Prolog
Sie konnte nur fliehen. Das war ihre einzige Rettung. Und beten.
Ganz sicher würde die Polizei kommen. Es hatte einen Toten gegeben. Oh, lieber Gott, die Polizei musste kommen.
Aber sie klammerte sich doch nur verzweifelt an einen Strohhalm, eine winzige Hoffnung. Der Mord war nicht im Schloss geschehen, also würde auch niemand kommen. Aber sie durfte jetzt nicht in Panik geraten. Sie musste all ihre Sinne beisammenhaben. Sie war auf der Flucht. Und sie kannte nicht einmal das Gesicht des Bösen, das sie verfolgte.
Camille war inzwischen schon weit entfernt vom mächtigen Schloss Carlyle, sie konnte ihr eigenes Keuchen hören. Als sie nicht mehr konnte, blieb sie stehen und stellte fest, dass das Geräusch, das sie zu verfolgen schien, nicht nur aus ihren schmerzenden Lungen kam. Der Wind war stärker geworden. Er fuhr durch die Baumkronen und rüttelte am Geäst der uralten Riesen. Das war gut. Sie hoffte, dass der Zorn der Elemente den Nebel vertreiben würde, der vom Moor her aufstieg und zwischen den knorrigen Stämmen hing.
Es war Vollmond. Sobald der Nebel sich verzogen hatte, würde sie besser sehen, wohin sie lief. Aber ihr Verfolger auch.
Sie würde viel leichter zu entdecken sein.
Camille schnappte nach Luft. Als sie etwas zu Atem gekommen war und glaubte, weiterlaufen zu können, drehte sie sich zuerst einmal im Kreis, um sich zu orientieren. Die zarte Tournüre ihres Rockes verfing sich in einem Zweig. Ohne Rücksicht auf den edlen Stoff riss sie sich los. Sie wollte überleben. Sie musste sich irgendwie retten.
Die Straße führte nach Osten, nach London, in die Zivilisation. Zu vernünftigen Menschen. An der Straße würde sie bestimmt auf eine Kutsche treffen, die in die Stadt fuhr. Sie musste es nur zu dieser Straße schaffen, bevor … der Mörder sie einholte.
Dieses Spiel hatte schon zu lange gedauert. Jetzt wollte er sie für immer zum Schweigen bringen. Damit sie niemandem erzählen konnte, was sie gesehen hatte. Damit sie niemals die Geheimnisse von Schloss Carlyle enthüllen konnte.
Durch den wabernden Dunst hörte sie die Wölfe den Mond anheulen. Doch in diesem Augenblick verspürte sie keinerlei Furcht vor den Wölfen von Carlyle, sie kannte die wahre Gefahr. Diese Gefahr kam von einem wilden Tier in Menschengestalt.
Ein Rascheln im Blattwerk warnte sie, dass jemand in der Nähe war. Camille richtete sich auf. Sie konnte nur beten, dass ihr Instinkt ihr half, einen Ausweg zu finden, zu spüren, wohin sie fliehen konnte. Aber das Rascheln war ganz nah, viel zu nah.
Lauf!
Der Befehl explodierte in ihrem Kopf. Doch als sie all ihre Kraft zusammennahm, um loszurennen, sich zu retten, war es zu spät. Er brach durch das Unterholz und stürzte auf sie zu.
„Camille!“
Die Stimme kannte sie nur zu gut. Wie versteinert blieb sie stehen. Ihr stockte der Atem. Ihr Herz schien auszusetzen. Und sie starrte in das Gesicht des Mannes – das Gesicht hinter der Maske!
Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie seine Züge nur ertasten konnte, wo sie ihn nur in kurzen Momenten der Leidenschaft gesehen hatte. Dieses eindrucksvolle Gesicht – kantig, aber attraktiv, mit einem starken Kinn, einer geraden, feinen Nase. Und diese Augen …
Die Augen hatte sie immer deutlich gesehen. Immer. Der Blick war herausfordernd gewesen, abschätzend. Und manchmal erschreckend zärtlich.
Einen Moment lang war ihr, als würden die Zeit, der Wald und sogar der Wind stillstehen. Sie betrachtete sein Gesicht. Was war nun eigentlich die Maske? Dieser bizarre Lederschutz, der in der Form eines wilden Tieres gearbeitet war? Oder das menschliche Antlitz, mit seinen scharfen, atemberaubenden Zügen, klassisch wie die eines griechischen Gottes?
Was war wirklich? Die Bedrohung durch das Biest oder die rechtschaffene Stärke dieses Mannes?
„Camille, bitte, bei der Liebe Gottes! Komm mit mir! Komm jetzt mit mir!“ Er sprach leise und streckte die Hand nach ihr aus.
Da hörte sie Schritte. Sie kamen näher. Hinter ihr. War es jemand, der sie retten wollte? Oder ein Feind, der sich hinter einer Maske der Angepasstheit verbarg? Einer von denen, die verwickelt waren in die Geheimnisse der Vergangenheit? Lord Wimbly selbst? Hunter? Aubrey? Alex? Oh Gott … oder Sir John?
Sie fuhr herum und starrte den Mann an, der aus einem überwucherten Pfad auf die kleine Lichtung trat.
„Camille! Gott sei Dank!“
Er kam auf sie zu.
„Wenn Sie sie anrühren, sind Sie tot“, knurrte der Mann, den sie als „das Biest“ kennengelernt hatte.
„Er wird Sie töten, Camille“, sagte der andere sanft.
„Niemals!“, flüsterte das Biest.
„Sie wissen, dass er ein Mörder ist“, behauptete der andere.
„Du weißt nur, dass einer von uns beiden ein Mörder ist“, sagte das Biest ruhig.
„Bei allem, was mir heilig ist, Camille. Dieser Mann ist ein Monster. Das ist erwiesen!“
Sie sah von einem zum anderen, unfähig, den Sturm zu verbergen, der in ihr tobte. Ja, einer von ihnen war ein Mörder.
Und der andere war ihre Rettung. Aber wer war wer?
„Camille, schnell … kommen Sie langsam zu mir herüber“, sagte der eine mit fester Stimme.
Der andere, den alle das Biest nannten, hielt ihren Blick fest. „Überlege genau, Liebes. Denk an alles, was du gesehen und erfahren hast … und gefühlt. Erinnere dich, Camille, und frage dich, wer von uns beiden das Monster ist.“
Sich erinnern! An was? An all die Gerüchte und Lügen? Oder an den Tag, als sie zum ersten Mal in diesen Wald gekommen war, zum ersten Mal das unheimliche Heulen der Wölfe gehört hatte … und den Klang seiner Stimme?
Den Tag, an dem sie das Biest getroffen hatte.
1. Kapitel
„Du lieber Gott, was hat er denn jetzt wieder angestellt?“, fragte Camille bestürzt und sah Ralph an, Tristans Diener, Freund und leider auch oft Kumpan bei zwielichtigen Unternehmungen.
„Nichts“, erwiderte Ralph entrüstet.
„Nichts? Dann frage ich mich, warum du hier atemlos vor mir stehst und ein Gesicht ziehst, als müsste ich meinen Vormund mal wieder aus irgendeiner Gefängniszelle, einem Bordell oder sonst einer zweifelhaften Situation befreien.“
Camille war klar, dass sie wütend klang. Tristan war einfach nicht in der Lage, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Ganz im Gegenteil. Er schlitterte immer irgendwie mitten hinein. Camille klang zwar, als wollte sie ihn diesmal selbst die Suppe auslöffeln lassen, die er sich eingebrockt hatte, aber das würde sie natürlich nicht tun. Ralph wusste es, und sie wusste es auch.
Tristan Montgomery war zwar ihr Vormund, aber weiß Gott keine besonders respektable Persönlichkeit. Sein Glück war nur, dass in einer Zeit, wo der Titel eines Mannes mehr bedeutete als seine Lebensführung oder sein Charakter, das Schicksal ihn mit einem gewissen gesellschaftlichen Status versehen hatte.
Vor zwölf Jahren hatte er Camille aus der Gosse geholt. Sie schauderte bei dem Gedanken daran, wie mittellose Waisen einfach sich selbst überlassen wurden. Tristan hatte nie wirklich genug zum Leben, aber von dem Tag an, da er sie neben dem noch warmen Leichnam ihrer Mutter fand, hatte er ihr sein Herz geschenkt und alles, was er besaß, mit ihr geteilt. Und sie würde jederzeit dasselbe für ihn tun.
Viele Jahre hatte sie versucht, ihm mehr als das zu geben –Stabilität, ein anständiges Leben … Ralph hatte sie diskret draußen an der Ecke abgepasst, anstatt direkt ins Britische Museum zu kommen, wo seine zerzauste Erscheinung und sein aufgeregtes Flüstern sie leicht ihre Anstellung hätte kosten können, die sie sich so mühsam erkämpft hatte. Camille wusste mehr über das alte Ägypten als die meisten der Männer, die sogar bei Ausgrabungen dabei gewesen waren. Aber selbst Sir John Matthews war ins Stottern gekommen, als es darum ging, eine Frau einzustellen. Und dass Sir Hunter MacDonald an dieser Entscheidung beteiligt war, hatte die Sache nicht einfacher gemacht. Hunter mochte sie sehr gern, aber er betrachtete sich als einen erfahrenen Forschungsreisenden und Abenteurer, der ganz und gar nichts von diesen plötzlich aufgetauchten Frauenrechtlerinnen hielt. Für ihn gehörte eine gute Frau immer noch ins Haus und hinter den Herd. Zumindest Alex Mittleman, Aubrey Sizemore und selbst Lord Wimbly schienen ihre Anwesenheit zu akzeptieren. Glücklicherweise hatten Lord Wimbly und Sir John am meisten zu sagen.
Doch ihre Stellung trat für Camille sofort in den Hintergrund. Tristan war in Schwierigkeiten! Ausgerechnet an einem Montagabend, zu Beginn der Arbeitswoche.
„Ich schwöre, Tristan hat nichts getan.“ Ralph stieg die Röte ins Gesicht. Er war ein kleiner Mann, nicht größer als einen Meter siebzig. Aber er war flink. Er war schnell wie ein Luchs und bewegte sich genauso geschmeidig und unauffällig.
Tristan hatte vielleicht noch nichts angestellt, doch mit Sicherheit hatte er irgendetwas Gesetzwidriges geplant, bevor er in Schwierigkeiten geraten war.
Camille drehte sich um. Die Kuratoren des Museums verließen gerade das eindrucksvolle Gebäude und konnten sie jede Sekunde entdecken. Plötzlich erschien Alex Mittleman, der Stellvertreter von Sir John, in der Tür. Wenn er sie sah, würde er zweifellos mit ihr reden und sie zum Zug begleiten wollen. Camille musste weg und zwar schnell.
Sie packte Ralph am Ellbogen und zog ihn mit sich. Kalter Wind fegte über die Straße und fuhr eisig unter ihre Kleider. Aber vielleicht war es nicht nur der Wind, sondern die Angst, die ihr das Rückgrat emporkroch.
„Komm mit, Ralph. Erzähl mir alles, und erzähl es mir schnell!“, befahl Camille. Sie machte sich Sorgen. Große Sorgen. Tristan war klug, unglaublich belesen und hatte von Kindesbeinen an gelernt, wie man sich auf der Straße durchschlug. Er hatte ihr viel über Sprache, Literatur, Kunst, Geschichte und Theater beigebracht, aber auch, dass der äußere Anschein einen Großteil des Lebens ausmachte – des gesellschaftlichen Lebens. Wenn sie sich wie eine vornehme Lady ausdrückte und kleidete, würden die Leute sie auch dafür halten.
Er war so ungeheuer klug, und dann wieder schien er überhaupt keinen Verstand zu besitzen.
„Da vorn ist Dougray’s“, sagte Ralph und bezog sich damit auf eine Kneipe.
„Du brauchst doch jetzt wohl keinen Gin“, protestierte Camille.
„Doch“, stöhnte der kleine Mann leise. „Genau den brauche ich.“
Camille seufzte. Dougray’s war eine Schänke, in der die Arbeiterklasse verkehrte, und sie hatte einen besseren Ruf als so manche der Etablissements, die Ralph und Tristan ansonsten gern besuchten. Außerdem bediente man hier auch Frauen.
Camille kleidete sich immer sehr sorgfältig, um ihrer Position als Assistentin von Sir John Matthews, einem der Kuratoren der Abteilung für ägyptische Altertümer am Britischen Museum, gerecht zu werden. Ihr Rock war dunkelgrau mit einer kleinen Tournüre, und ihre gut geschnittene Bluse, die sittsam ihren Hals umschloss, hatte einen ähnlichen, aber helleren Ton. Ihr Mantel war von guter Qualität. Er war irgendwann mal im Besitz einer hochgestellten Lady gewesen, die ihn wahrscheinlich der Heilsarmee gespendet hatte, nachdem sie sich einen moderneren gekauft hatte. Ihr zobelbraunes Haar, das Camille für das einzig Schöne an sich hielt, war sorgfältig hochgesteckt. Sie trug keinen Schmuck außer dem schlichten Goldring, den Tristan bei ihrer Mutter gefunden hatte und den sie seither stets trug. Als Kind an einer Kette und heute an ihrem Finger.
Camille hatte nicht das Gefühl, dass sie besonders beachtet wurden, als sie die Kneipe betraten.
„Sollen wir uns verstecken?“, flüsterte Ralph.
„Lass uns einfach nach hinten durchgehen.“
„Wenn es dir darum geht, nicht aufzufallen, Camie, solltest du wissen, dass jeder Mann in diesem Raum sich nach dir umdreht.“
„Sei nicht albern.“
„Es sind deine Augen“, erklärte er.
„Sie sind ganz gewöhnlich braun“, erwiderte sie ungeduldig und sah ihn verwundert an.
„Nein, Mädchen, sie sind aus Gold, aus purem Gold. Und manchmal wirken sie ein bisschen wie Bernstein. Ich fürchte, alle Männer beobachten dich. Die guten, aber auch die nicht so guten“, sagte er und sah sich um. Wut blitzte in seinen Augen.
„Niemand belästigt mich, Ralph. Also geh bitte weiter.“
Schnell drängte sie Ralph in den verrauchten hinteren Teil, bestellte ihm einen Gin und sich selbst eine Tasse Tee. „Und jetzt“, befahl sie, „rede!“
„Tristan liebt dich über alles, Kind. Das weißt du“, begann Ralph.
„So wie ich ihn liebe. Und ich bin wohl kaum noch ein Kind, dem Herrn sei Dank“, entgegnete Camille. „Jetzt sag mir auf der Stelle, aus welchem Schlamassel ich ihm diesmal helfen muss?“
Ralph murmelte irgendetwas in sein Glas.
„Ralph!“, schimpfte sie.
Der kleine Mann räusperte sich. „Er befindet sich in den Händen des Earl of Carlyle.“
Camille schnappte nach Luft. Sie hatte einiges erwartet, aber nicht das. Und obwohl sie noch nicht die ganze Geschichte kannte, war sie zutiefst erschrocken.
Der Earl of Carlyle war ein Monster, das wusste jeder. Es war nicht nur die Art, wie er mit Handwerkern, Dienern und Leuten seines eigenen Standes umging. Er war ein Monster im wahrsten Sinne des Wortes. Dank einer doppelten Erbschaft waren seine Eltern zu unvorstellbarem Reichtum gelangt. Beide waren bekannte Altertumsforscher und Archäologen. Die Leidenschaft für alles, was mit dem alten Ägypten zusammenhing, hatte sich in ihre Herzen gebrannt, weshalb sie nach Kairo gezogen waren. Ihren einzigen Sohn hatten sie zum Studium zurück nach England geschickt. Kaum hatte er die Universität beendet, war er ihnen wieder nach Ägypten gefolgt.
Dann war die Familie, wie Zeitungen zu berichten wussten, einem tödlichen Fluch zum Opfer gefallen. Sie hatten das Grab eines alten Priesters entdeckt, gefüllt mit wertvollen Artefakten. Darunter war auch eine Kanope, ein Krug, in dem die alten Ägypter die Eingeweide ihrer Toten beisetzten und in dem sich das Herz der Lieblingskonkubine des Priesters befand. Die Konkubine war angeblich eine Hexe gewesen. Als die Kanope aus dem Grab entfernt wurde, fiel ein Fluch auf die gesamte Familie. Es wurde berichtet, dass einer der ägyptischen Grabungshelfer zu lamentieren begonnen hatte. Er hatte gen Himmel gezeigt und erklärt, dass es zu einer Katastrophe kommen würde, wenn man so selbstsüchtig und grausam wäre, dieses Herz zu stehlen. Der Earl und die Countess hatten über den Mann gelacht, was sich als ein schwerwiegender Fehler herausstellte, denn innerhalb von Tagen starben beide auf ungeklärte und grausame Weise.
Ihr Sohn, der derzeitige Earl, war zu jener Zeit mit Truppen
Ihrer Majestät in Indien, um Aufständische niederzuzwingen. Als er die Nachricht vom Tode seiner Eltern erhielt, hatte er sich überwältigt vom Schmerz in die Schlacht gestürzt und das Blatt gewendet, obwohl die Truppen Ihrer Majestät zahlenmäßig unterlegen waren. Er hatte gesiegt, erlitt allerdings eine Verletzung, die ihn für immer fürchterlich entstellte. Er war verbittert. Und er war belegt mit einem Fluch, der so schrecklich war, dass er trotz des ungeheuren Vermögens, das er geerbt hatte, sich niemals in London auf die Suche nach einer passenden Frau gemacht hatte.
Den Gerüchten zufolge musste der Mann wirklich abstoßend sein. Mit seinem entstellten Gesicht war er böse wie das Herz, das in der Kanope nach Schloss Carlyle gebracht worden war.
Es hieß, das Relikt sei verschwunden, und viele glaubten, das Herz sei mit dem des bösen Schlossherrn verschmolzen. Der Earl hasste offenbar jeden. Er war ein Einsiedler, der abgeschieden auf seinem riesigen, verwilderten Anwesen lebte und jeden gnadenlos mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgte, der es wagte, unaufgefordert einen Fuß auf sein Land zu setzen – wenn er ihn nicht gleich erschoss.
Das alles war Camille bekannt. Ralph brauchte kein weiteres Wort zu sagen. Ihr Herz füllte sich mit Furcht.
Trotzdem zwang sie sich, ruhig zu klingen. „Und wie hat Tristan es geschafft, den Zorn des Earl of Carlyle auf sich zu ziehen?“
Ralph leerte seinen Gin in einem Zug, schüttelte sich, lehnte sich zurück und sah sie an. „Er hatte geplant … also, er wollte einer Kutsche auflauern, die von Norden in die Stadt kam.“
Camille zog scharf die Luft ein und starrte ihn entgeistert an. „Er hatte vor, jemanden auszurauben? Wie ein gewöhnlicher Wegelagerer? Er hätte erschossen werden können oder gehängt!“
Ralph wand sich. „Also, weißt du, das wäre schon nicht passiert. So weit sind wir ja gar nicht gekommen.“
Camille war entsetzt. Endlich hatte sie eine Anstellung. Eine sehr respektable Beschäftigung. Eine Arbeit, die sie faszinierte und die auch angemessen bezahlt wurde. Sie konnte gut für sie beide und für Ralph sorgen, wenn es auch nicht reichte, um im Luxus zu schwelgen. Warum nur musste Tristan sich immer wieder zu kriminellen Machenschaften hinreißen lassen?
„Und was hat verhindert, dass ihr beiden Narren getötet worden seid?“, wollte sie wissen.
Wieder wand sich Ralph auf der schlecht gepolsterten Bank. „Schloss Carlyle“, murmelte er mit gesenktem Blick.
„Sprich weiter!“, forderte Camille ihn auf.
Ralphs Lider flatterten. „Es liegt daran, dass Tristan dich so abgöttisch liebt, Camie“, verteidigte er sich. „Er sucht einfach nach einer Möglichkeit, dir den Weg in die Gesellschaft zu ebnen.“
Wut stieg in ihr auf, verrauchte aber ebenso schnell wieder. Wie sollte sie Ralph nur begreiflich machen, dass sie niemals zur „Gesellschaft“ gehören würde? Vielleicht war ihr Vater ja von adliger Herkunft gewesen. Vielleicht hatte er ihre Mutter sogar in einer geheimen Zeremonie geheiratet. Der Ring, den sie jetzt trug, stammte von einem Mann, der ihre Mutter immerhin so sehr gemocht hatte, dass er in ein derart edles Schmuckstück investiert hatte.
Alle Welt glaubte, dass Camille das Kind eines entfernten Verwandten von Tristan war. Einem Mann, der für seinen Edelmut im Dienste Ihrer Majestät im Sudan zum Ritter geschlagen worden war. Aber das war nicht die Wahrheit. Es würde in ihrem Leben niemals so etwas geben wie eine gesellschaftlich anerkannte Heirat oder Ähnliches. Und wenn sie sich nicht vorsah, würde die Wahrheit irgendwann ans Licht kommen.
Und diese Wahrheit war bitter. Ihre Mutter hatte den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Tochter als Prostituierte verdient. Sie war in Whitechapel gestorben. Sicher hatte sie immer und immer wieder von einem anderen Leben geträumt. Aber sie hatte sich verliebt und war in Londons East End gestrandet. Enterbt und mittellos. Tess Jardinelle starb in denselben Straßen, in denen sie auch gearbeitet hatte. Damals war Camille neun Jahre alt, und wer auch immer Camilles Vater war, er hatte sich schon lange aus dem Staub gemacht. Wenn Tristan nicht zufällig an jenem Tag vorbeigekommen wäre …
„Ralph“, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, „erklär es mir einfach.“
„Das Tor stand offen“, begann er.
„Es stand offen?“, hakte sie nach.
„Nun ja … nein, es war verschlossen. Aber die Mauer hat schon bessere Tage gesehen, und das war dann doch eine große Versuchung für einen Abenteurer wie Tristan.“
„Abenteurer!“
Ralph wurde rot, aber er verbesserte sich nicht. „Hunde gab es keine. Es war früher Abend. Man erzählt sich zwar von Wölfen, die durch die Wälder um Schloss Carlyle streifen, aber du kennst Tristan. Er meinte, dass wir uns einfach reinwagen sollten, es einfach versuchen.“
„Ich verstehe. Um einen schönen Spaziergang im Mondschein zu machen?“
Nervös zuckte Ralph mit den Schultern. „Na ja, Tristan meinte, vielleicht würden da ein paar Schmuckstücke herumliegen … so am Boden … für die man ein Vermögen kriegen könnte, wenn man sie an die richtigen Leute verkauft. Das ist alles. Er hatte wirklich nichts Böses im Sinn. Er glaubte, er würde vielleicht etwas finden, das jemand wie der Earl of Carlyle gar nicht vermissen würde, das aber eine Menge Geld bringt, wenn man es richtig verkauft.“
„Auf dem Schwarzmarkt!“
„Er will doch nur das Beste für dich, Camie. Und da ist dieser junge Mann im Museum, der sich so für dich interessiert.“
Camille rollte mit den Augen. Sie konnte nicht anders. Ralph spielte auf einen gewissen Sir Hunter MacDonald, Berater von Lord David Wimbly und offizieller Leiter der Sektion für Altertümer, an. Er hatte diesen Posten wegen seiner Erfahrung bei ägyptischen Ausgrabungen bekommen, aber ohne Zweifel auch wegen der gewaltigen Summen, die er dem Museum spendete.
Hunter war nicht unattraktiv. Eigentlich sah er sogar ziemlich gut aus – groß, mit breiten Schultern. Er war charmant und bereits zum Ritter geschlagen. Obwohl sie seine Begleitung genoss, war sie doch vorsichtig. Trotz seines Charmes, seiner ständigen Schmeicheleien und Versuche, ihr näher zu kommen, vergaß sie niemals die Umstände ihrer Geburt. Sie wusste, dass Hunter sich für sie interessierte, aber das hatte keine Zukunft. Egal, wie angenehm seine Komplimente und schmeichelnden Worte waren, Camille war sicher, dass sie keine Frau war, die ein solcher Mann seiner Mutter vorstellen würde.
Und sie wollte entweder alles oder nichts. Sie wollte sich nicht Hals über Kopf verlieben und sich von ihrer Leidenschaft leiten lassen. Camille beabsichtigte, ihren Stolz, ihre Würde und ihre Position zu behalten, koste es, was es wolle.
„Ich will keinen Mann, der nicht wirklich an mir interessiert ist, Ralph.“
„Das ist gut und richtig, Camille. Aber wir leben in einer Gesellschaft, in der nur Abstammung und Reichtum zählen.“
Fast hätte sie laut aufgestöhnt. „Ein Lebenslauf voller Verhaftungen und Gefängnisstrafen oder ein Vormund mit Wohnsitz im Gefängnis von Newgate wird mir weder zu Reichtum noch zu einer guten Abstammung verhelfen, Ralph.“
„Komm schon, Camille, bitte. Wir haben nichts wirklich Schlechtes vorgehabt! Manche Gesetzlose und Wegelagerer werden sogar in Legenden verehrt, weil sie den Reichen genommen und den Armen gegeben haben. Wir gehören nun mal leider zu den Armen.“
„Und viele Gesetzlose und Wegelagerer haben auch schon am Galgen gehangen“, sagte sie mit blitzenden Augen. „Ich habe versucht, und zwar mit der Geduld einer Heiligen, euch beiden zu erklären, dass Stehlen nicht nur böse ist, sondern vor allem illegal.“
„Ach, Camie, Mädchen“, sagte Ralph traurig. Er senkte den Blick. „Könnte ich vielleicht noch einen Gin haben?“
„Bestimmt nicht“, erwiderte Camille. „Du musst einen klaren Kopf behalten und mir die ganze Geschichte zu Ende erzählen, damit ich weiß, was ich tun kann. Wo ist Tristan jetzt? Ist er vor einen Richter gebracht worden? Was werde ich überhaupt für ihn tun können? Und falls Tristan verhaftet worden ist …“
„Er hat mich hinter die Bäume gestoßen und sich gestellt“, sagte Ralph.
„Er ist also festgenommen worden?“, fragte sie.
Ralph schüttelte den Kopf. Er biss sich auf die Lippe. „Er ist auf Schloss Carlyle. Zumindest glaube ich, dass er noch dort ist. Ich bin so schnell zu dir gekommen, wie ich konnte.“
„Oh, lieber Gott, bestimmt haben sie ihn schon ins Gefängnis werfen lassen“, rief sie.
Zu ihrer Überraschung schüttelte Ralph erneut den Kopf. „Nein, weißt du, ich habe das Biest gehört.“
„Wie bitte?“
„Er war dort, der Earl of Carlyle. Er ritt ein gewaltiges schwarzes, böse aussehendes Ross. Es war riesig. Und er rief seinen Männern zu, dass sie den Eindringling packen sollen und dass …“
„Und dass was?"
„Und dass er niemals Gelegenheit haben dürfe zu sagen, was er gesehen hat, niemals.“
Verwirrt starrte Camille ihn an. Eben war ihr nur die Kälte den Rücken hinaufgekrochen, doch jetzt bohrte sich ein Eiszapfen direkt in ihr Herz.
„Was habt ihr gesehen?“, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ehrlich, gar nichts. Aber Carlyle hatte Männer bei sich, und die haben Tristan ins Schloss geschleppt.“
„Woher weißt du, dass es Carlyle war, das Biest?“
Ralph schauderte. „Die Maske!“, sagte er leise.
„Er trägt eine Maske?“
„Oh ja, der Mann ist ein Monster. Du hast bestimmt davon gehört.“
„Er ist verkrüppelt, läuft vornübergebeugt und trägt eine Maske?“
„Nein, nein, er ist riesig. Also ziemlich groß in seinem Sattel. Und er trägt eine Maske. Aus Leder, glaube ich. Sie hat das Gesicht eines Tieres. Löwe. Oder Wolf. Oder Drache. Sie sieht jedenfalls schrecklich aus. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Seine Stimme klingt wie Donnerhall, ganz tief, als wenn er vom Teufel selbst verflucht worden wäre.“
Camille starrte Ralph an, der verzweifelt den Kopf schüttelte. „Tristan würde mich erwürgen, wenn er wüsste, dass ich dir jetzt Sorgen bereite … aber wir können ihn nicht dort lassen. Selbst wenn die Polizei ihn wegen versuchten Raubes ins Gefängnis wirft.“
Ja, das wäre besser. Wenn Tristan nach London gebracht und angeklagt worden wäre, hätte sie irgendwie einen Verteidiger für ihn bezahlen können. Sie hätte selbst vor Gericht erscheinen und betteln können. Sagen, dass er langsam verrückt würde. Dass das Alter ihm seine Sinne raube. Sie hätte … Gott weiß, was sie alles hätte tun können.
Aber wie Ralph nun berichtete, war Tristan immer noch auf
Schloss Carlyle und wurde von einem Mann festgehalten, der für seine gnadenlose Brutalität bekannt war. Sie stand auf.
„Was wirst du tun?“, wollte Ralph wissen.
„Was schon?“, erwiderte sie seufzend. „Ich werde zum Schloss Carlyle fahren.“
Ralph schauderte. „Ich habe alles falsch gemacht. Tristan würde nicht wollen, dass du dich in Gefahr begibst.“
Ralph tat ihr leid, aber was hatte er erwartet?
„Ich werde mich nicht in Gefahr begeben“, versicherte sie ihm und lächelte müde. „Er hat auch mir ein paar Tricks beigebracht, Ralph. Ich werde dort in aller Unschuld und Naivität auftreten, und sie werden mir meinen Vormund übergeben. Du wirst schon sehen.“
Er stand ebenfalls auf. „Du kannst nicht allein gehen!“
„Das habe ich auch nicht vor“, sagte sie trocken. „Wir müssen zuerst nach Hause, damit ich mich umziehen kann. Und du musst dich auch umziehen.“
„Ich?“
„Allerdings!“
„Umziehen?“
„Der äußere Schein ist alles, Ralph“, erklärte sie. Er sah sie verwirrt an. „Komm jetzt. Ich denke, wir sollten uns beeilen.“ Sie hielt inne. „Ralph, das alles weiß doch niemand, oder? Es weiß doch niemand, dass der Earl of Carlyle Tristan in seiner Gewalt hat?“
„Niemand außer mir. Und dir natürlich.“
Sie spürte, wie sich eine knöcherne kalte Hand um ihr Herz krampfte. Lieber Gott, egal was für ein Untier er auch sein sollte, der Earl of Carlyle würde doch wohl nicht einfach einen Mann ermorden?
„Ralph, wir haben keine Sekunde zu verlieren“, sagte sie, packte seinen Arm und zog ihn mit sich.
„Der Mann schläft jetzt“, erklärte Evelyn Prior, als sie den Raum betrat. Sie ließ sich in einen mächtigen Ohrensessel vor dem Kamin sinken. In dem anderen Sessel hatte sich der Hausherr niedergelassen. Grübelnd starrte er in die Flammen und kraulte den Kopf seines Irischen Wolfshundes Ajax.
Brian Stirling, Earl of Carlyle, sah sie nachdenklich an. Nach einem Moment fragte er: „Wie schwer ist er verletzt?“
„Oh, nicht schwer, möchte ich sagen. Der Arzt meinte, er habe einen Schock und ein paar Schürfwunden. Doch er glaubt nicht, dass er sich etwas gebrochen hat, als er über die Mauer geklettert und abgestürzt ist. Ich denke, in ein paar Tagen wird er völlig wiederhergestellt sein.“
„Er wird also nicht nachts durchs Haus schleichen und uns so Ärger bereiten?“
Evelyn lächelte. „Liebe Güte, nein. Corwin hält Wache im Flur. Und wie du weißt, halten wir die Gruft immer fest verschlossen. Nur du und ich haben einen Schlüssel. Also selbst wenn er herumwandern würde, könnte er nichts finden. Aber er wird nicht herumwandern. Der Arzt hat ihm eine kräftige Dosis Laudanum gegen die Schmerzen gegeben.“
„Corwin soll darauf achten, dass er nicht herumschleicht“, entschied Brian. Er hatte nur wenig Personal auf Schloss Carlyle. Viel zu wenig für einen solchen Besitz. Jeder Einzelne hier war nicht nur Bediensteter, sondern auch Freund. Ihm treu ergeben, weit mehr, als es vielleicht den Anschein hatte.
„Du hast natürlich recht. Corwin wird sehr gewissenhaft sein.“
„Was ist wohl in diesen Mann gefahren, so etwas zu tun?“, fragte Brian. Wieder wandte er Evelyn den Blick zu. „Das Anwesen selbst ist völlig überwuchert. Ein wahrhafter Dschungel. Es ist erstaunlich, dass er es riskieren wollte, sich einen Weg da durchzubahnen.“
„Der Besitz war außerordentlich gepflegt, als deine Eltern noch lebten“, murmelte Evelyn.
„Ein Jahr mit englischem Regen kann wahre Wunder vollbringen, meine Liebe", erwiderte Brian. „Jetzt haben wir hier einen Dschungel und wilde Tiere. Warum sollte er das riskieren?“
„Weil er große Reichtümer zu finden hoffte“, entgegnete sie.
„Glaubst du, dass er für jemanden arbeitet?“, fragte Brian scharf.
Sie hob die Hände. „Ganz ehrlich? Nein, ich glaube, er ist gekommen, um irgendetwas Wertvolles zu stehlen und sonst nichts. Aber natürlich ist es möglich, dass er für jemanden arbeitet und in Erfahrung bringen will, was du hast und was du weißt.“
„Das werde ich morgen herausfinden“, erklärte Brian. Seine Stimme klang frostig, obwohl er es gar nicht so meinte. Aber wenn es um Schloss Carlyle oder seine derzeitigen Aktivitäten ging, wurde er gern etwas schroff. Er war verbittert, und zwar zu Recht. Es ging um mehr als die Vergangenheit, die aufgeklärt werden sollte. Es ging um seine Zukunft.
Evelyn betrachtete ihn besorgt. Sein Ton gefiel ihr nicht. „Der Mann hat gesagt, sein Name sei Tristan Montgomery. Und er schwört, dass er allein war. Aber das weißt du ja bereits.“
„Ja, ich weiß. Er behauptet auch, dass er auf mein Land ,gestolpert‘ sei. Wie jemand über eine drei Meter hohe Mauer stolpern kann, ist mir allerdings nicht klar. Da er behauptet, nichts Böses im Schilde geführt zu haben, besteht er natürlich auch darauf, an keiner Verschwörung beteiligt zu sein. Aber wir werden sehen. Shelby wird morgen in die Stadt fahren und versuchen, etwas über den Mann herauszufinden. Natürlich bleibt er unser Gast, bis wir seine wahren Absichten kennen.“
„Sollte ich morgen vielleicht auch in die Stadt fahren und ein paar Einkäufe erledigen?“
„Vielleicht“, sagte Brian nachdenklich. Dann seufzte er tief.
„Und vielleicht ist es auch Zeit, dass ich eine von den Einladungen annehme, die mich in der letzten Zeit erreicht haben.“
Evelyn lächelte. „In der Tat, das habe ich dir ja oft genug gesagt. Aber bedenke all die verängstigten Mütter der Debütantinnen.“
„Auch wieder wahr.“
„Es ist schade, dass du keine Verlobte oder Frau hast, die dich begleiten kann. Als Beweis, dass auf diesem Haus kein Fluch liegt und dass du kein Untier bist, sondern ein Mann, der eine große Familientragödie erlitten hat.“
„Auch das stimmt“, murmelte er und warf ihr einen Blick zu, während er über ihre Worte nachdachte.
„Oh, du liebe Zeit, sieh nicht mich so an.“ Evelyn lachte. „Ich bin viel zu alt, Mylord.“
Er musste grinsen. Evelyn war eine schöne Frau. Ihre grünen Augen sprühten vor Intelligenz, und obwohl sie sich schon den vierzig näherte, war ihr Gesicht so fein geschnitten, dass sie selbst mit hundert schön sein würde. Falls Gott ihr ein so langes Leben schenkte.
„Ach, Evelyn, du kennst mich wie keine andere Frau, und du hast ganz recht.“ Seine Züge verhärteten sich. „Aber selbst wenn ich eine junge Dame wüsste, ich würde sie nicht in diese Geschichte hineinziehen. Wer weiß, in welche Gefahr sie geriete.“
„Niemand würde eine Unschuldige in dieses Netz des Bösen verstricken“, murmelte Evelyn. „Eine Frau wäre sicher nicht in Gefahr.“
„Meine Mutter ist tot, oder etwa nicht?“, erwiderte er knapp.
„Deine liebe Mutter war ein sehr ungewöhnlicher Mensch, daran musst du immer denken. Mit ihrem Wissen, ihren Zielen, ihrem Mut“, erklärte Evelyn. „Eine Frau wie sie gibt es nicht noch mal, Brian, glaub mir.“
„Nein“, stimmte Brian zu. „Dass diese Unmenschen eine Frau ermordet haben, hat mein Herz zu Stein werden lassen. Wobei ich diese Sache mit derselben Vehemenz verfolgen würde, wenn nur mein Vater so grausam getötet worden wäre.“ Er zögerte einen Moment. „Ach, Evelyn, es gefällt mir nicht, dass auch du in die Sache verwickelt bist.“
„Ich war doch schon vor dir darin verwickelt“, erinnerte sie ihn sanft. „Und ich bin gern bereit, mein Leben aufs Spiel zu setzen und alles, was ich besitze. Ich glaube jedoch nicht, dass ich mich in irgendeiner Gefahr befinde. Ich habe nicht das Wissen deiner Mutter. Deswegen wäre auch eine junge Frau an deiner Seite nicht in Gefahr. Im Gegensatz zu dir. Jeder deiner Gegner weiß, dass du die Toten nicht ruhen lässt, bis sie es nicht in Frieden tun können.“
„Ich bin es, der verflucht ist“, sagte er.
„Und du glaubst an Flüche?“, fragte sie amüsiert.
„Es kommt darauf an, wie man einen Fluch auslegt. Bin ich verflucht? Ja. Ich lebe in einer Hölle. Kann der Fluch aufgehoben werden? Bestimmt. Aber ich muss das Gegenmittel finden, mit meiner ganzen Kraft“, erklärte er düster.
Evelyn schüttelte den Kopf. „Da siehst du es. Eine entzückende Frau, die trotz deines Gesichtes und allem, was passiert ist, zu dir steht, könnte Carlyle verändern. Den Mann und das Schloss, wenn du so willst. Vielleicht gibt es jemanden, den wir … engagieren könnten.“
„Das meinst du ernst?“
„Und ob. Ich finde, du brauchst eine Schönheit an deiner Seite. Jemanden, der dich in die Salons der Gesellschaft begleitet. Jemanden, der aller Welt beweist, dass du ein Mensch bist.“
„Und ich habe so hart an dem Ruf gearbeitet, böse und brutal zu sein“, erwiderte er sarkastisch.
„Ja, das war auch notwendig“, stimmte Evelyn ihm zu. „Und es hat funktioniert. Wir hatten keine Eindringlinge im Schloss – bis heute.“
„Zumindest keine, von denen wir wissen“, entgegnete er scharf.
„Brian, es ist Zeit für Veränderungen.“
„Ich kann meinen Kurs nicht ändern, solange ich nicht angekommen bin.“
„Vielleicht wirst du niemals ankommen.“
„Da irrst du dich. Das werde ich.“
Sie seufzte. „Gut, dann sieh es mal mit meinen Augen. Du hast getan, was getan werden konnte. Aber ich glaube wirklich, es ist Zeit, wieder in der Gesellschaft aufzutauchen. Da ist doch diese Einladung zu der Wohltätigkeitsveranstaltung. Du bist sicher, dass es sich bei den Tätern um Leute handelt, die unter den Gelehrten zu suchen sind. Das ist bestimmt eine richtige Annahme, denn wer kommt eher in Frage als Menschen, die ihre Faszination für die Wunder einer uralten Welt mit deinen Eltern geteilt haben? Du hast mir auch erzählt, dass du die Liste der Verdächtigen inzwischen sehr zusammengestrichen hast.“
Er sprang auf und lief unruhig vor dem Feuer auf und ab. Ajax spürte, wie aufgewühlt sein Herr war, und winselte nervös. Brian blieb stehen, um den riesigen Hund zu beruhigen. „Es ist alles gut, mein Junge“, sagte er. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Evelyn zu. „Ja, wir suchen jemanden, der sich auf diesem Gebiet sehr gut auskennt. Unzweifelhaft. Aber wir suchen auch jemanden, der eines Mordes fähig ist. Der einen so verschlagenen und arglistigen Plan aushecken kann.“
Evelyn schwieg einen Augenblick. Auch nach einem Jahr noch schmerzte die Erinnerung, auf welche entsetzliche Weise der Earl und seine Countess zu Tode gekommen waren.
Brian ging zu dem kleinen Tisch, der hinter den Sesseln stand. Er goss sich einen Brandy ein und schüttete ihn in einem Zug hinunter. „Verzeih mir meine schlechten Manieren“, sagte er. „Möchtest du auch einen Brandy, meine Liebe?“
„Ja, sehr gern“, erwiderte sie lächelnd. Er goss ihr ein und füllte sein eigenes Glas erneut.
Dann erhob er es und sagte trocken: „Auf die Nacht, die Dunkelheit und die Schatten.“
„Nein, nein, auf den Tag und das Licht“, entgegnete sie bestimmt.
Er verzog das Gesicht.
„Ich sage dir, es ist Zeit“, insistierte Evelyn. „Wir müssen einfach eine reizende Frau für dich finden. Nicht besonders wohlhabend oder adelig. Das wäre zu abwegig, wenn man bedenkt … nun, bei deinem Ruf. Das würde niemand glauben. Aber es muss alles stimmen, einfach zusammenpassen. Sie sollte jung sein, schön, mitfühlend und einen gewissen Charme besitzen. Mit der richtigen Frau an deiner Seite wärst du in der Lage, deine Nachforschungen fortzuführen, ohne von Müttern belästigt zu werden, die bereit sind, ihre Töchter für den Reichtum von Carlyle einem Biest zu opfern.“
„Und wo finde ich so eine charmante Schönheit?“, fragte er grinsend. „Sie muss intelligent sein, sonst hilft es nicht, sie an meiner Seite zu haben. Die Idee, so eine Frau irgendwo auf der Straße zu finden und zu engagieren, wird nicht funktionieren. Also gibt es wenig Hoffnung, denn es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass eine so perfekte Kandidatin einfach an unsere Tür klopft.“
In genau diesem Moment klopfte es fest.
Shelby kam herein, als er dazu aufgefordert wurde. Er sah ein wenig bizarr aus in seiner Lakaienuniform, die nicht für einen Mann seiner Größe und Statur gemacht war.
„Da ist eine junge Frau, die Sie sprechen möchte, Lord Brian.“ Er wirkte ziemlich verblüfft.
„Eine junge Frau?“, wiederholte Brian mit gerunzelter Stirn.
Shelby nickte. „Sogar eine sehr schöne junge Frau. Sie wartet unten am Tor.“
„Eine junge Frau“, rief Evelyn und starrte Brian an.
„Ja, ja, ich habe verstanden. Wie ist ihr Name? Warum ist sie gekommen?“
„Was tut das zur Sache?“, warf Evelyn ein. „Bitte sie herein und finde heraus, was sie möchte.“
„Natürlich tut es etwas zur Sache, Evelyn. Sie muss eine Närrin sein, hierher zu kommen. Oder sie arbeitet für jemanden“, sagte Brian.
Evelyn wedelte aufgeregt mit der Hand. „Shelby, bring sie herein. Sofort! Oh, Brian, du musst nicht immer so misstrauisch sein!“
Er hob eine Augenbraue.
„Brian, bitte, wir hatten keinen Besuch mehr seit … seit Jahren“, beendete sie den Satz und errötete leicht. „Ich kann uns ein herrliches Essen richten. Das ist alles so aufregend.“
„Aufregend!“, sagte Brian trocken. Er hob die Hände. „Shelby, bitte die junge Frau herein.“ Er sah Evelyn an. „Denn sie hat in der Tat an unsere Tür geklopft.“