnung, dass es die nächste Stadt war. Das Handy lag in ihrer Handtasche – das Internet ausgeschaltet. Die Straße führte sie durch blühenden Oleander hindurch, bis sie die ersten Steinhäuser erblickte. Dahinter sah sie das Meer in der Ferne. Dieser Teil von Sizilien war von schroffen Klippen geprägt. Maja parkte auf dem Parkplatz neben der Kirche. Alba war kleiner als erwartet. Keine Stadt, sondern ein Dorf. Die Sonne brannte heiß auf sie hinunter.
Ob es wohl ein Hotel gab? Sie sah sich suchend um, doch sie entdeckte kein Schild. Kurzerhand wuchte sie den Koffer aus dem Auto und marschierte los. Zwanzig Minuten später hatte sie alles von Alba gesehen: Es gab vier Straßen, zwei Brunnen, ein Café samt Restaurant und einen Tante-Emma-Laden mit kleinem Supermarkt. Ein Hotel hatte sie keines gefunden. Sie bezweifelte, dass es eines gab. Alba war wie ausgestorben. Ratlos stand sie wieder vor ihrem Auto, während sich Hunger bemerkbar machte. Sie warf einen Blick aufs Handy, um die Uhrzeit zu checken: Bald würde der Krämerladen öffnen. Maja verstaute ihren Koffer zurück in den Wagen und entschied sich, die Gegend weiter zu erkunden. Sie folgte der Straße, bis die Steinhäuser weniger und der Weg unbefestigt wurde. Entlang des Trampelpfads wuchs wilder Oleander, doch die Knospen waren geschlossen. Der Boden war bedeckt von saftigen Gräsern und krautigen Blumen mit bunten Blüten. Die Vögel zwitscherten, die Luft war salzig. Einige Meter vor der Klippe befanden sich Bänke mit Informationstafeln, die sie nicht lesen konnte, weil sie in italienischer Sprache geschrieben waren. Maja setzte sich, um das Meer zu betrachten. Das Wasser war klar mit verschiedensten Blautönen. Der Wind spielte mit ihrem Haar und dem Stoff ihrer Kleidung. Nach der Hektik der letzten Tage fühlte sich die Ruhe wie Balsam auf der Seele an. Die Anspannung fiel etwas von ihr ab. Vielleicht würde es ihr helfen, einige Tage in Alba zu verweilen. Sie stand auf, um ins Dorf zurückzuschlendern. Das Geschäft hatte mittlerweile geöffnet. Als sie die Tür aufstieß, wurde sie mit einem leisen Klingeln angekündigt. Die Regale waren vollgestopft. Es gab von allem ein wenig: Postkarten, Souvenirs, Strandutensilien, Kleidung, Bedarfsgegenstände und Lebensmittel. Maja durchstreifte die engen Flure, bis sie zur Aufschnitt-Theke gelangte. An Schinken, Speck und Käse reihten sich Oliven in allen Formen und Größen, eingelegte Tomaten, italienischer Salat.
»Che spavento!«
Erschrocken zuckte Maja zusammen, sah sich Augen in Auge mit einer kurvigen Verkäuferin. Die Frau ließ einen Wortschwall auf sie los. Auf ihrem Namenschild las sie Ornela. Maja verstand kein Wort.
Entschuldigend lächelte sie Ornela an. »English?«
Die andere Frau sah sie ratlos an, bevor sie fragend auf den Aufschnitt und das Brot deutete. Maja, die sich der Komik der Situation bewusst war, nickte erleichtert und verständigte sich mit Zeichensprache. Wenig später hielt sie ein dick belegtes Brot in den Händen. Die Italienerin gab ihr zudem einen kleinen Plastikbehälter voller Oliven, die sie nicht ablehnen konnte, ohne unhöflich zu sein.
»Grazie«, sagte Maja und überlegte, wie sie die Frau nach einer Unterkunft fragen konnte. »Hotel?«
»No«, erwiderte Ornela bedauernd. Die weiteren Worte verstand Maja nicht.
Als sie nach ihrer Brieftasche griff, fühlte sie ihr Handy. Natürlich!
Online fand sie einen Sprachübersetzer: »Ich suche eine Unterkunft für die Nacht. Können Sie mir weiterhelfen?«
Der Übersetzer spuckte die Worte aus und sie drückte auf Play.
Ornelas Gesicht erhellte sich. Erleichtert hielt ihr Maja das Handy hin, als sie im schnellen Italienisch auf sie einsprach.
Das Deutsch der App war nicht perfekt, aber mehr oder weniger verständlich: »Mach dir keine Sorgen, Schatz. Du siehst aus, als würdest du gleich verhungern. Vor dem Laden gibt es einen Tisch. Iss und in der Zwischenzeit rufe ich meine Freundin Danke an. Danke vermietet im Sommer Zimmer an Touristen. Sie sind wunderschön, renoviert und mit Meerblick.« Erwartungsvoll blickte Ornela sie an. »Wie lange willst du bleiben?«
»Eine Woche?«, sagte Maja spontan, im nächsten Moment wunderte sie sich darüber. Sie hatte eigentlich nicht darüber nachgedacht.
»Ich frage Danke«, erwiderte Ornela. »Du musst die Oliven kosten, sie sind wunderbar! Nimm dir auch etwas zu trinken.«
Maja schmunzelte ob der Übersetzung – Danke hieß ihre Kontaktperson sicher nicht –, folgte ihren Anweisungen und setzte sich in die Sonne. Sie nahm einen großen Schluck vom Wasser und aß das Brot, das mehr einer mit Schinken, Käse und getrockneten Tomaten belegten Focaccia ähnelte. So oder so war es lecker! Sie war kein Fan von Oliven, aber als sie von ihnen kostete, überraschte sie der herbe Geschmack.
Das Klingeln der Glocke ließ sie hochblicken. Ornela kam auf sie zu. »Schmeckt es?«, übersetzte die App ihre Worte.
Maja nickte mit vollem Mund.
»Gute Neuigkeiten! Danke hat noch ein Zimmer frei. Sie bereitet es gerade vor. In einer halben Stunde ist es fertig.«
Danke alias Grazia entpuppte sich als lebenslustige Mittvierzigerin. Ihre schwarzen Haare fielen in wilden Locken um ihr Gesicht. Sie trug ein langes Kleid, das an der Mitte mit einem Gürtel gerafft war und ihre Kurven betonte. Ihr Haus befand sich wenige Minuten vom Laden entfernt. Eine Steinmauer schützte es vor neugierigen Blicken. Im Innenhof standen knotige Olivenbäume, die den Holzbänken Schatten spendeten. In jeder Ecke blühten bunte Blumen. Alles war aufgeräumt und sauber.
»Seit zehn Jahren leite ich die Pension Tramonto. Es macht mir viel Freude. Ich habe viele internationale Gäste. Im Sommer hilft mir mein Sohn, Gabriele. Er studiert Geschichte und Philosophie an der Universität in der Nachbarstadt.« Ihr Englisch war vom italienischen Akzent geprägt. »Ich habe dir das schönste Zimmer vorbereitet.«
Gespannt ließ sich Maja das Schlafzimmer zeigen. Sie wurde nicht enttäuscht. Stilvolle Möbel im maritimen Stil dominierten den Raum. Bodenlange Vorhänge, die im Wind flatterten, ergänzten das Bild. Der Balkon entpuppte sich als Terrasse mit atemberaubendem Blick aufs Meer. Ein süßer Hauch traf sie, in einer Ecke blühte ein Orangenbaum.
»Gefällt es dir?«, fragte Grazia, die ihr gefolgt war.
»Es ist wunderschön.«
»Das freut mich. Willst du nur das Zimmer oder auch Frühstück? Wenn du willst, kann ich dir auch ein Abendessen machen.«
Kurz überlegte Maja. »Gerne mit Verpflegung.«
»Ich koche selbst«, sagte Grazia. »Im Sommer habe ich eine Aushilfe. Wenn du willst, können wir gemeinsam um acht Uhr essen. Aber es ist deine Entscheidung.«
»Ich überlege es mir, ja?«, entgegnete Maja. Sie wusste nicht, was überhandnehmen würde: der Wunsch nach Einsamkeit oder Gesellschaft. Gerade wollte sie lieber alleine sein.
»Certo!«, erwiderte Grazia, ganz die beflissene Gastgeberin. »Ich mache dir einen guten Preis, da wir fuori stagione sind.« Sie nannte ihr die Einzelheiten und Maja stimmte zu. »Wenn du mich suchst, ich bin meist irgendwo im Haus oder Garten.«
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, kehrte Ruhe ein. Doch die Stille dröhnte in ihren Ohren. Um sich zu beschäftigen, packte sie ihren Koffer aus. Ihr Blick fiel auf ihr Handy, mit einem Seufzen griff sie danach. O nein! Matthis, ihr Chef, hatte angerufen. Jannis Nachrichten ignorierte sie weiterhin. Sie hatte keine Kraft, sich damit zu beschäftigen. Schnell wählte sie Matthis Nummer.
Nach dem zweiten Klingeln nahm er ab. »Maja! Schön, danke, dass du mich zurückrufst. Wie geht es dir? Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes?« Im Hintergrund hörte sie die vertrauten Laute der Firma. Telefongeklingel, Stimmgemurmel und Schritte.
»Wird schon wieder«, wiegelte sie ab. Er wusste nicht, was vorgefallen war. »Wie läuft es in der Firma?«
»Wie immer. Es wird nicht langweilig.« Kurz zögerte er. »Weißt du, wie lange du ausfallen wirst?«
»Eine Woche?«, entgegnete sie, ohne nachzudenken und erstarrte. Sie hatte sich nicht begrenzen wollen, doch es war zu spät. Was war nur los mit ihr?
»Du wirst hier schon schmerzlich vermisst«, sagte er und klang erleichtert.
»Ich werde allerdings noch einige Zeit Smart-Working machen, wenn das okay ist.« Sie hoffte, dass die Internetverbindung ausreichte, um gegebenenfalls zu arbeiten, falls sie länger in Sizilien bleiben würde.
»Natürlich«, versicherte er ihr. »Das ist kein Problem. Ich bin froh, dass es dir gut geht.«
Da! Die große Lüge, die sie allen auftischte. Es ging ihr NICHT gut. Es war NICHTS okay. Es zerriss sie innerlich, ihre Welt lag in Scherben, aber das Lächeln auf ihren Lippen saß perfekt.
»Danke für dein Verständnis«, sagte sie, anstelle ihre Gedanken auszusprechen.
»Für meine Lieblingsdesigner mache ich alles – nun ja, fast!« Matthis hängte ein Lachen an. Er war ein überaus fairer und umgänglicher Chef. Seine Philosophie war, dass die Arbeit wichtig, aber das Team wichtiger war. »Aber psst! Verrate es niemanden.«
Als sie das Gespräch beendeten, ging es ihr besser. Sie fühlte sich weniger einsam. Maja trat auf den Balkon, um Vale ein Foto vom Meer zu schicken. Der Batteriestand des Telefons zeigt nur noch wenige Prozente an und sie bemerkte, dass sie das Ladekabel im Auto vergessen hatte. Später würde sie ihn holen, nahm sie sich vor. Vorerst würde sie den Ausblick genießen. In Alba schien die Zeit stillzustehen. Vielleicht würde sie hier heilen und die Schatten der Vergangenheit abstreifen. Ihr Problem war, dass sie seit jeher gut in Verdrängen von negativen Gefühlen war. Sie sperrte sie ein, bis sie sich mit aller Kraft an die Oberfläche drängten und sie mitrissen. Doch sie hatte es nie anders gelernt, war zu früh ihrer Kindheit beraubt worden. Vor einem Monat war ihr Leben stehen geblieben, bevor es sich schneller als zuvor um die eigene Achse drehte. Sie war aus dem Gleichgewicht geraten, fühlte sich wie im freien Fall. In ihrem Inneren hatte sie eine Wahl treffen müssen. Sie hatte sich dazu entschieden, zu leben und zu kämpfen. Dass es einfach werden würde, hatte niemand gesagt.
Nach einem kurzen Nickerchen spazierte sie erfrischt zu den Klippen. Sie wollte das Meer beobachten, sein Kommen und Gehen. Das Wasser war aufgewühlt, die Wellen klatschten gegen die Felsenwand und brachten alte Erinnerungen an die Oberfläche.
Vor einigen Monaten hatte sie ihren Abschluss gemacht. Ihre harte Arbeit und die schlecht bezahlten Praktika hatten sich ausgezahlt. Endlich arbeitete sie als Mediendesignerin. Maja hatte sich gut im Team eingefunden und obwohl es sie schmerzte, dass sie den Erfolg nicht mit ihren Eltern teilen konnte, war sie glücklich. Die Firma hatte wichtige Kunden akquiriert, die ihnen große Aufträge eingebracht hatten. In den letzten Wochen war voller Einsatz von allen Abteilungen gefragt gewesen. Die Führungskräfte erkannten dies an und veranstalteten eine Freitagsgesellschaft. Maja klammerte ihre Finger um den fast leeren Mojito. Ihre Arbeitskollegin Lene, war in ein Gespräch verwickelt und sie stand verloren daneben. Um etwas zu tun zu haben, trank Maja ihr Getränk aus und beschloss sich Nachschub an der Bar zu besorgen. Während ihr der Barkeeper den Cocktail zusammenstellte, sah sie sich um. Die Empfangshalle war völlig verändert: gedämpftes Licht, lange weiße Stoffballen und stilvolle Musik. Überall standen Mitarbeiter in kleinen Grüppchen zusammen.
»Langweilen Sie sich?« Unbemerkt war ein Mann nähergetreten. Er war dunkelblond, groß und trug ein Hemd mit Pünktchen, das nicht zum Event passte.
»Nein, gar nicht«, erwiderte sie und deutete auf den Cocktail, der ihr soeben zugeschoben wurde.
»Genießen Sie die Feier?«, fragte er und bestellte sich ein Bier.
»Es ist schön, Teil eines Ganzen zu sein.« Maja lächelte. Irgendwann würde sie sich genauso selbstbewusst wie Lene durch die Menge bewegen.
»Sie sind noch nicht lange im Business, oder?« Er grinste.
Sein Tonfall ließ sie aufhorchen. »Ich habe ganz vergessen, nach Ihrem Namen zu fragen. Ich glaube, ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
»Ich bin Jannis«, stellte er sich vor, während er ihr die Hand hinhielt.
»Maja«, sagte sie und ergriff sie, wobei ihr nicht entging, dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte.
»Also, Maja, lass mich raten: Du arbeitest als Texterin.« Er nahm sein Bier entgegen und stieß mit ihr an.
Lachend schüttelte sie den Kopf. »Fast. Ich bin Mediendesignerin.«
»Eine Kreative! Wusste ich es doch.«
Ihre Neugierde war geweckt. »In welcher Abteilung arbeitest du?«
Er winkte charmant ab. »Ach, mein Job ist nicht der Rede wert. Wie gefällt es dir in der Firma?«
Maja ließ sich von Jannis in ein Gespräch verwickeln, als sich der Abend dem Ende zuneigte, wusste sie, dass er gerne Rockmusik hörte und Marathons lief, aber nicht, was er beruflich tat. Das fiel ihr jedoch erst auf, als sie wieder zu Hause in ihrer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung war. Jannis hatte sie nicht nach ihrer Nummer gefragt und sie hatte nicht daran gedacht, sie ihm zu geben. Die Firma war nicht so groß, früher oder später würden sie sich wiedersehen, dachte sie, während ihre Lider schwer wurden.
Am Montag darauf hatte sie die Begegnung fast vergessen, als sie bei der Arbeit eine E-Mail erhielt:
Habe den Abend sehr genossen. Sehen wir uns wieder? – Jannis
Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, während sie gleichzeitig die Nachricht analysierte. Keine Signatur. Die E-Mail-Adresse war von einem Onlineanbieter.
»Lene«, fragte sie ihre Arbeitskollegin. »Haben wir in der Firma einen Jannis?« Vielleicht arbeitete er in der Buchhaltung oder in der Informatikabteilung, war ihr jedoch nie aufgefallen.
»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete diese. Sie gähnte herzhaft. »Warum?«
»Nur so.« Sie knabberte an ihren Fingernägeln, schöpfte Mut, um zu antworten.
Wer bist du?
Gen Mittag erhielt sie eine Antwort.
Dein unterhaltsamer Gesprächspartner von Freitag – außer du hast den Abend anders in Erinnerung?
Sie antwortete schmunzelnd.
Mittwochabend hätte ich Zeit …
Am nächsten Tag erhielt sie eine Antwort.
Freitagabend wäre besser.
Sie verabredeten sich vor einer Bar. Maja war den ganzen Tag hibbelig. Sie hasste es, wenn sie vor ungelösten Rätseln stand. Aus diesem Grund sah sie keine Krimis – sie hielt die Anspannung nicht aus. Jannis kam zehn Minuten zu spät. Er trug ein Hemd mit kleinen Blümchen, das fiel ihr zuerst auf. Charmant begrüßte er sie, doch als sie das Lokal betreten wollte, führte er sie weiter.
Maja blieb stehen. »Heraus mit der Sprache: Wer bist du?«
»Ich bin Jannis.« Er streckte ihr die Hand hin, während er grinste.
»Du!« Leicht schlug sie mit der Tasche nach ihm. »Du arbeitest nicht bei uns. Was hattest du auf der Party verloren?«
Sein Lächeln verbreitete sich. »Die Zeitung noch nicht gelesen?«
»Warum?«, fragte sie verwirrt. Mathis hatte etwas von einem Artikel über die Firma erwähnt, der in der Presse veröffentlicht worden war, doch mehr wusste sie darüber nicht.
»Ich bin Journalist«, sagte er in dem Moment, als sie die Verbindung von selbst herstellte. »Und du bist meine Begleitung für die lange Nacht der Museen.«
Das war vor fünf Jahren gewesen. Sein Esprit und seine Fröhlichkeit hatten ihr gefallen. Sie hatte sich von ihm mitreißen lassen, sich in ihn verliebt. Jannis schien ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, doch vor allem brachte er sie zum Lachen. Sie waren glücklich. Irgendwann waren sie zusammengezogen, langsam hatte sich der Alltag eingebürgert. Jannis wurde befördert, wodurch er mehr Zeit am Schreibtisch als unterwegs verbrachte. Die Veränderungen waren schleichend vonstattengegangen, so als ob sie einfach verlernt hatten, gemeinsam glücklich zu sein.
Eine Möwe kreischte, holte sie wieder ins Jetzt. Sie blickte aufs Meer, als sie etwas bemerkte. Heller Sand. Gab es unter den Klippen eine Bucht? Sie sah sich suchend um, als sie unauffällig in Stein gehauene Stufen entdeckte, daneben befand sich ein großes Warnschild mit einer Inschrift. Sie ließ die Wörter übersetzen: Betreten auf eigene Gefahr. Neugierig stieg sie die Stufen hinab. An den Seiten war jeweils ein Seil gespannt, um den Abstieg zu erleichtern. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, vertrieb die Schatten der Vergangenheit – fürs Erste zumindest. Weißer Sand knirschte unter ihren Füßen. Das Wasser war azurblau und sie konnte bis auf den Grund sehen. Sie liebte seit jeher das Meer, wo es andere ängstigte, beruhigte es sie. Die Wildheit, die ihm innewohnte, war rau und zerstörerisch. Sie vergaß niemals, dass das Wasser unberechenbar war und sich nahm, was es wollte, ob es ihm gehörte oder nicht. Die Natur urteilte nicht. Sie existierte und folgte einem uralten Kreislauf. Maja war sich dessen bewusst, aber es machte es nicht leichter zu akzeptieren, was geschehen war. Sie stellte sich immer wieder die Frage nach dem »Warum?«. Obwohl sie wusste, dass die Antwort »Darum« lautete. Sie alleine zeichnete einen Beistrich, wo ein Punkt gehörte, weil ihr Verstand sich weigerte anzuerkennen, dass sie nichts hätte ändern können. Und das war für einen rational denkenden Menschen wie Maja eine schwierige Erkenntnis.