Kapitel 1
Ende Juni 1816, auf dem Rückweg von Yorkshire nach London
Gervais, Graf von Huntley und Erbe des Marquis von Huntingdon, lehnte sich gegen die weichen Ledersitze seiner Reisekutsche, die auf der Great North Road in Richtung London unterwegs war. Am Tag zuvor hatte er an der Hochzeit seines Freundes Robert Beaumont teilgenommen. Huntley konnte nicht glauben, dass sich Beaumont, einer der bekanntesten Londoner Wüstlinge, verliebt hatte. Wenn ihm das passieren konnte, war niemand mehr sicher. Tatsächlich gerieten Huntleys Freunde viel zu oft in die Fänge der Ehe.
Evesham, Rutherford, Marsh und Worthington? Alle verheiratet. Es musste einen Weg geben, ihr Schicksal zu vermeiden. Eine Heirat bedeutete, dass man eine Frau beschäftigen musste, dass die Kinder seine Aufmerksamkeit verlangten und dass man in alle möglichen Schwierigkeiten geriet, ganz zu schweigen von dem Anwesen, einem großen, weitläufigen Anwesen, das sein Vater ihm ausgerechnet in Suffolk aufzwingen würde. Er zitterte.
Nein, an Heirat war nicht zu denken, solange es nicht notwendig war, dass er einen Erben zeugte. Sein Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, im Sumpf des sogenannten „Eheglücks“ gefangen zu sein. Schlimmer noch, verheiratete Männer dachten, andere sollten ihrem Club beitreten. Er musste sofort von seinen Freunden und ihrem Einfluss wegkommen.
Er klopfte auf das Dach der Kutsche und rief dem Kutscher zu.
„Lass sie galoppieren.“
Die Kutsche fuhr schneller, und die Szenerie vor seinem Fenster zog schnell vorbei, ohne sich groß zu verändern. Hecken und Felder wurden zu weiteren Hecken und Feldern. Er wandte seine Aufmerksamkeit seinem Freund William, Viscount Wivenly, zu.
„Ich sage dir, Will, mit meiner Mutter und meiner älteren Schwester Maud wird es unmöglich sein, zusammenzuleben, nachdem Beaumont von der Ehe in Fesseln gelegt wurde.“
Wivenly stieß einen Seufzer aus und ließ sich in den Sitz sinken, als wollte er sich verstecken. „Ich weiß, was du meinst. Meine werden auch nicht besser sein. Ich denke, ich werde für eine Weile weggehen.“
Huntley hob eine Augenbraue. „Wohin? Es ist noch zu früh für die Jagd.“
Die Lippen seines Freundes schürzten sich vor Konzentration. „Nein, ich meine, ich werde England verlassen. Ich wollte schon immer reisen, und jetzt, da der Krieg vorbei ist, werde ich genau das tun.“
Reisen war eine gute Idee. Er nickte. „Europa?“
Wivenlys Stirn legte sich in Falten, und er schien in weiter Ferne zu sein. „Ich glaube, ich werde zu den Westindischen Inseln reisen. Nachdem ich die Geschichten von Marcus und Lady Marsh gehört habe, sehne ich mich nach türkisfarbenem Wasser und halb bekleideten Eingeborenenfrauen.“
Huntley richtete sich auf und schlug die Beine übereinander. „Die Westindischen Inseln?“
Wenn er seinem Vater gegenüber erwähnen würde, dass er nach Westindien reisen würde, würde der alte Mann den Kerker wieder verwenden und ihn dort anketten lassen. Das war das Grässliche daran, der Erbe zu sein; selbst mit dreiunddreißig Jahren hatte der alte Herr noch zu viel Kontrolle über ihn. „Wird dein Vater dich reisen lassen?“
Wivenly rieb sich das Kinn und antwortete hoffnungsvoll: „Ich glaube, das wird er. Wir haben dort Familie, und er ist noch jung genug, um sich keine Sorgen machen zu müssen, dass er stirbt, während ich weg bin. Er regt sich immer darüber auf, dass ich keine Grand Tour gehabt hätte.“
Huntley lehnte sich gegen die dunkelbraunen Sitze. „Ich denke, ich werde auf den Kontinent reisen. Deutschland, Österreich, Italien. Ein paar der Sprachen üben, die ich gelernt habe. In Italien muss es viel wärmer sein, als es hier dieses Jahr gewesen ist.“ Der Gedanke sickerte in seinen Kopf. „Ich habe eine Tante in Venedig, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich habe gehört, italienische Frauen sind leidenschaftlich.“
Will, der aus dem Fenster geschaut hatte, als könne er bereits das Meer sehen, drehte sich wieder um. „Deine Tante … ist das nicht Lady Horatia?“
Huntley blickte seinen Freund an und runzelte die Stirn. „Woher zum Teufel weißt du das?“
Wivenly zuckte mit den Schultern. „Die Busenfreundin meiner Mutter. Ich habe gehört, deine Tante hat deinen Großvater in einen Schlaganfall getrieben.“
„Irgendwann musste es ja passieren, so wie er sich über alles und jeden aufregte.“ Huntley verfiel in Schweigen, bis Wivenly ein Kartenspiel hervorholte.
„Unser üblicher Wetteinsatz?“, fragte Wivenly. „Macht mir nichts, vor dem Quartalstag von dir geschröpft zu werden.“
Lächelnd stellte Huntley den Klapptisch ab und nahm die Karten auf, die Wivenly ausgeteilt hatte. „Ich würde dich etwas davon zurückgewinnen lassen.“
Ende Juli 1816, Abtei von Huntingdon
Als der letzte Koffer auf Huntleys Kutsche geschnallt wurde, schlug seine zwölfjährige Schwester Ophelia die Hände über dem Kopf zusammen.
„Oh, Huntley!“, rief sie. „Banditen werden dich angreifen und wir werden dich für immer verlieren.“
„Großer Gott, Lia, wir sind hier nicht in der Drury Lane.“
Sie ließ die Arme sinken. „Ich würde eine wunderbare Schauspielerin abgeben, genau wie Mrs. Siddons.“
„Huntley.“ Der Mund seiner Mutter war zu einem Strich verzogen, aber ihre Augen leuchteten. „Pass auf, was du sagst. Lia, junge Damen werden nicht zu Schauspielerinnen.“
Da Lia nicht bereit war, aufzugeben, erwiderte sie: „Aber ich würde uns ein Vermögen einbringen.“
„Dann heirate einen reichen Mann“, erwiderte Huntley trocken und fügte, bevor dieser Gedanke Wurzeln schlagen konnte, hinzu: „Wir sind so wohlhabend, dass du dir keine Sorgen machen musst.“
Er hatte keine Ahnung, von wem seine Schwester ihr Übermaß an Emotionen geerbt hatte. Seine Mutter war standhaft wie ein Fels. Das musste im Keim erstickt werden. Die Schauspielerinnen, die er kannte, verdienten vielleicht viel, aber nicht auf der Bühne.
Seine Mutter umarmte ihn, küsste ihn sanft auf die Wange und lächelte. „Habt eine gute Reise. Ich nehme an, dass wir dich bis zum Frühling nicht mehr sehen werden.“
Er stieg schwungvoll in die Kutsche. „Wahrscheinlich nicht. Ich gebe Bescheid, wenn ich mich auf den Rückweg mache.“
***
Einige Tage später hatten er und Will sich in London getroffen, um gemeinsam nach Dover zu reisen.
Jetzt, nach einem gepflegten Abendessen, saßen sie in einem Privatsalon mit einer Karaffe Brandy. Obwohl er es nie zugeben würde, war er nicht mehr so aufgeregt gewesen, seit er nach Oxford gegangen war. Endlich würde er all die Orte zu sehen bekommen, von denen er nur gelesen und gehört hatte.
Wivenly verteilte die Karten. „Was hat dein Vater gesagt?“
Huntley grinste. „Ich musste versprechen, keine Frau mitzubringen.“
Mit einem bellenden Lachen hob Wivenly seine Karten auf. „Das kann nicht sein. Aber ich nehme an, du hast ihm nicht gesagt, dass du gar nicht heiraten willst.“
Huntley zog eine Karte heraus und legte sie ab. „Nein. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht ans Heiraten denken werde, bis ich nach Hause komme. Leider hat er sich in den Kopf gesetzt, dass ich dann heiraten muss. Ich nehme an, dein Vater hat keinen Aufstand gemacht?“
Wivenly grinste. „Er zwinkerte mir zu und sagte mir, er hätte noch einen Sohn, wenn ich nicht zurückkehren sollte.“ Er blickte einen Moment lang auf seine Karten. „Scheint so, als hätten wir ein paar Probleme bei der Familie meines Großonkels, deshalb ist es gut, dass ich hinreise.“
Am nächsten Morgen drückte Huntley seinem Freund die Hand, bevor Wivenly die Gangway zu dem großen Handelsschiff mit Ziel Jamaika hinaufging. „Gute Reise, Will. Vergiss nicht, wiederzukommen.“
Wivenly lachte. „Viel Glück für dich, mein Freund. Genieß den Kontinent und alles, was er zu bieten hat. Wie ich höre, sind die italienischen Damen besonders hübsch.“
Grinsend erwiderte Huntley: „Ich werde dir Bericht erstatten.“
Er schritt weiter den Kai hinunter zu seinem Schiff nach Calais und freute sich auf Monate voll ungehinderter Freiheit.
***
Huntley klopfte an die große, kunstvoll geschnitzte Tür des Palazzo seiner Tante. Endlich waren zwei Monate der teils mühsamen, teils luxuriösen Reise durch Frankreich, Deutschland und Österreich vorbei. Er freute sich auf einen längeren Aufenthalt in Venedig, vorausgesetzt, die Frauen von Venedig erwiesen sich als ebenso warm und einladend wie das italienische Wetter.
An der Tür begrüßte ihn ein großer, ernst wirkender Diener mittleren Alters.
Eine warme, melodische Stimme schwebte zu ihnen herab. „La Valle, wer ist da?“
Am oberen Ende der Marmortreppe stand das schönste Geschöpf, das Huntley je gesehen hatte. Zuerst dachte er, sie sei ein Hirngespinst. Er schüttelte den Kopf und blinzelte, bevor er sie wieder ansah. Nein, beim ersten Mal hatte er recht gehabt, sie war wunderschön und wirklich da. Helles, flachsblondes Haar kräuselte sich um ihr Gesicht. Die Augen, die ihn anblickten, waren groß und befanden sich unter perfekten gewölbten Brauen. Und, Gott, ihre Lippen. Es gab nur eine gute Verwendung für sie.
Küssen. Genauer gesagt, ihn zu küssen.
Sein Körper wurde hart, als hätte er seit Monaten keine Frau mehr gehabt, was sicher nicht der Fall war. Sie war so exquisit, dass selbst das Stirnrunzeln auf ihrem Antlitz sie nicht weniger schön machte. Nur sein altes Kindermädchen hatte ihn so angeschaut, aber das hatte in ihm nicht den Wunsch entfacht …
Er riss sich zusammen und verbeugte sich. „Lord Huntley, zu Ihren Diensten.“
„Sie sind früh dran.“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Wir haben Sie erst in ein paar Tagen erwartet.“
Als sich das engelsgleiche Wesen auf dem Absatz umdrehte, wehte die kostbare Seide ihres helltürkisfarbenen Kleides um sie herum. Wer zum Teufel war sie? Er hatte noch nie gehört, dass Horatia Kinder hatte. Er grinste vor sich hin. Eine Witwe vielleicht?
Sie wandte sich zum Gehen, blieb jedoch stehen und drehte sich mit gerunzelter Stirn um. „Stehen Sie nicht so herum, folgen Sie mir. Lady Horatia wird Sie sicher sehen wollen.“
Huntley vergewisserte sich, dass ihm nicht der Mund offen stand, und ging die Treppe hinauf. „Ja, natürlich. Ich würde mich allerdings gern erst einmal frisch machen. Ich bin nicht in der Verfassung, meine Tante zu treffen.“
Obwohl sich ihr Stirnrunzeln vertiefte, hatte es nicht die Macht, ihn von den rosigen Lippen abzulenken. „Sie können sich später baden und umziehen.“
„Wenn Sie meinen.“ Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihm gesagt hatte, dass seine Miene feststecken bleiben könnte, wenn er finster dreinblickte. „Ich wette, Sie sind viel hübscher, wenn Sie nicht finster dreinschauen.“
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Warum, Mylord, sollte ich für Sie schön sein wollen?“
Ihm fielen eine Reihe von Gründen ein, aber in ihrer derzeitigen Stimmung wäre sie wahrscheinlich nicht dafür empfänglich. „Nun gut, dann bringen Sie mich zu meiner Tante.“
Sie blickte lange und leidvoll an die Decke. „Das ist es, was ich versucht habe zu tun.“
Hm. Kratzbürstig. Das war keine Haltung, die man ihm gegenüber im Allgemeinen an den Tag legte. Das war ja interessant.
Er beschleunigte sein Tempo und folgte der geheimnisvollen Frau.
Sie drehte sich noch einmal um und führte ihn in einen großen, prächtigen, blassblau gestrichenen Raum, der mit Gold verziert war. Der Boden war mit bunten Kacheln belegt, und eine Glastüre führte auf einen Balkon mit Blick auf den Canal Grande.
„Patentante“, sagte seine Nemesis, „hier ist Lord Huntley. Zu früh.“
Sie sprach das Wort mit so viel Missbilligung aus, dass er sich zwangsweise an sein altes Kindermädchen erinnert fühlte.
Seine Lippen zuckten, aber er schaffte es, seine Miene ernst zu halten, als er sich verbeugte. „Tante Horatia, es tut mir leid, dass ich dir Unannehmlichkeiten bereitet habe. Das war nicht meine Absicht.“
Eine Frau, die nur wenige Jahre älter war als er und die er von ihrem Porträt in der Galerie seines Stammsitzes kannte, saß an einem Tisch und trank Weißwein. Ihre hellgrünen Augen blickten durch dunkle Wimpern. Sie war immer noch eine Schönheit. Ihr Haar war dunkelbraun, aber ihre Augenbrauen und Wimpern waren viel dunkler, fast schon schwarz.
Das Lachen seiner Tante erinnerte ihn an Glockengeläut. „Du dummer Junge, du hast mich überhaupt nicht aus der Fassung gebracht. Hat Caro mit dir geschimpft?“
Ah, sie hatte einen Namen. Einen schönen sogar, aber wer war sie?
Horatia wandte sich an Caro. „Du weißt, dass du das nicht solltest, meine Liebe. Ein Gast sollte sich immer willkommen fühlen.“
Caros Gesicht färbte sich dunkelrosa. „Es tut mir leid, Mylord.“
Um ihr Unbehagen zu verringern, verbeugte er sich leicht. „Ich habe mich nicht unwillkommen gefühlt. Sie gaben mir lediglich zu verstehen, dass meine Tante mich unbedingt sehen wollte.“ Huntley schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Ich bin sicher, das war alles, was Sie mir mitteilen wollten, Miss?“
Sie knickste und sagte in kühlem Ton: „Lady Caroline Martindale.“
Martindale. Sie musste eine der Töchter des Marquis von Broadhurst sein. Die Älteste. Huntley hatte gehört, sie sei verheiratet, aber offenbar traf das nicht zu.
Was hatte sie hier zu suchen? „Lady Caroline, es ist mir ein Vergnügen.“
Seine Tante winkte lässig mit der Hand. „Wir sind hier zu Hause überhaupt nicht förmlich. Nenn sie Caro und erlaub ihr nicht, dich so zu behandeln, dass du dich wieder fühlst, als wärst du sechs Jahre alt.“
Er hatte es nicht für möglich gehalten, aber ihre Röte vertiefte sich.
„Patentante.“
Zumindest eine seiner Fragen wurde beantwortet.
„Nenn mich Horatia.“ Sie nahm einen weiteren Schluck Wein. „Bei Tante Horatia fühle ich mich viel älter, als ich bin.“
Er wandte seinen Blick von Lady Caro zu seiner Tante. „Das können wir nicht zulassen.“
„Nun denn, Huntley.“ Horatia lächelte leicht, und er hatte den Eindruck, dass sie sein Interesse an Lady Caro bemerkt hatte. „Du willst dich bestimmt baden und umziehen. Du hast Glück, dass wir heute Abend hier essen, denn ich muss dir sagen, dass wir abends höchst selten daheim sind.“
Lady Caro betätigte eine Glocke, und ein Diener trat ein. „Bitte bring Lord Huntley auf sein Zimmer.“
Huntley folgte dem Mann aus dem Salon und die breite Marmortreppe hinauf in ein anderes großes Zimmer mit Blick auf den Kanal. Das Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, lag fast direkt über dem Salon, in dem er sich befunden hatte. Ein schmaler Balkon erregte seine Aufmerksamkeit, und er ging hinaus, um das Treiben auf dem Kanal zu beobachten.
„Mylord“, sagte der Lakai auf Italienisch, „ich werde Ihnen sofort Wasser für Ihr Bad schicken lassen.“
Huntley drehte sich um. Eine Metallwanne stand vor dem unbeheizten Kamin.
„Grazie mille.“
Sein Kammerdiener Maufe steckte seinen Kopf aus dem Ankleidezimmer herein – zumindest nahm er an, dass es ein solches war. „Ich bin gleich bei Ihnen, Mylord. Ich räume nur Ihre Sachen ein.“
„Keine Eile.“ Huntley wandte sich wieder dem Balkon zu und genoss die Aussicht. Gondeln kämpften auf dem Kanal um Platz, und die Menschen gingen in gemächlichem Tempo über die nahe Brücke. Seine Gedanken schweiften von der Szene unten ab und zurück zu Lady Caro. Er fragte sich, was es außer ihrer Schönheit war, das ihn trotz ihres offensichtlichen Desinteresses anzog. Es war fast so, als sei sie absichtlich unhöflich. Vielleicht war es eine gewisse Verletzlichkeit, die unter ihrem stacheligen Äußeren lauerte. Ähnlich wie ein Igel oder die Dornen an einer Rose. Ja, eine Rose war eine viel bessere Analogie als ein kleines, albern aussehendes Tier.
Wasser wurde in die Wanne gegossen und die Stimme seines Dieners drang in Huntleys Gedanken ein.
„Ja, Maufe?“
„Mylord, Ihr Bad ist fertig.“
Huntley zog sich aus und kletterte in die Wanne. Er lehnte sich zurück, badete im warmen Wasser, schloss die Augen und genoss die verschiedenen Geräusche des Kanals. In seinem Kopf schwebte der Gedanke, Caros reizvolle Lippen zu küssen. Ein Vergnügen, das er unbedingt genießen wollte. Er schüttelte die Gelüste seines Unterleibs ab. Dieser Weg führte in die Ehe. Ein Zustand, den er vermeiden wollte. Doch Lady Caro war durchaus eine Versuchung.
***
Caro begab sich in ihr Zimmer, um sich für das Abendessen umzuziehen. Sie aßen ungewöhnlich früh, aber ihre Patentante behauptete, das sei die einzige Möglichkeit, damit sie nicht dick wurde. Caro spritzte sich das Gesicht mit Wasser ab und hielt, nachdem sie sich die Hände abgetrocknet hatte, die Arme hoch, als ihr das blassgrüne Kleid, das ihre Zofe Nugent hielt, übergestreift wurde. Nachdem es geschnürt war, setzte sie sich an den Frisiertisch.
Was war es, das sie an Huntley so beunruhigte? Obwohl sie es nun gerne wollte, hatte sie sich noch nie erlaubt, absichtlich unhöflich zu einem Gentleman zu sein. Schlimmer noch, er war Horatias Neffe, und er würde bei ihnen wohnen. Sie schüttelte sich ein wenig. Sie würde ihn wie einen Bruder behandeln. Das würde jegliches Interesse, das er an ihr haben könnte, dämpfen.
„Mylady, bleiben Sie ruhig sitzen“, sagte ihre Zofe. Nugent war Caros Kindermädchen gewesen und hatte vor ihrem Debüt eine Ausbildung zur Zofe gemacht, was Nugent jedoch nicht davon abhielt, Caro zu tadeln, als wäre sie noch ein Kind. „Was macht Sie so zappelig?“
Sie war versucht, ihr Kinn zu heben, aber das hätte ihr nur eine weitere Rüge eingebracht. „Ich bin nicht zappelig.“
Nugent zwirbelte Caros Haar zu einem Haarknoten. „Lord Huntley soll ein hübscher junger Mann sein.“
„Es spielt keine Rolle, ob er es ist.“ Caro sträubte sich gegen ein Schnaufen. „Ich bin nicht interessiert.“
„Es wäre aber langsam an der Zeit.“
Ein Gedanke kam ihr in den Sinn, und sie verengte ihre Augen. „Meine Mutter hat dir nicht geschrieben, oder?“
„Nein, Mylady.“ Nugent konzentrierte sich auf ihre Arbeit. „Welches Anliegen sollte Ihre Ladyschaft an mich herantragen?“
„Nun“, murmelte sie, „jemand muss dich doch auf diese Idee gebracht haben.“
„Haben Sie etwas gesagt, Mylady?“
„Nein.“
Nugent nickte, und Caro glaubte, ihre Dienerin sagen zu hören: „Gut.“
Sie sollte das ganze Thema ruhen lassen. „Ich verstehe nicht, warum du dich plötzlich so für Männer interessierst.“
„Ich nicht, aber Sie sollten es.“
„Gütiger Himmel, warum?“ Bevor ihre Dienerin antworten konnte, kratzten die Zinken eines Haarkamms an ihrer Kopfhaut. „Au, das tut weh.“
„Ich sagte doch, Sie sollten stillhalten.“
Caro holte tief Luft. Sie wollte dieses Gespräch ein für alle Mal beenden. „Ich bin vollkommen glücklich, so wie es ist.“
„Sind Sie nicht.“
Warum musste sie eine Zofe haben, die sie seit ihrer Kindheit begleitet hatte? „Wie kommst du darauf?“
„Sie verdienen das Leben, für das Sie geboren wurden“, sagte Nugent in kompromisslosem Ton.
Caro knirschte mit den Zähnen. „Du weißt genau, dass diese Möglichkeit schon seit Jahren nicht mehr besteht.“
„Der richtige Gentleman würde Sie umstimmen.“
Sie nahm den Perlenstrang aus ihrer Kommode, wickelte ihn zweimal um ihren Hals und ließ eine Schlaufe herunterhängen, dann fügte sie die passenden Ohrringe hinzu. „Darüber rede ich nicht mehr.“
Nugent warf ihr einen schiefen Blick zu, bevor sie sich um ihre Kleidung kümmerte. Wie ärgerlich. Caro hob ihren Fächer und ihr Retikül auf und schritt zur Tür hinaus.
Sie lief direkt in die Person hinein, über die sie gesprochen hatten.
Er streckte seine Hände aus, um sie zu stabilisieren.
„Es tut mir leid.“ Sie hielt ihren Blick von ihm abgewandt. „Ich hätte aufpassen müssen, wo ich hingehe.“
Er gluckste. Ein tiefer, beruhigender Ton. Caro machte den Fehler, aufzuschauen. Ein Lächeln lauerte in seinen Augen, die zwischen Grün und Blau schwankten. Eine dunkelbraune Haarsträhne fiel ihm über die Stirn, und es juckte in ihren Fingern, sie zurückzustecken.
Caro wich abrupt zurück. Sie war nicht an Lord Huntley interessiert, ganz und gar nicht. Männern konnte man nicht trauen. Diesen Fehler hatte sie schon einmal gemacht.
***
Huntley ließ die Hände sinken, als der Zorn in Lady Caros Augen aufflammte, und sie zog sich schnell an die Wand zurück. Was, zum Teufel, hatte er getan?
„Der Fehler liegt bei mir“, sagte er höflich.
Sie senkte ihren Blick und schüttelte ihre Röcke aus. „Vielleicht sollten wir beide vorsichtiger sein.“
Er bot ihr seinen Arm an. „Bitte, nehmen Sie mein Geleit an.“
Lady Caroline nickte, legte ihm aber nicht, wie er erwartet hatte, die Hand auf den Arm. Stattdessen machte sie sich auf den Weg zur Treppe, mit kerzengeradem Rücken. Sie hatte etwas Geheimnisvolles an sich, und er wollte herausfinden, was es war.
Ein kleines Lächeln umspielte die Lippen seiner Tante, als Huntley und Lady Caro den Salon betraten. Sie hob ihr Weinglas und wies ihm den Weg zu einem langen, schmalen Schrank an der Wand. Er schenkte sich und Lady Caro gekühlten Weißwein ein. Sie nahm neben Horatia auf dem kleinen Sofa Platz. Er wählte einen Stuhl an der Seite, die ihr am nächsten war.
„Huntley“, sagte Horatia, „dieses Jahr sind einige englische Gentlemen in Venedig. Soll ich dir eine Liste mit den Clubs geben, in denen sie verkehren?“
Er grinste. „Ja, danke, Horatia.“
Ihre grünen Augen funkelten schelmisch. „Ich weiß, wie gerne ihr Gentlemen gelegentlich den Damen entkommen wollt.“
Er lachte laut auf. „Wenn nur alle Frauen so verständnisvoll wären. Du wärst eine ausgezeichnete Ehefrau.“
Sie neigte den Kopf und lächelte. „Ich war eine exzellente Ehefrau, und jetzt will ich mir selbst gefallen.“
Huntley setzte sich ein wenig nach vorne und rückte so näher an Lady Caro heran. Sie nahm einen Schluck Wein, aber ihr Atem beschleunigte sich. „Warum hast du nie wieder geheiratet?“, fragte er seine Tante. „Warst du nicht noch sehr jung, als Laughton starb?“
Horatia gluckste leicht. „Das war ich in der Tat. Kaum zweiundzwanzig. Und doch war ich fünf Jahre lang mit einem Mann verheiratet, der älter war als mein Vater.“ Ihr Lächeln wurde schmaler. „Ich hatte Glück. Er sah immer noch gut aus und war sehr nett. Wir hatten eine glückliche und erfüllte Ehe. Wäre ich nach England zurückgegangen und hätte mich von meinem Vater wieder verheiraten lassen, hätte ich keine Garantie auf dieselbe Behandlung gehabt.“
Huntley bewunderte sie. „Ich habe gehört, dass Großvater darüber nicht glücklich war.“
„War er je über irgendetwas glücklich?“ Sie blickte zu Boden und strich ihre Röcke glatt. „Das war der Grund, warum ich hier geblieben bin. Mein Mann hat mir eine beträchtliche Summe hinterlassen, die mich unabhängig macht, und mir beigebracht, wie ich mit meinem Geld umzugehen habe, sodass ich nicht noch einmal heiraten muss, wenn ich es nicht will. Bislang hat kein Mann mein Interesse geweckt, und ich bezweifle, dass ich mich jetzt noch einmal zu einer Heirat durchringen könnte. Ich würde zu viel Freiheit verlieren.“
Lady Caro lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Miene war heiter, aber sonst nichts an ihr. Er konnte fast die Anstrengung spüren, die sie unternahm, um sich zu beruhigen.
„Und was ist mit Ihnen, Lady Caro? Warten Sie auf einen Gentleman, der Sie von den Füßen reißt?“
Lady Caro nahm einen weiteren Schluck Wein. „Ich bin nicht an einer Heirat interessiert.“ Sie blickte ihn mit erhobenem Kinn an. „Mit niemandem.“
„Ach ja?“ Den Blick auf sie gerichtet, lehnte sich Huntley zurück und spielte mit dem Stiel seines Glases.
Sie hatte ihn mit allen anderen Männern in einen Topf geworfen und das gefiel ihm nicht.
„Huntley“, sagte Horatia und brach das Schweigen, „heute Abend gehen Caro und ich in die Oper. Du kannst dich uns anschließen oder dir eine männliche Gesellschaft suchen. Allerdings wirst du feststellen, dass es in den Clubs kaum Gäste gibt. Anders als in London werden die meisten Gentlemen bei der Aufführung und der anschließenden Feier sein.“
„Ich würde euch gerne begleiten.“ Vielleicht würde er dann herausfinden, wie Lady Caro nach Venedig gekommen war und was sie gegen Männer hatte.
***
Caro wünschte sich, ihre Patentante hätte Lord Huntley nicht eingeladen, sie in die Oper zu begleiten, aber es ließ sich wirklich nicht vermeiden. Die Art, wie er sie anstarrte, war beunruhigend, und sie hoffte inständig, dass er sie nicht als Herausforderung betrachtete. Sie hatte die letzten fünf Jahre damit verbracht, ihr Leben umzugestalten und ein ruhiges Glück zu finden. Sie würde nicht zulassen, dass er daherkam und all ihre Pläne durchkreuzte.
Als sie am Teatro La Fenice ankamen, nahm Caro einen Moment lang die Atmosphäre in sich auf. La Fenice war das erste öffentliche Opernhaus in Europa, und egal, wie oft sie es besuchte, es beeindruckte sie immer wieder aufs Neue. Das Teatro war viel prächtiger als das Opernhaus in London. Im Inneren gab es fünf Reihen von Privatlogen auf jeder Seite, mit Sitzplätzen auf der darunterliegenden Galerie für diejenigen, die sich keine Privatloge leisten konnten oder nicht in einer Loge sitzen wollten. Der ganze Raum erstrahlte im Schein von Kerzen in Wandleuchtern und Kristalllüstern, die von der Decke hingen. Jede Logenreihe war mit Malereien geschmückt, und alles war mit vergoldetem Putz verziert. Die Wirkung war atemberaubend.
Horatias Loge befand sich in der Mitte der zweiten Reihe. Als sie sich niedergelassen hatten und ihnen ein Glas Champagner serviert wurde, hob Lord Huntley sein Opernglas und ließ seinen Blick über das Theater schweifen.
Kurze Zeit später gesellte sich Mr. Throughgood, ein gutmütiger junger Mann, der sie nie störte, zu ihnen.
„Huntley! Ich wusste nicht, dass Sie hier sind. Willkommen in Venedig.“
Die beiden Männer reichten sich die Hände. „Chuffy, schön, Sie zu sehen. Ich hatte gehört, dass Sie auch auf Ihrer Grand Tour sind.“
„Es wird Ihnen hier gefallen.“ Der joviale Mann grinste breit und verbeugte sich vor Horatia und Lady Caro, bevor er sich wieder an Huntley wandte. „Wie lange gedenken Sie zu bleiben?“
„Mindestens mehrere Wochen.“
Während sie sich unterhielten, spielte Caro mit ihrem Fächer. Es war erstaunlich, wie klein und eng die Loge wurde, wenn zwei große Männer darin saßen, besonders wenn einer davon Huntley war.
„Huntley, Mr. Throughgood“, sagte ihre Patentante. „Ich freue mich, wenn Sie Ihre Bekanntschaft erneuern, aber bitte tun Sie es im Korridor, damit auch einige meiner anderen Freunde zu Besuch kommen können.“
Die beiden Männer gingen auf die andere Seite der Türöffnung. Caro nahm einen Schluck Champagner und unterhielt sich mit einigen der Damen, die sich nun eingefunden hatten. Als sie zu Lord Huntley zurückblickte, stellte Mr. Throughgood ihm gerade den Marchese di Venier vor. Verdammt. Caro entfernte sich weiter vom Eingang. Aus irgendeinem Grund weigerte sich der Marchese zu glauben, dass er weder sie noch irgendeine andere Frau reizte. Huntley und Mr. Throughgood würden den Mann hoffentlich beschäftigen.
Der Marchese war ein paar Zentimeter kleiner als Lord Huntley und etwas schmaler gebaut. Das schwarze Haar des Venezianers glänzte vor Pomade, im Gegensatz zu Lord Huntleys natürlichen dunkelbraunen Wellen.
Der Marchese betrat die Loge und stapfte auf sie zu. Eigentlich hatte sie sich klar genug ausgedrückt, dass sie nicht wollte, dass er ihr den Hof machte. Wenn er ihr zu nahe kam, hatte sie ihre Hutnadel. Glücklicherweise hielt Lady Haversham, eine Freundin von Horatia und Caro, den Mann am Arm fest und verwickelte ihn in ein Gespräch, bis die Vorstellung begann. Di Venier wurde viel zu aufdringlich in seinen Aufmerksamkeiten.
Huntley stand neben Chuffy und betrachtete den Venezianer und Lady Caros finsteren Blick, als er die Loge betrat. „Wer genau ist di Venier?“
„Sein Großvater ist ein Herzog“, antwortete Chuffy. „Er stammt von den Dogen von Venedig ab. Eine sehr mächtige Familie, auch jetzt noch, wo die Österreicher die ganze Gegend kontrollieren.“
Huntley nahm einen Schluck Champagner. Der Marchese starrte Caro ungeniert an, aber sie ignorierte die Blicke des Venezianers geflissentlich.
„Wir scheinen von Engländern überrannt zu werden“, sagte der Marchese, als er aus der Loge trat. „Sie wohnen doch bei Lady Horatia, oder?“
Lady Haversham musste getratscht haben. Huntley hob eine Braue. „Sie ist meine Tante.“
„Aber, natürlich.“ Die dunklen Augen von Di Venier wurden kalt. „Ich warne Sie, sich nicht in Fantasien über Lady Caroline zu verlieren. Ich habe andere Pläne für sie.“
„Ach ja?“ Dem angespannten Kinn von Lady Caro und dem verärgerten Blick, den sie di Venier zugeworfen hatte, als er ging, war zu entnehmen, dass sie nichts mit dem Mann zu tun haben wollte. „Ich habe nicht gehört, dass die Dame an jemand Bestimmtem interessiert ist.“
Di Venier erstarrte. „Wenn sie es jetzt nicht ist, wird sie es bald sein.“
Nicht, wenn Lady Caro etwas gegen di Venier hatte, und da war er sich sicher. Huntley hob sein Opernglas und musterte den Venezianer, dann sagte er, ohne einen Blick in die Loge zu werfen: „Sie müssen mich entschuldigen. Meine Tante verlangt meine Anwesenheit.“
Di Venier schaute finster drein. „Denken Sie daran, was ich gesagt habe.“
Das war wie ein schlechtes Theaterstück. Nur ein Schurke würde einer Dame seine Aufmerksamkeit aufzwingen, nachdem sie deutlich gemacht hatte, dass sie kein Interesse hatte. Die Spannung pulsierte in Huntleys Adern. Jemand musste auf Lady Caro aufpassen. Sie war in der Obhut seiner Tante, und er war der einzige Gentleman im Haus. Wenn man bedachte, dass sie Horatias Patentochter war, gehörte sie praktisch zur Familie. Man könnte argumentieren, dass es seine Pflicht war, sie zu beschützen. Ganz zu schweigen davon, dass es erfreulich sein könnte, die Pläne des Marchese zu vereiteln.
Nachdem Huntley seinen Platz eingenommen hatte, bemerkte er, dass di Venier in einer Loge saß, die eine Etage höher als die von Horatia lag. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Caro, sein Blick war wie der eines Falken, bevor er zum Fang ansetzt. Ein älterer Herr neben di Venier hielt eine Lorgnette hoch, richtete sie auf Caro und grinste. Caro ihrerseits wandte ihr Gesicht ab und konzentrierte sich ganz auf die Vorstellung. Falls sie di Veniers Interesse bemerkte, ließ sie es sich nicht anmerken.
Huntley besuchte die Oper in London ein paar Mal pro Saison, aber er war nicht auf die Ausgelassenheit der venezianischen Oper vorbereitet.
Sobald die Aufführung begann, stieg die Aufregung im Theater, als ob das Publikum Teil des Dramas wäre, indem es die Heldin anfeuerte und den Bösewicht ausbuhte.
Horatia lehnte sich näher an ihn heran. „Ganz anders als in London, findest du nicht?“
„Eindeutig, ja. Es sieht fast so aus, als ob die Menge den Schurken in Stücke reißen will. Lady Caro, wie finden Sie die Oper hier?“
Ihr Gesicht strahlte vor Vergnügen, obwohl es offensichtlich nur an der Vorstellung lag. „Ich genieße es sehr.“
Wieder einmal raubte sie ihm den Atem. Er wünschte sich, sie würde öfters lächeln.
In der Pause bewegte sich Caro mühelos zwischen den Besuchern und unterhielt sich mit Herren und Damen gleichermaßen. Als di Venier sich jedoch näherte, begab sie sich erneut zu einer Gruppe von Damen. Huntley bewegte sich unauffällig, um den Zugang des Marchese zu Caro zu verhindern. „Guten Abend, Mylord. Ich muss sagen, ich habe die Oper noch nie so sehr genossen.“
„Lord Huntley.“ Der Venezianer neigte den Kopf, bevor er einen Schritt nach vorne machte.
Huntley wich nicht aus. Di Veniers Kiefer krampften sich zusammen. „Ich würde gerne mit Lady Caroline sprechen.“
„Sie wollen da nicht reingehen.“ Huntley neigte den Kopf in Richtung der Loge. „Das ist ein Trubel wie bei einer Feier am Abend vor einer Hochzeit. Ganz zu schweigen davon, dass man sich da nicht bewegen kann.“
Mit tiefer, rauer Stimme sagte di Venier: „Versuchen Sie nicht, mich zu behindern.“
„Dann tun Sie nichts, was meine Einmischung erfordern würde.“ Huntley wartete, bis der Marchese gegangen war, bevor er sich wieder auf seinen Platz setzte. Die Haltung des Mannes gefiel ihm nicht. Der Marchese benahm sich, als ob Lady Caro ein Stück Land wäre, um das man kämpfen musste.
Nach der Vorstellung war das Gedränge in den langen, schmalen Booten, die Gondeln genannt wurden, nicht im Entferntesten mit der geordneten Abfahrt von Kutschen in England vergleichbar. Horatias Bedienstete geleiteten sie von der Tür zu den Anlegestellen. In der Gondel angekommen, nahmen die Damen wieder ihre Plätze in der Felze ein, einer kleinen Kabine in der Mitte des Bootes. Sie erreichten den Ort des Festes, und wie Horatia gesagt hatte, schienen die meisten der Opernbesucher anwesend zu sein. Er begleitete seine Tante und Caro zu den Stühlen im Ballsaal des eindrucksvollen Palazzos, und Horatia befand sich wieder in einem Kreis von Freunden. Chuffy fand ihn, und er schloss sich der Gruppe seines Freundes an, etwas abseits von seiner Tante.
Diesmal gelang es di Venier, zu seiner Beute vorzudringen, aber als der Marchese Caro aufforderte, einen Spaziergang zu machen, hob sie missgünstig eine Braue und lehnte ab, um sich wieder ihrem Gespräch zuzuwenden. Kurze Zeit später erhielt er offenbar die gleiche Antwort. Er setzte einen berechnenden Blick auf und machte sich auf den Weg in den Kartenraum.
Der Marchese erinnerte Huntley stark an einen anderen Mann, der dachte, alle Frauen seien sein Eigentum. Es wäre gewiss hilfreich, ein wenig mehr über di Venier herauszufinden.
„Chuffy, ich nehme nicht an, dass Sie hier jemanden wie einen Bow Street Runner haben, den man für eine private Ermittlung anheuern könnte?“
Sein Freund rieb sich einen Moment lang das Kinn. „Nein, aber ich glaube, ich kann Sie mit einem Mann in Kontakt bringen. Er ist eher ein Diebesfänger, aber sehr effektiv.“
„Das reicht.“
Chuffy schlenderte in den Kartenraum, und Huntley ging auf die Terrasse hinaus, wo ihn der Canal Grande wieder einmal in seinen Bann zog. Seine Neugierde begann ihn zu übermannen, und er konnte nicht aufhören, sich zu fragen, warum Lady Caro so gegen Männer war. Seine Hände, die er auf das Geländer gestützt hatte, ballten sich zu Fäusten, als er das Spiel des Mondlichts auf dem plätschernden Wasser beobachtete.
„Mylord, wie schön, Sie hier zu sehen.“ Als er zur Seite blickte, war er nicht sonderlich erfreut, Lady Darling zu sehen. Sie hatten ein paar Monate lang eine Affäre gehabt, aber sie hatten sich vor mehr als einem Jahr getrennt. Ihr Fächer bewegte sich träge hin und her und lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre kaum verhüllten Brüste. Ihre Röcke schmiegten sich an ihren Körper. Sie hatte sich wohl angewöhnt, ihre Unterröcke zu befeuchten. Er war jedoch viel mehr daran interessiert, wie Caros Figur unter ihrem züchtigen Seidenkleid aussehen würde.
Er verbeugte sich, nahm die Hand, die Lady Darling ihm reichte, und hob sie an seine Lippen. „Mylady“, murmelte er. „Ich wusste nicht, dass Sie England verlassen haben.“
Sie standen schräg zu den Terrassentüren und blickten auf den Kanal. Ihre Augen fixierten sein Gesicht, bevor sie zu seinen Lippen und dann tiefer sanken und sie ihn mit ihrem Blick entblößte. Trotz der üppigen Reize Ihrer Ladyschaft reagierte sein Körper nicht auf diese klare Einladung. „London wurde mir zu langweilig. Aber“, sie trat so nah an ihn heran, dass ihr großer Busen an seine Brust gedrückt wurde, „es ist immer schön, alte Freunde zu sehen.“
Mit einem höflichen Lächeln im Gesicht trat er einen Schritt zurück. „In der Tat.“
Sie lehnte sich an ihn und tippte mit dem geöffneten Fächer gegen seine Brust, während sie mit der anderen Hand unter seine Jacke und über seine Hose fuhr. Heiser flüsterte sie: „Kommen Sie mich mal nachmittags besuchen, Huntley. Ich bin eine viel bessere Gesellschaft als die Eisjungfrau Lady Caroline und Ihre Tante, bei der Sie, wie ich hörte, wohnen.“ Lady Darling schmollte. „Ich verstehe nicht, warum Lady Caroline so viel männliche Aufmerksamkeit auf sich zieht.“
Er schaute in die Richtung, in die sie ihren Kopf drehte, und sah Caro, die sie anstarrte. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, bevor sie wegschaute und er sich wieder Lady Darling zuwandte. Im starken Gegensatz zu Caros zurückhaltender Schönheit wirkte Lady Darlings offensichtliche Sinnlichkeit geschmacklos.
Sie stellte sich so hin, dass eine Hand vor dem Raum verborgen war, und streichelte ihn zwischen seinen Beinen. Er ergriff ihre Hand und zog sie von ihm weg. Sie atmete scharf ein und spreizte ihre Lippen in Erwartung seines Kusses.
Gott, wenn er gewollt hätte, hätte er sie wahrscheinlich in den Schatten stoßen und sie nehmen können.
Huntley sprach mit leiser Stimme. „Versuchen Sie, nicht so leicht zu haben zu sein, meine Liebe. Gentlemen mögen Herausforderungen.“
Sie öffnete die Augen und säuselte: „Wissen Sie nicht mehr, wie gut es war?“
„Ich weiß noch, wie teuer es war. Sie werden jemand anderen suchen müssen, der Ihr Schmuckkästchen füllt und Ihnen Freuden beschert.“ Er ließ seine Hand sinken, trat zurück und verbeugte sich. „Wenn Sie mich entschuldigen würden, Mylady?“
Er schritt zurück ins Haus und ging zu seiner Tante und Caro. Caro riss die Augen auf. „Ich bin überrascht, dass Lady Darling Sie so schnell hat gehen lassen.“
„Sind Sie das wirklich?“ Huntley verkniff sich ein Lächeln und fragte sich, was ihn zu dieser Bemerkung veranlasste. „Ich tanze nicht nach der Pfeife einer Frau.“
„Dann haben wir zumindest eine Sache gemeinsam“, sagte Caro. „Ich tanze nach niemandes Pfeife.“
Ah, zurück zu stachelig. Doch der Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, als er bei Lady Darling war, war nicht desinteressiert gewesen. Was würde er tun müssen, um sie umzustimmen?
Kapitel 2
Caro unterdrückte mühevoll ein Stirnrunzeln, als Huntley sich an die alte Steinmauer lehnte, die einen der vielen Gärten der Kirche Santa Maria dei Penitenti umgab, einem Hospiz für Frauen und Kinder von im Krieg gefallenen Männern. Sie besuchte das Hospiz mindestens ein paar Mal pro Woche, um sich um die verlassenen Kinder zu kümmern. Ein kleiner, dunkelhaariger Junge saß auf ihrem Schoß, als sie ihm vorlas, während eine Henne mit ihren Küken vorbeihuschte.
Sie blickte auf, als Huntley sich umdrehte. Seit seiner Begegnung mit dem Marchese di Venier war Huntley dazu übergegangen, sie zu ihren verschiedenen Aktivitäten zu begleiten. Sie wünschte, er würde nicht darauf bestehen, fast überall mit ihr hinzugehen. Beide Männer sollten aufhören, sich wie Hunde um einen Knochen zu streiten. Obwohl sie zugeben musste, dass Huntley ihr dabei half, den Marchese fernzuhalten.
Das Problem war, dass seine bloße Anwesenheit sie beunruhigte. Es war, als seien ihre Nerven immer angespannt, wenn er in ihrer Nähe war. Eben noch hatte sie dem Kind ins Buch vertieft vorgelesen, dann bewegte er sich und lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Verflucht sei der Mann. Huntley hatte ihrer Patentante erzählt, dass er in ein paar Wochen nach Frankreich reisen würde. Nun, gut. Dann würde er nicht mehr da sein und sie belästigen.
Sie hatte Briefe von Phoebe, der jetzigen Gräfin von Evesham, und auch von Grace, der Gräfin von Worthington, erhalten, in denen sie sich erkundigten, ob er schon angekommen war. Huntley war offenbar ein guter Freund ihrer Ehemänner. Beide Freundinnen hatten Familien, einen Ehemann und Kinder. Fast alle, die Caro kannte, waren verheiratet. Ihre Kehle schnürte sich zu. Genau wie sie es sein sollte. Wenn es nur möglich wäre.
Sie küsste den kleinen Jungen, setzte ihn ab und streckte ihre Arme nach einem kleinen Mädchen aus. Näher würde Caro dem Mutterdasein nicht kommen. Sie blickte zu Huntley und runzelte die Stirn. Warum stand er nur da und tat nichts? Wahrscheinlich, weil er noch nie mit Kindern zu tun gehabt hatte. Sie grinste vor sich hin und sagte mit ihrer sanftesten Stimme: „Lord Huntley, möchten Sie nicht einigen der Kinder vorlesen?“
Er sah sie an, sein Blick war standhaft. Ein langsames Lächeln umspielte seine Lippen. „Natürlich. Ich würde ihnen gerne vorlesen.“
Caro gab einem Diener ein Zeichen für einen weiteren Stuhl und reichte ihm ein Buch. Eines der kleinen Mädchen kletterte auf seinen Schoß. Caro neigte den Kopf und widmete sich wieder der Geschichte, um zu sehen, wie Huntley das Lesen gefiel. Zu ihrer Überraschung benutzte er für jede der Figuren eine andere Stimme. Ein sattes Timbre für den Helden und eine tiefe, kiesige Stimme für den Riesen; für die Heldin wurde sein Ton höher. Andere Kinder versammelten sich um ihn, als er mit den Füßen auf den Boden stampfte. So viel zum Versuch, ihn zu vertreiben. Das sollte ihr eine Lehre sein, keine Vermutungen anzustellen.
„Sie sind geübt darin.“
Er lächelte. „Ich habe jüngere Brüder und Schwestern.“
„Das bemerkt man.“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Sie machen das sehr gut.“
Ihr Herz klopfte heftig, als sein Grinsen breiter wurde. Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, auch nur an Huntley zu denken.
Huntley betrachtete Caro, die das Kind auf ihrem Schoß hielt. Er hatte sein ganzes Können eingesetzt, und es zahlte sich endlich aus. Sie wurde ihm gegenüber offener, aber es war nicht leicht gewesen. Vielleicht war das ein Teil ihrer Anziehungskraft. Aber abgesehen davon war ihre Blutlinie ausgezeichnet. Gott, er hörte sich an wie sein Großvater. Tatsache war, dass er nicht wusste, warum er sich so zu ihr hingezogen fühlte. Aber mit etwas Glück würde er in ein paar Wochen anfangen, ihr ernsthaft den Hof zu machen. Ach, verdammt. Seine Freunde hatten recht gehabt. Weglaufen hatte nichts gebracht. Das Schicksal holte einen Mann immer ein.
***
Seine Tante hatte nicht gescherzt, als sie sagte, sie seien oft unterwegs. Bälle, Ausflüge, Soireen und Picknicks nahmen ihre Zeit in Anspruch. An den Abenden, an denen Huntley seine Tante und Caro nicht zu der einen oder anderen Veranstaltung begleitete, traf er sich mit einer Gruppe von Männern seines Alters. Wie in London gab es normalerweise jeden Abend mehrere Veranstaltungen.
Es schien unheimlich, wie di Venier bei jeder Veranstaltung, die Caro besuchte, auftauchte, bis Huntley eines Abends, als er, Horatia und Caro das Haus verließen, bemerkte, dass Männer das Haus beobachteten. Schlimmer noch, der Marchese verstand Huntleys subtile Abwehrversuche nicht, sondern wurde immer eifriger darin, seine Aufmerksamkeit auf Caro zu lenken, und behinderte damit Huntleys eigene Bemühungen. Er stand häufig bei seiner Tante und Caro, um sie zu unterstützen, während sie die Einladungen von di Venier immer wieder entschlossen ablehnte.
Obwohl di Venier Caros letzte Abfuhr mit einem Lächeln hinnahm, beunruhigte der finstere Ausdruck auf seinem Gesicht, als er sich abwandte, Huntley. Der Mann führte etwas im Schilde, und Huntley musste herausfinden, was es war. Mit etwas Glück würde der Diebesfänger, den er mit den Ermittlungen gegen den Marchese beauftragt hatte, bald einen Bericht vorlegen.
„Sie brauchen nicht über mich zu wachen, Huntley.“ Frustration war in Caros Tonfall zu hören. „Ich bin in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.“
Er widerstand dem Drang, zu lächeln, und blickte zu ihr. „Ich überwache Sie nicht.“
„Nun, es fühlt sich so an, als würden Sie es tun.“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Sie werden eine Szene verursachen, wenn Sie den Marchese di Venier weiterhin so ansehen, als würden Sie ihn am liebsten durchbohren.“
Das war genau das, was Huntley am liebsten getan hätte – den Mann auf seiner Klinge aufzuspießen oder ihm mit einer Kugel ein Loch zu verpassen, aber er würde sich wohl damit begnügen müssen, ihm eine blutige Nase zu bescheren. Sein Instinkt sagte ihm, dass der Marchese eine Gefahr für Caro darstellte.
Er schnippte ein Staubkorn von seinem Mantel. „Ich traue ihm nicht.“
Sie rieb sich die Schläfe. „Nein, aber was kann di Venier denn schon tun?“ Ihre schönen türkisfarbenen Augen blickten in seine. „Ich werde weiterhin seine Einladungen ablehnen, und irgendwann wird er verschwinden. Das tun alle Männer. Sie brauchen sich nicht für mich verantwortlich zu fühlen.“
Da irrte sie sich. „Hm.“
Caro seufzte und blickte sich um. „Da kommt meine Patentante mit Mrs. Stringer. Bitte, gehen Sie und reden mit Ihren Freunden.“ Sie setzte ein Lächeln auf und drehte sich zur Begrüßung der beiden Damen um. Obwohl er ihrer Bitte nachkam, stellte er sich in Position, um jeden im Auge zu behalten, der sich ihr näherte.
***
Am nächsten Abend betraten sie den Ballsaal eines Palazzos, der sich am anderen Ende des Canal Grande befand als das Haus seiner Tante. Die Räume waren mit Kronleuchtern aus Kristall und Gold erleuchtet. Wandleuchter und vergoldete Spiegel ließen den Raum heller und größer erscheinen. Die kunstvolle Stuckdecke war mit Gemälden verziert, die die Geschichte der Familie darstellten, wobei die Szenen durch goldverzierte Stuckreliefs voneinander getrennt waren. Eine Reihe von Türen führte zu einem tiefliegenden Balkon mit Blick auf den Kanal.
Obwohl Huntley wieder Männer gesehen hatte, die Horatias Palazzo beobachteten, war di Venier noch nicht anwesend. Nachdem er gewartet hatte, bis die Damen sich niedergelassen hatten, näherte sich Huntley einer Gruppe von Herren.
„Huntley, willkommen“, sagte Chuffy. „Wir haben Sie nicht oft gesehen in letzter Zeit.“
Er schüttelte seinem Freund die Hand und grüßte die anderen Herren. Zwei der Männer unterhielten sich gerade über ihre Pläne, Venedig zu verlassen und nach Florenz zu reisen, als Chuffy ihm auf den Arm klopfte und ihn von der Gruppe weglockte. „Di Venier ist wieder hinter Lady Caro her.“
Huntley drehte sich um und sah, wie di Venier Caros Arm ergriff. Sie riss ihn weg, und Empörung verzog ihre Miene.
Die Wut auf di Venier durchströmte ihn. „Entschuldigen Sie mich.“
Zum Teufel mit den diplomatischen Beziehungen! Kein Mann sollte eine Lady – vor allem nicht Caro – so behandeln. Mit ein paar langen Schritten war er an ihrer Seite. Der Marchese griff wieder nach ihrem Arm, und sie hatte Mühe, ihn abzuschütteln. Horatia sagte etwas zu di Venier. Was auch immer es war, es funktionierte nicht.
Caro zuckte erneut mit dem Arm zurück, ihre Stimme war eisig. „Ich möchte nicht mit Ihnen spazieren gehen, Mylord. Ein Gentleman hätte meine Antwort beim ersten Mal akzeptiert.“
Bevor di Venier reagieren konnte, ergriff Huntley den Ellbogen des Marchese und löste den Griff des Mannes um Caros Arm. Er blickte voller Zorn auf den Marchese herab. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir uns unterhalten, Mylord.“
Di Venier funkelte ihn wütend an, aber er folgte Huntley mit finsterer Miene hinaus auf die Terrasse. „Das geht Sie nichts an. Sie sind nicht mit ihr verwandt. Sie haben kein Recht, sich einzumischen.“
Das Blut in Huntleys Adern kochte und seine Muskeln spannten sich an, bereit zum Kampf, aber er versuchte, sein Temperament unter Kontrolle zu halten. „Lady Caro wohnt bei meiner Tante und steht unter ihrem Schutz. Das gibt mir das Recht, mich einzumischen.“
Di Venier grinste und drehte sich um, um wieder hineinzugehen. „Ich erkenne Ihren Anspruch nicht an.“
Huntley hielt di Venier an der Schulter zurück und knurrte. „Es ist mir egal, ob Sie ihn anerkennen oder nicht. Ich muss sie beschützen. Fordern Sie mich nicht heraus, di Venier. Lassen Sie Lady Caroline in Ruhe oder Ihr Leben wird äußerst unangenehm werden.“
Der Mann schüttelte Huntleys Hand ab und drehte sich um. „Ich werde sie so oder so bekommen. Halten Sie sich aus meinen Angelegenheiten raus.“ Di Veniers Lippen kräuselten sich. „Sie sind hier ein Niemand, Sie Engländer.“
Mehr brauchte Huntley nicht zu hören. Er ballte die Hand zur Faust und schlug dem Marchese gegen den Kiefer. Di Venier taumelte zurück gegen das Geländer und sackte dann zu Boden.
Huntley schüttelte seine Hand aus, betrat den Ballsaal und blickte sich um, erleichtert darüber, dass Horatia und Caro nicht mehr da waren.
Fast sofort kam Chuffy auf ihn zu. „Der Mann ist verrückt. Ich bin froh, dass Sie ihn aufgehalten haben.“
Huntley lächelte grimmig. „Er wird jedoch nicht aufgeben, und selbst wenn die Österreicher das Sagen haben, verfügt seine Familie über eine Menge Reichtum und Macht. Es muss einen Weg geben, um herauszufinden, was er plant.“
Chuffy runzelte die Stirn. „Haben Sie schon einen Bericht von dem Diebesfänger erhalten?“
„Nein. Ich werde eine Nachricht schicken, dass ich sofort etwas brauche.“
Chuffy klopfte Huntley auf den Rücken und nickte. „Gute Idee. Versuchen Sie, die Damen für ein paar Tage in der Nähe des Palazzos zu halten, wenn Sie können. Unser Marchese wird nicht glücklich darüber sein, was heute Nacht passiert ist.“
„Ich werde tun, was ich kann.“ Es war Mitte Oktober, und Huntley hatte ursprünglich geplant, in einer Woche nach Florenz zu reisen. Doch auch wenn Caro sein Interesse nicht geweckt hätte, war seine Pflicht klar. Er konnte seine Tante und Lady Caro nicht ohne seinen Schutz lassen. „Was für ein Ärgernis, eine Frau bewachen zu müssen, die es nicht zu schätzen weiß.“
Doch das war eine Lüge. Er würde alles tun, um Caro zu schützen, egal wie sie darauf reagierte.
Er verließ den Ball und fuhr mit einer Gondel direkt zum Palazzo seiner Tante. Er befand sich in seinem Gemach, als Stimmen vom Balkon heraufdrangen.
„Oooh“, stieß Caro hervor. „Ich hätte ihn selbst schlagen sollen.“
Horatia lachte. „Ich bin mir sicher, dass du dich dann viel besser gefühlt hättest.“
„Das hätte zu einem Skandal geführt“, sagte Caro mit reumütiger Stimme.
„Das ist auch wahr. Vielleicht war es besser, dass Huntley es getan hat.“
„Das ist nicht fair. Die Herren haben den ganzen Spaß.“ Caro ging zur Brüstung, sodass er einen guten Blick auf ihre rosigen Lippen hatte, die einen Schmollmund zogen.
Seine Lippen zuckten, als er einen Lachanfall unterdrückte. „Ich kenne mindestens eine Dame, die ihm gern die eine oder andere schwungvolle Ohrfeige verpasst hätte“, warf er ein.
Sie blickte auf und verschränkte die Arme vor der Brust, was ihren ohnehin schon üppigen Busen noch größer wirken ließ. „Lauschen Sie etwa, Huntley?“
Er grinste. „Ich konnte es nicht lassen.“ Er kletterte über sein Geländer und ließ sich auf den Balkon hinunter. „Soll ich Ihnen zeigen, wie Sie ihn schlagen können?“
Caro warf ihm einen Seitenblick zu. „Würden Sie das wirklich tun?“
„Nur wenn Sie versprechen, Ihr neu erworbenes Wissen nicht gegen mich einzusetzen.“
Sie verengte ihre Augen. „Was ist, wenn Sie etwas tun, was mich dazu zwingt, Sie zu schlagen?“
„In dem Fall haben Sie meine Erlaubnis.“ Er betrachtete Caro einen Moment lang. Ihre Augen funkelten angriffslustig, was er normalerweise nicht bei ihr sah. „Ich habe eine weitere Bedingung.“
Sie hob ihr Kinn an. „Und die wäre?“
„Sie müssen mir versprechen, dass ich ihn schlagen darf, wenn ich dabei bin.“
„Männer.“ Sie umarmte Horatia. „Ich bin bereit, ins Bett zu gehen. Gute Nacht.“
Als Caro weg war, schenkte Huntley sich ein Glas Wein ein. „Ist alles in Ordnung mit Caro?“
„Caro ist erschüttert, aber entschlossen, es zu verbergen. Es ist schade, dass di Venier seine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hat. Ich wünschte, wir wären doch noch an den Gardasee gefahren.“
Huntley nahm einen Schluck von dem gekühlten, trockenen Weißwein. Sein Kiefer krampfte sich zusammen. „Er führt etwas im Schilde. Ich habe keine Beweise, aber ich fühle es tief in mir.“ Er trank das Glas aus und schenkte sich erneut etwas ein. Was er wollte, war Brandy. Er würde Maufe losschicken müssen, um welchen zu finden. „Ich habe einen Mann, der gegen ihn ermittelt. Ich sollte bald von ihm hören.“
Horatia nippte einige Augenblicke lang ruhig an ihrem Wein. „Ich werde auch einen Mann aussenden, um Informationen zu erhalten. Dies ist eine kleine und normalerweise sichere Stadt. Wenn er etwas Ruchloses plant, wird sich das sicher herumsprechen.“
„Aber werden wir seinen Plan rechtzeitig aufdecken können?“
Seine Tante seufzte und schüttelte den Kopf. „Vielleicht bleiben wir lieber für ein paar Nächte zu Hause.“
„Ich denke, das wäre das Beste.“
***
Früh am nächsten Morgen erhielt Huntley endlich die Informationen, auf die er gewartet hatte. Er starrte auf die Dokumente und konnte den Bericht kaum glauben. Di Venier hatte eine junge Frau ermordet, die kurz vor ihrem Gelübde als Nonne stand. Verdammt! Das war schlimmer, als jeder von ihnen hätte ahnen können. Der Mann hatte überhaupt keine Ehre.
„Maufe, bitte sag Lady Horatia, dass ich sie sofort sprechen muss.“
Zehn Minuten später, als er auf dem Balkon saß und Kaffee trank, trat sie zu ihm. „Hast du etwas gehört?“
„Ja.“ Er reichte ihr den Bericht.
Nachdem sie ihn gelesen hatte, zogen sich ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. „Die arme Frau. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich überrascht bin. Manche Männer halten das Leben derer, die unter ihnen stehen, für wertlos. Besonders das Leben einer Frau. Hier steht, di Venier hielt sie für eine Prostituierte. Er hätte sie als den Dreck unter seinen Füßen gesehen. Ich habe auch Neuigkeiten erhalten. Es gibt Gerüchte, dass der Marchese Venedig verlässt.“ Seine Tante runzelte die Stirn. „Das kommt mir sehr seltsam vor, und ich glaube es nicht. Ich denke, wir werden für ein paar Wochen in meine Villa am Gardasee reisen. Vielleicht wird er sich bei unserer Rückkehr einer geeigneteren Dame zuwenden.“
Huntley lehnte sich an einen Stützpfeiler, nippte an seinem Kaffee und beobachtete die Gondeln, die am Ufer des Kanals ihre Runden drehten. Das Wasser glitzerte herrlich blau in der Morgensonne. Frauen schienen Männer nie zu verstehen. Di Venier war nicht nur zielstrebig, sondern besessen. Ein Umzug an einen Ort, der weniger als zwei Tage von Venedig entfernt war, würde nichts bringen. Die ländlichere Gegend könnte dem Schurken sogar dienlich sein. „Er wird uns folgen.“
Seufzend stellte Horatia ihre Tasse auf den Tisch. „Wenn du dir sicher bist … Nun gut. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen. Oh, warum musste der verflixte Mann nach Venedig zurückkehren? Wir sind doch auch ohne ihn gut zurechtgekommen.“
Huntley wandte sich von der Aussicht ab und lehnte sich gegen die Brüstung. „Es muss einen Ort geben, wo wir sie hinbringen können …“
„Ich werde Venedig nicht verlassen.“ Caro stand in der Tür zum Balkon. Eine Hand hielt eine Tasse, die andere war zu einer Faust geballt. „Dies ist mein Zuhause. Ich werde nicht wieder weglaufen.“
Ihr Gesichtsausdruck war kämpferisch, und Huntley bewunderte ihren Mut. Venedig war fünf Jahre lang Caros Zufluchtsort gewesen, und sie liebte die Stadt. Natürlich wollte sie nicht weg, aber dieser Ort war nicht mehr sicher für sie. Verdammt, das Land war nicht sicher. „Vor ein paar Wochen hat di Venier ein dreizehnjähriges Mädchen getötet, weil sie ihm nicht gehorchen wollte. Eine Novizin, die bereit war, ihr Gelübde abzulegen. Er könnte vorhaben, Sie zu entführen, Caro.“
Ihre Augen wurden groß. „Oh Gott, nein.“ Das Porzellan klirrte, als ihre Hand mit der Tasse und Untertasse zitterte. „Wie kann jemand so etwas tun? Wir müssen die örtlichen Behörden informieren.“
Huntley schüttelte langsam den Kopf. „Sie sind eine Fremde, und seine Familie ist sehr mächtig.“
Sie stellte die feine Porzellantasse auf einem Tisch ab. Als sie sprach, konnte man den leisen Hauch von Angst in ihrem Trotz hören. „Aber die Österreicher, die werden sicher etwas unternehmen. Der Mann kann nicht herumlaufen und Damen belästigen und in Gefahr bringen, ohne dass es Konsequenzen hat.“
Huntley wollte aufstehen, um zu ihr zu gehen, setzte sich dann aber wieder hin. Sie würde seine Berührung nicht gutheißen, auch wenn er sie einfach nur in den Arm nehmen wollte, um sie zu trösten. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt. „Sie werden zustimmen, dass seine Manieren Ihnen gegenüber schlecht sind, aber wir haben keine Beweise für etwas anderes.“ Warum war sie nur so schwierig? „Verstehen Sie nicht, wie angreifbar Sie sind, wenn Sie bleiben?“
Sie blieb stehen und starrte durch die Türen hinaus, als könne sie nicht glauben, was er ihr gesagt hatte. „Ich bin kein Opfer. Ich werde keins sein.“
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, eine Angewohnheit, die er seit der ersten Begegnung mit Caro entwickelt hatte. „Setzen Sie sich bitte. Wir müssen entscheiden, was zu tun ist.“
„Mylady.“ Der Haushofmeister seiner Tante, La Valle, verbeugte sich. „Der Duca di Venier ist hier, um Sie zu sehen.“
Horatia holte tief Luft. „Hat er gesagt, was er will?“
„Nein, Mylady.“
Sie erhob sich und schüttelte ihre Röcke aus. „Nun gut, bring ihn in mein Arbeitszimmer und sag ihm, dass ich gleich bei ihm sein werde. Stell zwei Lakaien vor die Tür.“
Er verbeugte sich erneut. „Ja, Mylady.“
Horatia drehte sich zu Huntley und Caro um, ihr Gesicht war vor Sorge angespannt. „Das kann nichts Gutes bedeuten. Der Herzog ist noch nie hierher gekommen. Caro, meine Liebe, du hast vielleicht keine Zeit mehr. Macht eure Pläne.“
Mit kerzengeradem Rücken ging Horatia zum Herzog.
Als Huntley sich wieder zu Caro umdrehte, war ihr Gesichtsausdruck von Anspannung geprägt. Sie blickte ihn an. „Was könnte er wollen?“
„Das weiß ich nicht.“ Huntley überlegte kurz, was sie tun könnten, und sagte dann: „Ich könnte Sie zurück nach England bringen.“
Ihre Augen weiteten sich wie bei einem wilden Tier, das fliehen wollte, doch ihre Stimme war fest. „Nein.“
Das war offensichtlich kein guter Vorschlag. Nun gut, dann eben nicht England. Er ging schnell die Orte durch, an die er sie begleiten konnte, ohne einen Skandal zu verursachen oder sie zu einer Heirat zu zwingen. Das würde Caro überhaupt nicht gefallen. Aber wohin dann? „Paris wäre eine Möglichkeit.“
Caro schritt den Balkon entlang und wieder zurück, die Röcke wirbelten um ihre Knöchel. Nach ein paar Augenblicken blieb sie stehen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. „Ich habe keine andere Wahl, oder?“
Seine Stimme blieb ruhig. „Keine, die ich erkennen kann.“
Sie blinzelte schnell, dann nahm sie ihre Tasse und trank einen Schluck. „Nun gut. Wann möchten Sie abreisen?“
Er grübelte noch über diesen Plan nach, als Horatia auf den Balkon zurückkehrte. Kleine Fältchen umspielten ihre Lippen, als sie sie zusammenzog. Ihre sonst so sanften Augen blitzten zornig auf. „Ihr solltet so schnell wie möglich abreisen. Der Herzog war hier, um im Namen seines Enkels, des Marchese di Venier, ein förmliches Angebot um deine Hand zu machen. Er war nicht auf eine Ablehnung eingestellt.“ Sie holte tief Luft und fuhr mit ernster Stimme fort. „Ich habe dem Herzog gesagt, dass es nicht möglich ist, dass du den Marchese heiratest, da du bereits mit Huntley verlobt bist.“
Kapitel 3
„Du hast ihm was gesagt?“ Was um Himmels willen hatte sich ihre Patentante nur dabei gedacht? Sie wusste doch, dass Caro nicht heiraten konnte. Caro rieb sich die Stirn und brachte es nicht über sich, Huntleys ruhigem Blick zu begegnen. „Es gab doch sicher einen anderen Weg.“
Ihre Patentante nahm eine Tasse und schaute dann stirnrunzelnd auf die inzwischen kalte Kanne Tee. „Nun, meine Liebe, er hat darauf bestanden, dass du seinen Enkel heiratest, und du bist zweiundzwanzig.“
„Was“, fragte Caro, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die Antwort hören wollte, „hat mein Alter damit zu tun?“
„Der Herzog hätte nicht geglaubt, dass du nicht heiraten willst.“ Ihre Patentante fummelte an einem Armreif herum. „Dazu kommt, was Huntley uns über das Temperament des jungen Mannes erzählt hat.“
„Temperament!“ Caro ballte die Hände zu Fäusten. „Der Mann ist eine Bestie.“
Horatia nickte. „In der Tat, so ist es.“ Sie holte tief Luft. „Nun ja, das mit der Verlobung zu sagen, schien mir zu diesem Zeitpunkt das Vernünftigste zu sein.“
„Vernünftig?“ Caro widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen, und neigte stattdessen den Kopf zurück, um die kunstvoll bemalte Decke zu betrachten. Die fröhlichen, herumtollenden Engelchen waren nicht gerade hilfreich.
„Ja, natürlich.“ Ihre Patentante lächelte, als ob das alles einen Sinn ergäbe. „Du musst verstehen, wie gut es ist, dass Huntley hier ist. Er war die perfekte Ausrede.“
Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Ihr Leben war hier so gut gelaufen. Caro holte tief Luft und blickte ihn an. Seine Miene verriet nicht einmal ansatzweise, was er dachte. Es spielte keine Rolle. Eine Verlobung mit Huntley war unmöglich. Er würde ihr Geheimnis aufdecken, und das wäre eine Katastrophe.
„Haben Sie denn gar nichts zu sagen?“, fragte sie, um ihn zum Reden zu bringen. „Meine Patentante hat auch Sie verpflichtet.“
Er hob auf ruhige, aristokratische Art eine Braue. Verflucht sei der Mann. Das konnte er nicht wollen. Wenn die Hälfte des Geredes, das sie gehört hatte, wahr war, wollte er noch nicht heiraten. Wie konnte er nur so gelassen sein?
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte sardonisch. „Sie können mich verlassen, sobald Sie sicher in Paris sind.“
Caro warf ihre Hände in die Luft. „Warum muss ich diejenige sein, die Sie verlässt?“ Ihre Stimme brach. „Ich habe bereits einen Ruf als Abweiserin. Das wird nicht helfen. Ich will einfach nur allein und in Frieden leben.“
„Du weißt genau“, sagte Horatia säuerlich, „dass Huntley die Verlobung nicht lösen kann.“
Caro fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. Sie musste sich unter Kontrolle bringen. „Du hast natürlich recht.“
Huntley trank den Rest seines Kaffees aus und stand auf. „Wir sollten heute Abend zu Beginn der normalen Essenszeit aufbrechen.“ Er sah sie an. „Bevor die Männer, die für di Venier das Haus überwachen, eintreffen.“
„Er tut was?“ Caro schnappte nach Luft. „Wie kann er es wagen?“
„Er wagt anscheinend einiges“, meinte Huntley. „Wenn wir uns heute Abend auf den Weg machen, werden wir bis morgen nicht vermisst. Wir hatten für heute Abend doch nichts geplant, oder?“
Ihre Patentante schüttelte den Kopf. „Nein, nichts. Was glaubst du, wie weit ihr reisen könnt?“
„Ich – wir“, ergänzte er, „werden versuchen, nach Padua zu kommen.“
„Ich kenne dort ein Gasthaus“, sagte Horatia. „Caro kennt es auch.“
Caro biss sich auf die Lippe. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich aufzuregen. „Nun gut.“
Aber allein mit Huntley reisen? Nein, das war nicht möglich. „Aber, Patentante. Ich … ich kann nicht.“
„Caro, meine Liebe, wir haben keine Wahl. Wir können nicht alle auf einmal gehen. Ich muss mich um das Haus und einige andere Dinge kümmern.“
„Was“, fragte Huntley und sah Horatia stirnrunzelnd an, „wirst du tun, wenn wir weg sind?“
Horatia war einen Moment lang still. „Ich werde nach Genua reisen und ein Schiff nach Marseille nehmen. Es wird wahrscheinlich eine ganze Woche dauern, bis ich im Hafen ankomme. Bis dahin müsst ihr in Österreich sein.“
„Horatia“, sagte Huntley, „bist du dir sicher, dass es dir gut gehen wird?“
„Ja, natürlich.“ Sie schenkte ihnen ein strenges Lächeln. „Wir werden uns in Nancy im wohl bekanntesten Gasthaus in der Rue de Guise treffen. Es wird Zeit, dass ich Frankreich besuche.“
Caro nahm einen tiefen Atemzug. Es war wirklich so weit. Sie würden Venedig verlassen, und sie würde mit Huntley allein sein. Sie war noch nicht bereit, die Niederlage zu akzeptieren. „Wir können schneller reisen und mit dir abreisen.“
Ihre Patentante lächelte sanft. „Ich werde versuchen, deine Abwesenheit zu vertuschen, und in spätestens zwei Tagen mit großem Pomp abreisen. Ich zweifle nicht daran, dass ich von jemandem aus dem Dienst des Herzogs aufgehalten werde.“ Sie nahm Caros Hände und sah sie an. Sie hatte noch nie so ernst ausgesehen, und zum ersten Mal sah Caro, dass ihre Patin Angst um sie hatte. „Bis dahin müsst ihr beide so nah wie möglich am Brenner sein.“
Caro biss sich erneut auf die Lippe und nickte. Wenn di Venier ihr folgte, war ihre Verlobung mit Huntley vielleicht wirklich die geringste ihrer Sorgen. Schließlich würden nicht viele ihrer Landsleute um diese Jahreszeit auf Reisen gehen. Sie würden an Weihnachten zu Hause sein wollen. Keiner würde von der Verlobung erfahren. „Ich werde Nugent packen lassen.“
Horatia ging zu einem kleinen Marmorbeistelltisch und schenkte ein Glas Wein ein. „Ich habe deiner Zofe bereits Anweisungen gegeben. Ihr dürft nur eine kleine Reisetasche mitnehmen. Der Rest deines Gepäcks wird in Padua auf dich warten.“
Zu ihrer Abscheu begann Caro zu weinen. Es war alles zu viel. Wieder einmal wurde ihr Leben von einem Mann ruiniert. Sie suchte in ihrem Retikül nach einem Taschentuch und sah plötzlich eines, das ihr in die Hand gedrückt wurde. Sie blickte auf. „Normalerweise weine ich nicht.“
In Huntleys Augen lag ein solches Mitgefühl, wie sie es noch nie gesehen hatte. „Wenn das das Schlimmste ist, was passieren kann, werden wir auf dieser Reise gut zurechtkommen. Wenn Sie sich dadurch besser fühlen, ich würde auch lieber nicht zurückgehen.“ Als sie ihm sein Taschentuch zurückgeben wollte, deutete er ihr, es zu behalten. Es gab so viel zu tun, und es fiel ihr so schwer, zu denken. „Ich muss zum Waisenhaus gehen und den Kindern sagen, dass ich gehe. Ich kann nicht einfach verschwinden.“
Huntley schüttelte den Kopf. „Es ist vielleicht nicht sicher. Weder der Herzog noch sein Enkel werden über unsere Verlobung glücklich sein. Nach dem, was Horatia gesagt hat, und dem Plan …“
Sie schloss die Augen. „Dem Plan, mich zu entführen.“
„Schreiben Sie den Kindern einen Brief. Das ist das Beste, was Sie im Moment tun können.“
„Ja.“ So sehr sie es auch hasste, es zuzugeben, er hatte recht. Der Gedanke, von di Venier geschnappt zu werden, von ihm berührt zu werden, ließ ihre Haut vor Ekel kribbeln. „Ich nehme an, Sie haben recht.“
Ihre Patentante drückte Caros Hand und küsste sie auf die Wange. „Versuch dich auszuruhen, meine Liebe.“
„Ja, das wird wahrscheinlich helfen.“ Caro verließ den Raum mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte, und ging zügig in ihre Gemächer. Sie schrieb ihre Briefe, wobei sie die Tränen zurückhielt, bis der letzte versiegelt war. Danach warf sie sich auf das Bett und weinte.
Ihre Zofe Nugent hörte auf zu packen und reichte ihr ein kühles, feuchtes Tuch. „Legen Sie das auf Ihre Augen, sonst werden sie geschwollen aussehen.“ Als Caro das Tuch genommen hatte, fuhr ihre Zofe fort. „Es ist nicht das, was Sie wollten, aber merken Sie sich meine Worte: Es wird alles so werden, wie es sein soll.“
Das Schlimme daran war, dass ihre Zofe fast immer Recht hatte.
„Danke, Nugent.“
Nugent packte weiter. „Er ist kein schlecht aussehender Gentleman.“
Caro umarmte ein großes Kissen. „Lord Huntley? Nein, das stimmt wohl.“
Ihre Zofe schloss die letzte Truhe und drehte sich um. „Er hat schöne braune Haare.“
„Was auch immer du denkst, hör auf damit. Es wäre egal, wenn er wie Adonis aussehen würde. Ich werde ihn nicht heiraten.“
Er war gutaussehend. Nicht, dass es darauf ankam. Allein der Gedanke, dass ein Mann sie berührte, gab ihr das Gefühl, schmutzig zu sein, wie das Sumpfwasser in den Mooren. Wenn sie sich mit ihrer Patentante wiedertrafen, konnten Caro und Huntley sagen, dass sie nicht zueinander passten. Dann wäre es niemandes Schuld. Sie würden nicht heiraten.
„Nugent, gib mir etwas zu tun.“
***
Huntley und Horatia saßen am Balkontisch. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, und eine Frau auf der Brücke, die ihre Waren verkaufte, preiste diese laut an. Er kniff sich in die Nase. Die Nachricht von der Verlobung war für ihn nicht annähernd so unwillkommen wie für Caro. Zu seinem Glück schien sie überhaupt nicht zu verstehen, wie leicht sie in die Ehe gezwungen werden konnten; vor allem, wenn sie allein reisten und nur ihre Zofe dabei war. Wenn jemand, den sie kannten, sie sehen würde, wäre das Spiel vorbei und eine Hochzeit unausweichlich.
„Irgendeine Idee, wie man sie freundlicher stimmen kann?“
Seine Tante lächelte müde. „Teile die Planung mit ihr. Sie hat gern viel zu tun.“ Horatia schwieg einen Moment lang. „Huntley, du nimmst das sehr gut auf. Viele Gentlemen würden das nicht tun. Könnte es sein, dass du Absichten gegenüber Caro hast?“
Er hatte den seltsamen Wunsch, mit einem Finger unter sein Halstuch fahren zu wollen, es war plötzlich so eng. Alle Gedanken, die er hatte, mussten für den Moment auf Eis gelegt werden. „Ich sehe dies lediglich als ein Abenteuer an. Die Rettung einer schönen Frau vor einem bösen Marchese.“
Gott, er klang wie seine Schwester Ophelia.
Horatia hob eine Augenbraue und schaute ihn nachdenklich an, bevor sie den Kopf schüttelte. „Nein, es ist nicht meine Geschichte“, murmelte sie versonnen, „ich kann es dir nicht erzählen.“
Die Krawatte lockerte sich. „Geht es um Caro?“
Seine Tante runzelte die Stirn und nickte. „Hm.“
Er hielt den Atem einen Moment lang an und wartete darauf, dass sie weitersprach; als sie es nicht tat, fragte er: „Wie schlimm war es?“
„Sehr schlimm.“ Sie schenkte sich ein weiteres Glas des gekühlten Weißweins ein und blickte auf den Kanal hinaus. „Ich hoffe, Caro lernt, dir genug zu vertrauen, um es dir zu erzählen.“
Das hoffte er auch. Er sah sich in dem großen Salon um. Er würde die Aussicht und das geschäftige Treiben der Gondeln vermissen. Er würde Venedig vermissen, aber die Pflicht rief, und er musste dem widerspenstigsten Mitglied des weiblichen Geschlechts, das er je getroffen hatte, helfen, einem Schurken zu entkommen. „Gut, dann werde ich mal nachsehen, wie weit mein Diener mit allem ist, und die Bank besuchen. Wenn du die Briefe von Caro erhälst, werde ich auch im Waisenhaus vorbeischauen.“
Er ließ seine Tante am Tisch sitzen und fragte sich, wie lange Caro Venedig wohl fernbleiben musste. Als er sein Schlafzimmer betrat, war sein Kammerdiener Maufe gerade dabei, die letzten Jacken zu falten. „Wie viel gibt es noch zu tun?“
„Bin fast fertig, Mylord. Ich wurde informiert, dass das Gepäck vorausgeschickt werden soll.“
Huntley blickte sich im Raum um. „Ja. Ich möchte, dass du und Collins mit den Koffern vorausfahrt.“
„Ja, Mylord.“
Huntley ging in Gedanken die nötigen Vorbereitungen durch. Maufe sprach Italienisch, das würde ihnen nützlich sein; und Huntleys Pferdepfleger Collins wusste, wie man eine Kutschpistole benutzt. Verfügte Maufe ebenfalls über diese Fähigkeit? „Weißt du, wie man eine Pistole benutzt?“
Die Augen seines Dieners weiteten sich. „Es wurde mir beigebracht, Mylord, obwohl es viele Jahre her ist, dass ich eine Waffe abgefeuert habe. Werden wir uns in Gefahr begeben?“
Huntley brach in Gelächter aus. „Das habe ich nicht vor, nein. Aber ich würde gerne bereit sein.“
Maufe hielt beim Packen inne. „Auch zu einer Heirat, Mylord?“
„Es hat keinen Sinn, zu versuchen, mich mit diesen Worten zu überrumpeln. Ich weiß, dass du den ganzen Klatsch und Tratsch kennst. In diesem Haus ist nichts ein Geheimnis.“
„Wie Sie meinen, Mylord. Sie scheinen eine Vorliebe für die Dame zu haben.“
Nicht auch noch Maufe! So viel dazu, sein Interesse an Caro zu verbergen. „Im Moment will ich nur, dass die Dame und ich mit intaktem Ruf aus der Sache herauskommen. Es wird langsam spät im Jahr. Ich vertraue darauf, dass wir auf dem Weg dorthin niemandem begegnen, den wir kennen.“
Maufes Schnauben war nicht sehr beruhigend. Wenn Caro zustimmte, ihn zu heiraten, wollte er, dass sie es aus freiem Willen tat. Er hatte den Eindruck, dass eine Zwangsehe eine Katastrophe wäre.
„Werden Lady Carolines Zofe und ihr Pferdepfleger mit Ihnen reisen, Mylord?“
Huntley sah seinen Diener an. „Ja, ich nehme an, das müssen sie. Jedenfalls ihr Dienstmädchen. Bitte ihren Pferdepfleger, zu mir zu kommen.“
Maufe schloss die letzte Truhe und verließ den Raum.
Eine Viertelstunde später klopfte es eindringlich an seine Tür.
„Kommen Sie herein und hören Sie auf, diesen inferioren Lärm zu machen.“ Die Tür schlug gegen die Wand und Lady Caro stand in der Tür, ihre Brust hob sich schnell vor Empörung.
„Meine Dienerschaft steht nicht unter Ihrem Befehl!“
Verdammt. Er hätte wissen müssen, dass sie eine vermeintliche Selbstherrlichkeit nicht gut aufnehmen würde. Huntley rieb sich den Nacken. „Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.“ Er unterdrückte ein Lächeln, als sie ihre Lippen öffnete und wieder schloss, fassungslos. Sie hatte sich auf einen Streit vorbereitet, aber er wollte nicht mit ihr streiten, zumindest nicht jetzt, bevor sie sich richtig versöhnen konnten. „Können Sie mir sagen, ob Ihr Pferdepfleger schießen kann?“
„Ja, natürlich kann er das, und ich auch“, antwortete sie hochmütig. „Warum?“
„Ich schicke meinen Kammerdiener und meinen Pferdepfleger mit dem Gepäck voraus. Ich will uns nicht ungeschützt lassen.“
Sie blinzelte und ihre Augen verengten sich. „Wissen Sie denn nicht, wie man schießt?“
„Natürlich weiß ich das.“ Er warf ihr einen empörten Blick zu. Welcher Gentleman wusste denn nicht, wie man mit einer Waffe umging? „Aber wenn sie hinter uns her sind, möchte ich mehr als nur mich haben, um uns zu verteidigen. Ich garantiere Ihnen, dass wir es mit mehr als einem Mann zu tun haben werden, sollte es zu einem Angriff kommen.“
„Oh, gewiss, ich verstehe. Er kennt sich gut mit Waffen aus, genau wie meine Zofe und ich.“ Sie warf ihm einen reumütigen Blick zu. „Bitte, wenn Sie einen meiner Diener sprechen wollen, dann fragen Sie zuerst mich.“
„Das werde ich.“ Was konnte er noch sagen, um sie zu beruhigen? „Sie sollten Ihr Dienstmädchen in Ihrem Zimmer schlafen lassen.“
Sie hatte sich zum Gehen gewandt und blieb stehen. „Ich danke Ihnen. Ihr Vorschlag ist sehr rücksichtsvoll.“
Nachdem sie gegangen war, ließ sich Huntley in einen Stuhl auf dem kleinen Balkon sinken. Verflucht. Das würde eine sehr lange Reise werden, wenn sie ihn bei jedem Schritt bekämpfte. Es musste einen Weg geben, sich mit ihr zu einigen.
***
Später am Nachmittag, als das Gepäck auf dem Weg war und er seine Besorgungen erledigt hatte, musste er nur noch warten, bis es dunkel genug war, um abzureisen. Horatia hatte Antipasti, Brot und Käse bringen lassen, die auf dem Balkon des Salons serviert wurden. Nach dem Essen ging Caro.
Horatia seufzte. „Ich werde das vermissen.“
Sie gab ihr Leben für Caro auf, aber er hätte nichts anderes von der Schwester seines Vaters erwartet. Caro war das, was einem eigenen Kind für Horatia am nächsten kam.
„Wie lange musst du fernbleiben?“
Ihre Augen waren voller Tränen, als sie ihn ansah, aber sie lächelte. „Für ein paar Jahre, wahrscheinlich. Aber ich weiß nicht, ob ich jemals zurückkehren werde. Ich habe noch nie eine solche Abscheulichkeit gesehen, und ich bin mir nicht sicher, ob man danach noch zurückkehren kann.“
Er war einige Augenblicke lang still. „Was wird mit deinem Haus geschehen?“
Ihr Lächeln wurde breiter. „Du denkst wohl an alles? Du bist wahrlich der Sohn meines Bruders. Ich habe einen Verwalter. Er wird sich darum kümmern. Ich könnte es vermieten.“ Horatia richtete sich auf und gab ihm einen Klaps auf die Hand. „Es ist noch zu früh, um endgültige Entscheidungen zu treffen.“
Die Kirchenglocken schlugen. Huntley wünschte sich, seine Tante würde mit ihnen kommen. „Wir müssen gehen.“
„Ja, mein Lieber, schick mir Briefe an das Hotel in Nancy mit euren Fortschritten, und ich werde dasselbe tun. Aber ich werde wohl vor euch ankommen.“
Caro kam wieder zu ihnen und trug einen dunkelblauen Reisemantel und einen Hut, der ihre hellen Locken verdeckte. Sie streckte ihre Hände aus. „Patentante.“
Horatia ging zu ihr. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich Horatia nennen sollst?“ Sie tupfte Caro mit ihrem spitzenbesetzten Taschentuch über die Augen. „Albernes Kindchen. Uns wird es gut gehen. Sieh es als ein Abenteuer an.“
Caro nickte mehrmals, während sie ihre Tränen wegblinzelte und Horatia umarmte. „Ich werde es versuchen.“
Horatia tätschelte ihr die Wange. „Vertraue Huntley, meine Liebe. Er wird dir nicht wehtun.“
Er unterdrückte ein Stirnrunzeln. Also nicht nur eine schlechte Erfahrung. Jemand hatte Caro in der Vergangenheit verletzt, aber was war passiert?
Eine große, schlanke Frau, von der er nur vermuten konnte, dass sie Caros Zofe Nugent war, stand in der Tür. „Kommen Sie, Mylady. Wir müssen los.“
Horatia und Caro umarmten sich ein letztes Mal, bevor Caro sich zum Gehen wandte.
Huntley schloss seine Arme um Horatia. Seine Kehle war enger, als er es sich erwartet hatte. „Wir sehen uns dann in Nancy.“
„Viel Glück.“
„Dir auch.“ Huntley verließ schnell den Raum und ging den Korridor hinunter zur Treppe, die zum Gondelanleger führte.
La Valle hatte Diener geschickt, die als Wächter fungieren sollten, falls das Haus beobachtet werden würde. Bis jetzt hatten sie nichts Ungewöhnliches gesehen. Trotzdem saßen Caro und ihr Dienstmädchen auf den Holzbänken, anstatt in der kleinen Kabine, die Felze genannt wurde und in der normalerweise eine Dame saß.
Da Geräusche auf dem Wasser übertragen wurden und keiner von ihnen wollte, dass seine englische Stimme zu hören war, verlief die Fahrt zu der auf dem Festland wartenden Kutsche ruhig. Caro behielt die Kapuze ihres Umhangs oben, um ihr Gesicht noch mehr zu verdecken, als das Boot durch die Kanäle zur Anlegestelle fuhr, wo Huntleys Kutsche auf dem stand, was die Venezianer terraferma nennen.
Als sie ankamen, grinste Horatias Pferdepfleger Dalle und hob einen großen Korb vom Sitz neben sich. „Proviant. Ihre Ladyschaft dachte, wir könnten ihn brauchen.“
Huntley lächelte. Seine Tante wusste wirklich, wie man Männer bei Laune hält. „Das könnten wir in der Tat.“
Er schaute sich um und fragte sich grimmig, wie lange es wohl dauern würde, bis sie verfolgt werden würden. Di Venier war nicht der Typ Mann, der sich Caro einfach durch die Finger schlüpfen ließ.
Dalle nahm neben dem Kutscher Raphael Platz, die Pferde wurden angekoppelt und sie ließen Venedig und, wie er hoffte, auch den Marchese zurück.
Huntley blickte hinaus, während sie die Straße in Richtung Padua entlang fuhren.
Die Bäume hoben sich wie Gespenster gegen den dunklen Nachthimmel ab. Felder und vereinzelte Häuser waren in verschiedenen Schwarztönen erkennbar. Das letzte Mal, als er hierhergekommen war, war es hell gewesen.
Seine kleine Schar war so still, so ruhig. Fast so, als hätten sie Angst, ein Geräusch zu machen.
Schließlich brach Caro das Schweigen. „Ich kenne das Gasthaus, in dem wir übernachten werden. Die Eheleute, denen es gehört, sind sehr gute Leute.“
Sein Magen grummelte laut.
„Sie haben doch vorhin gegessen.“ Caro gluckste. „Wie können Sie schon wieder hungrig sein?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ob sie uns wohl mit Essen versorgen werden?“
Die Kutschenlaterne beleuchtete ihr Gesicht, als sie lächelte. „Wir werden sehen, welche Vorkehrungen Ihr Diener getroffen hat.“
„Vielleicht hätte ich besser daran getan“, sagte er reumütig, „Sie zu bitten, meinen Kammerdiener zu begleiten. Maufes Italienisch ist gut, aber nicht umgangssprachlich genug.“
„Aber er hat so eine gewisse Art, dass es vielleicht keine Rolle spielt.“
Das Geplänkel schien ihre Stimmung aufzuhellen. Vielleicht würde sich das ja doch zu seinen Gunsten auswirken. Huntley grinste. „In der Tat, das hat er. Maufe sollte in den Diensten eines Herzogs stehen.“
„Nun, der Erbe eines Marquis ist nicht weit davon entfernt.“ „Lassen Sie das nicht“, er stieß einen falschen Schreckenslaut aus, „einen Herzog hören.“
Schließlich lachte sie. „Oh je. Ich nehme an, Sie haben Recht.“
Vier Stunden später trafen sie im Gasthaus ein, wo der Wirt und seine Frau auf sie warteten. Huntley folgte Lady Caroline die schmale Treppe des Gasthauses hinauf. Er konnte nicht widerstehen und hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen, als er den Anblick ihres üppigen Hinterns genoss und darüber nachdachte, wie gut er in seinen Händen liegen würde.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter zurück und funkelte ihn wütend an. Er weitete die Augen und schenkte ihr den unschuldigsten Blick, den er aufbringen konnte. Die Treppe war schmal und steil. Sie blieb stehen und brachte ihn fast, aber nicht ganz, in Kontakt mit dem fraglichen Objekt seiner Begierde. So nah.
Caro schloss kurz die Augen und presste den Kiefer zusammen. „Mylord, vielleicht sollte ich stattdessen Ihnen die Treppe hinauf folgen.“
Er wollte sich verbeugen, doch dann merkte er, dass er ihr so nahe kommen würde, dass seine Lippen ihren Po berühren könnten. Sie musste denselben Gedanken gehabt haben, denn sie wich eilig mit dem Rücken zur Wand zurück, um den verlockenden Anblick zu verstecken.
Er unterdrückte einen Seufzer und ging an ihr vorbei. „Danke, Mylady.“
Sie neigte steif den Kopf. „Mylord.“
***
Caro fragte sich, was, wenn überhaupt etwas, Huntley auf der Treppe vorgehabt hatte. Sie schüttelte sich ein wenig. Wahrscheinlich war es nur ihre Einbildung. Er war nett zu ihr gewesen, aber mehr auch nicht. Sie musste sich vor Augen halten, dass er genauso gefangen war wie sie. Keiner von ihnen wollte heiraten.
Caros Zimmer war bereits warm, und ein Krug mit heißem Wasser stand neben einer Schüssel mit ein paar Lavendelzweigen. Sie schaute sich noch einmal um. Der Raum wirkte heimelig, aber sie konnte nicht genau sagen warum.
Sie hob eine Augenbraue und schaute Nugent an. „Ziemlich bequem.“
„Ja, Mylady. Mr. Maufe hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Man könnte meinen, dass wir hier mehr als nur eine Nacht bleiben würden. Ich hätte es nicht besser machen können.“ Sie goss Wasser in die Schüssel und wartete mit einem Leinentuch, bis Caro sich erfrischt hatte. „Mr. Maufe hat auch Ihr Kleid für heute Abend herausgeholt und bereitgelegt. Es war sehr nett von ihm, dass er das alles gemacht hat. Es wird mir nichts ausmachen, in seinen Spuren zu wandeln.“
„Wie schön.“ Caro zog sich zum Abendessen ein graues Seidenabendkleid mit langen, taillierten Ärmeln und Spitze am Mieder an. Sie nahm den Norwich-Schal aus ihrer Kommode und legte ihn sich um die Schultern. „Ich werde nicht zu spät zurückkommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir so früh wie möglich aufbrechen wollen.“
Als sie den privaten Salon betrat, stand Huntley über einen Tisch gebeugt, auf dem eine große Landkarte an den Ecken mit Gläsern und Flaschen beschwert war.
Er richtete sich auf. „Guten Abend. Wollen Sie sich das mal ansehen?“
„Ja, das würde ich gerne. Ich danke Ihnen.“ Wenigstens tat er so, als würde er sie involvieren. Doch Caro fragte sich, inwieweit er ihre Meinung tatsächlich in Betracht ziehen würde.
Er legte einen langen, gebräunten Finger auf Verona. „Ich habe erfahren, dass ich beim Gasthaus an der Hauptstraße nach Mailand, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, ein gutes Pferd mieten kann. Wir sind davon ausgegangen, dass di Venier erst in etwa einem Tag von unserer Abreise erfahren wird.“ Er blickte sie an, Falten umspielten seinen Mund. „Wir wären nicht sehr klug, wenn wir uns darauf verlassen würden. Ich würde gerne so schnell wie möglich weiterreisen.“
Caro nickte heftig. Warum der Marchese ihr folgen sollte, nachdem ihm gesagt worden war, dass sie verlobt war, wusste sie nicht. Leider war sie noch nie gut darin gewesen, die männliche Spezies zu beurteilen. „Darf ich vorschlagen, dass Sie meinem Kutscher erlauben, die Vorbereitungen zu treffen, sodass es keine Spur davon gibt, dass ein Engländer ein Pferd gemietet hat, um nach Norden zu reisen?“
„Das ist eine gute Idee. Wenn möglich, würde ich gerne morgen Abend in Verona sein.“ Er betrachtete sie einen Moment lang. „Es wird ein langer Tag.“
So weit. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen, dass er langsam reisen würde.
„Es wird ein anstrengender Tag, mindestens neun oder zehn Stunden in der Kutsche.“ Sein Blick war fest auf ihr Gesicht gerichtet, als ob er einen Streit erwartete.
„Wir halten nur an, um die Pferde zu wechseln.“
Je schneller, desto besser. „Nun gut. Dann starten wir nun.“
Ein Klopfen ertönte an der Tür.
„Wir sollten das unter uns behalten“, sagte er. „Sollen der Wirt, seine Frau und ihre Diener doch denken, wir fahren zum Gardasee, wie Maufe es ihnen gesagt hat.“
Natürlich waren sie es dem Gastwirt schuldig, ihn und seine Familie nicht in die Situation zu bringen, ihre kleine Gruppe vor den Männern des Herzogs schützen zu müssen. Sie warf einen Blick auf Huntley. Er hatte wirklich an alles gedacht. „Sie haben recht. Wenn wir früh verfolgt werden, können sie nicht verraten, was sie nicht wissen.“
Es klopfte erneut, als Huntley die Karte aufrollte. „Kneifen Sie in Ihre Wangen und Lippen.“
Caros Mund klappte auf und sie schloss ihn schnell wieder. „Wozu denn?“
„Wir sind doch verlobt.“ Er lächelte langsam und zwinkerte ihr zu. „Und wir lassen uns mit dem Öffnen der Tür viel Zeit.“
Ihre Wangen wurden heiß, aber sie tat, was er verlangte, während er zur Tür ging und sie öffnete.
„Ah, Mylord.“ Der Gastwirt schaute sie interessiert an.
Oje. Huntley hatte recht gehabt. Ihr Hals und ihr Gesicht wurden heiß.
Nachdem der Tisch gedeckt war, die Gerichte auf kleine Beistelltische gestellt wurden und der Wein eingeschenkt war, gingen der Wirt und sein Sohn.
Huntley zog ihr den Stuhl zurecht. Nachdem er selbst Platz genommen hatte, begutachtete er das Angebot mit seinem Monokel. „Das scheint ein Risotto mit Pilzen zu sein. Möchten Sie es probieren?“
Sie nahm das Glas Wein in die Hand und trank einen Schluck. „Ja, danke. Es ist eines meiner Lieblingsgerichte.“
Einige Minuten lang aßen sie in kameradschaftlichem Schweigen, während sie nach etwas zu sagen suchte. „Es ist gut, dass meine Patentante daran gedacht hat, uns mit Essen und Trinken für morgen zu versorgen.“
Huntley blickte von seinem Teller auf. „Ja, und dass ihr Gepäckwagen in keiner Weise gekennzeichnet ist.“
Das funktionierte nicht. Warum versuchte sie überhaupt, mit ihm zu reden?
Sie ärgerte sich. „Ich nehme an, wir können eine Liste mit dem Offensichtlichen durchgehen und nach Gesprächsstoff suchen, aber ich bin wirklich ziemlich müde.“
„Sie brauchen nicht zu reden. Lassen Sie uns zu Ende essen und uns zurückziehen. Ich würde gerne um sechs Uhr morgens starten, wenn Sie einverstanden sind.“
Was für eine Erleichterung. Sie war nicht in der Stimmung, einen Gentleman zu unterhalten. „Prima. Haben Sie Frühstück bestellt?“
Er nahm einen großen Schluck Wein. „Nein. Ich wollte mich erst mit Ihnen beraten.“
Sein Gesichtsausdruck war nichtssagend, und nicht zum ersten Mal wusste sie nicht recht, was sie von ihm halten sollte. „Ich danke Ihnen. Dann werde ich es bestellen.“
Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. „Oder Sie können es Maufe überlassen. Er wird mindestens eine Stunde vor uns auf der Straße sein.“
Caro legte ihr Messer und ihre Gabel auf den Teller, um anzuzeigen, dass sie fertig gegessen hatte. „Er ist sehr fähig. Nugent ist beeindruckt.“
„Ich werde es ihm ausrichten. Sollen wir unseren Wein austrinken und unsere Gemächer aufsuchen?“
Huntley begleitete Caro zu ihrem Zimmer. Als sie die Tür öffnen wollte, nahm er ihre Hand. Das hatte er noch nie getan. Sie sah auf ihre Finger und konnte sich nicht entscheiden, ob sie sie zurückziehen sollte oder nicht. Schließlich ließ sie ihre Hand in seiner viel größeren liegen.
„Das mit dem Gastwirt haben Sie heute Abend gut gemacht.“ Er grinste. „Nächstes Mal müssen Sie sich nicht in die Wangen kneifen. Sie erröten auch so ganz bezaubernd.“
Caro biss sich auf die Lippe und spürte, wie ihr warm im Gesicht wurde. „Soll das ein Kompliment sein?“
„So etwas in der Art. Das haben Sie gut gemacht.“
„Dann sollte ich Ihnen wohl danken, Mylord.“
Er verbeugte sich. „Mylady, schlafen Sie gut. Ich sehe Sie morgen früh.“
Er ließ sie allein, ging zu seinem Zimmer am Ende des Korridors und wartete, bis sie ihres betrat. Caro schloss die Tür, lehnte sich dagegen und runzelte die Stirn.
Sie wäre geblieben, wo sie war, aber Nugent drängte sie zum Frisiertisch und öffnete ihr das Haar, um es zu kämmen.
„Ich habe eine schöne Tasse Kräutertee für Sie machen lassen. Trinken Sie ihn, bevor Sie schlafen gehen. Wir haben einen frühen Morgen vor uns.“
„Lord Huntley und ich haben vereinbart, um sechs Uhr zu starten.“
„So wurde es mir auch gesagt. So, fertig.“
Caro stand auf, während ihr Dienstmädchen zuerst ihr Kleid und dann ihr Mieder öffnete. Sie hatte ihre Arme durch ihr Nachthemd gesteckt und stutzte. „Wann hat man es dir gesagt?“
Ihr Dienstmädchen zog das weiche Musselin herunter. „Bevor ich zum Abendessen ging. Mr. Maufe wollte unsere Arrangements nicht vor dem Gastwirt besprechen.“
Caros Mund öffnete sich abrupt und sie machte ihn wieder zu. Dieser – dieser Trickser!
Er hatte bereits alle Vorkehrungen getroffen, bevor er mit ihr gesprochen hatte. Er hatte ihre Meinung gar nicht gebraucht. Es war reines Glück, dass sie mit sechs Uhr einverstanden war. Er hatte schon alles vorbereitet. Nun, er würde bald lernen, dass mit ihr nicht zu spaßen war. „Schicken Sie Seiner Lordschaft bitte eine Nachricht, dass ich um halb sieben abreisen möchte.“
Nugent half Caro ins Bett und ließ sie den Kräutertee trinken. „Wenn Sie ihm das sagen wollen, können Sie sich anziehen und in sein Schlafgemach gehen. Ich werde bei solchen Dummheiten nicht mitmachen.“
„Missachtest du meinen Befehl?“, fragte Caro in einem herrischen Ton.
„Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist.“ Nugent schnaubte. „Ich habe nie erlebt, dass Sie launisch waren, und ich will nicht, dass Sie jetzt damit anfangen.“
„Ich bin kein ungebildetes Kind mehr.“
„Dann verhalten Sie sich nicht so.“ Nugent nahm die Tasse und zog den Bettbehang zu. „Gerade Sie sollten wissen, wie wichtig es ist, früh abzureisen.“
„Du hast recht.“ Caro seufzte. „Ich weiß auch nicht, warum ich mich so verhalte.“
Nugent schnaubte. „Schlafen Sie nun. Morgen früh haben Sie einen langen Tag vor sich.“
„Gute Nacht, Nugent.“ Caro schob ihr Kopfkissen hin und her. Sie hatte die feste Absicht, Lord Huntley wegen seines selbstherrlichen Verhaltens zur Rede zu stellen. Sie würde sich nicht einschüchtern oder ihre Meinung ignorieren lassen.