Kapitel 1
Rafe Andrew William Henley Dorchester, Duke of Rockford, legte den vollendet gearbeiteten Pfeil an seinen vollendet gefertigten Bogen, spannte die vollendet geflochtene Bogensehne und gerade als er den Pfeil fliegen lassen wollte, verkündete seine Mutter, die Duchess:
„Du wirst heiraten.“
Die Sehne glitt ihm zu früh von den Fingerspitzen und der Pfeil beschrieb einen unvollendeten Bogen in Richtung der Zielscheibe, die weit hinten in seinem makellos gepflegten Garten stand.
Statt die Mitte der Zielscheibe zu treffen, trudelte der Pfeil durch die Luft und sank einer ahnungslosen Gans entgegen.
Das Tier schrie wie wild, verlor mehrere Federn und rannte erschrocken und verärgert in Richtung einer aus der Toskana importierten Hecke.
„Mein Lieber, ich brauche keine Federn für einen neuen Hut und zum Abendessen gibt es gebratenes Lamm“, merkte seine Mutter mit schleppendem Ton an. „Schieß auf mich, wenn es unbedingt sein muss, aber lass das arme Tier in Frieden.“
Er musterte den großen, purpurnen und mit Federn besetzten Hut seiner Mutter. Nur wenige konnten sich mit Hüten zeigen, wie seine Mutter sie trug. Er musste an Piraten denken.
Man wusste immer, wenn die Duchess of Rockford zugegen war, dank ihres Lachens und der aufwändigen Gebilde auf ihrem Kopf.
„Ich wusste nicht, dass dir unsere gefiederten Freunde so sehr am Herzen liegen“, sagte er ruhig, während er versuchte, sich für den zweifellos anstehenden Ansturm zu wappnen.
Sie machte ein tadelndes Geräusch und warf ihm einen verletzten Blick zu. „Alle Kreaturen sind meine Freunde, mein Lieber. Gefiedert oder nicht.“
Das würde er gar nicht erst mit einer Antwort belohnen.
Er suchte nach weiteren Anzeichen für Schalk. Er sah keine.
Und seine Sorge schwang sich in neue Höhen hinauf. Würde sie ihm etwa eine Braut präsentieren, die er heiraten musste, gleich hier, in seinem eigenen Garten? Er würde seiner Mutter beinahe alles zutrauen, so sehr hatte sie es sich jüngst in den Kopf gesetzt, ihn in einem Ehebund unterzubringen.
Immerhin wollten Dukes nichts anderes, wie sie jedes Mal anmerkte, wenn sie sich sahen.
Und er wusste, dass alle Mütter solche Dinge sagten. Er konnte es ihr nicht einmal übelnehmen.
Es war Tradition für die Damen. Sozusagen ihre wichtigste Rolle im Leben.
Die Damen bekamen Kinder und zogen sie auf, und sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten – zumindest bei den Söhnen – war es nach Adelstradition ihre Aufgabe, für den Fortbestand der Ahnenreihe zu sorgen.
Und im Allgemeinen war es die Pflicht der Söhne, dem so lange wie möglich zu widerstehen.
Doch Rafe war sich durchaus gewahr, dass ihm die Aufgabe oblag, den nächsten Duke hervorzubringen.
Nur eilig hatte er es damit nicht, und er würde sich auch nicht hetzen lassen.
Er rammte das Ende des Bogens in das beinahe mit dem Lineal getrimmte Gras. „Mama, wir haben diese Unterhaltung schon einmal geführt, und ich weiß nicht, warum ich mich umentscheiden sollte.“
„Doch mein Ton hat dich durchaus erschreckt, nicht wahr, mein Lieber?“, fragte sie und ließ die Augenbrauen spielen, während sie ihren eigenen Bogen spannte.
Seine Mutter war eine exzellente Bogenschützin.
Ihr lockiges Haar hing ihr offen im Rücken, um ihr zu erlauben, ihren prachtvollen Hut zu tragen, und damit es sie nicht beim Bogensport behinderte.
Er musterte sie mit wachsendem Unbehagen. Er hatte sich mit Männern duelliert, die in Kriegsberichten Erwähnung fanden, sich aufgeblasenen Parlamentariern gestellt und sich mit einem König gestritten, der den Verstand verlor.
Keine dieser Begegnungen gab ihm so sehr zu denken wie seine Mutter.
Die Duchess stand anderen Adligen in ihrer Schönheit um nichts nach und hatte in ihrer ersten Ballsaison die Aufmerksamkeit aller auf sich vereint. Sie war kompetent und talentiert und in vielen Dingen versierter als die meisten Adligen je hoffen konnten, egal ob Mann oder Frau.
Das bewunderte er an ihr.
Er bewunderte sie.
Doch sie hatten sehr verschiedene Meinungen darüber, wie man sich verhalten sollte. Seine Mutter war, wenn er das zu sagen wagte, perfekt.
Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen.
Sie war ein Eisberg. Das war vielleicht die einzige Möglichkeit, sie angemessen zu beschreiben. Oh, sie war geistreich und konnte andere zum Lachen bringen, doch was Gefühle anging, war sie unerbittlich. Ihrer Meinung nach war alles, was darüber hinausging, eine Augenbraue zu heben, ein Fall von Hysterie. Seine Mutter war eine ausgezeichnete Generalin auf dem Schlachtfeld der Adelskreise. Das war ihre Domäne, Menschen zu lenken, als wären sie Bataillone.
Das war natürlich eine Eigenschaft, die von Wellington und den Seinen bewundert wurde.
Allerdings bedeutete das auch, dass sie manchmal souverän und entschlossen in sein Leben eindrang und vergaß, dass er ein erwachsener Mann war, der sich nicht würde sagen lassen, wann und wie er zu heiraten hatte.
„Mama, ich habe während dieser Saison keine Zeit, um nach einer Ehefrau zu suchen, und du wirst auch keine für mich auswählen. Damen sind keine Hüte.“
Sie neigte den Kopf zur Seite. „Nicht? Sie verhalten sich ähnlich. Wähle die richtige, dann wird alles gut. Aber mein lieber Junge, du bist nicht auf der Suche nach einer Frau.“
„Sondern nach einem Hut?“
„Nein. Nach einer Duchess.“
Und da hatte er es. Seine Mutter dachte nicht über eine Person, sondern über eine Rolle nach. Es war ihre prächtige Rüstung, und sie wollte unbedingt erreichen, dass er sie jetzt anlegte.
Im Gegensatz zur Duchess hatte er keine Liste von Eigenschaften, die er abhaken musste, um eine bestimmte Art Mensch zu werden, oder eine bestimmte Art Frau zu finden. Nein, er hoffte auf – nun ja, mehr.
Ihm war bewusst, dass dies für einen Mann seiner Stellung ein schier lächerlicher Gedanke war. Immerhin war eine Ehe in Adelskreisen eine geschäftliche Vereinbarung, und er war ein Duke. Seine Hochzeit würde das Ergebnis von Verhandlungen zwischen zwei mächtigen Familien sein, um das Fortbestehen von Ahnenlinien zu sichern, die sich über Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückverfolgen ließen und auch noch weitere Jahrhunderte in die Zukunft reichen sollten.
Und doch musste er immer wieder an die Blicke denken, mit denen sich seine Eltern in seiner Kindheit angesehen hatten. Die grenzenlose Liebe, die die granitenen Züge seines Vaters hatte sanfter wirken lassen. Und Seine Mutter? Sie war das Ebenbild des Glücks gewesen.
Er richtete den Blick wieder auf die Zielscheibe, als der Pfeil seiner Mutter mit einem leisen Pfeifen durch die Luft schoss. Als er das Ziel traf, blickte er finster drein.
Sie drehte sich zu ihm um, hielt den Bogen mit beiden in roten Handschuhen verborgenen Händen und neigte den Kopf zur Seite.
„Für jemanden, der so selbstsicher und so talentiert ist wie du, hast du schon viel zu lange Ausflüchte gemacht. Es ist wohl an der Zeit, dass ich dich an die Hand nehme.“
„Ich bin kein kleiner Junge an der Leine. Du kannst mich nicht an die Hand nehmen“, merkte er an, um ihr ins Gedächtnis zu rufen, dass sie in Jahren tiefster Trauer ihr Bestes für ihn gegeben hatte, jetzt aber so tat, als hätte es diese Zeit nie gegeben.
„Oh, doch“, entgegnete sie. „Denn ich habe etwas, das du willst.“
Er lachte. „Ich respektiere natürlich deine Meinung, aber du bist viel zu klug, um zu glauben, du könntest mir etwas vorenthalten, das ich begehre.“
Sie blinzelte und sagte dann: „Das Findelhaus, mein Lieber.“
Zuerst war er so verblüfft, dass er kaum fassen konnte, was sie gesagt hatte. Doch dann sickerte die Bedeutung ihrer Worte in seinen Verstand. „Wie bitte?“
Sie räusperte sich und winkte dann einen der Lakaien aus dem kleinen Zelt heran, das für ihren Besuch im Garten aufgestellt worden war. Sie warf dem Mann den Bogen zu und fuhr sich mit den Händen über ihre Röcke. „Das Findelhaus, das dein Großvater gegründet hat, Rafe. Für das du so große Hoffnungen hast. Du planst …“
„Wovon zum Teufel redest du da?“, fragte er bissig, während ihn die Zurückhaltung verließ.
„Ich werde es jemand anderem geben“, sagte sie kühl.
Ihm klappte der Unterkiefer herunter. „Das kann unmöglich dein Ernst sein. Du weißt, dass ich …“
„In der Tat. Ich weiß, worauf du hoffst, mein Lieber. Aber es ist an der Zeit zu heiraten, und wie ich sehe, ist es unerlässlich, dass ich Maßnahmen ergreife, um sicherzustellen, dass du eine angemessene, junge Braut findest – eine Frau, die ihre Rolle als Duchess ausfüllen wird, denn die wurde seit Jahrzehnten vernachlässigt. Du brauchst eine Frau, die dir hilft, dich unterstützt und dich nicht von der notwendigen Arbeit ablenkt.“
„Mama“, warnte er sie sanft, während er noch ganz überwältigt von ihrer Dreistigkeit war. „Du begibst dich auf gefährliches Terrain.“
„Ein vorzüglicher Ort“, entgegnete sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Dein Vater … ich vermisse ihn sehr. Aber wir müssen unsere Pflicht erfüllen. Und ich erfülle die meine, indem ich dafür sorge, dass du heiratest.“
Er schluckte die schroffen Worte herunter, die ihm auf der Zunge lagen.
Seine Eltern hatten sich inniger geliebt, als er es je bei einem Paar in Adelskreisen gesehen hatte. Ihre Liebe hatte sich nicht aus grandiosen Gesten gespeist, die nur einen Augenblick anhielten. Nein, ihre Liebe hatte sich in den kleinen Dingen gezeigt; den alltäglichen Dingen. Ihm ging ein Bild von seinem Vater durch den Kopf, der, als Duke, seiner Mutter zuverlässig jeden Morgen eine Tasse heiße Schokolade brachte.
Sein Vater hatte keinen einzigen Tag ausgelassen, es sei denn, sie waren meilenweit voneinander entfernt. Und das war nur selten vorgekommen.
Ganz egal, ob sie sich am Abend zuvor gestritten hatten oder er krank war, sein Vater war in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang in die Küche hinuntergestiegen und hatte persönlich das geschätzte Getränk geholt und zu seiner geliebten Frau gebracht.
Er konnte immer noch die liebevollen Blicke in ihren Gesichtern sehen, auch wenn er sich nicht mehr an die Umstände erinnerte, die sie ausgelöst hatten.
Genau das wollte er auch. Er wollte eine Frau, die erkannte, dass die Liebe in den kleinen Dingen steckte; in den beständigen Dingen. Doch: Wie sollte er eine solche Person mithilfe einer Liste finden?
Er wusste, warum seine Mutter sagte, was sie sagte. Dennoch war er schwer enttäuscht. Der Tod seines Vaters hatte sie gebrochen. Und er selbst war erst sechs Jahre alt gewesen, als sein Vater zusammengebrochen war, um niemals wieder – groß wie er war – über ihm aufzuragen.
Die Andeutung, er würde seiner Pflicht nicht nachkommen, ärgerte ihn maßlos. Er hatte sein Leben der Würde seines Titels gewidmet. Natürlich brauchte er einen Erben – aber doch gewiss jetzt noch nicht. Würde er als Vater seinem eigenen je das Wasser reichen können? Oder würde er eine große Liebe finden, wie seine Eltern sie geteilt hatten? Er würde sich nicht mit weniger zufriedengeben. Alles andere würde ihn mit bitterer Sehnsucht zurücklassen.
Er blinzelte, drehte sich wieder zu den Zielscheiben um und atmete tief durch. Er würde sich nicht von den Erinnerungen überwältigen lassen.
Wenn er das zuließe, würde der Schmerz unvorstellbar werden. Nun, das war nicht ganz die Wahrheit. Er konnte es sich vorstellen. Die Düsternis, der Kampf, die Tränen seiner Mutter, seine Unfähigkeit, sie als kleiner Junge mit seinem Flehen aus dem Bett zu holen.
„Mein Lieber, ich habe schon angefangen, Vorbereitungen zu treffen.“
„Was?“, brüllte er beinahe. Solch ein Laut kam ihm sonst nie über die Lippen; sein Wesen war in den vergangenen Jahren unter ihrer Anleitung geformt worden.
Sie hatte dafür gesorgt, dass er in jeder Hinsicht vorbereitet war, doch diese Angelegenheit schockierte ihn zunehmend.
Seine Mutter war fest entschlossen – so wie er es bei ihr noch nie erlebt hatte.
„Mama, wenn du so dringend eine Hochzeit in dieser Familie erleben willst, dann heirate du doch“, forderte er.
„Niemals“, entgegnete sie. „Ich habe meine Pflicht erfüllt; es besteht keine Notwendigkeit dafür, das noch einmal zu tun. Aber du bist deine noch schuldig.“
Er starrte sie an, sein Geduldsfaden konnte jeden Augenblick reißen. „Ich habe meine Pflicht in jeder erdenklichen Weise erfüllt …“
„Nur in dieser einen nicht“, fiel sie ihm ins Wort. „Und dies ist der wichtigste Teil deiner Pflicht. Als dein Vater starb, war er gerade einmal neununddreißig. Du bist dreißig. Wenn du nicht bald heiratest, riskierst du einen Riss in der Ahnenreihe der Rockfords, und das könnte ich nicht ertragen. Außerdem schlenderst du durchs Leben, als würdest du darauf warten, dass dir eine junge Dame ins Auge fällt, und das ist keine angemessene Herangehensweise.“ Sie reckte das Kinn in die Höhe, wodurch die Federn an ihrem Hut zu tanzen begannen. „Nein. Man muss das pragmatisch angehen. Man muss einen Partner finden, mit dem man nicht …“
Er wusste, nach welchem Wort sie suchte.
Einen Partner, beziehungsweise eine Partnerin, mit der man nicht verzweifelte. Es hatte einst so viel Freude in der Familie gegeben, und die Wahrheit war, dass er sich das auch für seine Beziehung wünschte. Er wollte so etwas auch erleben, nur einmal.
Doch bislang war es ihm nicht vergönnt gewesen, und er glaubte langsam, dass sich das auch nicht mehr ändern würde. Die Liebe hatte sich nicht einmal in seine Nähe verirrt, obwohl er die Augen offengehalten hatte.
Doch er wollte verdammt sein, wenn er sich von seiner Mutter zu einer pragmatischen Ehe drängen ließ, mit einer Frau, die er womöglich gerade so ertragen konnte.
„Ich habe eine Liste“, sagte sie rasch und blinzelte mit ihren langen Wimpern, um zu verhindern, dass sich Feuchtigkeit in ihren Augen sammeln konnte.
„Eine Liste“, wiederholte er und schüttelte den Kopf.
„Ja.“ Sie zog einen kleinen Zettel aus ihrem Handschuh und reichte ihm das Papier.
Er starrte darauf und faltete es dann auseinander.
„Da steht nur ein Name“, sagte er.
„Ich habe nicht behauptet, dass es eine lange Liste wäre“, entgegnete sie.
Er atmete tief und leidvoll ein. „Mama …“
„Du wirst sie am Nachmittag besuchen.“
„Werde ich nicht“, hielt er knapp dagegen.
„Doch“, sagte sie. „Sonst werde ich dafür sorgen, dass das Findelhaus an jemanden geht, dem du nicht wohlgesonnen bist.“
Er begegnete ihrem Blick. „Das würdest du nicht tun. So grausam bist du nicht.“
„Aber fest entschlossen“, sagte sie und straffte die Schultern. „Ich kann und werde nicht zulassen, dass du diesen Weg weitergehst.“
„Mama, ich habe keinen völlig wahnsinnigen Pfad eingeschlagen, wie du es anzudeuten scheinst“, sagte er durch zusammengebissene Zähne. „Ich bin ein hervorragender Duke.“
„Ja, mein Lieber, das bist du. Und deshalb wirst du heiraten. Du wirst zufrieden sein. Du wirst Kinder bekommen. Ich werde Großmutter und alles wird gut. Ich habe deinem Vater gegenüber die Pflicht …“
Ihre Stimme erstarb und er verstand. Besser als ihm lieb war. Seine Mutter meinte es ernst. Irgendein verqueres Pflichtgefühl drängte sie dazu. Das hatte nichts mit Vernunft zu tun, daher würde er ihr auch mit Vernunft nicht beikommen.
Er atmete tief ein. Er wollte nicht glauben, dass sie tatsächlich tun würde, was sie angedroht hatte, doch in ihrem Blick lag etwas, das er noch nie gesehen hatte.
„Du meinst es ernst“, hauchte er.
„Oh, ganz und gar, mein Lieber.“ Sie nickte. „Ja, in der Tat.“
„Du würdest das Vermächtnis deines eigenen Vaters opfern, das im Gedenken an …“
„Ja“, sagte sie bissig. „Das würde ich tun. Für meinen Sohn und für das Andenken an meinen Ehemann, ohne zu zögern.“
Er knirschte mit den Zähnen und ergab sich ihrer furchteinflößenden Entschlossenheit, mit der sie ihre Pflicht um jeden Preis durchsetzen wollte.
„Travers!“, rief sie dem bereitstehenden Lakaien zu. „Champagner. Der Duke wird heiraten.“ Seine Mutter deutete einen Salut an, als wäre sie sich bewusst, dass sie den Krieg gewählt hatte. „Stell mich nicht auf die Probe, mein Lieber, denn ich habe mich entschieden.“
Und mit diesen Worten drehte sie sich um. Ihre rubinroten Röcke leuchteten, als sie über das Gras zum Zelt lief – und zu dem Champagner, den sie dort zweifellos schon hatte bereitstellen lassen.
Rafe atmete durch, um sich zu stärken. Wenn sie den Kampf wählte, war er nicht wehrlos. Er war ein Mann, der schon Abkommen verhandelt und ein Kabinett geführt hatte, und zudem bei den einflussreichsten Männern der Regierung Gehör fand. Er machte Politik, halb England gehörte ihm und er würde sich nicht manipulieren lassen.
Wenn seine Mutter den Krieg wollte, würde er ihr auf dem Schlachtfeld begegnen.
Kapitel 2
„Es passt nicht.“
Charlotte Browne zog am Ärmel ihres geliehenen Seidenkleids und zupfte vor dem hohen Spiegel an dem Stoff herum – ein Spiegel, vor dem sie sich nie zu verweilen gestattet hatte.
Höchstens, um ihn zu putzen.
Das taubenblaue Kleid war wunderschön und mit einem dunkleren, saphirblauen Band gesäumt. Es hätte umwerfend aussehen müssen. Und das tat es auch … an Francesca.
Charlotte richtete den Blick wieder auf ihre Stiefschwester. Ihr Herz pumpte wild, während sie den Mut sammelte, um sich ihrer bevorstehenden Aufgabe zu stellen.
„Niemand wird glauben, dass das mein Kleid ist“, stellte Charlotte fest und hob eine Augenbraue.
Francesca schüttelte den Kopf, dass ihre dunklen Haare flogen, und sagte optimistisch: „Da bin ich anderer Meinung, Charlie. Nein, niemand wird es wagen, dich in Frage zu stellen. Du weißt genau, wie du deine Rolle zu spielen hast.“ Ein gepeinigter Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als sie hinzufügte: „Außerdem musst du es tragen. Du versuchst immerhin, alle davon zu überzeugen, dass du eine Lady bist.“
Charlotte straffte die Schultern und nickte. Sie durfte nicht versagen, und sie würde nicht versagen.
Das Einzige, was sie fürchtete, war, ohne ihre gute Freundin und den vertrauten Bediensteten, den alten Stevenson, nach Hause zurückkehren zu müssen. Noch vor wenigen Tagen hatte sie das Marshalsea Schuldnergefängnis aufgesucht und um Einlass ersucht. Sie hatte ihren Kittel anbehalten, um mehr wie eine Bedienstete zu wirken, und hatte Erfolg gehabt.
Doch jetzt, da sie wusste, welche Summe sie an den Knight of the Marshalsea entrichten musste, um ihren Freund zu befreien … Sie hatte sich eine Rüstung der Ehrbarkeit angelegt, damit der Mann nicht versuchte, mit ihr zu verhandeln, oder schlimmer noch, einfach das Geld nahm, ohne Stevenson gehen zu lassen. Die Gefängniswärter waren bekannterweise korrupt.
„Hast du keine Angst vor Southwark?“, fragte Francesca, während sich ihre Augen angesichts Charlottes Tapferkeit weiteten.
„Nein“, entgegnete sie aufrichtig. Sie war schon seit vielen Jahren zu Fuß auf Londons Straßen unterwegs. Immerhin hatte man weitaus mehr Freiheiten, wenn man kaum mehr als ein Hausmädchen war, als zum Beispiel jemand wie Francesca.
Francesca ging auf Bälle, Ausflüge, Soireen und Hauskonzerte. Doch das weitläufige Stadthaus durfte sie nie ohne Begleitung verlassen. Und man würde ihr nie gestatten, sich außerhalb der reichsten Enklaven der Stadt zu bewegen.
Das würde ihr gemeinsamer Vater nie erlauben.
Charlotte biss sich in die Wange, während sie ihre blonden Haare auf ihrem Kopf auftürmte und recht schwungvoll die Nadeln hineinstieß. Ihr Haar war widerspenstig und musste mit ruhiger Hand gezähmt werden.
In Wahrheit war Lord Palmerton nicht ihr Vater. Sie hatte einst gehofft, er würde die schmerzhafte Leere füllen, die in ihr zurückgeblieben war, als ihr eigener geliebter Vater ihr und ihrer Mutter genommen worden war. Damals war Charlotte noch ein kleines Mädchen gewesen.
Ihre Hände hielten an ihrem Haar inne, während sie sich an diese vergebliche Hoffnung erinnerte. Sie hatte sich vorgestellt, wieder jemanden zu haben, der sie zum Ausreiten mitnahm. Der sie auf seine Schultern setzte …
Palmerton hatte auf sie gewirkt, als könnte er diese Person sein. Doch sobald der Ring am Finger ihrer Mutter gesteckt hatte, die Gelübde gesprochen und die Dokumente unterzeichnet waren … hatten die Dinge eine finstere Wendung genommen.
Sie schluckte und ließ die Hände an die Seite sinken.
Er war ihr Stiefvater gewesen, hatte aber deutlich gemacht, dass er nicht beabsichtigte, diese Rolle in irgendeiner Form auszufüllen, abgesehen von der rechtlichen Seite. Und seine Vorstellung davon, Francesca ein Vater zu sein, bestand darin, sie schnellstmöglich an einen mächtigen und reichen Mann zu verheiraten.
Eine Frühlingsbrise wehte durch das Fenster herein und brachte den Duft von Flieder und Hyazinthen aus dem Garten mit. Dieser heitere, aufmunternde Geruch vertrieb die düsteren Gedanken aus Charlottes Kopf.
Sie sog ihn ein. Wie konnte man den Frühling nicht lieben? Die Farben, der Vogelgesang, die bunten Blüten und das frische Grün, das aus der Dunkelheit entsprang.
Sie war wie diese Blumen. Sie musste es sein. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Dunkelheit, fest entschlossen, die Sonne zu sehen.
Charlotte wandte sich vom Spiegel ab und lief zum Fenster hinüber, um den wundervollen Garten zu betrachten, den ihr eigener Vater gestaltet hatte, indem er Bäume und Statuen von seinen Reisen durch Europa mitgebracht hatte. Sie konnte ihn beinahe in diesen Bäumen spüren.
Wenn der Wind leise flüsternd durch die sprießenden Blätter fuhr und die Zweige tanzen ließ, würde sie schwören, ihre Mutter zu hören, die ihr versicherte, dass alles gut werden würde, wenn sie nur den Rücken gerade hielt; wenn sie nach den Gelegenheiten Ausschau hielt, die das Leben ihr bieten würde, solange sie den Kopf oben und die Augen offenhielte.
Die Wahrheit war: An manchen Tagen fiel es ihr schwer, die Lebenslust aufrechtzuerhalten, die ihren Eltern innegewohnt hatte.
Das Klirren von Porzellan drängte sich in ihren Tagtraum und sie riss sich vom Fenster los.
„Bist du bereit, Charlie?“, fragte Francesca, während sie vorsichtig das Teegeschirr auf das Tablett räumte. „Du musst bald gehen. Papa wird jeden Moment zurück sein und wenn er dich erwischt, kommst du nie aus dem Haus raus.“
Sie nickte knapp. Sie hatte nur ein kleines Zeitfenster, in dem sie rausgehen und Stevenson aus dem Marshalsea holen konnte. Es war unerlässlich, dass sie ihm etwas zu essen mitbrachte. Sie hatte erfahren, dass Gefangene an diesem Ort verhungerten. Viele konnten es sich nicht leisten, ihr eigenes Essen zu kaufen, und es wurde kein Essen für die Insassen zubereitet. Und dann gab es natürlich noch die Insassen, die verzweifelt genug waren, um ihr Essen von den Gefangenen zu stehlen, die etwas hatten.
Er könnte verhungern. Und all das nur, weil Palmerton sie leiden lassen wollte, daran hatte sie keine Zweifel. Um sie daran zu erinnern, dass er die Macht hatte, den Menschen zu schaden, die ihr wichtig waren.
Sie wollte gar nicht glauben, dass ein Mann so abscheulich sein konnte, doch er war es.
Palmerton verfügte über enorme Summen Geld, doch er hatte in Stevensons Namen Schulden von nicht mehr als zwei Pfund aufgenommen. Er hatte sich geweigert, den Betrag zu begleichen, und Stevenson von Gerichtsdienern abholen lassen.
Niemand würde es wagen, einen Lord zu befragen, um einen Bediensteten zu schützen. Niemand.
Sie schluckte die bittere Galle herunter, die in ihrem Hals aufstieg.
Charlotte musterte sich noch einmal im Spiegel und versuchte zu ignorieren, dass das Kleid am Saum zu lang war, die Ärmel bis zu ihren Fingerknöcheln reichten und der Stoff am Busen etwas schlaff war.
Francesca hatte eine Figur, nach der sich jede junge Frau in Adelskreisen sehnte.
Und bald würde sie heiraten. Vielleicht einen Duke. Charlotte schmunzelte. Ihr gefiel die Vorstellung, dass ihre geliebte Schwester eine mächtige Duchess werden könnte, außerhalb der Reichweite ihres unterdrückerischen Vaters.
„Ich war noch nie so bereit wie jetzt“, verkündete sie.
Und mit diesen Worten nahm sie das Teetablett, lief zur Tür und trat in den Flur hinaus.
Francesca folgte ihr und sie stiegen rasch über die Dienstbotentreppe in die Küche hinab. Dort herrschte emsiges Treiben und eigentlich sollte Francesca nicht hier sein.
Als Charlotte das Tablett abstellte, musterte die Köchin mit dem silbergrauen Haar sie beide, als hätten sie den Verstand verloren. Sie machte ein tadelndes Geräusch und wedelte mit einem Finger, der von jahrelanger, harter Arbeit knorrig geworden war. „Heute blüht Ihnen aber was – Ihnen beiden. Es ist sehr riskant, zusammen herzukommen, wie Sie wissen.“
Francesca lächelte und bedachte die Köchin mit einem liebevollen Blick. „Ich werde meinem Vater einfach sagen, dass ich wegen Ihrer köstlichen Brötchen hergekommen bin.“
Die Köchin errötete und schnalzte dann mit der Zunge. „Wenn Ihr das tut, wird Euer Vater Euch tadeln und behaupten, dass Ihr bald nicht mehr in Eure Kleider passen werdet.“
Francesca zuckte zusammen.
Ihr Vater kontrollierte beinahe jeden Aspekt ihres Lebens, inklusive der Dinge, die sie essen durfte.
Der Mann war ein Tyrann.
Es war wirklich unerklärlich, wie ein Mann so zweigesichtig sein konnte, wie Janus, der römische Gott, von dem Charlotte in Büchern gelesen hatte.
„Ich wünschte, ich könnte dich begleiten“, sagte Francesca, während sie ihre Hand nahm und sie fest drückte.
„Das wünschte ich auch“, antwortete Charlotte. „Doch das kannst du nicht. Daher werde ich für uns beide gehen und das wird ausreichen. Ich werde Stevenson befreien.“
Die Köchin rammte ihr Messer mit der Spitze in den Holztisch. „Dieser Ort ist nicht einmal für Ratten angemessen.“ Sie schnaubte und Tränen stiegen in ihre Augen, die sie schnell wegwischte. „Selbst meinem schlimmsten Feind würde ich das nicht wünschen, geschweige denn Lord Palmerton. Er wusste nichts von seinen Taten. So muss es sein. Und er weiß nicht, dass dieser Ort einen Menschen brechen kann.“
Charlotte lief zu ihrer Freundin und schlang die Arme um die kräftige Taille der Köchin.
Sie wusste, dass die ältere Frau naiv war, doch auch sie selbst konnte nicht begreifen, was über diesen noch vor wenigen Jahren so glücklichen Haushalt hereingebrochen war.
Es gab nichts, was sie hätte sagen können, und sie würde sicher nicht der Frau Unwahrheiten auftischen, die sie immer so gut umsorgt hatte, selbst wenn sie von vor Sonnenaufgang bis in den späten Abend arbeitete.
„Haben Sie den Korb?“, fragte Charlotte.
Die Köchin nickte und räusperte sich. Sie drückte Charlotte forsch und wischte sich dann die Hände an ihrer makellos gebügelten Schürze ab.
Die Köchin atmete zitternd aus. „Wir müssen besonders vorsichtig sein. Wenn Seine Lordschaft herausfindet, dass wir Essen entwenden, könnten wir alle im Gefängnis landen. Der Mann kennt seine Speisekammer besser als die meisten Leute ihre eigene Westentasche.“
Charlotte nahm den Weidenkorb, den ihr die Köchin hinhielt.
Sie warf einen Blick hinein und ihr Herzschlag beschleunigte sich ob dieser Kühnheit.
Darin lagen Brot, Käse und Äpfel.
Damit würde Stevenson hoffentlich über die Runden kommen, falls man ihn heute aus irgendeinem Grund nicht entließ. Ohne Nahrung würde er schwächer werden. Und was sie dort in dieser Woche schon gesehen hatte, würde sie noch jahrelang in ihren Träumen heimsuchen.
Es war wirklich entsetzlich, dass ein Mann für eine Schuld von vierzig Shillings praktisch zum Hungertod verurteilt werden konnte. Aber so war es.
Sie hatte es geschafft, die zwei Pfund abzubezahlen, und war zum Gefängnis gegangen, um ihn abzuholen – nur um zu erfahren, dass erst noch die Gefängnisgebühren entrichtet werden mussten. Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, wo sie diese Summe hernehmen sollte, da sie nur über wenig Geld verfügte und ganz sicher nicht mehrere Pfund besaß.
Sie hatte nur eine Lösung gesehen.
Sie hatte den letzten der Gegenstände ihrer Mutter verkauft, die Palmerton ihr zu behalten erlaubt hatte. Die wunderschöne, tropfenförmige Perle, mit der ein blaues Kropfband verziert gewesen war.
Sie war beinahe daran zerbrochen, sie verkaufen zu müssen, doch es hatte sich gelohnt, da Stevenson dadurch noch lebte.
Und ihre Mutter würde in Charlottes Erinnerung weiterleben. Sie brauchte keine Perle, um sich an die Liebe ihrer Mutter zu erinnern. Sie drückte sich den Korb an die Hüfte und nahm die schlichte Handtasche, in der sich die Münzen befanden, mit denen sie Stevenson befreien wollte. „Wünscht mir Glück“, sagte sie zuversichtlicher, als sie sich fühlte.
Sie wandte sich zur Tür, bereit zum Aufbruch, doch dann rief die Köchin ihr zu: „Warten Sie – dieses Mal müssen Sie das hier mitnehmen. Ich kam vor Sorge gar nicht zur Ruhe, als Sie vor einigen Tagen dort hingegangen sind, meine Liebe. Ich würde einen Lakaien mit Ihnen mitschicken, wenn uns diese List gelingen würde. Doch ich wüsste nicht, wie wir das verheimlichen sollten.“
Die Köchin nahm einen der Ziegelsteine, die benutzt wurden, um die Betten aufzuwärmen, indem man sie in einen Lappen einschlug, nachdem sie im Ofen erhitzt worden waren, und steckte ihn in Charlottes Handtasche. „Wenn irgendjemand Sie komisch anschaut, ziehen Sie ihm damit eins über.“
Auch wenn sie innerlich vor Nervosität bebte, lachte Charlotte. „Das mache ich.“
Über die Jahre hatte sie von verschiedenen weiblichen Bediensteten gelernt, wie man sich verteidigen konnte. Man konnte in dieser Welt kein Dienstmädchen sein, ohne zu wissen, wie man einem Kerl den Kopf einschlug, sollte es notwendig werden.
Mit diesem Gedanken verließ sie das ehemalige Zuhause ihrer Mutter – bereit, sich einigen der gefährlichsten Straßen Londons zu stellen.