ANNE
München, 8. Juli 2022
»Und damit kommen wir nun zum wesentlichen Teil der Testamentsverlesung«, sagte der glatzköpfige Mann mit einem linkischen Grinsen, das im Gericht vollkommen deplatziert wirkte.
Statt sich auf die Worte des Rechtspflegers zu konzentrieren, fiel Anne der Staub ins Auge, der auf dem Fensterbrett gleich neben ihrem Stuhl lag. Sie konnte den Mann nicht leiden, weil er tat, was er tun musste. Den letzten Willen ihrer Eltern verlesen. Es mangelte ihm an Ehrerbietung und einem gewissen Feingefühl, das sie in diesem Moment erwartet hatte. Noch mehr störte sie sich daran, dass sie und Hannes in einem nichtssagenden Gerichtssaal saßen statt in einem Notarbüro, das vielleicht mit einem wertvollen Mahagonischreibtisch und einer imponierenden Bibliothek ausgestattet war, mit einem spektakulären Blick über München … Sie schweifte bereits wieder gedanklich ab. Herr Treschers Räuspern ließ sie aufhorchen. Galt die erwartungsvolle Pause in seiner Rede etwa ihr? Vorsichtshalber warf Anne einen Blick zur Seite. Der zusammengekniffene Zug um Hannes Mund bedeutete nichts Gutes.
Eine junge Frau mit Piercings im Ohr brachte eine Wasserkaraffe und Gläser. Unaufgefordert schenkte sie dem Rechtspfleger, Hannes und ihr ein Glas ein. Tee wäre ihr lieber gewesen. Eine warme Tasse Lavendeltee, um die angespannten Nerven zu beruhigen. Über eine halbe Stunde hatten sie bereits warten müssen, bis man sie endlich in den Saal bat und die schwere Tür hinter ihnen zugefallen war. Über dreißig Minuten, die Hannes allerdings auch immer ungeduldiger hatten werden lassen. Sie hatte es an der Art gemerkt, wie er die Seiten der Zeitung umgeschlagen und immer wieder einen Blick auf seine neue Rolex geworfen hatte. Selbst Anne hatte wenig Verständnis dafür gefunden, dass der anberaumte Termin zur Testamentseröffnung nicht pünktlich eingehalten wurde. Sie hatte bereits genug um die Ohren mit all dem Papierkram, den Umschreibungen von Konten und der Übernahme der Verlagsleitung.
Ihr Magen zog sich zusammen, ob von dem Schluck Wasser, das fahl schmeckte, oder der anklagenden Leere, da sie heute früh keinen Bissen herunter gebracht hatte, wusste sie nicht. Sie zupfte an den Ärmeln ihres schwarzen Blazers. Schwarz hatte ihr noch nie gestanden. Nicht bei der typisch blassen Haut einer Rothaarigen. Die wiederum im totalen Kontrast zu dem dunklen Hautton ihres Partners stand, den viele fälschlicherweise für einen Italiener hielten. Gerade deswegen hatte er sie damals auf den ersten Blick fasziniert. Hannes war ein gut aussehender, athletischer Mann. Seit etwas mehr als vier Jahren waren sie ein Paar und galten in ihrem Freundeskreis als das Traumpaar schlechthin. Insgeheim rümpfte sie die Nase darüber. Erneut drifteten ihre Gedanken ab. Sie wusste nicht, ob der Mann inzwischen eine Erklärung für die Verzögerung gegeben hatte. Reiß dich zusammen! Luft entwich zwischen ihren Lippen. Lautete nicht das Motto aller vergangenen Tage genau so? Wie oft hatte sie gehört, sie müsse die Zähne zusammenbeißen, sie müsse da durch, es gäbe keinen Weg daran vorbei? Den Text für die Trauerkarten formulieren, eine Druckerei beauftragen, sich für die Urnen entscheiden, den Baum für die Bestattung auswählen … und heute der Termin beim Nachlassgericht. Hannes und sie waren hier, weil es sein musste. Das Testament. Ihre Eltern, die auf so tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren … aus dem Leben gerissen. Hilflos ballte Anne die Fäuste, spürte den Druck ihres abgebrochenen Nagels, froh darum, überhaupt etwas zu fühlen.
»Nun denn …« Der Mann hatte bisher nichts weiter getan, als Blätter von einem Platz zum anderen zu legen. »Wie ich schon sagte, gibt es ein gewisses Problem und …«
»Das erwähnten Sie bereits, Herr Trescher«, fuhr ihm Hannes brüsk ins Wort. »Sie haben es bislang allerdings noch nicht für nötig befunden, uns darüber aufzuklären, worum es geht.«
Unverzüglich zuckte ihr Kopf zur Seite. Hannes gesamte Körperhaltung drückte aus, wie ungehalten er über die Verzögerung und diese seltsame Hinhaltetaktik war. Als würde Herr Trescher auf ein bestimmtes Ereignis warten, das nicht eintraf. Anne biss sich auf die Lippe. Wenn sie Hannes jetzt versuchte zu bremsen, würde er erst recht ausrasten. Das hatte sie zu ihrem Leidwesen bereits einige Male erleben müssen. Der unerwartete Jähzorn, der aus dem Nichts hochkochen konnte. Ein falsches Wort, und ihr Freund explodierte derartig, dass sie sich für ihn schämte. Leider schien er ihren Blick, der auf ihm ruhte, nicht wahrnehmen zu wollen, denn er starrte den Mann ihnen gegenüber unerbittlich ernst an.
Ja, das Warten, die seltsam kalte Atmosphäre des Gerichts, die ihr bewusst machte, dass sie lediglich ein Tagespunkt auf der Liste des Rechtspflegers waren, das alles wirkte auf Anne so, als wäre sie in einem falschen Film gelandet. Als ob dies alles nicht ihr gelten konnte. Sie glaubte sogar, die mitleidsvollen Blicke der Sekretärin durch die geschlossene Tür in ihrem Rücken zu spüren. Am liebsten würde sie den Stuhl, der für eine gewisse Kälte an ihren nackten Beinen sorgte, verlassen und sich vor das tief liegende Fenster stellen. Es zeigte einen Innenhof, in dem ein winziger Springbrunnen vor sich hinplätscherte, und der – wie Anne bereits beobachtet hatte – häufig von größtenteils beschäftigt wirkenden Angestellten überquert wurde.
»Die Lage ist ein wenig prekär, um es vorsichtig auszudrücken«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch, der Anne an ein Lehrerpult erinnerte. »Sie werden es gleich verstehen, ich hatte meine Gründe.«
Diese geheimnisvollen Andeutungen machten die Situation kein bisschen besser. Doch ausgerechnet in dem Moment wurde der Mann vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm er das Gespräch entgegen und lauschte.
»In Ordnung. Danke für die Mühe.«
Er legte auf und rieb sich die Hände, bevor er ein weiteres Mal die Papiere vor sich neu ordnete. Es war zum Aus-der-Haut-fahren. Inzwischen war selbst Annes Geduld an ihrem Endpunkt angelangt.
Sie deutete auf die Kladde, die mit Sicherheit das Testament ihres Vaters barg. »Bitte, können wir jetzt endlich beginnen?«
Was sollte es schon groß zu verlesen geben? Ihre Mutter wäre die Alleinerbin geworden. Unter den gegebenen Umständen würde jetzt sie, die Tochter, den Verlag erben. Davon ging Anne zumindest aus. Immerhin hatte sie auf Wunsch der Eltern den Beruf der Verlagskauffrau gelernt, hatte sich in den Betrieb eingearbeitet und war seit zwei Jahren, seit ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag, quasi die rechte Hand ihres Vaters gewesen. War, lautete das entscheidende Wort. Genau, wie sie einst Liz Schwester gewesen war. Die vor etwas mehr als einem Jahr an einer Überdosis gestorben war. Schon das war damals schwer genug zu verkraften gewesen. Ach, Lizzie, seufzte sie leise in sich hinein. Ich vermisse unsere Eltern. Erneut spürte sie das krampfartige Ziehen im Bauch, das seit Tagen kam und ging, das sie jedoch mit aller Gewalt ignorierte. Sie hatte bei Weitem andere Sorgen.
»Tja, wie ich bereits sagte, gibt es etwas, das Sie erfahren sollten. Wir sind unserer Pflicht als Nachlassgericht nachgegangen und haben keine Mühe gescheut, damit die Testamentseröffnung von Herrn Karl Nadler, seinerseits Inhaber des Verlages Nadler&CO, korrekt vonstattengeht.«
Just in diesem Moment spürte sie Hannes schwere Hand auf ihrem Knie und erstarrte kurzzeitig. Seine Hand fühlte sich wie ein Störfaktor an. Etwas, das sie längst hätte in Ordnung bringen müssen, aber nicht den Mut dafür gefunden hatte, oder auch die nötige Kraft. Immerhin war ihr Hannes seit dem Tod ihrer Eltern nicht von der Seite gewichen, kümmerte sich um den Verlag und hatte sie bei allen nötigen Schritten für die Beerdigung unterstützt. Sie selbst wirkte dagegen wie ein Schatten. Sie stand vollkommen neben sich, wollte noch immer nicht begreifen. Selbst jetzt nicht. Brav hatte sie unterschrieben, was immer man ihr vorgelegt hatte, hatte Kondolenzbekundungen entgegengenommen, die Traueranzeige in der Zeitung abgesegnet. Nur in der Einsamkeit der Nächte, wenn Hannes friedlich neben ihr lag und leise schnarchte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
»… kurz zusammengefasst«, der Rechtspfleger räusperte sich erneut und gab Anne dadurch die Gelegenheit, seine Stimme wieder wahrzunehmen. »Es gibt einen zweiten Erben, der im Testament Ihres Vaters bedacht wird.«
»Wer?« Hannes sprang wie eine Feder hoch. »Anne besitzt keine weiteren Familienangehörigen, davon wüssten wir! Oder ist es irgendein bedauernswerter Autor, dem er meint, noch etwas schuldig zu sein?« Ihr Freund raufte sich die kurzen Haare, die er morgens immer akribisch stylte.
»Anne, nun sag du doch auch mal was!« Er beugte sich über sie und rüttelte an ihrem Arm, als wäre sie ein kleines Kind, das man zur Vernunft bringen müsste.
»Bitte beruhigen Sie sich, Herr …«, der Notar sah kurz auf seine Notizen, »… Pilz. Sie können uns glauben, dass alles rechtens ist. Wir machen hier lediglich unsere Arbeit.«
Hannes schnaufte laut auf. Nur mit Mühe konnte ihm Anne ein müdes Lächeln schenken, aus Dankbarkeit, dass er sich an ihrer Stelle derart aufregte. Grund genug dafür hatte er ja. Immerhin hatte er sich zum Vertriebsleiter des Verlages hochgearbeitet. Mittlerweile identifizierte er sich mit dem Unternehmen, als hätte er es selbst aufgebaut. Auch sie hätte gute Gründe dazu, sich Sorgen über diese unerwartete Information zu machen. War ihr Erbe, ihre Lebensgrundlage in Gefahr? Der Mann hinter dem ordentlichen Schreibtisch mit dem dümmlichen Grinsen musste sich irren. Hannes hatte recht. Sie war jetzt Vollwaise und die Letzte aus der Familie Nadler. Sie runzelte die Stirn.
Geschäftig öffnete Herr Trescher die offiziell aussehende Kladde und nahm einen Briefumschlag heraus, dessen Siegel bereits eingerissen war.
»Leider ist es uns nicht gelungen, den Erben zu überzeugen, heute anwesend zu sein. Somit informiere ich Sie, Frau Nadler, darüber, dass das Erbe automatisch als angenommen gilt, sollten Sie nicht binnen sechs Wochen ein rechtskräftiges Schreiben vorlegen, in welchem Sie das Erbe ausschlagen. Dasselbe gilt für …«
»Ausschlagen, soll das ein Witz sein?«, unterbrach Hannes den Mann mit dröhnender Stimme.
»Dasselbe gilt für den zweiten Erben«, fuhr er unbeeindruckt in seinem monotonen Vortrag fort. »Des Weiteren können Sie innerhalb des Ablaufes von einem Jahr das Testament anfechten oder …«
»Das werden wir noch sehen!«
Anne nickte lahm, ihr fehlte es an der notwendigen Energie, die Hannes gerade aufbrachte.
Der Mann hüstelte gekünstelt. »Wie Sie meinen. Es ist lediglich meine Pflicht, Sie über Ihre Rechte aufzuklären.«
Als Hannes seine Hände auf die Tischplatte legte, erschrak Anne. Jetzt beugte er sich weit über den Schreibtisch und suchte den Blick ihres Gegenübers. »Was genau bekommt denn dieser ominöse Erbe? Wovon sprechen wir hier eigentlich?«
Auf diese Frage hätte sie auch selbst kommen können. Dennoch raubte ihr Hannes unverschämte Art beinahe den Atem. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie sich sicher war, alle im Raum Anwesenden müssten es schlagen hören.
Das Blatt Papier, eng beschrieben, sie erkannte die Handschrift ihres Vaters, zitterte leicht zwischen den Fingern des Mannes. Langsam führte er es vor seine Augen. Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie blutleer wurden.
Herr Trescher las stumm, ehe er zu ihnen aufsah. »Nun, so wie es aussieht, erbt Duncan McRohan die Hälfte des Verlages. So steht es hier geschrieben.«
»So ein Erbe taucht doch nicht einfach aus dem Nichts auf! Und dazu noch aus Schottland! Ich habe deine Eltern noch nie über Schottland reden hören, du etwa? Das ist ein einziger Albtraum! Was hat sich dein Vater nur dabei gedacht?«
Mit jeder Stufe, die sie die Treppe des tristen Gerichtsbaus nach unten gingen, redete sich Hannes immer mehr in Rage. Er würde erst Ruhe geben, wenn sie ihm recht gab und im besten Fall ebenfalls über den Rechtspfleger schimpfte, der am Ende angesichts des unerwarteten Wutausbruchs von Hannes und ihres hartnäckigen Schweigens nur noch ein mühsames Stammeln herausgebracht hatte. Doch sie weigerte sich. Sie weigerte sich, überhaupt etwas zu sagen. Was die Sache natürlich nur noch schlimmer machte.
»Kannst du bitte auch mal deinen Senf dazu geben, Anne? Ich meine, es geht hier nicht um irgendwelche Peanuts. Es geht um unsere Existenzgrundlage, die gerade den Bach runtergeht! Warum hat es dir die Sprache verschlagen?«
Ihr Magen bestand nur noch aus einem einzigen Klumpen. War das nicht Antwort genug? Ihr ging gerade jede Menge durch den Kopf. Angefangen davon, dass sie sich betrogen fühlte. Nicht um ihr Erbe, sondern um ein Geheimnis, das ihre Eltern ihr vorenthalten hatte. Dieser Schotte war anscheinend ein Verwandter von ihr. Ein wildfremder Mann, der in ihrem Leben plötzlich eine Rolle spielte. So nach dem Prinzip, ach übrigens, wir haben ganz vergessen, dir von Duncan zu erzählen. Nein, sie wollte nicht weiter daran denken, geschweige denn darüber reden. Was Hannes in seinem Aufruhr aber schlicht nicht begriff.
»Hm«, sagte sie. Mehr nicht. Geradewegs so, als müsste sie erst ihre Stimmbänder testen.
»Was hm? Was, Anne, nun sag schon, was sollen wir jetzt machen?«
Wir? Auch dazu schwirrten ihr allerlei Gedanken durch den Kopf, irgendwo hinter ihrer Stirn. Allerdings ließ sich keiner wirklich fassen. Dazu war die Ungeheuerlichkeit des Gehörten zu groß. Nur so viel war ihr klar: Das alles betraf zunächst sie ganz allein. Sie hatte auf einen Schlag beide Eltern verloren. Sie hatte plötzlich die Nachricht von einem unbekannten Erben aus Schottland erhalten. Und sie musste damit klar kommen.
Mit eiligen Schritten trat sie auf den Gehweg, nachdem sie die schwere Tür aufgedrückt hatte. Was sie jetzt brauchte, war frische Luft. Plötzlich hatte sie das Gefühl zu ersticken. An millionenfachen Fragen. Eigentlich nur an einer: Warum, Papa?
Aufgelöst lief sie zum Parkplatz, wühlte dabei in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Zum Glück waren sie mit ihrem Renault gekommen. Den fuhr nur sie. Hannes weigerte sich standhaft, hinter dem Steuer einer so erbärmlichen Schrottkiste zu sitzen. Bunny, so hatte sie den weißen Franzosen liebevoll getauft. Lächerlich, stellte Hannes immer wieder aufs Neue klar, während er seine Augen verdrehte. Heute früh hatte sie es sich nicht nehmen lassen, damit in die Stadt zu fahren. Das Auto hatte sie von ihren Eltern zum Abschluss der Ausbildung geschenkt bekommen. Kein Wunder also, dass sie daran hing. So wie andere an ihrem Hund oder dem Garten.
Wie üblich schnaufte Hannes beim Einsteigen. »Lass uns bei dir weiterreden.«
Überrascht sah sie zu ihm auf, als sie am Steuer Platz nahm. Er schien sich wieder halbwegs beruhigt zu haben. Oder beherrschte sich um ihretwillen. Nichts hasste sie mehr als Gespräche beim Autofahren. Genauso wie das Radio im Hintergrund.
»Später«, antwortete sie. »Erst will ich an den See.«
Der Gedanke war ihr im Moment seines Aussprechens gekommen. Eigentlich hatte sie geplant, nach dem Gericht direkt zum Friedhof zu fahren, weil sie es für angebracht hielt. Um ihren Eltern auf diese Weise nahe zu sein. Sie konnte sich bereits vor der Birke inmitten der Baumreihen stehen sehen, auf den Stein im Boden starrend und sie anflehend. Was habt ihr euch nur dabei gedacht? Was soll ich jetzt tun? Stattdessen fuhr sie mit quietschenden Reifen aus der Parklücke. Raus aus der Stadt. Ihre Lippen fest aufeinandergepresst. Sie musste sich zusammenreißen, um sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Sie sagte nicht einmal etwas, als Hannes seine Playlist aufrief. Keith Jarrett Live in concert. Eigentlich eine ihrer liebsten Aufnahmen. Ein tiefer Atemzug und die Aussicht auf den See halfen ihr.
Unter der Woche war der Parkplatz wie leer gefegt. Anne stieg aus. Sie wartete nicht einmal ab, ob Hannes ihr folgte. Sie musste atmen, den leichten Wind im Gesicht spüren, sehen, dass die Wellen noch immer sanft gegen das Ufer plätscherten. Die Enten sich mit Vergnügen darauf schaukeln ließen. Dass die Sonne wie gewohnt gegen Mittag hoch am Horizont stand. Dass alles wie immer war. Nur, dass für sie nichts mehr so sein würde wie zuvor. Ein gewaltiger Schlund hatte sich vor ihr aufgetan. Sie stand an dessen Abgrund und wusste nicht, welche Geheimnisse dort in der Tiefe noch verborgen lagen.
Langsam zog sie die feingliedrige Kette mit dem ungewöhnlichen, verknoteten Kreuz aus der Tasche. Das Erbstück, das sie eben erst ausgehändigt bekommen hatte. Hiermit verfüge ich, dass Duncan McRohan … um ein altes Unrecht wieder gut zu machen …, so in der Art hatte die Verfügung ihres Vaters gelautet. Nachdenklich wog sie die Kette in der Hand und betrachtete das breite Kreuz, in dessen Mitte ein weißer Stein eingearbeitet war. Sie spürte den silbernen Gliedern nach, von denen sie nicht wusste, ob diese wertvoll waren. Welches Unrecht hatte ihr Vater im Sinn gehabt, dass er es explizit in seinem Testament festgehalten hatte, und wie hing der unbekannte Erbe damit zusammen? Tief in ihrem Innern ahnte sie, dass es im Leben ihrer Eltern etwas gab, das so groß gewesen sein musste, dass sie es vor ihr verborgen gehalten hatten. Aber warum? Oder hätten sie es ihr irgendwann vielleicht erzählt? Nur, dass es dafür nun zu spät war. Sie hatten das Geheimnis mit ins Grab genommen, und ihr damit jede Menge Fragen aufgebürdet, von denen sie nicht wusste, ob sie diese beantwortet haben wollte.
Wer bist du, Fremder in Schottland?
»Nun sag schon, was denkst du?« Hannes war an ihrer Seite aufgetaucht. Seine Stimme klang ungeduldig und anklagend.
Sie warf ihm einen stummen Blick zu. Wie verbittert er aussah. Wie sehr musste ihn die Tatsache treffen, dass er sich seit Jahren mit all seinem Können in den Verlag eingebracht hatte, nur, um zu erfahren, dass ein Unbekannter jetzt die Früchte seiner Arbeit ernten würde. Ich verstehe dich, wollte sie ihm durch ihren Blick sagen.
Noch einmal holte sie tief Luft.
»Vielleicht sollten wir die Sache einfach auf sich beruhen lassen. Vielleicht wird gar nichts geschehen und wir machen im Verlag einfach weiter wie bisher.«
»Das funktioniert nie im Leben!«, schnaubte er zur Antwort. »Irgendwann steht dieser Kerl vor unserer Tür und hält die Hand auf! Wer ist er überhaupt? Und wer hat ihm unrecht getan? Lass ihn ein armer Schlucker sein, dann zwingt er uns womöglich, zu verkaufen. Nie im Leben können wir ihm seine Hälfte auszahlen!«
»Die Tatsache, dass er nicht zur Testamentseröffnung gekommen ist, bedeutet vielleicht, dass er kein Interesse an dem Erbe hat.« Sie bückte sich nach einem Stein am Ufer und warf ihn ins Wasser. Die kurze Unruhe, die an dem Punkt seines Auftreffens entstand, erzeugte in ihr nur eine eigene Unruhe.
Was hast du mit meiner Familie zu tun, Duncan McRohan?
»Sechs Wochen, in denen kann verdammt viel passieren. Es gibt Fristen, das hast du doch gehört, oder?«
Nachdenklich drehte Anne die Kette um und stutzte. Zwei Namen waren darauf zu erkennen, in verschnörkelter Schrift und nur schwach lesbar. Dennoch war es der einzige Hinweis auf eine Verbindung zwischen ihrem Vater und dem unbekannten Erben. Zwei Namen, eingraviert auf je einer Seite des Kreuzes: Davina und Franz.
Sie runzelte die Stirn. Kühl lag das Silber in ihrer Handfläche.
Plötzlich wurde es ihr weggerissen. »Was gibt es da zu sehen?«
Jetzt, da es nicht mehr in ihrer Hand lag, erfasste Anne eine undefinierbare Traurigkeit.
»Davina und Franz!« Hannes hob das Kreuz näher vor sein Gesicht. »Und hier steht noch ein Datum«, er sah zu ihr, ehe er weitersprach: »1882. Ziemlich alt, was?«
»Ja.« Anne nickte. »Allerdings habe ich keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.«
»Es muss nichts bedeuten, Schatz. Vielleicht ist es bloß ein altes Schmuckstück, das deinem Vater durch Zufall in die Hände geraten ist. Vielleicht ist es auch wertvoll und so eine Art Rückversicherung für den Verlag. Das würde Sinn machen, wenn es zum Schlimmsten käme. Am besten, wir lassen es gleich morgen von einem Juwelier schätzen.«
»Wohl eher von einem Antiquitätenhändler, so alt, wie es ist«, erwiderte Anne, lachte bitter auf und wandte sich wieder dem See zu.
Die Sonne schickte sich an, ihre Strahlen auf das Wasser zu lenken, sodass es glitzerte, als wäre es mit Diamanten besprengt, oder kleinen Sternen, die hell vor sich hin flackerten. Erst jetzt gelang es Anne, einen tiefen Atemzug zu nehmen und sich zu sagen, dass es für alles eine Lösung gab. Auch für das Problem mit einem Erben, der irgendwo in Schottland lebte und ein Anrecht auf die Hälfte des Vermögens ihrer Eltern hatte. Ihres Vermögens.
»Komm«, sagte sie leise. »Lass uns um den See gehen. Es ist viel zu schön hier draußen, um gleich wieder ins Büro zurückzukehren.«
DUNCAN
Fort William, am nächsten Tag
Die Szene wehrte sich vehement dagegen, zu Papier gebracht zu werden. Duncan massierte sich seinen verkrampften Nacken. Daran, dass er mit seinem Manuskript nicht weiterkam, war einzig und allein dieser Brief aus Deutschland schuld. Er hätte ihn gleich von seinem Schreibtisch verbannen sollen. Besser noch, ihn in den Mülleimer werfen. Was sollte er mit dem Erbe von einem Verlag anfangen, von dessen Besitzer er noch nie gehört hatte?
Jetzt war es dafür sowieso zu spät.
Ausgerechnet heute früh schien Muriel entschieden zu haben, ihn bereits vor dem vollen Sechs-Uhr-Läuten zu beehren. Frisch wie das blühende Leben kam sie genau in dem Moment in sein Arbeitszimmer gerauscht, als er die Zeilen ein weiteres Mal nachdenklich überflog. Ertappt ließ er den Brief fallen und bedeckte ihn mit einer Hand.
»Was hast du denn da, Bruderherz? Versteckst du etwas vor mir?«
»Schon mal etwas von Anklopfen gehört?«
Es verstand sich von selbst, dass Muriel so etwas für überflüssig hielt. Egal, wie oft er seine drei Jahre ältere Schwester darum bat, Rücksicht auf seine kreativen Phasen zu nehmen, sie wischte sie mit ihrer ganz eigenen Form der Fürsorge beiseite.
»Und überhaupt, hast du etwa wieder die ganze Nacht durchgeschrieben?«
Mit energischem Schritt ging sie auf das kleine Fenster zu, und riss die Vorhänge auf.
»Die Luft hier drin ist vollkommen abgestanden, mein Lieber. Wie oft habe ich dir gesagt, du musst für ausreichend Sauerstoff sorgen, damit dein Hirn arbeiten kann.«
Ein Knirschen ließ erkennen, dass sie das Fenster entriegelte, ohne sein Einverständnis einzuholen. Wozu auch, Muriel tat sowieso, was sie wollte. Gestern Nachmittag war sie wie immer ungefragt bei ihm im Cottage aufgekreuzt und hatte seinen Schreibrhythmus durcheinandergebracht, indem sie darauf beharrte, ihn in den Pub ausführen zu wollen. Angeblich nur zu seinem Wohl. Wenn ich nicht wäre, würdest du sogar das Essen vergessen, hatte sie behauptet und damit nicht ganz unrecht gehabt. Was er natürlich nie zugeben würde. Ein Blick in den so gut wie leeren Kühlschrank genügte Muriel, um zu erkennen, wie gut sie daran tat, die Fahrt von Edinburgh nach Fort Williams nach Feierabend auf sich zu nehmen. Ob er sie damit ärgern wolle, er solle sich nicht derart gehen lassen, warum er nicht einmal ein halbwegs frisches Bannock da hätte … in dieser Art las sie ihm die Leviten, wie es nur große Schwestern können.
Seit dreizehn Jahren waren ihre Eltern nun schon tot. Kurz zuvor hatten sie noch auf seinen fünfzehnten Geburtstag angestoßen. Gefeiert hatte er mit ein paar Kumpels beim Bowlen. Seit jenem Tag, als man ihnen mitgeteilt hatte, dass es ein schreckliches Flugzeugunglück über dem Indischen Ozean gegeben hatte, fühlte sich seine Schwester für ihn verantwortlich. Damals war sie gerade erst achtzehn gewesen. Und bis heute hatte Muriel nicht damit aufgehört, regelmäßig nach ihm, dem kleinen Bruder, zu sehen, ihn zu bemuttern wie am ersten Tag ihres schrecklichen Verlustes. Ihre Eltern hatten die erste Fernreise anlässlich ihres zwanzigsten Hochzeitstages angetreten. Keine vierundzwanzig Stunden später waren sie gestorben.
»Also …« Muriel musterte ihn durch ihre auffällig große Brille, eine Strähne des langen, hellbraunen Haares war ihr aus dem Zopfgummi gerutscht. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
»Nein«, erwiderte er vielleicht eine Spur zu schnell. »Außer, dass ich dank dir die halbe Nacht an der Szene mit dem Auftauchen des Black Shuck an der schottischen Küste zu kämpfen hatte.« Sein schwarzer Hund mit den leuchtenden Augen hatte sich gerade ein Opfer auf einem Friedhof auserwählt und die Szene bedurfte einer entsprechend spannungsgeladenen Stimmung, die ihm noch nicht zu seiner Zufriedenheit gelingen wollte. Nichtsdestotrotz bemühte sich Duncan um einen entspannten Gesichtsausdruck und ließ den Brief genau in dem Moment unter dem Manuskriptstapel verschwinden, als sich Muriel naserümpfend über die Vielzahl an halb ausgetrunkenen Teetassen beugte.
»Das habe ich gesehen«, erklang ihre anklagende Stimme, ehe sie sich zu ihrer imponierenden Größe von einseinundachtzig vor dem Schreibtisch aufrichtete und ihn finster anstarrte.
Frustriert gab Duncan dem Bürostuhl einen Schubs, sodass er mehr Abstand als nur den Tisch zwischen sich und Muriel brachte. »Ist nur ein weiterer Fanbrief«, sagte er lapidar und betete darum, dass sie es damit auf sich beruhen ließ.
»Kein besonders netter, wenn ich deine Miene richtig deute, lass mal sehen«, sagte sie und fischte schneller, als er zurück zu dem massiven Möbel gerollt war, an dem bereits seine Großmutter gesessen und entflammende Reden verfasst hatte, nach dem Stück zerknitterten Papier, dessen Ecke zu seinem Leidwesen aus dem Stapel herausschaute.
»Woher kommt der Brief? Die Briefmarke sieht …«
»Gib her, es existiert so was wie ein Postgeheimnis, Muriel!«
Sie spitzte den Mund und sah ihn durch die Brille schräg an. »Ach, auf einmal? Ist es etwa ein Liebesbrief?« Siegessicher wedelte seine Schwester mit dem Brief vor seiner Nase herum.
Duncan stöhnte auf, was sie zu einem »Ha, wusste ich’s doch« veranlasste. Er kannte Muriel zur Genüge. Sie würde nicht eher Ruhe geben, bis sie den Brief lesen durfte.
»Dann bitte, lies ihn! Aber lass mich endlich in Ruhe weiterarbeiten.« Um seinen Wunsch zu verdeutlichen, steckte er die Nase sofort tief in den Bildschirm seines Laptops, der sich mittlerweile bereits in den Ruhemodus begeben hatte. Zufrieden registrierte er, dass sie wirklich das Zimmer verließ, den Brief wie eine Trophäe fest an ihre Brust gedrückt. Muriel liebte es, seine Fanpost zu lesen. Manchmal hatten sie sich einen Spaß daraus gemacht, dass er ihr die Antwortschreiben überließ. Nicht, dass Duncan jeden Brief beantwortete. Irgendwer in seiner Literaturagentur nahm ihm die Vorarbeit ab, indem man ihm nur die wirklich relevanten Briefe zur Beantwortung zukommen ließ. Alle anderen wurden von irgendwelchen Praktikanten mit einer Standardantwort versehen oder landeten gleich im Schredder.
Es dauerte nicht einmal eine halbe Minute – er hatte gerade einen Satz umformuliert – da hörte er einen Aufschrei.
»Wir müssen reden, Bruderherz!«
»Müssen wir nicht«, gab er gereizt von sich.
»Und ob. Oder was bitte schön gedenkst du deswegen zu unternehmen?«
Gemeint war natürlich der Brief und Duncan war sofort klar, was Muriel vorhatte: Einen Thing abhalten. Bei dieser Art Familienrat diskutierten seine Schwester und er üblicherweise so lange, bis sie zu einem einhelligen Entschluss kamen. Erfahrungsgemäß hakten sie dabei ihre Probleme schnell ab, in manchen Fällen konnte ein Thing aber auch mehrere Tage dauern. Schon ihre Eltern hatten derartige Zusammenkünfte abgehalten und sie als Kinder mit einbezogen, ganz nach dem Motto Familienprobleme klärte man innerhalb der Familie. Darum hielten er und seine Schwester an dieser Tradition weiterhin fest. Weil ihre Eltern dann in irgendeiner Weise präsent waren. Weil es ihnen ein vertrautes Gefühl gab, als würden sie von ihnen weiterhin durch ihre Entscheidungen gelotst. Insbesondere in den ersten Jahren, als der Verlust noch sehr frisch und sie beide viel zu jung gewesen waren, um als Waisen mit ihrem Leben wirklich klarzukommen, hatten sie sich daran festgehalten. Statt ihren Grandpa, Tanten und Onkel um Rat oder Hilfe zu bitten, hatte die achtzehnjährige Muriel damals entschieden, dass ein Thing genau das Richtige wäre, wenn sie nicht weiterwussten. Auf diese Weise hatten sie gemeinsam beschlossen, dass Muriel in St. Andrews ihr Geschichtsstudium aufnehmen und dennoch mit ihm zusammen im Elternhaus in Edinburgh wohnen würde, genauso wie seine Schwester ihn angetrieben hatte, ein Stipendium für Creative Writing an der Universität in Edinburgh zu ergattern. Dies und viele weitere Entscheidungen hatten sie gemeinsam getroffen.
Seit die Erbsache im wahrsten Sinne des Wortes bei ihm auf dem Tisch lag, hatte er diese gezielt verdrängt. Der Moment war schlicht unpassend, so kurz vor seiner aktuellen Manuskriptabgabe. Außerdem hatte er Sorge gehabt, Muriel könnte sich ausgeschlossen fühlen. Schließlich wurde nur er als McRohan in diesem Testament bedacht.
»Du kannst mir nicht einfach einen Brief von einem Gericht aus Deutschland verschweigen, in welchem du jede Menge Geld und einen Anteil an einem Verlag erben sollst! Was hast du dir nur dabei gedacht, Duncan?«
»Ich muss dieses verflixte Manuskript bis Ende des Monats fertig haben.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe wirklich gerade keine Zeit, mich damit auseinanderzusetzen.«
»Aber ich!« Muriel hielt die Hand mit besagtem Brief anklagend in die Höhe. »Du hättest mich fragen können! Auch wenn ich keine gebürtige McRohan bin, sondern adoptiert, kann ich mich doch darum kümmern. Ein Anruf beim Gericht hätte wahrscheinlich genügt, um alles zu klären.«
»Die Sekretärin ist mir auf die Nerven gegangen«, brummte er mürrisch. »Sie hat zigmal angerufen und gefragt, ob ich zu dem Termin nach München komme. Jedes Mal habe ich dankend abgelehnt, aber sie wollte einfach nichts kapieren.«
»Und du, lieber Bruder, hast anscheinend nicht kapiert, dass du dabei bist, ein großzügiges Erbe auszuschlagen.«
»Ich brauche das Geld nicht.«
Natürlich bemerkte er, wie seine Schwester die Stirn runzelte und nachdachte. Mit Sicherheit suchte sie nach dem schlagenden Argument, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Als schottischer Bestsellerautor hatte er es allerdings nicht nötig, das Geld Fremder anzunehmen. Und fremd war Duncan nicht nur der Name des Verstorbenen, sondern auch des Verlages: Nadler&CO. Er hatte noch nie von ihm gehört.
»Hast du …«, Muriel kam um den Schreibtisch herum und lehnte sich mit dem Hintern gegen die Kante. »… eine Ahnung wer dieser Nadler ist?«
Sein Kopfschütteln quittierte sie mit einem Schnauben, während sie ihr Handy aus der beigen Wollstrickjacke fischte. »Das haben wir gleich«, murmelte sie und scrollte über das Display. »Hier, ich habe mir deren Webseite übersetzen lassen. Verlag Nadler, ein deutsches Verlagsunternehmen mit langer Tradition. Sie veröffentlichen anspruchsvolle, hauptsächlich deutsche Literatur. Hm …« Sie arbeitete sich offensichtlich durch das Buchprogramm. »Ein paar Literaturpreise sind auch dabei. Gar nicht so schlecht, aber sie spielen eben nicht in der ganz großen Liga mit.«
»Okay. Was willst du mir damit sagen?«
»Dass du …«, seine Schwester bohrte ihm den Finger in die Brust, »ein Idiot bist, weil die Testamentseröffnung gestern gewesen ist. Und dass du vorher mit mir hättest reden müssen. Du weißt schon, alle Entscheidungen gemeinsam treffen, war das nicht so, Bruderherz?«
»Du hast ja recht. Ich war nicht ganz bei der Sache, wegen dem hier.« Er wies auf das Sideboard an der Wand, auf welchem der komplexe Aufbau für sein Worldbuilding des neuen Fantasyromans festgehalten war. Sobald er in die erdachten Welten eintauchte, um zu schreiben, wurde nun mal alles um ihn herum unwichtig. Da konnte es tatsächlich passieren, dass er nicht einmal mehr Anrufe entgegennahm. Was seine Schwester und seine Agentin weiß Gott schon oft zur Weißglut getrieben hatte.
»Aber ein Erbe kann man ausschlagen, das habe ich immerhin recherchiert. Und das habe ich auch dieser nervigen Sekretärin gesagt.«
»Du bist komplett verrückt, sorry, wenn ich das wieder einmal sagen muss, Duncan.«
»Aber du liebst mich trotzdem?« Er warf seiner Schwester einen treuen Dackelblick zu. Einen von der Art, bei der Muriel klar sein musste, dass sie nicht wirklich lange auf ihn sauer oder wütend sein konnte. So lief es immer zwischen ihnen ab. Er kehrte den kleinen Bruder raus, der Fehler machte, sie die große Schwester, die ihm natürlich verzieh, weil sie sich immer noch für ihn verantwortlich fühlte. Manchmal nervte das gewaltig, aber in anderen Momenten tat es einfach gut, dass Muriel derart präsent in seinem Leben war. Sein Cottage in Fort William, es war sein Ort der Inspiration, aber auch seine Zuflucht vor dem Leben und den Menschen. Die er mied, so oft es möglich war. Selbst, wenn man ihn dafür für seltsam hielt, oder auch für einen exzentrischen Schriftsteller. Er konnte damit leben, denn er brauchte das Schreiben wie andere die Luft zum Atmen. Es war seine Leidenschaft, zugleich so etwas wie eine Form der Therapie, um sein großes Trauma von Verlust zu verarbeiten. Tatsächlich war es das erste und einzige Mal gewesen, dass sich sein Grandpa in sein Leben eingemischt hatte, als er ihm nach dem tragischen Tod seiner Eltern das Arbeitszimmer eingerichtet, Stift und Papier auf den Tisch gelegt und zu ihm gesagt hatte: »Schreib es dir von der Seele, mein Junge.« Was er bis heute tat.
ANNE
In einer Art fiebrigen Zustands starrte Anne in den offenen Schrank, in dem die Geschäftsbücher der vergangenen Jahre in Reih und Glied in den Regalen standen. Jedes Einzelne würde von einem erfolgreichen Verlagsunternehmen erzählen. Sollte sie sich endlich dazu überwinden, diese herauszuholen? Nur, wozu? Was genau hatte sie in das Büro ihres Vaters getrieben? Die Suche nach Antworten?
Unerbittlich hämmerten die Fragen seit gestern in ihrem Kopf, hatten sie vergangene Nacht kaum zur Ruhe kommen, geschweige denn an Schlaf denken lassen. Stattdessen hatte sie sich unruhig im Bett hin und her gewälzt. Solange, bis sie es schließlich irgendwann zwischen dem ersten Zwitschern der Vögel und den letzten Nachtschwärmern, die gerade erst in ihre Betten schlüpfen würden, aufgegeben hatte. Bepackt mit der Kuscheldecke, die über dem Sessel hing, einem Lieblingsbuch aus dem Verlagsprogramm ihres Vaters und einer Tüte Bonbons war sie auf dem Sofa im Wohnzimmer gelandet. Ein gebraucht gekaufter Dreisitzer aus rotem Cordstoff, an den Sitzflächen bereits leicht abgewetzt. Nach kurzer Zeit war die Tüte fast leer gewesen. Pfefferminze in Kombination mit dunkler Schokolade bildete für Anne schon immer ein echtes Suchtmittel. Mit Pfefferminzgeschmack im Mund, dicken Socken, in denen ihre Füße förmlich dampften, und keiner einzigen Antwort war sie gegen halb zehn aufgewacht. Hannes hatte sich von seiner zuvorkommenden Seite gezeigt und sie nicht geweckt. Mit Sicherheit hatte er eins und eins zusammenzählen können und geahnt, dass mit ihr an diesem Morgen nicht viel anzufangen war. Nicht nach der Bombe, die der Rechtspfleger am vergangenen Tag hatte platzen lassen. Dafür hatte er ihr einen kurzen Gruß mit einem aufmunternden Smiley auf dem Glastisch zurückgelassen:
Wir schaffen das gemeinsam :=)
Versonnen ließ Anne die Finger über die Geschäftsbücher gleiten. Hannes Geste war rührend, keine Frage. Trotzdem bedeutete sie ihr nichts. Nicht mehr. Was Anne wiederum Sorgen bereitete. Wie hatte es so weit kommen können? Hatten sie nicht erst im März auf ihr Vierjähriges angestoßen?
Ihre Eltern hatten Hannes von Anfang an gemocht, ihn im kleinen Kreis ihrer Familie aufgenommen ohne Wenn und Aber. Damals hatte sie darüber gejubelt. Ihr Leben mit Hannes schien perfekt zu sein. Ihre Familie war glücklich und sie war es auch. Sie hatte es ihren Eltern hoch angerechnet, mit welcher Offenheit sie ihrem Freund von Anfang an begegnet waren. Dabei war für diese der Schritt eine Selbstverständlichkeit gewesen. Jetzt, wo Hannes zur Familie gehört, Anne hatte die Worte ihrer Mutter noch genau im Ohr, als wäre es gestern gewesen. Seinem Ehrgeiz verdankte er es schließlich, dass er sogar in den Verlag hatte einsteigen können. Entgegen aller Munkeleien seitens der Mitarbeiter, er würde aus nahe liegenden Gründen bevorzugt, hatte er die Verkaufszahlen sichtlich hochgeschraubt und neue Vertriebsideen mit eingebracht, die am Ende von allen beklatscht worden waren. Innovativ und modern. Auch Anne schätzte es bis heute, dass sie mit ihrem Partner im Rücken für mutige Entscheidungen einstehen konnte. Schnell hatte sich Hannes im Verlag nach oben gearbeitet. Vom einfachen Verlagsmitarbeiter zum Abteilungsleiter im Sektor Sachbücher, später Controller für alle betriebswirtschaftlichen Bereiche. Längst war ihr Lebensgefährte in sämtliche Abläufe im Verlag involviert, sodass er Anne im Tagesgeschehen problemlos vertreten konnte. Mittlerweile arbeitete er über drei Jahre Seite an Seite mit ihr im elterlichen Unternehmen.
Anne fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Noch immer hielt sie etwas davon ab, die heiligen Bücher ihres Vaters anzusehen. Seine persönliche Hinterlassenschaft. Sie wusste, dass sie dort auf seine winzigen Kritzeleien stoßen würde. Gedanken, die ihm während eines Telefonates gekommen waren. Zahlen, die er eingekreist und mit Ausrufezeichen versehen hatte. Ihr Herz klopfte laut. Als sie eines der Bücher ein Stück herauszog, kam es ihr so vor, als beobachtete sie sich selbst dabei. Sie war Anne Nadler, Tochter von Antonia und Louis Nadler, seit Kurzem Vollwaise, Freundin von Hannes Pilz und seelisches Wrack angesichts der Tatsache, dass die Grundlage, auf der sie ihre Zukunft aufgebaut hatte, plötzlich zu wackeln begann. Nicht wie bei einem Erdbeben. Eher mit stetigen Erschütterungen, die alle zusammen genommen durchaus dazu in der Lage waren, ihr den Boden unter den Füßen wegzureißen.
Gedankenversunken ließ sie ihren Blick durch das Büro schweifen. Alles darin erinnerte sie an ihren Vater. An die freundlichen Augen, die unvermittelt hinter den knisternden Seiten eines Buches hervorblitzen konnten. An seine wohlwollende Stimme, die etwas vom Brummen eines Teddybären hatte. An die Druckerschwärze an seinen Fingern, die nie ganz verschwand, nicht einmal an Sonntagen. Wie viele Kindheitserinnerungen in diesem Raum steckten! Sie sah sich als Fünfjährige, wie sie sich in den alten Ledersessel kuschelte, ein Buch fest an sich gedrückt, und sich geweigert hatte, in den Kindergarten zu gehen. Oder mit acht Jahren, als ihr Vater Anne auf ihr hartnäckiges Drängen hin endlich gezeigt hatte, wie die Buchstaben auf eine Buchseite gelangen konnten. Ach, Papa. In eben diesem Moment kam es ihr so vor, als hätte ihr Vater gerade erst das Büro verlassen. Der schwache Hauch seines Aftershaves hing noch immer in der Luft. Für Annes Verhältnisse war es immer eine Spur zu billig gewesen. Billig in dem Sinn, dass sie genügend andere Männer kannte, die sich in eine Wolke von Davidoff oder Yves Saint Laurent einhüllten und glaubten, damit bedeutungsvoller zu wirken. Das zumindest hatte ihr Vater nicht nötig gehabt. Über die Jahre hatte er sich einen guten Namen in der Verlagswelt geschaffen, zahlreiche Autoren aufgespürt, die als wahre Entdeckung in der Literatur galten, und was dazu kam, für Anne war er ein Held gewesen. Ihr persönlicher Held.
Automatisch fiel ihr Blick auf die zahlreichen Urkunden, die an den Wänden hingen. Auszeichnungen vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Literaturpreise, die mit Büchern aus ihrem Programm gewonnen worden waren. Die dunklen Holzregale, die vom Fußboden bis an die Decke reichten, quollen über vor Büchern. Unwillkürlich musste Anne den Kopf schütteln. Ihr Vater hatte nicht viel von Ordnung gehalten. Zumindest keiner offensichtlichen. Jedes Mal, wenn sie ihm vorgeschlagen hatte, die Bücher nach Autorenalphabet oder nach Genre zu sortieren, hatte er energisch abgewinkt. Lass mal, Schnecke hatte er dann liebevoll zu ihr gesagt, noch finde ich jedes Buch, das System steckt in meinem Kopf.
Tja, jetzt würde sie damit ihre Mühe haben. Allerdings wollte sich Anne darüber gerade keine Gedanken machen. Daran und an all die Aufräumaktionen, die in diesem Büro und in der elterlichen Wohnung auf sie warteten. Sie war aus einem vollkommen anderen Grund hierhergekommen. Irgendwo, so sagte sie sich – und augenblicklich beschleunigte sich ihr Puls – würde sie auf eine Spur stoßen müssen. Ein Name auf einem Stück Papier. Ein erklärender Brief. Irgendetwas, das Antwort auf die Frage geben könnte, warum sie nie zuvor von Verwandten in Schottland gehört hatte.
Duncan McRohan, wo verbirgst du dich?
»Hierhin hat es dich also verschlagen!«
Anne zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Hannes in der Tür stand. Er betrat das Büro und kam mit energischen Schritten auf sie zu.
»Was machst du denn da, Schatz?«
Sah er das nicht? Der geöffnete Schrank sprach schließlich für sich.
»Ich … keine Ahnung … irgendwo muss ich doch mit der Suche anfangen.« Anne wies vage vor sich. »Das verstehst du sicher.«
»Nein«, kam es ein wenig schroff als Antwort. »In den Geschäftsbüchern wirst du bestimmt nicht viel über diesen McRohan finden. Aber im Internet dafür umso mehr.«
»Wie jetzt?« Überrascht hob sie den Kopf.
»Wir hätten gleich darauf kommen müssen. Er ist Autor, Anne! Und in Schottland wohl kein Unbekannter!«
»Nicht dein Ernst!«
»Ich fürchte doch, Schatz. Das hat dein Vater prima eingefädelt.«
»Aber …« Sie weigerte sich, einen derartigen Gedanken zuzulassen. »Das kann doch auch einfach Zufall sein.«
Spöttisch lachte Hannes auf. »Zufall? Weißt du, was das für uns bedeutet? Sieh mal …« Er riss das Handy aus der Hosentasche und suchte nach etwas. »… hier, seine Webseite! Duncan McRohan, Autor von Fantasyliteratur. Angeblich sogar über die Grenzen Schottlands bekannt und Verfasser von mehreren Bestsellern. Ich bitte dich, Anne, der wird den Verlag mit Sicherheit doch nur ausquetschen wollen und sich einen Dreck darum kümmern, dass wir einen Familienbetrieb mit Tradition führen!«
Er sieht … gut aus, war das Erste, was Anne in den Sinn kam, als sie Hannes das Handy aus der Hand nahm. Ein markantes Gesicht, das Kinn eher spitz zulaufend, minimaler Bartansatz und dazu rotblondes Haar, allerdings nicht so kraftvoll wie ihr eigenes. Schnell ließ sie den Blick über seine Veröffentlichungen fliegen, Fantasy in der Art eines Patrick Rothfuss oder sogar R.R. Martin, zumindest versprachen die Cover derartiges. Aufgeregt rief sie im Menü seine Biografie auf. Warum war sie noch nie auf die Bücher dieses Mannes gestoßen?
»Hier steht nichts drin, das uns weiterbringt. Keine Verbindung nach Deutschland. Nicht einmal ein Deutschlandaufenthalt wird erwähnt.« Sie seufzte leise.
»Die Verbindung kann uns reichlich egal sein. Fakt ist, er ist mit deiner Familie verwandt, und Fakt ist auch, dass er uns das Leben verflucht schwer machen kann.«
»Der Mann ist berühmt, Hannes, wenn es stimmt, was hier steht. Was soll er schon von unserem Verlag wollen? Das hat er gar nicht nötig.«
»Berühmt, pah!«, schnaubte er zur Antwort. »Ich bitte dich, er verdient sein Geld mit Fantasyromanen!«
»Ja, und? Ist doch egal.«
»F a n t a s y, Anne!« Aus Hannes Mund klang das Wort, als würde er sich regelrecht daran verschlucken. »Stell dir bloß mal vor, wir müssten neben der Literatur, für deren hohe Ansprüche wir weithin bekannt sind, so ein Zeug drucken.«
Er kniff die Augen zusammen, dabei gingen die breiten Brauen nach unten und selbst seine Mundpartie wurde härter. Sein finsterer Blick sprach Bände. Im Stillen musste sie ihm recht geben. Auch ihr widerstrebte die Vorstellung. Neben ihrem Programm aus deutschen Literaten und Literatinnen, zum Teil sogar preisgekrönt, würde sich eine Serie wie McRohans Chronicles of Aulanda nicht besonders gut machen. Andererseits war ihrem Vater dieser Mann offenbar wichtig, warum sonst hätte er ihn in seinem Testament so großzügig bedenken sollen.
»Wir müssen das Testament anfechten!«
Als ob sie seinen Einwand damit übergehen könnte, griff Anne nach den ersten Büchern und hievte sie auf den modernen Rauchglasschreibtisch, der die Mitte des Raums reichlich ausfüllte und vor gut einem Jahr den von Holzwürmern zerfressenen Tisch hatte ersetzen müssen. Der laute Knall überraschte selbst sie.
»Nein, das möchte ich nicht! Es ist der letzte Wille meines Vaters, und er wusste bestimmt, was er da tat.«
Und ich werde herausfinden, was er damit bezweckt, fügte sie in Gedanken hinzu.
Beschwichtigend hob Hannes die Hand. »Das will ich damit gar nicht behaupten, aber, ob er sich der Tragweite dieser Entscheidung bewusst war, Anne? Wir können doch nicht blindlinks dabei zusehen, wie alles den Bach runter geht!«
Sie spürte eine plötzliche Enge im Hals. Das alles, war zu viel. Zu viele Fragen. Zu viele Wenn’s und Aber. Und vor allem fühlte sie sich von Hannes zu einer Reaktion gedrängt, die nicht die ihre war. Auf einmal war sie derart gereizt, dass sie den dringenden Wunsch verspürte, allein sein zu wollen. Hannes kam ihr wie ein Eindringling vor, der ihre Erinnerungen störte. Wie ein falscher Ton. Ein unschöner Fleck auf der Tapete.
»Es war sein letzter Wille«, beharrte sie fest.
Schweigen mischte sich unter den aufgewirbelten Staub. Der Staub würde sich wieder setzen, dachte Anne, als sie den winzigen Partikeln im Licht der Lampe beim Tanzen zusah. Das ungute Gefühl in ihr blieb indes bestehen.
»Warum bist du nicht einfach zu Hause geblieben, Anne?« Hannes Stimme klang unerwartet sanft und verständnisvoll. Er deutete auf die dicken Wälzer auf dem Tisch. »Das hier bringt doch nichts und wühlt dich nur auf.«
»Ich kann nicht nur nichts tun! Ich brauche Antworten. Außerdem erwarten die Mitarbeiter, dass ich …«
»Die haben vollstes Verständnis dafür, wenn du dir noch eine Auszeit nimmst. Glaub mir, ich habe alles im Griff.«
»Ich weiß«, murmelte Anne. Dennoch kehrte sie zu dem Schrank zurück und griff nach den nächsten Büchern.
Plötzlich spürte sie Hannes Hand auf ihren Fingern. »Lass das, Anne. Es ist noch zu früh. Erst recht nach gestern.« Mit deutlicher Entschlossenheit wollte Hannes sie wegführen. »Und um diesen McRohan kümmern wir uns später.«
»Mir geht es gut«, erwiderte sie kühl und versteifte sich augenblicklich. Keinesfalls wollte sie behandelt werden wie eine bemitleidenswerte Hinterbliebene, die man schonen müsste. Sie hatte gehofft, es Hannes bereits klar gemacht zu haben. Außerdem brauchte sie Klarheit. Und eine Lösung.
Mit einem Mal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Ich werde mit den Mitarbeitern reden müssen, sie in Kenntnis darüber setzen, woran sie sind. Oder wohl eher nicht, bis wir mehr wissen.«
Hannes drehte ihr Gesicht mit beiden Händen zu sich. »Sieh mich an, Anne. Du bist durcheinander und aufgebracht, ich weiß. Ich halte es dennoch für unangebracht, dass du die Leute hier verunsicherst. Und das möchtest du doch bestimmt auch nicht.«
Auf einmal fröstelte Anne. Sie spürte Hannes Atem auf ihren Wangen, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Eine Wärme, nach der sie sich einmal gesehnt hatte. Es war noch nicht lange her, dass sie ihren Freund liebevoll ihr Öfchen genannt hatte. Jetzt allerdings stieg ein Widerwille in ihr hoch. Genügte es nicht, dass sie ihre Eltern vermisste? Auf eine Art, die bis in die Eingeweide schmerzte? Musste sich Hannes ausgerechnet jetzt ihren Entscheidungen entgegenstellen?
»Ich kann nicht einfach so weitermachen, als ob nichts wäre. Wir können das nicht!«
»Das Ganze ist ein einziger Albtraum, Schatz, ich verstehe dich. Glaub mir, wir werden für unser Recht kämpfen. Niemand nimmt uns den Verlag einfach so weg!«
»Darum geht es nicht«, erwiderte sie leise.
Hannes hob eine Augenbraue. »Worum denn dann?«
»Um uns.«
»Fängst du etwa schon wieder damit an, Anne?« Peng. Seine Hand knallte gegen die Schranktür. »Wir haben weiß Gott gerade andere Probleme!«
»Ich weiß, trotzdem … lass uns in Ruhe darüber reden, wie …«
»Ich kann dir sagen, was schiefläuft! Du bist es! Du musst immer alles kompliziert machen, weil sich alles nur um dich dreht. Und mich lässt du dabei aussehen wie den letzten Idioten!«
Peitschenhiebe. Jedes einzelne Wort war wie ein lauter Peitschenhieb.
Schützend verschränkte Anne die Arme vor der Brust. Früher hatte es eine Zeit gegeben, da hatte sie darauf vertraut, dass Reden half. Damit Hannes einsah, wenn er eine Grenze überschritt. Doch sobald er sich in Rage schrie, flog durchaus auch mal ein Buch durch die Gegend. Jetzt gab es niemanden mehr, der zwischen ihr und ihm stand. Niemand, der sie in Schutz nahm, wenn er sich im Ton vergriff. Keine Mutter, die ihr Mut zusprach, nicht gleich aufzugeben, wenn es Probleme in der Beziehung gab.
Mama, du fehlst mir!
Ihre Mutter hatte ihre ganz eigene Art und Weise gehabt, die Dinge zu sehen. Mit einer Engelsgeduld hatte sie sich darum bemüht, fehlgeleitete Meinungen zurechtzurücken und für jeden ein gutes Wort einzulegen. Auch für Hannes. Dabei war es Anne schwer gefallen, ihre Mutter ins Vertrauen zu ziehen. Welche Tochter gab schon gern zu, dass sie nicht immer glücklich war. Doch selbst dann hatte ihre Mutter an das Gute im Menschen geglaubt. Hatte an Hannes geglaubt. An den guten Kern, oder was auch immer.
Also gut, Mama, ganz wie du es magst.
Sie ließ die Bücher Bücher sein und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schrank. Hannes meinte es im Prinzip nur gut und wollte sie unterstützen.
»In Ordnung, Hannes, zuerst muss ich diesen Duncan McRohan finden und mit ihm reden. Das kann doch nicht so schwer sein. Diese Unsicherheit im Nacken muss ein schnelles Ende finden. Schließlich planen wir das nächste Bücherprogramm, die Buchmesse steht an, die Druckerei wartet auf ihre Aufträge …«
»So gefällst du mir schon viel besser, Schatz.« Er legte den Arm über ihre Schulter. »Komm her, du weißt doch, dass ich für dich da bin.«
Ihr Kiefer verkrampfte sich. Ihr gesamter Körper schrie Nein. Trotzdem ließ sie sich von Hannes in seine Arme ziehen.
»Das Gericht muss dir auf jeden Fall die Adresse geben. Dazu sind die sicher verpflichtet.« Er strich ihr zärtlich über die widerspenstigen Locken. »Und solange sagen wir der Belegschaft noch nichts.«
»Aber«, Anne stockte, »es ist bestimmt durchgesickert, dass wir gestern bei Gericht waren. Die Leute sind nicht dumm. Was ist, wenn sie Fragen haben?«
»Darum kümmere ich mich, Schatz, mach dir keine Sorgen. Du knöpfst dir dafür diesen Erben vor. Hoffentlich wird dir das nicht zu viel.« In Hannes Stimme lag ein besorgter Ton.
»Nein.« Anne seufzte leise und erlaubte sich, ihren Kopf an Hannes Brust zu legen. Eine kurze Berührung, wie die eines Schmetterlings, der einen winzigen Moment verharrte, ehe er die Flügel ausbreitete und weiterflog. »Ich bin froh, wenn ich abgelenkt werde. Dieses Büro«, sie geriet ins Stocken, »es schmerzt noch viel zu sehr, hier zu sein.«
Hannes schob sie sanft in Richtung Tür. »Siehst du, was habe ich dir gesagt? Am besten gehst du wieder nach Hause und ruhst dich ein wenig aus.«
»Vielleicht mache ich das wirklich«, sagte Anne und lächelte. Hannes musste nicht erfahren, dass sie alles andere tun würde, als untätig zu bleiben. Sie hatte stattdessen eine Reise nach Schottland zu planen. Zum Glück war es keine Weltreise bis dahin. Es hätte also schlimmer kommen können.
Über den Wolken
Zwei Tage später
Annes Nase klebte an der Fensterscheibe des Flugzeugs. Schottland, Edinburgh. In weniger als einer halben Stunde würde sie samt ihrem Koffer durch die Flughafentür treten und zum ersten Mal schottischen Boden betreten. England hatte noch nie auf der Agenda ihrer Reiseziele gestanden. Dann schon eher Norwegen oder gleich Island. Mit Schottland verband sie, wenn sie ehrlich war, nicht viel mehr als Dudelsackklänge, Loch Ness, ein paar außergewöhnlich gute Krimiautoren, und natürlich die Outlander-Serie. Anne wusste, dass sie auf Spuren von Jamie und Claire treffen würde, immerhin führte sie ihre Reise nach Fort William, und dieses Fort spielte eine wichtige Rolle in den ersten Büchern von Diana Gabaldon. Sie hatte diese nie gelesen, dafür aber jede bisherige Staffel mit ihrer Freundin Moni gestreamt.
»Sehr geehrte Gäste, wir befinden uns im Landeanflug auf Edinburgh. Bitte stellen Sie Ihre Sitzlehnen aufrecht, schalten …«
»Müssen Sie auch umsteigen, oder bleiben Sie in Edinburgh?« Ihre Sitznachbarin hatte sich während des Fluges bisher kaum gerührt und war dermaßen vertieft in ihren Laptop gewesen, dass diese sogar hochgeschreckt war, als die Stewardess sie an der Schulter angestupst hatte, um sie nach ihrem Getränkewunsch zu fragen. Jetzt blickte die Frau auf ihre Uhr, die teuer aussah, genau wie das enge graue Kostüm.
»Warum fragen Sie?« Verwundert hob Anne die Augen.
»Weil wir mal wieder Verspätung haben. Selbst so früh am Morgen ist es der Airline offenbar nicht möglich, pünktlich zu sein.« Die Frau prüfte erneut die Uhrzeit, obwohl sich seit dem letzten Mal nicht viel geändert hatte.
»Ich habe zum Glück etwas Puffer eingeplant«, antwortete Anne. »Wohin fliegen Sie denn weiter?« Nicht, dass es sie wirklich interessierte, sie fragte lediglich der Höflichkeit halber.
»Auf die Orkney Inseln und Sie? Wohin geht die Reise?«
Bereits im Vorfeld hatte sich Anne darauf gefreut, mit dem Zug weiter zu reisen. Der Angestellte im Reisebüro hatte ihr vorgeschwärmt, dass die Eisenbahnstrecke mitten durch die Highlands führte und sie sich dies keinesfalls entgehen lassen sollte. Es hatte sich herausgestellt, dass der junge Mann bereits etliche Male in Schottland gewesen war und unter anderem den West Highland Way von Milngavie bis nach Fort William gelaufen war. Kurzerhand hatte sich Anne beim Buchen entschieden, den Vorschlag des Mannes in die Tat umzusetzen, und versucht, Hannes Unverständnis an sich abperlen zu lassen.
»Was willst du dich durch diese öde Landschaft quälen, Anne? Du verlierst nur wertvolle Zeit. Ich an deiner Stelle wäre direkt nach Inverness geflogen und von dort mit einem Mietwagen weiter gefahren.«
»Aber so sehe ich mehr von den Highlands«, hatte sie eingewandt, auch wenn das nicht der einzige Grund für ihre Entscheidung war. Vielmehr hatte sie plötzlich den Wunsch verspürt, das Ankommen auf diese Weise ein wenig hinauszuzögern. Sich sozusagen darauf einstimmen zu können. Auf Schottland. Auf den kleinen Ort in den Highlands. Und auf einen Autor, der sich am Telefon angeblich sehr abweisend verhielt, wenn sie dem Rechtspfleger Glauben schenken wollte.
»Wie du willst, Schatz, ich rede dir da nicht rein«, hatte Hannes großzügig behauptet, sie jedoch von oben herab angesehen, als wäre sie nicht ganz zurechnungsfähig. Diesen Blick hatte sie in letzter Zeit öfter bemerkt. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem ihre Eltern gestorben waren. Anfangs hatte Anne gedacht, er wäre Ausdruck seines Mitleids, später war ihr klar geworden, dass es der typische Hannes-Blick war, den er auflegte, wenn er sich jemandem überlegen fühlte. Das schmeckte ihr ganz und gar nicht. Allein schon aus Protest zog sie seine Argumente deshalb nicht in Betracht.
»Ich nehme den Zug nach Fort William. Allerdings habe ich zum Glück genug Zeitpuffer dazwischen«, antwortete Anne ihrer Sitznachbarin, obwohl sie befürchtete, diese hätte längst das Interesse an ihr verloren, da sie konzentriert in ihrer Handtasche wühlte.
»Ah, Fort William, die Outdoor-Stadt schlechthin. Da haben Sie quasi alles direkt vor der Haustür: Loch Linnhe, das Great Glen, den Ben Nevis … Sie werden begeistert sein.«
»Sie kennen sich aber gut aus.«
In Seelenruhe fuhr sich die Frau ihre Lippen mit einem auffallend hellen Rot nach, ehe sie antwortete: »Ich bin in den Highlands groß geworden. Als ich zehn war, sind wir nach Berlin gezogen.«
»Und jetzt besuchen Sie Verwandte hier?«
Die Frau winkte ab. »Nein, ich reise geschäftlich. Ich besitze ein Hotel auf Mainland, der größten Insel der Orkneys.«
»Oh«, war alles, was Anne herausbrachte. Eine Hotelbesitzerin. Das erklärte vielleicht auch, warum diese während des gesamten Fluges beschäftigt gewesen war.
»In welchem Hotel werden Sie absteigen, wenn ich fragen darf?« Die Frau sah schon wieder auf die Uhr. »Also, rein aus beruflichem Interesse.« Sie wandte Anne interessiert das Gesicht zu. Aus den dezent geschminkten blauen Augen strahlte ihr Freundlichkeit entgegen. Trotzdem war es Anne in dem Moment beinahe unangenehm zu antworten.
»Ich habe ein Zimmer in einem Bed&Breakfast gebucht, ich bleibe nicht lange.« Sie hatte vor, Duncan McRohan so schnell wie möglich zu treffen. Zum Glück hatte sie nicht nur seine Mail-Adresse, sondern auch die Telefonnummer von Herrn Treschers Sekretärin erhalten.
»Wie schade. Die Highlands können einen beim ersten Besuch bereits in den Bann ziehen.«
Mit ihrem offenen Lächeln, das winzige Fältchen um die Augenpartie der Frau zauberte, reichte sie Anne prompt eine Visitenkarte. »Gestatten, ich bin Gill Cameron, Inhaberin des Merkister Hotels in Harray. Falls Sie also beschließen sollten, länger zu bleiben …«
»Das …« Anne wusste im ersten Moment nicht weiter. Mit einer derartigen Offenheit hatte sie nicht gerechnet. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, aber mich führt nur ein wichtiger Termin hierher.«
»Vielleicht bei einem nächsten Mal? Ich hoffe doch sehr, dass Ihnen unser Land gefallen wird.«
Anne wackelte mit der Visitenkarte. »Ich werde daran denken.«
»Ach und ehe ich es vergesse …« Der Lippenstift verschwand wieder in der unauffälligen Handtasche. »… nehmen Sie den Bus 100 zum Waverley Place, das ist der bequemste Weg. Die Busse sind nicht zu übersehen, wenn Sie den Flughafen verlassen. Ich würde Ihnen gern den Weg zeigen, Frau …«
»Verzeihung, wie unhöflich von mir!« Normalerweise errötete Anne nicht so leicht, doch jetzt stieg ihr eine unangenehme Hitze ins Gesicht. »Anne. Anne Nadler aus München.«
»Freut mich, Frau Nadler. Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Land.«
Anne lächelte. »Danke. Sie klingen, als stünden Sie in Ihrem Hotel und empfingen Ihre Gäste.«
»Ach je.« Frau Cameron verdrehte die Augen. »Das war ganz bestimmt nicht meine Absicht, aber den Arbeitsmodus kann ich nun mal nicht so leicht ablegen.«
»Ich finde es nett, also machen Sie sich keine Gedanken. Mich sieht man dafür nie ohne ein Buch in der Hand. Auch so eine Berufskrankheit, wenn Sie so wollen.« Sie hielt eine alte Ausgabe von Sir Walter Scotts Ivanhoe in die Höhe, auf die sie bei der Suche nach schottischer Literatur in der Bibliothek ihres Vaters gestoßen war.
Gill Cameron schmunzelte. »Der gute alte Scott. Ich hätte Ihnen eher eine modernere Lektüre empfohlen, die neugierig auf die heutige Literatur macht.«
»Ach ja, und die wäre?«
»Lesen Sie Ali Smith. Ihre Kurzgeschichten sind unglaublich. Sie hat eine ungeheuer scharfe Beobachtungsgabe, was die Menschen und die heutige Gesellschaft angeht.«
Anne nickte. »Ich entsinne mich, dass der letzte Band ihrer Jahreszeiten-Trilogie letztes Jahr in Deutsch erschienen ist. Leider habe ich mich noch nicht eingehender mit der Autorin beschäftigt. Danke für den Tipp.«
»Gern geschehen.«
Die letzten Minuten bis zur Landung verbrachten sie schweigsam, sodass es nicht unhöflich wirkte, als sich Anne dem Fenster zuwandte, um die ersten Eindrücke von Edinburgh und seiner Umgebung zu erhaschen. Kaum, dass sie das Flugzeug verließ, verlor sie die freundliche Hotelbesitzerin bereits aus den Augen. Meine erste Schottin, dachte sie sich und ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Sie beschloss, noch ehe sie ihr Gepäck in Händen hielt, dass sie Schottland und die Einwohner mochte.