Kapitel 1
Kensington, März 1877
Frühnebel waberte über den Mittelweg bis hin zur Brompton-Kapelle, die von einer andächtigen Stille umgeben war, eingehüllt ins weiche Licht der aufgehenden Wintersonne. Maryanne schlang die Arme um ihren Körper und sog tief Luft ein. Die klirrende Kälte ließ ihren Atem als Dampfwolke vor ihr aufsteigen und sie folgte ihr gedankenversunken mit dem Blick, bis sie sich aufgelöst hatte.
»Ich kann es noch immer nicht glauben.« Mrs Henley trat, gestützt auf ihren Gehstock, neben sie und schnäuzte laut in ihr Taschentuch. »Dein Vater wird sehr fehlen. Er wurde von allen überaus geschätzt. Das Teehaus wird nicht mehr sein, wie es war.«
Maryanne nickte bekümmert und Mrs Henleys Schnäuzen durchzog die morgendliche Stille.
»Doch für ihn war es am Ende besser so. Nach allem, was mir deine liebe Mutter berichtet hat, war ihm das Leben nur noch eine einzige Qual. Nun hat er wenigstens keine Schmerzen mehr.«
»Dem ist wohl so.« Maryanne spürte die tröstliche Berührung der Freundin ihrer Mutter auf ihrem Arm und schluckte schwer. Große Worte, die dem Kummer über den Tod des Vaters Ausdruck verleihen konnten, fand sie keine. Nach langen Tagen voller Beileidsbekundungen und gegenseitigem Trostspenden sehnte sie die Ruhe herbei. Zeit für sich, um die Ereignisse der vergangenen Monate aufzuarbeiten und den Verlust zu akzeptieren. Seit der Nacht, in der ihr Vater gestorben war, hatte Maryanne kaum geschlafen. Immerzu hatten sie die Gedanken an den gestrigen Tag beschäftigt. Nun war die Beerdigung vorbei und eine furchtbare Last fiel von ihr ab.
»Es war eine schöne Trauerfeier.« Mrs Henley strich Maryanne sanft über die Wange, über die Tränen kullerten.
»Ja. Sie hätte ihm gefallen.« Maryannes Blick fand die Bäume und Sträucher, denen über Nacht ein weißes Laubkleid gewachsen war, und sie seufzte laut.
»Kümmere dich um deine Mutter. Sie gibt sich immer über alles erhaben, aber … niemand ist unverwundbar.« Mrs Henley berührte noch einmal bestärkend Maryannes Arm, dann verabschiedete sie sich.
Gedankenverloren sah Maryanne der alten Dame nach, die den Weg hinunter bis zur Straße ging, wo sie vom Nebel verschluckt wurde. Wie ein Gespenst bewegte sich der Dunst daraufhin auf Maryanne zu und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Mit jedem Schritt, den sie tat, knirschte der Frost unter ihren Füßen und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Maryanne war überzeugt, dass es eines Tages tröstend sein würde, zu wissen, dass nur zwei Querstraßen zwischen ihnen und dem Ort lagen, an dem ihr Vater seine letzte Ruhe gefunden hatte. Bislang aber löste Brompton in ihr eine schwere Beklemmung aus. Sie zwang sich durch das mächtige Friedhofstor aus grauem Kalkstein und warf einen zögerlichen Blick auf den schmalen Pfad, der vor ihr lag. Eine steile Treppe reichte hinunter zu den frischen Gräbern. Maryanne bot sich eine unverstellte Sicht auf das ihres Vaters und sie verharrte kurz auf der Stelle. Eine Hand auf ihr wild pochendes Herz gelegt, sah sie, wie ihre Mutter von einem Weinanfall geschüttelt wurde. Bertha Landerton war stets eine stolze Frau gewesen, von tadellosem Charakter und Auftreten. Niemals hatte Maryanne bei ihr Nachlässigkeit erlebt. Sie schnappte nach Luft, als sie ihre Mutter so gebrochen sah – ganz in Schwarz gekleidet, das dunkle Haar achtlos hochgesteckt. Strähnen lugten wie Spinnenbeine unter ihrer Haube hervor. Sie wirkte wie ein Trugbild. Maryannes Herz klopfte so schnell in ihrer Brust, dass sie glaubte, es würde zerspringen. Das Nebelgespenst war ihr gefolgt, schwebte ihr entgegen, umschloss sie, doch sie war unfähig, sich zu rühren. Ihre Mutter wimmerte. Ihr Schluchzen durchzog die Umgebung, aber für Maryanne waren die letzten Stufen zu einer unüberwindbaren Hürde geworden. Sie ballte eine Hand zur Faust und ihr Blick verlor sich im Nichts.
Sechs Monate war ihr Vater schwer krank gewesen. Nach einem Kutschenunfall hatte er unter starken Schmerzen gelitten, ohne Hoffnung auf Heilung oder Linderung. Doch Zeit zum Trauern blieb ihnen nicht. Der März war fast vorbei. Mit den höheren Temperaturen würden auch die Gäste von außerhalb an die Themse zurückkehren. Der April läutete die Saison ein und ganze Scharen würden nach London strömen. Sie mussten vorbereitet sein. Tische und Stühle gehörten geputzt, die Vorhänge und Teppiche aufbereitet, die Betten in den Fremdenzimmern über der Teestube aufgeschüttelt. All das war notwendig, um die feine Gesellschaft zurückzugewinnen, die ihrem Vater so am Herzen gelegen hatte. Jetzt, da er nicht mehr lebte, fühlte sich Maryanne dafür verantwortlich, dass die Geschäfte weitergingen. Daneben war die Teestube ihre Zuflucht – eine willkommene Ablenkung von der zersplitterten Hoffnung auf ein Leben mit einem Mann, der für sie nunmehr unerreichbar war.
»Was für eine triste Jahreszeit.« Bertha holte ihre Tochter aus den schmerzvollen Überlegungen. »Die Erde ist so hart, wir können vom Glück sagen, dass die Totengräber endlich ein Loch ausheben konnten.« Das blasse Gesicht umrahmt von der Trauerhaube nahm sie ächzend Stufe für Stufe, als erklömme sie einen hohen Berg.
Maryanne griff nach ihrer Hand und drückte zu. »Es wird wärmer werden und schon bald können wir Blumen auf Vaters Grab pflanzen. Veilchen in Gelb und Blau. Die mochte er doch so gern. Dann sieht alles gleich viel hübscher aus. Du wirst sehen.«
Ein gedehntes Stöhnen entwand sich Berthas Kehle und sie klammerte sich an Maryanne fest. »War Trudi schon auf den Beinen?«, fragte sie, während sie sich von ihr hinaufziehen ließ.
»Das war sie. Sie ist mit mir aufgestanden, hat sich fertig gemacht und ist sogleich in der Küche verschwunden.«
Wieder stöhnte Bertha. »Ach, ich wünschte, wir hätten alle etwas mehr Zeit. Dieses vermaledeite Teehaus lässt uns nicht einmal die Möglichkeit, durchzuatmen. Ehrlich, Maryanne, manchmal ist es mir mehr Last als Freude.«
»Wir kümmern uns schon um das Kensington Crown – Trudi und ich. Du brauchst Ruhe, Mama. Die letzten Wochen waren für dich sehr beschwerlich. Du hast Tag und Nacht an Vaters Bett gewacht.«
»Gewiss. In der Tat«, murmelte Bertha zustimmend.
Sie ließen den Friedhof hinter sich und spazierten die Straße in Richtung Earls Court hinunter, wo eine Kutsche auf sie wartete.
»Ich werde sogleich hineingehen und mich ausruhen«, sagte Bertha, sobald sie eingestiegen und die Baldwin Street passiert hatten. »Ich möchte nicht völlig müßig sein, wenn es wieder losgeht. Was ist heute zu erwarten?«
»Das Komitee des königlichen Opernhauses«, antwortete Maryanne. »Mr McNeil wird anwesend sein, jedoch nichts von Belang. Du musst nicht runterkommen. Wir schaffen das allein.«
Bertha rümpfte die Nase. »Dein lieber Papa hat diesen Auftrag noch angenommen, bevor er …« Ihre weinerliche Stimme brach ein.
»Ich weiß, Mama. Und du weißt, dass wir das Geld brauchen«, entgegnete Maryanne.
»Gewiss doch.« Bertha seufzte abermals. »Ich bin so müde. So erschöpft. Eine halbe Stunde, dann bin ich wieder auf den Beinen. Weckt mich, wenn etwas ist.« Sie betrat vor Maryanne das Teehaus durch den Haupteingang und die Holzstufen knarzten unter ihr, als sie sich ins Obergeschoss abmühte. Für einen Moment verlor sich Maryannes Blick gedankenvoll auf der Treppe. Am liebsten hätte auch sie eine Rast eingelegt, aber sie fürchtete sich vor den dunklen Gedanken, die sie dabei womöglich überkommen würden.
Die Küchentür schwang auf und ihre Schwester kam in die Stube. Gertrud war nur drei Jahre älter als Maryanne und ihr auch äußerlich ziemlich ähnlich. So war sie nur unmerklich kleiner und hatte dasselbe rotbraune Haar. Ihr Charakter aber war grundverschieden, denn Gertrud schien nichts aus der Ruhe bringen zu können. Etwas, wofür Maryanne sie oft bewunderte. Obendrein war sie äußerst geschickt. Staunend sah Maryanne zu, wie sie mühelos zwei Stapel mit Tellern auf den Händen jonglierte, ohne dass diese auch nur ansatzweise wackelten.
»Oh, ist Mama schon wieder oben?«, fragte Gertrud im Vorbeigehen. »Wie geht es ihr denn heute?«
»Eher nicht so gut, fürchte ich.«
Gertrud stellte die Teller ab und lehnte sich über den Schanktisch zu ihr vor. »Und du? Wie fühlst du dich?«
Maryanne zuckte die Schultern. »Ich komme schon zurecht.« Sie machte sich daran, die Tische einzudecken.
»Ach wirklich?« Gertrud ging ihr mit dem Besteckkasten nach. »Weißt du, es ist in Ordnung, den Schmerz zuzulassen.«
»Ich habe nichts anderes behauptet.«
»Und doch drängst du ihn zurück.«
»Das tue ich nicht«, widersprach Maryanne und hielt mit den Tellern in der Hand inne.
»Ich habe dich noch nicht weinen sehen.«
»Bist du denn darauf so erpicht?«
Gertrud legte den Kopf schief. »Du weißt, wie ich das meine.«
»Nein. Ehrlich gesagt nicht.« Maryanne spürte, wie eine Mischung aus Bitterkeit und Unverständnis in ihr kochte.
»Du spielst immer die Starke. Aber mir kannst du nichts vormachen. Ich weiß, wie es in dir aussieht. Du leidest. Doch du sprichst weder von Vater noch über das, was wirklich im Haus der Greys vorgefallen ist. Es muss doch einen Grund gehabt haben, wieso …«
»Ich habe dir alles erzählt, was es darüber zu sagen gab.« Maryanne winkte ab. »Und ich will nun nicht mehr davon sprechen. Es gehört der Vergangenheit an. Ich muss nach vorne schauen.«
»Na, dann tu es auch endlich, und verschließe dich nicht so. Ich habe seit Vaters Tod kaum ein Wort von dir gehört. Du bist ganz verändert. Weißt du, seinen Kummer zu verbergen, sich niemandem anzuvertrauen, das ist wie … sich selbst zu verleugnen.«
Maryanne knallte den letzten Teller aufs blütenweiße Tischtuch und ihre Schwester zuckte verschreckt zusammen. »Mag ja sein«, zischte sie. Obwohl Gertrud für gewöhnlich eher zurückhaltend war, war sie in diesem Fall äußerst hartnäckig. Tief im Innern wusste Maryanne, dass ihre Schwester recht hatte. Sie konnte nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Als wäre ihr Herz nicht gebrochen und ihre Hoffnung auf ein anderes Leben vollkommen zerschlagen. Dennoch sah Maryanne keinen Ausweg für sich. Sie war wie gelähmt angesichts der großen Veränderungen, mit denen sie sich konfrontiert sah. Noch bis vor einem halben Jahr war sie von einem Glück erfüllt gewesen, auf das sie nie zu hoffen gewagt hätte. Doch nun war das vorbei. Sie hatte verbotenerweise geliebt und teuer dafür bezahlt. Der Tod ihres Vaters und das Kensington Crown, das es nun zu retten galt, kamen ihr nur wie eine weitere Strafe vor, weil sie es gewagt hatte, ihr Herz an einen Gentleman zu verschenken. Einen Mann von höherem Stand. Noch immer wogen die Ketten schwer, die ihr von der Gesellschaft angelegt worden waren. Der Zeitungsartikel, in dem sie als geldgierige Wirtstochter verhöhnt worden war, hatte ihren Eltern das Geschäft verdorben. Und manchmal fragte sich Maryanne, ob die schlechte Presse zu viel für ihren Vater gewesen war. Tagtäglich nagten deshalb die Schuldgefühle an ihr, versetzten sie in eine Art Starre, die sie nach außen hin gefühlskalt wirken ließ. Doch das war sie keineswegs und Gertrud wusste das genau. Immerzu betrachtete sie Maryanne mit diesem mitleidsvollen Blick.
»Es muss weitergehen«, sagte Maryanne, um sich endlich davon zu befreien. »Keiner von uns wird satt, wenn wir die Köpfe hängen lassen. Also …« Sie nahm hohe Gläser aus dem Regal hinter dem Schanktisch und stellte sie mit penibler Sorgfalt zwischen Teller und Dessertbesteck.
»Ich habe vorgestern Mrs Ashton in der Stadt gesehen.« Gertrud bemühte sich hörbar um einen feinfühligeren Ton.
Doch in Maryannes Händen klirrten Gläser aneinander.
»Sie meinte, sie hoffe inständig, dass du alsbald als Gesellschafterin zur Verfügung stehst. Sie hat schon wieder einen neuen Zwergspitz. Poppy heißt er.« Gertrud schüttelte schmunzelnd den Kopf.
»So?«, murrte Maryanne gleichgültig.
»Sie hat auch gesagt, dass sie auf einer Abendgesellschaft bei Lady Drummond war und dass ein gewisser Mr Grey ebenfalls anwesend war.«
Maryanne schaute zaghaft zu ihrer Schwester auf.
»Er ist verlobt, Maryanne. Laut Mrs Ashton wird er die älteste Tochter von Lord Harrington heiraten.« Gertrud betrachtete sie aufmerksam und besorgt.
Maryanne schluckte schwerfällig den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte. Aus Angst vor den Konsequenzen hatte sie nicht einmal ihrer Schwester alles über ihre Liebe zu dem jungen Lord Grey erzählt. Sie hatte die Beziehung zu ihrem ehemaligen Dienstherrn als Schwärmerei abgetan. Aber für Gertrud, ihre engste Vertraute, war sie wie ein offenes Buch, und sie schien zu ahnen, wie sehr sie die Nachricht von seiner Verlobung mitnehmen musste. Maryanne versuchte, die Fassung zu wahren, aber Tränen verschleierten ihren Blick und sie konnte ein bitteres Seufzen nicht zurückhalten.
»Ich dachte, ich sage es dir lieber, bevor du die Anzeige in der Zeitung siehst«, meinte Gertrud.
Maryanne nickte unmerklich, wandte sich von ihr ab und wischte ihre Tränen mit Daumen und Zeigefinger fort. Es war töricht von ihr gewesen, sich in einen Mann zu verlieben, der nicht ihrem Stand entsprach. Dennoch hatte sie sich für kurze Zeit dem Glauben hingegeben, dass eine Verbindung zwischen ihr und jemandem wie ihm möglich war. Nun hatten sie die veränderten Verhältnisse auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Sie an ihren Platz verwiesen und ihren Edward, Lord Grey, in die Arme einer reichen Erbin.
»Ehrlich gesagt«, antwortete Maryanne nach einer Pause, in der sie sich ein wenig gefasst hatte, »es kümmert mich nicht. Ich bin darüber hinweg. Das, was bei den Greys passiert ist, war nichts weiter als ein kleines Strohfeuer. Es ist längst erstickt. Und ganz gleich, was die Gerüchte besagen, es war nichts zwischen mir und Edward Grey außer … Freundschaft.«
Gertrud suchte vehement Maryannes Blick. »Das glaube ich dir nicht. Du redest Irrsinn, denn du bist in Trauer, wie wir alle. Du bist gerade nicht du selbst.«
»Das ist es nicht«, widersprach Maryanne milde. »Wir müssen uns neu sortieren. Jeder von uns.«
»Aber natürlich.« Gertrud nickte ungeduldig. »Ich hoffe, es gelingt dir.«
Maryannes Blick glitt zu Boden. Sie wollte ihr beipflichten, verkniff es sich jedoch. Stattdessen schlug sie ein anderes Thema an. »Jetzt, da Vater nicht mehr da ist, haben wir sehr viel Arbeit. Die Verantwortung für den Betrieb und für die Familie lastet auf uns beiden. Ich kann … Ich darf keine anderen Gedanken zulassen.«
»Das verstehe ich. Aber willst du überhaupt nicht mehr als Gouvernante oder Gesellschafterin arbeiten? Mrs Ashton würde dich sicher großzügig entlohnen.«
Maryanne schüttelte den Kopf.
»Du willst also alles hinwerfen?«
»Vielleicht«, hauchte Maryanne zaudernd.
»Maryanne, nein! Tu das nicht!«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.«
»Aber für den Moment sieht es danach aus?«
Sie nickte traurig.
Gertrud schnaufte. »Überleg dir das gut. Vater hat gewollt, dass du deinen eigenen Weg gehst und …«
»Ich versprach Vater etwas. Und daran werde ich mich halten.« Es brach einfach so aus Maryanne heraus. Sofort biss sie sich strafend auf die Unterlippe, weil die letzten Worte, die sie mit ihrem Vater gewechselt hatte, ihr allein gehörten. Sie hatte sie für sich behalten wollen, damit niemand behaupten konnte, sie hätte jenes Versprechen nur gegeben, damit ihr Vater in Frieden sterben konnte. Zu ihrer Erleichterung hakte Gertrud nicht weiter nach.
»Mag sein. Papa hatte seine Ansichten. Aber was ist mit Mama?«, fragte sie stattdessen. »Sie hatte stets große Pläne mit dir. Du solltest auf einem herrschaftlichen Anwesen sein, in einer Stellung mit Aufstiegsmöglichkeiten. Sie hat dich nie hier im Teehaus gesehen. Du solltest nicht hier enden.«
»Aber du schon?«
Gertrud blickte seufzend zu Boden. »Ich bin nicht gemacht für die Welt außerhalb des Kensington Crowns«, sagte sie mit leiser werdender Stimme. »Hier bin ich mit allem vertraut und komme zurecht.«
»Du würdest auch anderswo zurechtkommen, Trudi. Beschränke dich nicht nur auf das, was andere von dir erwarten.«
Die Schwestern sahen einander an. Maryanne lächelte aufbauend. Seit sie Kinder waren, erfüllte Gertrud die Rolle der vernünftigen, gehorsamen und nützlichen Tochter des Hauses. Nach außen hin erweckte sie meist den Eindruck, damit zufrieden zu sein, doch Maryanne wusste, dass Gertrud sich manchmal danach sehnte auszubrechen – auch, wenn sie es nie zugab.
»Um mich geht es hier nicht«, sagte Gertrud nach einer gedankenschweren Pause. »Ich bin nicht diejenige, die ihre Möglichkeiten wegwirft, nur weil sie einmal Pech hatte.«
»Und mit Möglichkeiten meinst du, einen wohlhabenden Ehemann zu finden? Nein, danke. Ich verzichte.«
Gertrud seufzte tief. Versehentlich hatte sie einen wunden Punkt erwischt. »Bitte entschuldige. So hatte ich das nicht gemeint. Dennoch, Maryanne«, sie schüttelte leicht den Kopf, »du musst nicht hier bleiben, wenn es nicht deine Bestimmung ist. Wir bekommen das auch ohne dich hin. Anthony wird uns unterstützen. Er wird ein Arbeitsmädchen einstellen, und Mama wird es auch wieder besser gehen.« Sie brachte Kerzenleuchter zu den Tischen.
»Ach, Trudi. Ich weiß doch gar nicht, was meine Bestimmung ist. Und ich weiß nicht, ob es die von Mama ist, den Betrieb zu leiten, aus dem sie sich stets rausgehalten hat. Die Teestube war Papas Traum und nicht ihrer. Und Anthony kann sich leider überhaupt nicht für unser Geschäft erwärmen. Das hat Papa gewusst. Deshalb hat er ihn ja auch nach York ziehen lassen.«
»Unser Bruder mag sein eigenes Leben haben«, sagte Gertrud. »Aber ihm ist dennoch daran gelegen, das Kensington Crown zu behalten. Ich glaube, im tiefsten Innern hängt er doch irgendwie daran, und wer weiß, vielleicht kehrt er eines Tages nach London zurück. Ehrlich, Maryanne, du musst das nicht tun. Ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst. Hast du verstanden?«
Sie nickte matt und Gertrud zog sie in eine Umarmung. Zunächst widerwillig bettete Maryanne das Kinn an die schwesterliche Schulter, ergab sich letztlich aber deren Zuspruch und Trost. Gertrud brachte nur selten etwas zur Sprache. Meist blieb sie die stille Beobachterin. Diesmal jedoch hatte sie ausgesprochen, was Maryanne verdrängte. Seit frühester Kindheit hatte sie geglaubt, den Wunsch ihrer Mutter zu teilen, bei der feinen Gesellschaft in die Dienste zu gehen, und sie hatte viel dafür getan, dass er sich trotz ihrer familiären Verbindlichkeiten erfüllte. Mit ihrem unbedachten Handeln im Hause Grey hatte sie ihren Traum selbst zum Platzen gebracht. Sie würde nicht mehr zurückkehren können. Nicht zu den Greys und auch nicht zu Mrs Ashton, die eine Vorliebe für Klatsch und Tratsch hegte und sich von ihr vor allem eins versprach: dunkle Geheimnisse. Offenbar ging sie davon aus, Maryanne könnte solche über Lady Grey und ihre fünfzigtausend Pfund im Jahr in Erfahrung gebracht haben. Oder aber über Lord Greys Mündel, Emily, für deren Erziehung Maryanne zuständig gewesen war. Die Elfjährige wuchs im riesigen Anwesen der Greys auf, nachdem ihr Vater, Lady Greys einziger Sohn und ursprünglicher Erbe, Francis, auf dem Weg nach Indien auf hoher See umgekommen war. Neben Edward vermisste Maryanne Emily am meisten. Zu ihr hatte sie binnen kürzester Zeit eine enge Bindung aufgebaut. Emily hatte in Maryanne so etwas wie eine große Schwester gesehen. Zweifelsohne war dies der Tatsache geschuldet, dass Maryanne durch ihre eigene Nichte Betty, die bei ihnen lebte, einen außergewöhnlichen Zugang zur kindlichen Gefühlswelt besaß. Bevor Maryanne auf dem vornehmen Grey-Anwesen, Roslyn Park, eingetroffen war, hatte es Gerede über Emily gegeben. Ihr Verhalten sei nicht normal. Sie sei ungehorsam, gesellschaftsuntauglich, schwachsinnig. Jene Worte hatte Lady Grey vollkommen unverblümt verwendet, als sie Maryanne von den zu erwartenden Schwierigkeiten mit Emily berichtet hatte. Schon an ihrem ersten Tag mit dem Mädchen hatte Maryanne jedoch festgestellt, dass es lediglich zwei Dinge brauchte: Zuwendung und Liebe. Etwas, zu dem Emilys hochmütige Großmutter nicht fähig war.
Emily zurückzulassen war auch deshalb so schmerzlich für sie gewesen, aber sie war sicher, dass sie in ihrem Vormund, Edward Grey, einen Vertrauten hatte. Jemand, der auf ihre Bedürfnisse einging.
***
Es dauerte keine zwei Tage, da erhielt Maryanne einen Brief von Mrs Ashton, in dem sie ihr anbot, als Gesellschafterin für sie zu arbeiten.
»Ein halbes Pfund die Woche.« Bertha war sichtlich von der zugesicherten Bezahlung angetan.
»Nicht genug«, zischte Maryanne, während sie die Teeblätter für den Nachmittagstee in die Kannen füllte.
»Unsinn! Das ist mehr als genug. Und es würde uns allen helfen.«
Maryanne prustete. »Dann mach du es doch, Mama. Ich jedenfalls werde mich nicht an sie verkaufen. Da kann sie mir noch so viel bieten.«
»Was ist denn in dich gefahren, Kind?«
»Mrs Ashton geht es weniger um mich als um das, was ich ihr möglicherweise berichten könnte.«
Berthas Augen wurden weit. »Du meinst …?«
Maryanne nickte. »Sie erhofft sich pikante Details über das Leben auf Roslyn Park. Aber ich habe keinerlei Interesse daran, mich aushorchen zu lassen. Ich werde mich gewiss nicht über die Greys äußern, geschweige denn über irgendwelche Gerüchte sprechen, die mich selbst betreffen.«
Bertha seufzte schwerfällig, als sie einsah, dass Maryanne recht hatte. »Gott bewahre, Kind! Wann werden die Menschen diese skandalöse Behauptung über dich und Lord Grey endlich satthaben?« Fahrig band sie sich die Schürze um ihre ausladenden Hüften und rauschte aus der Küche. Dabei stieß sie beinahe mit Gertrud zusammen, die soeben von ihrem Einkauf auf dem Wochenmarkt zurückkehrte.
»Was hat sie denn?«, fragte sie alarmiert.
»Die üblichen Sorgen«, antwortete Maryanne. Gertrud hob einen Mundwinkel und brachte die Einkäufe in die Vorratskammer.
Maryanne war erleichtert, dass ihre Mutter sie zu nichts drängte, obwohl sie das Geld gut gebrauchen konnten. Doch abgesehen von der Gefahr, dass eine Anstellung bei Mrs Ashton das Gerücht über sie womöglich neu entfacht hätte, hatte der Tod ihres Vaters Maryanne auch fester ans eigene Haus gebunden. Je öfter sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihre Zukunft und es fiel ihr von Tag zu Tag leichter, das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, zu erfüllen.
***
Der Duft von Pfefferminztee und frisch gebackenen Scones erfüllte das Kensington Crown. Doch an diesem Nachmittag war das leise Aneinanderklirren von Porzellan in der Gaststube leiser als sonst. Erneut hatte es weniger Gäste ins Teehaus verschlagen. Bertha hatte sich vorzeitig auf ihr Zimmer zurückgezogen. Seit einiger Zeit plagten sie immer häufiger Kopfschmerzen, weshalb Maryanne mit Gertrud mal wieder allein in der Teestube war. Die Arbeit war überschaubar. Nicht einmal die Hälfte aller Tische war besetzt. Es war kein Vergleich dazu, wie es vor dem Tod des Vaters zugegangen war. Oft hatten die Gäste keine Möglichkeit auf einen freien Tisch gehabt, wenn sie nicht reserviert hatten. In Maryanne hallten Mrs Henleys Worte nach, die diese am Tag nach der Beerdigung auf dem Brompton-Friedhof an sie gerichtet hatte. Es war nicht zu übersehen: Das Kensington Crown hatte sich verändert. Und Maryanne fragte sich, ob die Kopfschmerzen ihrer Mutter damit zusammenhingen. Hatte sie die Befürchtung, das Teehaus zu verlieren wie zuvor schon ihren Mann?
»Wir wussten alle, dass es ohne Papa schwer werden würde«, sagte Gertrud, als hätte sie die Gedanken ihrer Schwester gehört. »Aber Mama, sie wird schon …«
»Das denke ich nicht«, murrte Maryanne. »Verzeih mir. Ich wollte nicht respektlos klingen.«
Gertrud starrte sie fassungslos und traurig zugleich an. In den letzten Wochen hatten die Schwestern wie selbstverständlich die meiste Arbeit in der Teestube geleistet. Nebenbei hatte Maryanne die zehnjährige Betty zu Hause unterrichtet, um das Schulgeld zu sparen. Anfänglich sollte das alles nur vorübergehend sein. Gertrud war für die Köchin, die sie sich nicht mehr hatten leisten können, in der Küche eingesprungen, und Maryanne hatte sich um das Servieren und die Buchführung gekümmert. Dass Bertha sich im Hintergrund gehalten hatte, hatte William wohlwollend gebilligt. In all der Zeit hatte niemand ein Wort darüber verloren, denn mit ihren Kindern, von denen sie bereits drei beerdigt hatte, war Bertha ausgelastet gewesen. Sie hatte stets in einem Zustand der dauerhaften Trauer gelebt, war jedoch immer irgendwie zurechtgekommen. Nach dem Tod ihres ältesten Sohnes James hatte sie ihre Enkelin Betty bei sich aufgenommen. Betty war ein kleiner Wirbelwind, der sich nicht so leicht bändigen ließ, von ihrer Großmutter aber mit Zuneigung nur so überschüttet wurde. Dass sich diese nun rarmachte, verunsicherte das Mädchen.
Wie aufs Stichwort erklang das Getrampel eiliger Schritte auf der Treppe. Betty schoss mit Hanna in die Küche hinunter. Ihre gleichaltrige Freundin wohnte schräg gegenüber und war häufig zu Gast bei den Landertons.
»Pscht.« Gertrud legte den Zeigefinger an die Lippen. »Könnt ihr nicht leiser sein? Mama versucht, sich auszuruhen.«
»Ist Großmama krank?«, fragte Betty ernst.
»Nein. Es ist alles in Ordnung«, antwortete Gertrud und gab den beiden je ein Stück des frisch gebackenen Früchtebrots. Glucksend schmausten sie und spülten ihre Kehlen mit einem Glas warmer Milch.
»Dürfen wir zum Spielen raus?« Betty zog den Beutel mit den klirrenden Murmeln aus ihrer Rocktasche.
»Sicher.« Maryanne lächelte, und die Mädchen verschwanden kichernd auf den Hof.
Im Hinterhaus hatte Maryanne damit begonnen, die Tische für eine Geburtstagsfeier einzudecken. Der lang gestreckte Raum bot zusätzlichen Platz, weshalb die Landertons ihn in der Vergangenheit für größere Personengruppen hergerichtet hatten. Maryanne verteilte die Servietten neben die Teller und kontrollierte noch einmal die vorgegebene Sitzordnung.
Unterdessen strömte aus der Küche der köstliche Duft von Shepherd’s Pie und frisch gebackenem Brot.
»Wie weit bist du mit den Mahlzeiten für heute?« Neugierig lugte Maryanne unter Deckel und Tücher, mit denen Gertrud die Speisen abgedeckt hatte.
»Es ist fast alles vorbereitet, bis auf den Pudding und den Apfelkuchen.« Gertrud holte Zucker und Mehl aus der Vorratskammer.
Maryanne nickte. Es hing viel davon ab, dass sie heute einen guten Eindruck machten. Immerhin war es das erste Mal seit dem Tod des Vaters, dass sie wieder größere Gesellschaften zu Gast hatten. Betty und Hanna flitzten in die Küche, stibitzten sich noch vom Früchtebrot und rauschten erneut hinaus.
»Also wirklich!«, rief Gertrud ihnen gespielt tadelnd hinterher. Etwas wehmütig blickte Maryanne den Mädchen nach. Oftmals erinnerte Betty sie an Emily. Was sie jetzt wohl tat? Ob es ihr gut ging? Wahrscheinlich war sie gerade im Garten. Dort, wo sie am liebsten gewesen war, und spielte mit ihrem Hündchen so dicht bei den Rosen, dass sich der Gärtner erschrocken die Hand vor den Mund schlug, während Edward seine Nichte mit einem seligen Lächeln gewähren ließ. Maryanne war gefangen in ihren Gedanken an Roslyn Park, die sie mal wieder unvorhergesehen überkommen hatten. So lange, bis sie Gertruds Hand an ihrer Schulter spürte. »Sie sind zu beneiden, nicht? Es ist gut, wenn sie sorglos sind. Alles andere würde ihnen die Kindheit nehmen. Sie sollen fröhlich sein.«
Maryanne nickte. Sie hatten alle viel durchgemacht, und jeder hatte nach den Entbehrungen der vergangenen Monate etwas Normalität verdient. Für die kleine Betty war es ein Murmelspiel mit ihrer Freundin. Für Gertrud ein gelungener Tag im Teehaus. Maryanne suchte noch danach, was ihrem gebrochenen Herzen ein Balsam war. Vielleicht wäre sie geheilt, würde sie sehen, wie das Leben ins Kensington Crown zurückkehrte. Das geschäftige Treiben, das sie aus früheren Zeiten gewohnt waren. Die einflussreichen, feinen Gäste, denen der Vater stets mit Leidenschaft den köstlichsten Tee aus fernen Ländern wie Indien oder China serviert hatte. Sie alle waren gekommen, weil sie sich im Kensington Crown wohlfühlten und die Freundlichkeit der Landertons zu schätzen wussten. Maryanne freute sich auf die Gespräche mit den Reisenden, die für sie ebenso anregend waren wie die mit lieben Freunden – Stammgästen der Teestube, die durch ihr regelmäßiges Kommen zur Familie gehörten. Und vielleicht würden sie die Gedanken an das Vergangene vertreiben und sie vergessen lassen, dass sie ihr Herz an einen anderen Ort verloren hatte.
Kapitel 2
Roslyn Park, zwei Jahre zuvor
Die Familie Grey war stolz darauf, eines der ältesten Adelsgeschlechter Englands zu sein, dessen Wurzeln mit der Krone verbandelt waren. Lady Grey war sogar entfernt mit der Königin verwandt, was sie wichtig genug machte, um zum alljährlichen, royalen Gartenfest geladen zu werden. Die Vorstellung, bei einer Lady im Dienst zu stehen, die mit der Königin Tee trank, hatte auf Maryanne zu Beginn eine einschüchternde Wirkung gehabt. Inzwischen war sie jedoch seit zwei Wochen auf Roslyn Park und hatte sich an den Umstand gewöhnt, ebenso wie an Lady Greys erhabenes Wesen. Sie drückte sich stets wohlgewählt aus, dabei blieb sie immerzu ernst, sodass Maryanne bereits der Verdacht gekommen war, dass sie nie gelernt hatte zu lächeln – was auch ihre Enkeltochter Emily verunsicherte, für deren Erziehung Maryanne nun verantwortlich war. Emily war ein verschlossenes Kind, das sich am liebsten versteckt hielt. Eine für Maryanne vollkommen verständliche Reaktion auf ihr bisheriges Leben, in dem sie sich meist mit sich allein beschäftigt hatte, weil ihr Vormund oft auf Reisen und ihre Großmutter ihr gegenüber distanziert war. Edward Grey hatte nach dem Tod seines Cousins nicht nur dessen Titel, sondern auch sämtliche Verpflichtungen geerbt. Dazu gehörte unter anderem die Verantwortung für Emily, die als Waise in die Obhut ihrer Großmutter gegeben worden war.
Es hatte einige Tage gedauert, ehe Maryanne einen Zugang zu dem scheuen Kind gefunden hatte. Sie hatte das Mädchen an deren Lieblingsorten im Garten aufgespürt, von denen ihr die Bediensteten berichtet hatten. Mit viel Einfühlungsvermögen war es Maryanne anschließend spielerisch gelungen, Emily zum Unterricht zu bewegen. Inzwischen hatte das Mädchen sich an den Umstand gewöhnt, nicht mehr allein zu sein im großen Haus. Und Maryanne hatte den Eindruck, als hätte Emily nur auf jemanden wie sie gewartet. Jemanden, der sie umsorgte, der ihr Gesellschaft leistete und auf sie einging.
Am ersten Freitag im Mai war das ganze Haus in Aufruhr. Die Dienerschaft war seit dem frühen Morgen auf den Beinen, um alles für die Ankunft des Lords vorzubereiten, der eine Zeit lang auf seinem Stammsitz bleiben wollte, um nach den Pächtern zu sehen und sich um seine Ländereien zu kümmern. Für Maryanne, die Lord Grey zum ersten Mal begegnen würde, ging es darum, einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Doch ausgerechnet an jenem wichtigen Tag hatte sie mehr Mühe als sonst, Emily, nach einem Spaziergang durch den parkähnlichen Garten, ins Haus zu bekommen.
»Emily«, rief sie ihr über die Wiese nach, die sich bis hin zu einem steinernen Pavillon erstreckte.
»Komm sofort her!« Mit gerafftem Rock stapfte sie über die vom Morgentau glitzernde Wiese. Veilchen hoben sich aus den Nebelschlieren, die dichter wurden, desto näher sie dem Irrgarten kamen, der die Mitte des Parks kennzeichnete.
»Dein Onkel kann jeden Moment eintreffen, und er wird nicht erfreut sein, wenn du unauffindbar bist. Und deine Großmutter erst …« Prustend hielt Maryanne im Eingang zum Irrgarten inne, in dem sie Emily vermutete. Das Mädchen machte sich einen Spaß daraus, seine Gouvernante hineinzuscheuchen, wohl wissend, dass Maryanne nicht besonders gut darin war, wieder hinauszufinden.
»Emily?«, rief Maryanne erneut, dann zwang sie sich hinein, folgte ihrem Kichern und versuchte, sich mühsam zu erinnern, welchen Weg sie beim letzten Mal gemeinsam gegangen waren.
»Das ist nicht lustig, Emily«, sagte sie, als sie ihn nicht finden konnte und wieder und wieder gegen eine grüne Wand stieß. Die kunstvoll gestutzten Eibenhecken waren so hoch, dass es ihr unmöglich war, hinüberzuschauen und die Richtung zu erspähen, in die Emily lief.
Schnaubend und innerlich schimpfend machte sie kehrt, schlug einen anderen Weg ein und fand doch nur wieder eine Sackgasse vor. Maryanne fasste sich entrüstet an die Stirn. Sie dachte an Lady Greys mahnende Worte. Sie solle endlich das Kind unter Kontrolle bringen. Meist machte Emily ihr keine Probleme, war gehorsam und brav, und auch was ihre Konversation anging, hatte sie Fortschritte gemacht. So brachte sie ihrer Großmutter gegenüber mehr als nur Einwortsätze hervor und lächelte sie sogar hin und wieder an. Man konnte also durchaus behaupten, dass es Maryanne in vielerlei Hinsicht bereits gelungen war, das Mädchen zu verändern. Dennoch schien Lady Grey ihren Erfolg ausschließlich daran zu messen, wie gut das Kind ihr gehorchte, sobald sie einen Fuß in den Garten gesetzt hatten. Außerhalb des Hauses war Emily ein Wildfang, was Lady Grey darauf zurückführte, dass ihre Mutter eine Bürgerliche und noch dazu Schottin gewesen war.
»Du hast gewonnen. Ich finde den Weg immer noch nicht allein raus.« Maryanne gab sich geschlagen, in der Hoffnung, Emily dadurch aus ihrem Versteck zu locken. Aber nichts geschah. Maryanne drehte sich einmal um sich selbst, doch sie fand keine Orientierung.
»Es sei denn … du willst, mich hier zurücklassen. Bis ich irgendwann verhungert und verdurstet bin. Gänzlich vertrocknet … einer Rosine gleiche … bis mich der Gärtner findet und dann …« Maryanne horchte auf.
Ein Rascheln in den Hecken, nicht weit von ihr entfernt, veranlasste sie, einen Weg einzuschlagen, den sie glaubte, bereits gegangen zu sein. Überzeugt, dass Emily sich auf der anderen Seite der grünen Wand versteckte, hastete sie um die Ecke.
»Hab ich dich!«, rief sie aus, sprang auf den Weg und stieß unsanft mit einem Mann zusammen.
Maryannes Herz klopfte schneller, als sie erschrocken zu ihm hinaufschaute. Er war groß und stattlich und besaß so tiefblaue Augen, wie Maryanne sie noch nie gesehen hatte. Verwundert sah er sie an, ein leichtes Grinsen umspielte dabei seinen Mund.
»Oh … ich … bitte vielmals um Verzeihung«, Maryanne schaute beschämt zu Boden. »Ich dachte … Ich meine … Ich war sicher, Sie seien …«
»Emily?«
Sie nickte hastig, zuckte die Schultern, dann lächelte sie verlegen.
»Nun, da muss ich Sie enttäuschen. Aber ich glaube, sie ist nicht weit weg. Kommen Sie mit.«
Maryanne folgte dem Mann durch den Irrgarten und musterte ihn dabei gedankenvoll. Er schien sich gut auszukennen. Wer war er? Sie hatte ihn noch nie gesehen. Seine Kleidung passte nicht zu der der Dienstboten. Der dunkelblaue Samtrock wies ihn eindeutig als feinen Herrn aus. Vielleicht war er einer von Lady Greys Gästen, die diese regelmäßig auf Roslyn Park willkommen hieß. Sie gingen ein und aus. Meist bemerkte Maryanne sie gar nicht. Bisher hatte es aber auch noch keinen von ihnen in den Garten verschlagen.
Gekonnt führte er sie ans Ende des Irrgartens, dorthin, wo dieser in die Rosen überging, die die Greys seit Generationen in üppiger Pracht anpflanzen ließen. Ein wundervoller Garten aus wohlduftenden roten, weißen, gelben und rosafarbenen Blumen, die gerade erst begonnen hatten zu sprießen.
»Ein Glück, dass wir aufeinandergetroffen sind«, sagte Maryanne. »Wahrscheinlich wäre ich nie wieder aus diesem Labyrinth herausgekommen.«
»Das wäre aber eine Schande gewesen.« Der Mann drehte sich zu ihr um und lächelte amüsiert. »Ah, da ist ja unsere Ausreißerin.« Er deutete mit dem Kinn hinter Maryanne. Emily saß seelenruhig auf einer Mauer und beobachtete, wie ein Marienkäfer ihre Hand entlangkrabbelte.
»Onkel Edward!« Sie winkte hektisch, sobald sie ihn bemerkte. Maryanne sog schockiert den Atem ein. Onkel?, dachte sie blinzelnd und spürte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg. Wie hatte sie so einfältig sein können? Natürlich. Er war es: Lord Grey. Wen sonst hatte sie erwartet?
Vorsichtig setzte Emily den Käfer auf ein Blatt, dann stürzte sie in Edwards ausgebreitete Arme. Er hob sie hoch, drückte sie an sich.
Wie peinlich, dachte Maryanne, weil sie ihn nicht gleich erkannt hatte. Jetzt, wo sie Gewissheit hatte, fiel ihr die Ähnlichkeit zu dem Porträt auf, das in der Eingangshalle hing. Am liebsten wäre sie augenblicklich in einem Loch im Boden versunken.
»Wir haben Verstecken gespielt«, sagte Emily.
Ihr Onkel lachte. »Soso. Und wer war an der Reihe?«
»Na, ich! Miss Landerton musste mich suchen.« Emily hielt kurz inne, beugte sich dann zu ihrem Onkel und flüsterte ihm ins Ohr: »Aber sie ist furchtbar schlecht darin.«
»In der Tat. Das konnte ich sehen.« Er setzte Emily ab und wandte sich Maryanne zu. Diese sank in eine tiefe Verbeugung. »Lord Grey … ich hatte keine Ahnung, dass …«
Er wedelte flink mit einer Hand. »Ist schon gut. Ich nehme an, Sie hatten mich auch nicht unbedingt im Irrgarten erwartet.«
»Nein. Um ehrlich zu sein, nicht, Mylord.«
Er lächelte nachsichtig und wieder fielen ihr seine blauen Augen auf. Sie hatten die Farbe von Vergissmeinnicht und waren umrahmt von einem dunklen Wimpernkranz. Lord Grey war weitaus freundlicher, als sie sich ihn anhand seines Porträts vorgestellt hatte. Sein jüngerer Bruder Duncan jedenfalls, der vor einer Woche Roslyn Park besucht hatte, hatte nichts mit ihm gemein. Duncan hatte seine Abneigung gegenüber Kindern freiheraus kundgetan, indem er Emily vom gemeinsamen Abendessen ausgeschlossen hatte. Für Maryanne hatte er kein höfliches Wort übrig gehabt und lediglich naserümpfend auf sie herabgesehen. Auch was das Äußere anging, übertraf Edward seinen untersetzten Bruder um ein Vielfaches. Der Lord war stattlich gebaut, mit breiten Schultern und einem Lächeln, das Maryanne die Sprache verschlug.
»Wollen wir wieder hineingehen?«, fragte er, nicht zum ersten Mal. Maryanne nahm seine Stimme nur am Rande wahr.
Sie reagierte verzögert. »Ja … gewiss doch.«
Emily lief tänzelnd voran, bückte sich immer wieder und pflückte Gänseblümchen auf ihrem Weg über die Wiese, die sie zu einem Kranz zusammenband. Maryanne spazierte neben dem Lord her und nestelte nervös an ihrem Kragen. »Sie hat sich sehr auf Ihre Rückkehr gefreut«, sagte sie, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Schmunzelnd sah er zu, wie seine Nichte ein Rad schlug und dann wieder fröhlich durch das Gras hopste. »Bedauerlicherweise kann ich nicht mehr Zeit für sie aufbringen.«
»Sie tun, was Sie können.«
Er schaute sie an, nickte knapp und wechselte das Thema. »Wie gefällt es Ihnen bei uns, Miss Landerton?«
»Sehr gut, danke. Ich fühle mich überraschend wohl.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Hatte ihre Tante Ursula sie nicht vor unbedachten Worten gewarnt, als sie ihr die Stelle auf Roslyn Park vermittelt hatte? Den Lord schien ihre Ehrlichkeit aber nicht zu stören. Im Gegenteil. Er lachte leise. »Überraschend also?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen nach. »Dann hatten Sie es sich so schlimm bei uns vorgestellt?«
»Aber nein. So habe ich das nicht gemeint. Ich bin lediglich … nicht daran gewöhnt, in einem so großen Haus zu arbeiten.«
»Dann waren Sie vorher bereits angestellt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war für die Erziehung meiner Nichte zuständig. Meiner Familie gehört außerdem ein Teehaus.«
Er nickte lange. »Ach, ja. Sie sind doch Ursula Grosvenors Nichte. Richtig?«
»Das ist richtig, Mylord.«
»Ich war schon mal mit meinem Cousin im Kensington Crown. Es ist eine Weile her, aber ich erinnere mich an die Gemütlichkeit dort. Ist es immer noch so schön?«
»Oh ja. Meinem Vater ist sehr daran gelegen, dass sich unsere Gäste wohlfühlen. Das Teehaus bedeutet unserer Familie sehr viel. Es hält alles zusammen.«
Er betrachtete sie von der Seite. Bewunderung stand in seiner Miene. »Klingt, als würde es Ihnen fehlen.«
Sie legte lächelnd den Kopf schief, zuckte leicht die Schultern. »Ich bin eine Landerton. Mein Herz schlägt für das Kensington Crown.«
»Und dennoch sind Sie jetzt hier.« Es war keine Frage, die sich in seinen Augen spiegelte, als sich ihre Blicke kreuzten. Er sah sie eindringlich an und Maryanne hatte das Gefühl, als versuchte er, sie zu erkunden. Zu verstehen, was sie veranlasst hatte, den Ort zu verlassen, der ihr nach eigener Aussage so wichtig war.
»Ein Geschäft ist nichts für eine Frau«, erklärte sie mit matter Stimme. »Meine Tante wird nicht müde, mich daran zu erinnern. Sie ist der Auffassung, dass für eine anständige, junge Dame einzig eine Anstellung als Gesellschafterin oder Gouvernante infrage kommt.«
Lord Grey zog die Brauen tief.
»Und Sie … stimmen ihr zu?«
»Nicht im Geringsten. Allerdings wird mein Bruder das Teehaus erben. Wie alles andere auch. Und er hat gerade erst in York geheiratet. Also …«
»Dann hat er anderweitige Interessen?«
Sie nickte. »Er ist die Ausnahme, wenn es um das Kensington Crown geht. Deshalb wage ich es nicht, meine Zukunft in etwas zu setzen, das vielleicht mit meinem Vater ein Ende findet.«
Er seufzte bedauernd und presste die Lippen aufeinander. »Nun, ich hoffe doch, das wird nicht der Fall sein.«
Sein Blick ruhte noch immer auf ihr, als sie bereits die Terrasse des Hauses erreicht hatten und schweigend davor stehen blieben.
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung für das hastige Aufeinandertreffen«, sagte Maryanne.
Er sagte nichts. Irritiert fragte sie nach: »Ich habe Sie doch nicht allzu sehr mit meiner Lebensgeschichte gelangweilt?«
»Keineswegs«, antwortete er sanft. »Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Landerton.« Er lächelte sanft und Maryanne spürte, wie ihr erneut die Hitze in die Wangen stieg.
Emily drängte sich zwischen sie und unterbrach den peinlichen Augenblick. »Es gibt Kuchen, Onkel.« Sie nahm seine Hand und zog ihn hinein. Maryanne stand noch kurz still da und schaute ihm nach, wie er mit Emily im Salon verschwand.