Kapitel 1
London, 1839
Bei den seltenen Gelegenheiten, da sich Miss Phillipa Beatrice Cavanaugh – Pippa für ihre Freunde und Verwandten – in der Öffentlichkeit zeigte, gab es in der haut monde von London kein Getuschel mehr. Auch an diesem Abend auf Lady Peregrines Mitternachtsball hörte Pippa keine halblauten Bemerkungen über ihre Familie; Bemerkungen, die sie ins Mark treffen und ihr das Herz hätten schwer machen können.
Doch die Blicke der Umstehenden waren auch heute wieder abschätzig, voreingenommen und zuweilen auch mitleidig. Und kaum einer der Lords und Ladys trat auf Pippa und ihre Mutter, Lady Lavinia Cavanaugh, zu, um sie in ihrem illustren Kreis willkommen zu heißen. Und das, obwohl Pippa die Tochter des Barons Lord Rupert Cavanaugh war.
Nein, halt … die Tochter eines erbärmlichen davongelaufenen Barons.
Bei Pippas Skandal handelte es sich nicht um die Allerweltsverfehlungen, mit denen sich die meisten besseren Familien herumschlagen mussten – halsbrecherische Wagenrennen, Spielschulden, kompromittierte Damen oder eine Flucht nach Gretna Green. Vielmehr hatte das egoistische Verhalten ihres Vaters nicht nur dafür gesorgt, dass der gute Ruf der zweiundzwanzigjährigen Pippa schon seit Jahren beschädigt war, sondern dass sie und ihre Mutter auf den Stand des verarmten Adels herabgesunken waren. Der bescheidene Landsitz ihrer Familie in Hertfordshire war dem Verfall preisgegeben, und das nur, weil ihr Vater sie verlassen hatte, um mit der Frau, die er liebte, in Amerika zu leben. Im Laufe der Jahre hatte er Pippa hin und wieder geschrieben und ihr mitgeteilt, dass er zwei Kinder mit seiner reichen amerikanischen Geliebten hatte. Und während Pippas Mutter nur verbittert von den kleinen Bastarden ihres Mannes sprach, sehnte sich ein Teil von Pippa danach, ihre Geschwister kennenzulernen.
Doch noch immer hing der schreckliche Skandal, den ihr Vater verursacht hatte, wie eine übelriechende Wolke über ihren Köpfen. Es war, als hätten seine Untreue und Ehrlosigkeit irgendwie auf seine Tochter abgefärbt. Der Schmerz und die Schande hatten dazu geführt, dass sich ihre Mutter gemeinsam mit Pippa seit fünf Jahren in einem ländlichen Winkel vergraben und alle Einladungen zu den Freuden der Londoner Saison ausgeschlagen hatte. Obgleich sich ihr Verwalter alle Mühe gegeben hatte, den Besitz vor dem Bankrott zu retten, hatte er ihnen mitteilen müssen, dass ihre finanziellen Mittel nun nahezu erschöpft waren.
Als ihre Mutter ihr traurig mitgeteilt hatte, dass es für Pippa an der Zeit wäre zu heiraten, hatte diese nichts dagegen einzuwenden gehabt. Sie sah darin eine Möglichkeit, der Schande und dem Schmerz zu entkommen, den ihr Vater ihnen zugefügt hatte. Vielleicht wäre eine Ehe ja ein Neuanfang und der Weg zu einem besseren Leben. Überhaupt wäre alles besser als das öde Landleben, das an Abwechslungen nur lange Spaziergänge, den Kirchgang und ländliche Bälle bot. Das Einzige, was ihr wirklich Spaß machte, war die romantische Komödie, an der sie schrieb, und die das Leben der Bewohner des idyllischen Dorfes Crandleforth zum Thema hatte.
Doch um ehrlich zu sein, waren es die Leute von Crandleforth, die bei Pippa fast so etwas wie ein Heimatgefühl aufkommen ließen. Hier machte sie niemand für den Fehltritt ihres Vaters verantwortlich, und sie und ihre Mutter wurden wie gute Freunde, ja fast schon Familienangehörige, behandelt. Dennoch wäre Pippa gerne fortgegangen. Es musste doch im Leben noch etwas anderes geben als das Wohl und Wehe der Einwohner von Crandleforth, und seien sie auch noch so nett.
Jetzt, auf dem vornehmen Ball, ärgerte sich Pippa über sich selbst, weil sie an das böswillige Gerede in der Vergangenheit dachte. Sie zwang sich zu einem leichten Lächeln und tappte leise mit dem Fuß im Takt der lebhaften Musik. Heute Abend ging es um die Zukunft und nicht darum, sich mit Gedanken an die Vergangenheit zu quälen.
Sie war nun seit einer Woche in der Stadt, und das glitzernde Getriebe der gesellschaftlichen Saison war geradezu überwältigend. Der heutige Ball fand in einem prächtigen Saal statt, von dem eine Treppe mit vergoldetem Geländer nach oben führte, die einen guten Blick auf die eintreffenden Gäste erlaubte. Alle waren hochelegant nach der neuesten Mode gekleidet und mit kostbaren Juwelen geschmückt. Mehrere goldene Kronleuchter hingen an der Decke des Ballsaals, die wunderschön in vielerlei Schattierungen von Himmelblau bemalt war. Unablässig schlängelten sich Diener mit Erfrischungen durch die Menge; die Luft schwirrte von Lachen und Stimmengewirr, und es wurde getanzt. Die fröhliche Atmosphäre war wirklich eine willkommene Abwechslung zum eintönigen, wenn auch friedlichen Crandleforth.
„Ach, Pippa, es tut mir so leid, dass dich noch keiner zum Tanz aufgefordert hat“, flüsterte eine Stimme zu ihrer Linken. „Dabei bist du eines der hübschesten Mädchen heute Abend! Ich hatte schon sechs Tänze, und meine Füße brauchen eine Pause, während du noch nicht ein einziges Mal gebeten worden bist. Ich kann es wirklich kaum fassen.“
Lady Miranda, eine gute Freundin aus Kindertagen, trat an Pippas Seite und ergriff ihre Hand. Mirandas Worte waren nicht unfreundlich gemeint, sie entsprachen einfach der Wahrheit. Und dass die Tanzkarte ihrer Freundin immer voll sein würde, hatte Pippa nicht anders erwartet. Miranda war schlank und anmutig. Mit ihrem goldenen Haar, das nach der herrschenden Mode in einem Wust von Locken auf ihrem Kopf aufgetürmt war, war sie sehr hübsch und bei den jungen Burschen begehrt. Alleine in dieser Saison hatte sie bereits drei Heiratsanträge bekommen und sie allesamt abgelehnt, denn ihre Familie hatte größere Pläne mit ihr.
„Das macht mir nichts aus“, erwiderte Pippa. „Ich sehe sowieso niemanden, den ich mit einem Tanz beehren möchte.“ Pippa wartete nämlich darauf, dass sich an diesem Abend ein ganz bestimmter Gentleman erklären würde. Daher hatte sie auch unbedingt auf diesen Ball gehen wollen, trotz des eher kühlen Empfangs auf einem Ball vor drei Tagen und einem Hauskonzert am Vortag.
Strahlend grüne Augen blickten auf die wesentlich kleinere Pippa hinunter.
„Ach, Pippa, ich fühle mich ganz elend, weil ich mich so gut amüsiere, während du nur zuschauen musst.“
„Ich sehe den anderen gerne beim Tanzen zu. Du weißt ja, ich habe zwei linke Füße und würde meinem Tanzpartner wahrscheinlich nur auf die Zehen treten“, erwiderte sie zum Spaß.
Miranda verdrehte sehr undamenhaft die Augen, was große Entrüstung und einen scharfen Tadel nach sich gezogen hätte, wenn ihre Mutter, die Countess Leighton, in der Nähe gewesen wäre. Es war ein Wunder, dass die Countess, die von ihrer Tochter tadelloses Benehmen erwartete, deren Freundschaft mit Pippa überhaupt zuließ. Der Grund dafür war, wie Pippa wusste, dass ihre Mutter und die Countess schon seit Jahrzehnten befreundet waren. Als Kind hatte Pippa im Sommer mehrmals das Landhaus der Countess in Lincolnshire besucht und sich dabei mit Miranda angefreundet. Sie war froh, dass die Countess zu ihnen gehalten hatte, als der Skandal öffentlich bekannt wurde. Sie war stets die beste und treueste Freundin ihrer Mutter geblieben.
Miranda drückte ihren Arm. „Es wird gemunkelt, dass der Duke of Carlyle heute Abend hier erscheinen soll, was ein grandioser Erfolg für Lady Peregrine wäre. Aber ich habe ihn noch nicht gesehen. Dabei würde ich das so gerne!“
„Benimm dich, Miranda! Und was würdest du tun, wenn du den Duke zu Gesicht bekämst?“
Pippas Freundin lächelte schelmisch und strich sich eine Locke hinter das Ohr. „Na, schamlos mit ihm flirten natürlich. Ich habe ihn schon einmal getroffen, und ich muss sagen, wir wären das perfekte Paar! Er ist so flott und gut aussehend! Mama wäre sehr zufrieden mit mir, wenn ich seine Aufmerksamkeit erregen könnte. Stell dir vor, ich als Duchess! Das wäre vielleicht schön.“
Pippa hatte eine große Schwäche für Skandalblättchen, und die berichteten ausführlich über den geradezu verboten attraktiven, aber äußerst langweiligen Christopher Worth, den Duke of Carlyle. Dass Miranda sich ausgerechnet ihn in den Kopf gesetzt hatte, konnte nur an seinem Titel liegen.
Pippa überlegte, ob sie ihrer Freundin raten sollte, sich einen Mann aus dem Kopf zu schlagen, von dem die Gesellschaftspresse betrübt berichtete, dass er vielleicht nie heiraten würde. Offenbar fand er keine Frau, die genauso langweilig, korrekt und kleinkariert war wie er selbst. Obwohl es nicht den kleinsten Skandal über den Mann zu vermelden gab, wurde sein Privatleben Woche für Woche in den Klatschblättern durchgehechelt. Erst letzte Woche konnte man erfahren, dass er eine Leihbücherei aufgesucht hatte. Auch wenn sie nicht wusste, was daran erwähnenswert war, hatte Pippa, wie sie sich eingestehen musste, den Artikel geradezu verschlungen.
Miranda reckte ihren anmutigen Hals, als hielte sie nach jemandem in der Menge Ausschau. „Da drüben ist Lady Shelly. Ich muss mit ihr reden. Möchtest du mitkommen?“
„Lieber nicht“, antwortete Pippa. „Ich gehe ein bisschen auf die Terrasse, weil mir ziemlich warm ist.“
Miranda nickte und machte sich auf den Weg in Richtung des purpurroten Turbans am Tisch mit den Erfrischungen. Seufzend schaute Pippa sich nach dem Herrn um, wegen dem sie überhaupt zum Ball gekommen war – Mr. Nigel James Williamsfield. Heute Abend würde alles gut werden, und alle würden sehen, wie vollständig sie und ihre Mutter das Ereignis überwunden hatten, das die gute Gesellschaft, die Zeitungen und Klatschblätter nur die Katastrophe nannten. Ein Schmerz, der über sie hereingebrochen war und wie mit Zähnen und Klauen ihre Familie zerrissen hatte.
Denn heute Abend würde sich Nigel vor allen Anwesenden zu Pippa bekennen, einfach, indem er sie zum Tanz bat. Ganz simpel und doch so kompliziert. Inmitten der Menschenmenge bemerkte sie ihre Mutter, die ihr zuzwinkerte und mit dem Kinn nach oben deutete. Pippa schnappte nach Luft, als sie sah, wie Nigel die breite Treppe zum Ballsaal hinunterstieg. Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen, um ihm nicht entgegenzulaufen. Er war so spät dran, dass sie schon fast nicht mehr mit ihm gerechnet hatte. Pippa lachte leise. Am liebsten wäre sie vor freudiger Erwartung im Kreis herumgewirbelt.
Ihr ging es nicht um den Beifall der High Society, doch im tiefsten Inneren wünschte sie sich, dass alle sehen konnten, wie begehrt sie war. Dass sie durch den Skandal nicht so anrüchig, unliebenswert und als Ehefrau inakzeptabel geworden war, wie man sich monatelang zugeflüstert hatte. Noch immer wollte kein Gentleman sie um einen Tanz bitten, mit ihr durch den Park spazieren oder eine Ausfahrt mit der Kutsche unternehmen. Für sie gab es keine Bouquets aus Rosen und Lilien am Morgen nach einem Ball. Doch ein einziger Tanz mit Nigel würde allen zeigen, dass sie trotz des Skandals als Braut von seiner hochgestellten Familie akzeptiert wurde.
Sie hatte ihn einige Monate zuvor kennengelernt. Seitdem war er ihr bester Freund geworden, und sie hatten lange Spaziergänge in der Umgebung von Crandleforth unternommen. Wie freundlich und verständnisvoll er gewesen war; wie unermüdlich er ihr den Hof gemacht hatte, selbst nachdem er von ihrer Mittellosigkeit und ihrem angeschlagenen Ruf erfahren hatte.
Ihre Mutter, die schon nicht mehr mit einer guten Partie für Pippa gerechnet hatte, schöpfte neue Hoffnung. Und auch Pippa selbst hatte, wie sie gestehen musste, nicht mehr auf eine Heirat gehofft, auch wenn sie sich sehr nach einer eigenen Familie sehnte. Einen Ehemann, den sie lieben, und Kinder, denen sie all die Geschichten erzählen konnte, die sie sich im Laufe der Jahre zum Zeitvertreib ausgedacht hatte.
In diesem Augenblick begegnete ihr Blick dem Nigels, und sie musste unwillkürlich lächeln. Es war schon vier Wochen her, seit sie einander zum letzten Mal geschrieben hatten. In ihrem Brief hatte Pippa ihm mitgeteilt, dass sie schon fast nicht mehr zu hoffen wagte, jemals nach London zu kommen. Als Antwort hatte er seine Liebe zu ihr bekräftigt und sich darüber beklagt, wie öde jeder Ball ohne sie sei und wie sehr er sich nach einem Wiedersehen in London sehnte.
Zur großen Beschämung ihrer Mutter hatten sie in den letzten drei Jahren ihr Stadthaus in Mayfair an eine Kaufmannsfamilie vermieten müssen. Daher hatte sie sich an ihre liebe Freundin Lady Leighton um Hilfe gewandt, und nun logierten sie bei der Countess in deren Stadthaus am Russell Square.
Pippas Lächeln erstarb, als sie sah, wie Nigel durch sie hindurchstarrte und dann den Blick abwandte. Ein schreckliches Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er sie in der Öffentlichkeit einfach ignorierte. Damit hätte Pippa niemals gerechnet.
Sie reckte das Kinn, entschlossen, sich zu gedulden und nichts zu überstürzen. Doch die Minuten vergingen, und der Druck auf ihrer Brust breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Ihre Mutter wirkte wie vom Donner gerührt, als Nigel ohne ein Wort an ihr vorüberging. Als er seine Runden durch die Schar der Gäste drehte, ließ sich leicht erkennen, wie beliebt er war.
Pippa konnte seine Zuneigung und Aufmerksamkeit unmöglich falsch gedeutet haben. Mehrmals hatte er ihr seine Liebe erklärt und auch ihre Mutter wissen lassen, dass er um Pippas Hand anhalten wollte. Während der vergangenen Monate, in denen die Countess mutlos und bedrückt gewesen war, hatte es Nigel fertiggebracht, sie durch seine Gegenwart aufzuheitern.
Pippa nahm sich ein Glas Champagner vom Tablett eines vorübergehenden Dieners und trank ein paar undamenhaft große Schlucke. Ach! Wie groß war ihre Erleichterung, als sie ihn in Begleitung seiner Mutter, der Viscountess Perth, auf sich zukommen sah. Schon tat es ihr leid, dass sie an ihm gezweifelt hatte, und sie blickte ihm entgegen, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie einander kannten. Ihr entfuhr ein leises Keuchen, als er so dicht an ihr vorüberging, dass die Jacke seines dunklen Abendanzugs sie fast gestreift hätte. Wenige Schritte von ihr entfernt blieb er stehen, verbeugte sich vor der entzückenden Miss Elinor Darwhimple und bat sie um den nächsten Tanz.
Vor Beschämung und Schmerz wäre Pippa am liebsten davongelaufen, doch erstaunlicherweise tat sie es nicht. Die Minuten vergingen, während sie am Rand der Tanzfläche stand und beobachtete, wie auch ihre Mutter angesichts des Schocks und der zerstörten Hoffnungen um Fassung rang. Erschrocken zuckte Pippa zusammen, als ein Diener an sie herantrat und ihr diskret eine Nachricht übergab. Sie trat an eine Säule und las die wenigen Worte.
Wir treffen uns im Wintergarten.
Und darunter eine Rose als Nigels Zeichen, so wie in all den Briefen, die er ihr geschickt hatte. Wie eine Woge brach Zorn über sie herein und riss Schmerz und Scham mit sich. Wie konnte er es wagen!
Sie blickte sich um und bemerkte, dass er sie beobachtete. Betont langsam riss sie den Zettel in kleine Fetzen, worauf er sich abwandte, um drei Damen in der Nähe zu begrüßen. Zu ihrem Unmut stellte Pippa fest, dass ihre Kehle vor ungeweinten Tränen brannte. Die Papierschnipsel fest in der Faust schob sie sich durch die Menge, weil sie dringend frische Luft brauchte. Doch sie ging nicht zu den weit geöffneten Terrassentüren, durch die man in den Garten gelangte, sondern verließ den Ballsaal und schritt durch die fast menschenleere Eingangshalle. Einige Wochen zuvor hatten Pippa und Miranda die Countess zum Tee bei Lady Peregrine begleitet, und Pippa versuchte sich zu erinnern, wo es zur Bibliothek ging.
Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie umgeben von Büchern wieder zu Atem kommen würde; und dann würde sich vielleicht auch das Engegefühl lösen, das sich von ihrem Herzen bis hinauf in die Kehle ausgebreitet hatte. Als sie an eine große Eichentür kam, klopfte sie aus Gewohnheit an, obwohl es unwahrscheinlich war, dass sich jemand in der Bibliothek aufhielt. Als keine Antwort kam, drückte sie die Tür einen Spalt auf und schlüpfte hindurch. Die weitläufige Bibliothek war von bleichem Mondlicht erfüllt, das den halben Raum in silbrige Schatten tauchte. Im Kamin glimmte noch ein wenig Glut. Pippa trat an die Fenster, die trotz der nächtlichen Kühle weit geöffnet waren.
Plötzlich ging die Tür auf. Sie fuhr sie herum und erstarrte, als sie Nigel erkannte.
„Meine Liebe, ich –“
„Du bist mir gefolgt?“
Angesichts ihres scharfen Tons zögerte er. „Das musste ich doch, als ich sah, wie du meine Nachricht zerrissen hast, meine Liebste.“
„Sie werden mich gefälligst nicht so vertraulich anreden, Sir, und mir nicht zu nahe kommen“, fauchte sie ihn wütend an, als er Anstalten machte, weiter in den halbdunklen Raum zu treten.
Darauf blieb er stehen, und sie starrten einander in gespanntem Schweigen an. Am liebsten hätte sie ihm befohlen, zu gehen, oder wäre selbst aus dem Fenster geklettert, um dieser Konfrontation zu entgehen. Pippa fürchtete sich vor dem Grund für sein Verhalten heute Abend. Vor der Zerstörung all ihrer Träume und Hoffnungen, die ihr Herz in den letzten Wochen erfüllt hatten. Doch sie war kein Feigling, und deswegen musste sie die Wahrheit hören, selbst wenn es ihr das Herz brach. „Warum hast du mich nicht begrüßt oder mich zum Tanzen aufgefordert? Stattdessen hast du so getan, als würden wir einander gar nicht kennen und wären auch nicht verlobt.“
Fast schien es ihr, als zuckte er zusammen. Aber vielleicht spielte ihr das Mondlicht nur einen Streich.
„Liebste –“
„Nenn mich nicht so“, sagte sie, wütend darüber, wie heiser vor Schmerz ihre Stimme klang.
„Ich … Ich werde heiraten“, sagte er schließlich.
Sie starrte ihn einige Sekunden lang verständnislos an, bevor ihr aufging, dass er eine andere Frau meinte. Trotzdem fragte sie: „Jemand anderen?“
Er fuhr sich mit den Fingern durch das hellbraune Haar und brachte damit seine formvollendete Frisur durcheinander. „Ja. Elinor Darwhimple.“
Der Schock ließ Pippa geradezu versteinern. „Wurde es schon öffentlich verkündet?“
„Noch nicht. Aber wir sind uns einig geworden, und die Verhandlungen zwischen unseren Familien sind abgeschlossen. Morgen geht die Verlobungsanzeige an die Zeitungen.“
Wortlos starrte sie ihn an. Sie war verletzt und enttäuscht und empfand zugleich ein Gefühl der Unwirklichkeit. Endlich fand sie ihre Stimme wieder: „Du hast gesagt, du wolltest mich heiraten … Du hast es sogar meiner Mutter gegenüber gesagt …“ Sie wankte wie unter der Last zerbrochener Träume. „Du hast gesagt, du liebst mich und willst mich heiraten.“
Mit raschen Schritten war er bei ihr und ergriff ihre behandschuhten Hände. „Und als ich dir meine Liebe erklärte und dich um einen Kuss bat, sagtest du, du würdest mich noch nicht lieben“, erinnerte er sie in ernstem Ton, als würde das sein unerhörtes Verhalten entschuldigen. „Du hast meine Gefühle nicht in dem Maße erwidert, wie ich es mir gewünscht hätte, meine Liebste. Du wirst doch sicher begreifen, wie verwirrend ich deine mangelnde Begeisterung und Ermutigung fand.“
Nein … Sie hatte noch nicht die Liebe für ihn empfunden, wie sie die Dichter besangen und wegen der ihre Mutter sich noch immer nach ihrem Vater verzehrte. Doch Pippa hatten Nigels angenehme Eigenschaften gefallen; sie hatte seinen Liebesschwüren geglaubt und war davon ausgegangen, dass die wahre leidenschaftliche Liebe unweigerlich irgendwann kommen würde. Plötzlich war sie froh darüber, dass sie einander nie berührt hatten und sie sich geweigert hatte, ihn zu küssen, als er sie darum bat. Dieses Vorrecht hatte er nicht verdient.
Er war so freundlich und zuvorkommend gewesen und hatte stets ihre Gesellschaft gesucht. Auf den Bällen im Gemeindehaus hatte er mit ihr getanzt, und die Einwohner von Crandleforth, die spürten, dass eine Eheschließung in der Luft lag, hatten ihnen gratuliert, lange bevor sich Pippa überhaupt eine Beziehung vorstellen konnte. Doch Nigel hatte nie die Absicht gehabt, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er war nur auf eine Liebelei und vielleicht sogar eine Verführung aus gewesen. Dieser Schuft.
Ihr freundschaftliches Geplänkel, das Lachen, die Tänze und die Kutschfahrten hatten ihm nichts bedeutet. „Jedes Wort von dir war gelogen“, flüsterte sie. „Ich war ehrlich zu dir, aber du hast mich betrogen.“ Und sie hatte es nicht gemerkt! Ebenso wenig wie sie gemerkt hatte, dass ihr Vater ihre Mutter nicht mehr liebte und sein Herz längst anderweitig vergeben hatte. Wie konnte sie noch immer so naiv sein?
„Bitte zweifle nicht an meinen zärtlichen Gefühlen für dich. Ich verspreche dir, dass sich nichts daran ändern wird. Ich werde für dich sorgen, dir ein Stadthaus nebst Kutsche zur Verfügung stellen und dir eine Apanage zahlen. Ich möchte dich nicht verlieren, und du wirst mich auch nicht verlieren, meine Süße“, setzte er ernsthaft hinzu. „Das verspreche ich dir!“
Pippa wurde ganz flau. „Du willst für mich sorgen … mit einer Kutsche und Geld …“ Sie verstummte und starrte ihn entgeistert an. Sie mochte zwar die letzten Jahre auf dem Land verbracht haben, aber dennoch besaß sie genug Erfahrung mit den Grausamkeiten der Welt, um zu wissen, dass er sie aushalten wollte. Als seine Mätresse. „Ich soll dir als Freudenmädchen dienen?“
„Mein Liebling –“
Mit einem Ruck entzog sie ihm ihre Hände. „Du bist ein widerliches, abstoßendes Schwein! Und mit diesem Vergleich würde ich noch alle Schweine dieser Welt beleidigen.“
Da sie dicht vor ihm stand, konnte sie sehen, wie er die Lippen zusammenpresste und seine braunen Augen sich verdunkelten. Selbst im schwachen Mondlicht bemerkte sie die Röte, die sein Gesicht überzog. „Aber Liebste –“
Abscheu schnürte ihr fast die Kehle zu. „Wenn du nicht sofort verschwindest, schreie ich. Ich bin sicher, deine zukünftige Verlobte und ihre Mutter wären nicht begeistert, dich in einer verfänglichen Situation mit jemandem wie mir zu finden.“
In seinem Kiefer begann es zu zucken. Dann drehte er sich um und ging hinaus. Pippa eilte ihm nach und schloss nachdrücklich die Tür. Sie musste jetzt unbedingt ein paar Minuten alleine sein, um ihre Fassung wiederzuerlangen und die Tränen zu unterdrücken, die hinter ihren Lidern brannten, bevor sie sich wieder unter Menschen wagte und ihrer Mutter gegenübertrat. Wie würde sie die Neuigkeiten aufnehmen?
Auf dem Weg zum Fenster blieb Pippa mitten im Zimmer stehen. Ein ersticktes Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Wie dumm und hoffnungsvoll sie gewesen war. Da stand sie nun und ärgerte sich darüber, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie presste eine zitternde Hand an den Mund. Ärger war immer noch besser als dieser schreckliche Schmerz im Herzen. „Dieses unerträgliche Schwein! Diese falsche Schlange … Lump … eingebildeter Affe!“
Eine leise Stimme ließ sich aus der dunklen Ecke zu ihrer Linken vernehmen: „Na, kommen Sie schon. Ich bin sicher, das können Sie noch besser.“
Pippa schrie auf.
Kapitel 2
Mit wild klopfendem Herzen, die Hand vor den Mund gepresst, wirbelte Pippa herum und spähte in die dunkle Ecke. Dann griff sie vor Verlegenheit mit beiden Händen in die Falten ihres Kleides und spürte, wie sie rot anlief. Jemand hatte ihre groben, undamenhaften Äußerungen mitangehört. Und was noch schlimmer war, derjenige war auch Zeuge des peinlichen und privaten Wortwechsels mit Nigel geworden. Das würde einen noch nie dagewesenen Skandal geben, von dem sie und ihre Mutter sich nie mehr erholen konnten.
„Ein verdammter schwachköpfiger Idiot, ein Ganove übelster Sorte, ein ehrloser Schurke. Ein Schweinearsch, ein mieser Wurm, ein Taugenichts, ein Schlappschwanz und Wichtigtuer“, redete die Stimme zu Pippas Entsetzen weiter. „Lassen Sie Ihre Flüche nur raus. Ich werde es keinem erzählen.“
Angesichts dieser vulgären Ausdrücke stieß sie einen leisen Schreckensschrei aus. Dieser Mensch war ja völlig unmöglich. Mit einem kurzen Blick zur Tür fragte sie sich, ob sie schnell genug wäre, um dem Mann hinter der Stimme zu entkommen.
„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“, fragte er belustigt.
Pippa fehlten tatsächlich die Worte.
„Wie seltsam. Eine Frau von Ihrem … feurigen Temperament sollte doch aus härterem Holz geschnitzt sein.“
Jetzt mischte sich auch noch spöttische Verwunderung in seinen Ton.
Den Blick noch immer auf den dunklen Winkel gerichtet, reckte Pippa das Kinn und fragte: „Wer sind Sie, Sir?“ Und wie hatte er nur ein so intimes Gespräch belauschen können, ohne sich bemerkbar zu machen? So handelte kein Gentleman.
„Aha, wir legen also Wert auf formelle Vorstellungen.“
Sie schluckte, dann erwiderte sie mit gepresster Stimme: „Nein.“ Auf einmal wollte sie gar nicht mehr wissen, wer der Mann dort im Dunkeln war. Langsam wich sie zur Tür zurück.
Da klirrte plötzlich ein Glas, und sie blieb abrupt stehen. Pippa wusste selbst nicht, worauf sie wartete. Sie schrak zusammen, als eine Gaslampe entzündet wurde und die Bibliothek in ein sanftes, behagliches Licht tauchte. Jetzt konnte sie auch den Mann erkennen, und zu ihrer großen Verlegenheit entlockte sein Anblick ihr ein deutlich hörbares Keuchen.
Sie kannte ihn nicht, doch er war unbestreitbar gut aussehend mit seinem sinnlichen Mund, den markanten Wangenknochen und dem dichten rabenschwarzen Haar. Er war modisch gekleidet und offenkundig wohlhabend. Hose und Jackett waren schwarz; dazu trug er eine goldfarbene Weste und ein kunstvoll gebundenes Halstuch. Sein sorgfältig frisiertes Haar ringelte sich im Nacken zu kleinen Locken.
Hatte sie jemals einen so exquisit gekleideten, eindrucksvollen und unerhört attraktiven Mann gesehen? Während sie ihn unverfroren und äußerst unhöflich musterte, verzog sich sein Mund zu einem leisen Lächeln. Der Fremde betrachtete sie noch einen Augenblick, bevor er sich erhob und zu seiner stattlichen Größe von mehr als einem Meter achtzig aufrichtete. Er hatte breite Schultern, eine schlanke Taille, schmale Hüften und lange Beine. Er war einfach unverschämt gut gebaut.
Beklommen sah Pippa, wie er mit langsamen, gemessenen Schritten auf sie zukam. Seine Wangen und sein Kinn waren glatt rasiert und ließen deutlich die scharf geschnittenen, leicht überheblich wirkenden Züge hervortreten. Seine tiefliegenden Augen, die von einem auffallenden Silbergrau waren, blickten sie mit mildem Erstaunen an.
„Hallo“, sagte er mit sanfter Stimme.
Pippas Herz machte einen Sprung, und sie fühlte sich hin und her gerissen. Die Vorsicht riet ihr, rasch den Rückzug anzutreten, doch Pippa war sich noch nie zuvor der Anwesenheit eines Mannes so bewusst gewesen. Noch nicht einmal des Widerlings, der soeben ihre Hoffnungen zerstört hatte. Wenn sie jetzt ginge, würden bestimmt jemandem die Tränenspuren auf ihren Wangen und die vom Weinen geröteten Augen auffallen. Dennoch riet ihr die Vernunft, sich auf der Stelle davonzumachen.
Er streckte eine Hand aus, und als sie hinsah, bemerkte sie das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit darin. Rasch hob sie wieder den Blick und sah ihn an.
„Ich könnte auch schreien“, bemerkte sie mit belegter Stimme.
„Ich bin sicher, dazu sind Sie viel zu vernünftig. Aber mir scheint, sie könnten eine Stärkung vertragen“, erwiderte er mit sanfter Stimme. Er klang so mitleidig und verständnisvoll, dass Pippa blinzelte und ihn verblüfft anstarrte.
Er zog eine Augenbraue hoch und hob ihr das Glas entgegen. „Ich werd’s keinem erzählen, wenn Sie es nicht tun.“
„Alkohol zu trinken gehört sich nicht für eine Dame“, entgegnete sie unsicher, doch was sie am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass sie noch immer nicht weggelaufen war. Stattdessen schien es ihr, als wäre sie angewurzelt.
Er lächelte – ein sinnliches, gefährliches Lächeln, das sie ganz nervös machte.
„Es gehört sich für eine Dame auch nicht zu fluchen, und ich finde, für einen offenkundigen Neuling haben Sie es gut hingekriegt. Ich war beeindruckt.“
Angesichts dieser Frechheit wurden ihre Augen ganz groß. Dabei versuchte sie zu ignorieren, dass sich tief in ihrem Bauch eine angenehme Wärme ausbreitete.
Als er sie anlächelte, konnte Pippa es sich nicht verkneifen, diese kleine Vertraulichkeit zu erwidern. Was alles in einem Lächeln stecken konnte. Es war ein Zeichen, dass man sich über das Gleiche amüsierte, und konnte der Beginn von Freundschaft, Sympathie oder noch mehr sein. Doch eines war klar: Pippa war vollkommen konfus.
Er trat ein wenig näher, worauf sie zurückwich. Daraufhin hob er die Hand mit dem Glas, als wollte er sich geschlagen geben. „Ich schwöre bei meiner Ehre, dass Sie nichts von mir zu befürchten haben, Miss –?“
Pippa schnaubte abfällig. Als wenn sie ihre Identität preisgeben würde. So durcheinander war sie nun auch wieder nicht. „Keine Namen.“ Ihr Instinkt riet ihr, anonym zu bleiben, und sie folgte ihm blindlings.
„Keine Namen“, murmelte auch er. „Aber ich möchte Ihnen dringend diesen belebenden Drink empfehlen, damit Sie sich gefasst wieder ins Haifischbecken wagen können. Haie sind gnadenlos, wenn sie Blut wittern. Wenn ich den gequälten Blick Ihrer großen Augen sehe, möchte ich am liebsten diesen Schuft suchen und ihm einen Kinnhaken verpassen. Es ist so offensichtlich, dass Sie verletzt sind.“ Er machte eine vielsagende Pause. Plötzlich funkelten seine Augen vor Belustigung. Es waren außerordentlich schöne Augen mit einem Blick voller Intelligenz und Übermut. Dann setzte er hinzu: „Und ziemlich hässlich mit den Tränenspuren und der roten Nase.“
Erschrocken fasste sich Pippa ins Gesicht und bemerkte ihre feuchten Wangen und die geschwollenen Augen. Weinen hatte sie noch nie ansehnlicher gemacht, aber trotzdem schaute sie ihn böse an und erwiderte: „Und Sie, Sir, sind kein Gentleman!“
Er hielt dem wütenden Blick stand. „Was, kein Gentleman? Das finde ich betrüblich. Lag es an meiner böswilligen Bemerkung oder woran sonst? Bitte sagen Sie es mir!“
Pippa musste lachen und erschrak im gleichen Augenblick darüber.
Sein Mund verzog sich zu einem bezaubernden Lächeln. „Aha, da habe ich mein Ziel schon fast erreicht. Lachen ist die beste Medizin, und Ihr Lächeln ist noch dazu wunderschön, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf“, antwortete er leise.
Wer war er? Sie traute sich nicht zu fragen, nachdem sie sich selbst nicht vorgestellt hatte. „Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, Sir, aber jetzt muss ich gehen.“ Am liebsten wäre sie hier bei diesem Fremden geblieben, aber das wäre dumm und leichtsinnig gewesen. Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, trat sie rasch auf ihn zu, nahm das Glas aus seiner Hand, setzte es an die Lippen und leerte es auf einen Zug.
Pippa schnappte nach Luft, als die brennende Flüssigkeit über ihre Zunge und durch ihre Kehle rann. Dann musste sie ganz jämmerlich husten und prusten. Das Ganze war so peinlich, dass sie am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Ihr blieb nur, die Sache mit Humor zu nehmen. „Was war denn das für ein Gift?“, keuchte sie, während sie rückwärts taumelte und sich mit gespieltem Entsetzen die Hand auf die Brust legte.
Jetzt zeigte er ein wirklich breites Lächeln, das ihr den Atem raubte. „Sie sehen einfach zu gut aus, Sir“, stieß sie hervor. Dann starrte sie ihn wortlos an, erschrocken über ihre eigene Dreistigkeit.
Für einen Augenblick schaute er sie groß an, bevor sich sein Blick verschleierte. Dann leerte auch er sein Glas. „Es ist Whisky. Ein Wundermittel für verletzte Seelen.“
Hinter diesen Worten verbirgt sich eine Geschichte, dachte Pippa und betrachtete ihn aufmerksam. Wer war er wirklich? „Und Ihre Seele ist verletzt?“
Ganz leicht spannten sich seine Schultern an. „Jetzt nicht mehr.“
Plötzlich wünschte sie, sie könnten sich über ihre verwundeten Herzen austauschen. „Da bin ich aber froh. Meiner Erfahrung nach heilen diese Wunden nie ganz. Bei der geringsten Kleinigkeit können sie wieder aufbrechen.“
Er musterte sie nachdenklich. „Nennen Sie mir Ihren Namen“, forderte er in einem so befehlsgewohnten Ton, dass Pippa beinahe gehorcht hätte.
Doch nach kurzem Nachdenken erwiderte sie mit Nachdruck: „Nein.“
„Ihre Unverblümtheit gefällt mir“, antwortete er mit anerkennendem Lächeln.
Plötzlich wich Pippa zurück, als sie das Funkeln in seinen Augen bemerkte. Langsam und vertraulich wanderte sein Blick über ihre Gestalt, von der kunstvollen Frisur über das eisblaue Kleid, die weißen Halbfingerhandschuhe bis hinunter zu den silbernen Tanzschuhen. Sein Blick war wie eine Berührung, und unvermittelt meldete sich ihr weiblicher Selbsterhaltungstrieb, während ihr Herz zu rasen begann. Doch er rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb abwartend stehen.
„Ich sollte … nein, ich muss gehen … jetzt gleich.“
Die Stille, die über der Bibliothek lag, war erfüllt von Möglichkeiten und Erwartungen. Plötzlich wurde es offensichtlich, dass er ein Mann war und sie eine Frau, und dass sich hinter verschlossenen Türen alles Mögliche abspielen konnte. Die Erkenntnis lastete dicht und schwer zwischen ihnen.
Ein geheimnisvoller Ausdruck huschte über seine Züge. „Ich möchte Ihren Gefühlen nicht länger zu nahe treten“, sagte er leise. „Gehen Sie. Sofort.“
Da drehte sich Pippa um und floh, als wäre sie den Fallstricken des Teufels gerade noch entronnen.
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Der Anblick dieser üppig gerundeten, ausgesprochen entzückenden Kehrseite, die durch die Tür verschwand, hatte sich für immer in seinem Gedächtnis eingebrannt. Die unbekannte Lady besaß ganz reizende Rundungen und die schönsten Augen, die er jemals gesehen hatte, trotz des Ausdrucks von Schmerz, der in ihnen lag. Ob sie tatsächlich hübsch war, ließ sich angesichts ihrer roten Nase, den tränenfeuchten Wangen und den verquollenen Augen nicht sagen. Er stieß ein freudloses Lachen aus. Wie nahe war er daran gewesen, einen ausgesprochen dämlichen Fehler zu begehen. Christopher Edmund Worth, der Duke of Carlyle, schloss die Augen und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Um ein Haar hätte er die dunkelhaarige Fremde mit den hellgrauen Augen und dem Schmollmund geküsst. Sie musste es in seinem Blick gelesen haben, dass er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren, sie in die Arme zu nehmen und leidenschaftlich zu küssen. Sonst wäre sie womöglich nicht geflohen.
Ein Mann wurde an seinem eigenen guten Ruf und dem seiner Familie gemessen. Und in seinem Fall war es das hohe Ansehen eines uralten Geschlechts, dem er gerecht werden musste. Kein Skandal im Zusammenhang mit der Familie Worth war jemals an die Öffentlichkeit gedrungen. Jedenfalls nicht, soweit er sich erinnern konnte. Noch nicht einmal etwas so Harmloses und zugleich Gefährliches wie ein Kuss zwischen zwei Fremden.
Solch ein Vorfall auf einem Ball konnte zu einer kompromittierenden Situation führen oder zu einer Affäre, die Probleme und einen Skandal nach sich zog. Und während der letzten Jahre war er darauf bedacht gewesen, dass durch ihn kein Schatten auf den makellosen Ruf seiner Familie fiel. Das eine Mal, als er nicht vorsichtig genug gewesen war, hatte es seinen Vater fast das Leben gekostet.
Niemals hatte Christopher leichtfertig seine hohe Stellung missbraucht und Schande über seine Familie gebracht. Doch im Alter von zwanzig Jahren glaubte er, in Theodosia, eine etwas ältere Tänzerin, verliebt zu sein, der er auf einer seiner Auslandsreisen begegnet war.
Mehrere Wochen lang war sie seine Geliebte, und er erfreute sich an ihrem geistreichen Witz und ihrer ungezügelten Sinnlichkeit. Mit ihr konnte er seinen eigenen verborgenen Neigungen freien Lauf lassen und seine sexuellen Gelüste ungehemmt ausleben. Traumvorstellungen, die seinen jugendlichen Sinn verwirrt hatten, wurden unter ihrer hingebungsvollen Anleitung Wirklichkeit. Als sie schwanger wurde, wollte er sie heiraten und ihrem gemeinsamen Kind seinen Namen und Rang geben. Doch Theodosia wies seinen Antrag lachend zurück, weil sie frei sein wollte.
Christopher erinnerte sich noch daran, wie sein entsetzter Vater sich an die Brust gegriffen hatte und zusammengebrochen war. Dabei hatte er seine Eltern lediglich wissen lassen, dass er die Absicht hatte, sein Kind anzuerkennen und für es zu sorgen. Seine Mutter hatte geschrien, dass nur sein elendes Lotterleben für den Zusammenbruch seines Vaters verantwortlich war.
Oh Gott. Bei der bloßen Erinnerung daran krampfte sich Christopher der Magen zusammen. Sein Vater hatte den Anfall überlebt und war erst mehrere Jahre später im Schlaf gestorben. Er hatte nur einige Wochen lang über Magenschmerzen geklagt, und so war sein plötzlicher Tod ein Schock für die Familie gewesen. Doch da der alte Duke mit einem Lächeln auf den Lippen verstorben war, tröstete sich Christopher damit, dass sein Vater glücklich dahingeschieden war. Das war nicht vielen vergönnt. So war Theodosia im Kindbett gestorben, nachdem sie von einer totgeborenen Tochter entbunden worden war. Auch wenn seine Verwandten es niemals gesagt hatten, so waren sie über den Ausgang der Dinge doch eindeutig erleichtert.
Christopher füllte sein Whiskyglas noch einmal und nahm einen kräftigen Zug.
Seitdem er das Familienoberhaupt war, achtete er peinlich genau darauf, den makellosen Ruf seiner Familie nicht noch einmal zu gefährden. Die wenigen Geliebten, die er in den folgenden Jahren gehabt hatte, waren allesamt diskret gewesen, sodass die feine Gesellschaft nichts von seinen Affären mitbekommen hatte. Für die Öffentlichkeit war er ein ebenso anständiger und aufrechter Mensch wie die vielen illustren Herren in seiner Ahnenreihe. Und er hatte dafür gesorgt, dass es so blieb.
Jedem, der ihrer Vorstellung von Anstand nicht entsprach, stand seine Familie mit gnadenloser Unnachsichtigkeit gegenüber. In ihren Augen war es pöbelhaft und vulgär, wenn man seine Gefühle und Leidenschaften nicht unter Kontrolle hatte und dadurch einen Skandal riskierte. Die Männer seiner Sippe tranken nicht unmäßig, frönten weder dem Glücksspiel noch Wagenrennen und prügelten sich weder in der Öffentlichkeit noch insgeheim. Ein sprunghafter, genussbetonter Lebensstil war Zeichen für einen schwachen Charakter und daher dieser sittenstrengen Familie ein Gräuel. Rückgratlose Narren hatte seine Großmutter, die katholisch gewesen war, doch die Riten der Kirche von England befolgt hatte, solche Menschen abfällig genannt.
Christopher fand es durchaus vorteilhaft, sich nicht von seinen Begierden beherrschen zu lassen. Dennoch war er nicht der Meinung, dass man auf jedes Vergnügen verzichten sollte. Und ebenso wenig war er bereit, sich von seiner Familie und der feinen Gesellschaft vorschreiben zu lassen, wem er sein Vertrauen und seine Freundschaft schenkte.
Dieses zartgliedrige Mädchen … nein, diese Frau mit den äußerst ansehnlichen Kurven und den schönen Augen hatte ihn mit ihrem Gefluche, dem tränenfleckigen Gesicht und den verquollenen Augen in ihren Bann geschlagen. Weinen machte sie tatsächlich nicht schöner. Christopher schmunzelte. Er musste wirklich den Verstand verloren haben. Nachdem er sein Glas geleert hatte, verließ er die Bibliothek und ging durch einen elegant möblierten Korridor bis zu einer weit geöffneten Tür, die in den Ballsaal führte.
Jede einzelne Frau im Raum hatte sein Erscheinen registriert. Doch während andere Männer sich in dieser Aufmerksamkeit gesonnt hätten, war sie Christopher nur lästig. Denn es war nicht sein Charakter, der die Damen so anzog, sondern einzig und allein sein Titel und Vermögen.
Der Lärm und die Wolke von Wohlgerüchen benebelten seine Sinne. Über die Tanzfläche wirbelten Paare in glitzernden Roben, und entlang der Wände standen viele Damen, die hinter ihren vorgehaltenen Fächern lachten und plauderten. Diener schlängelten sich mit beeindruckender Wendigkeit durch die Menge und servierten Champagner. Einige junge Debütantinnen warfen ihm schüchtern-kokette Blicke zu, während die älteren Mädchen und Damen sich nicht so viel Zurückhaltung auferlegten. Es ärgerte ihn, dass es sie allesamt keinen Deut interessierte, was ihm gefiel oder was er vom Leben erwartete. Sie sahen nur seinen elenden Titel und seinen Reichtum. Tatsächlich war die Dame in der Bibliothek seit Jahren die erste gewesen, die ihn ohne Gier oder Berechnung in den Augen angesehen hatte.
Seine ein Jahr ältere Schwester, die bezaubernde Selina, Lady Andrews, die aus eigenem Recht den Titel einer Marchioness trug und eine Stilikone für die vornehmen jungen Damen war, kam eilig zu ihm herüber und ergriff seine Hände. Mit ihrem mehrlagigen goldenen Kleid, das sich eng an ihre schlanke Gestalt schmiegte, und dem hoch aufgetürmten, mit Perlen geschmückten schwarzen Haar war sie von strahlender Schönheit. Allerdings vermutete Christopher, dass ihr Strahlen eher der Tatsache geschuldet war, dass sie und ihr Marquis in sieben Monaten ihr erstes Kind erwarteten.
„Christopher, mein Schatz, du hast versprochen, mit Miss Charlotte Hufford zu tanzen. Sie wäre genau die Richtige für dich“, bemerkte Selina in schwärmerischem Ton, wobei ihre silbergrauen Augen, die den seinen so ähnlich waren, vergnügt blitzten. „Mindestens zwei der Walzer sind schon vorbei, und Charlotte war untröstlich, dass du sie versetzt hast.“
„Ich bin sicher, sie wird darüber hinwegkommen“, erwiderte er trocken. Wenn er sich recht erinnerte, war Miss Hufford die Dame, die beim Empfang der Gäste ihr Spitzentaschentuch vor ihm hatte fallen lassen. Zu ihrer Freude hatte er es aufgehoben, worauf sie einander vorgestellt worden waren.
Aus irgendeinem Grund dachte seine Familie, Miss Hufford sei die ideale Ehefrau für ihn. Wie sie auf die Idee kamen, er würde gerne ein achtzehnjähriges Mädchen heiraten, das seine erste Saison erlebte, war ihm schleierhaft. Doch sie würden sich von ihren ehrgeizigen Plänen für ihn nicht abbringen lassen. Seine beiden Schwestern – Amelia und Selina – waren glücklich mit Männern von Rang und Vermögen verheiratet und würden nicht lockerlassen, bis er ebenfalls eine Frau gefunden hatte. Vielleicht war es an der Zeit, dass er ihren Kuppelversuchen einen Riegel vorschob. Die Sache wurde ihm allmählich langweilig, zumal seine mögliche Heirat mittlerweile das einzige Thema zu sein schien, wann immer sie sich trafen.
„Ich habe kein Interesse daran, mit Miss Hufford zu tanzen.“
Seine Schwester blickte ihn erstaunt an. „Das hört sich aber so an, als wärst du zumindest bereit zu tanzen. Allerdings hast du auf den letzten drei Bällen keine der Damen aufgefordert, die ich dir dringend ans Herz gelegt habe. Gibt es da jemanden, an dem du interessiert bist und von dem Amelia und ich nichts wissen?“, fragte sie schelmisch und folgte seinem Blick, den er diskret auf eine Dame in Blau gerichtet hatte.
Seine Schwester packte seinen Arm mit festem Griff. „Aber das ist ja Pippa Cavanaugh! Ich möchte wissen, wie die es geschafft hat, eine Einladung zu bekommen. Ihr Vater ist der Baron Cavanaugh“, flüsterte sie bestürzt. „Du erinnerst dich doch bestimmt an die Katastrophe, oder?“
Miss Pippa Cavanaugh war also skandalös und entehrt und damit das Gegenteil von dem, wofür seine Familie stand. Christopher erinnerte sich an den Skandal, in den die Cavanaughs vor fünf oder sechs Jahren verstrickt waren. Damals hatte die feine Gesellschaft nur zu bereitwillig ihr vernichtendes Urteil über die Familie gefällt.
„Woher kennst du sie?“, fragte seine Schwester mit ihrer lieblichen Stimme, die nun vor Missbilligung triefte.
„Ich kenne sie gar nicht“, erwiderte er nur. War sie deswegen so am Boden zerstört gewesen, als dieser Lump sie sitzenließ? Hatte sie auf eine Heirat mit ihm gehofft?
Er versuchte vergeblich, den Blick von ihr zu wenden. Das eisblaue, kurzärmlige Kleid ließ die Schultern frei, und der enge Rock brachte ihre wohlgerundete Figur bestens zur Geltung. Ihr tiefschwarzes Haar war zu einem schlichten Chignon aufgesteckt, aus dem sich ein paar kunstvoll gelöste Locken ringelten und ihre rosigen Wangen umspielten. Im Unterschied zu den übrigen Damen trug sie weder Diamanten noch Perlen oder Rubine. Miss Cavanaugh mochte nicht nach der neuesten Mode gekleidet sein wie die übrigen jungen Damen, aber dennoch wirkte sie sehr reizvoll und in seinen Augen ziemlich hübsch.
„Du starrst sie ja an, Christopher“, mahnte Selina und drückte seinen Arm. „Meine Güte, gefällt sie dir etwa?“
Es klang, als hätte sie lieber von ihm gehört, er wolle eine zweiköpfige Schlange küssen. Christopher war seinen Schwestern gegenüber immer offen gewesen, doch jetzt fühlte er sich seltsamerweise verpflichtet, Miss Cavanaughs guten Ruf zu schützen. Die Erinnerung an ihre schmerzerfüllten Augen verursachte ein heftiges Ziehen in der Nähe seines Herzens. „Ich wurde der Dame noch nicht einmal vorgestellt“, erwiderte er mit sanfter Stimme.
„Miss Cavanaugh ist nicht die Frau, der ein Mann von deiner Stellung, Herkunft und Korrektheit auch nur die geringste Aufmerksamkeit widmen sollte, mein lieber Bruder. Sie ist weder ansehnlich noch modisch, und ihre gesellschaftlichen Verbindungen sind beklagenswert!“
„Nicht ansehnlich, Selina? Ich wusste gar nicht, dass du so kleinlich und boshaft sein kannst.“
Sie blickte ihn überrascht an. „Ich –“
„Miss Cavanaugh ist eine der hübschesten Damen, die ich je gesehen habe.“
Als seine Schwester empört nach Luft schnappte, lächelte er nur. „Stell dich nicht so an“, sagte er leichthin. „Ich kann einen bezaubernden Edelstein bewundern, ohne ihn besitzen zu wollen.“
Selina wurde rot. „Bitte lass dich ihr nicht offiziell vorstellen, sondern bewundere sie von fern. Ich könnte Mutters Aufregung nicht ertragen, wenn ihr der Klatsch zugetragen wird“, sagte sie mahnend und fügte hinzu: „Miss Cavanaugh verfügt weder über eine Mitgift noch über nennenswerte Beziehungen, und man erzählt sich, ihr Vater würde mit seiner Mätresse und seinen Bastardkindern im Ausland leben! Wie man sich mit einer so skandalösen Familie abgeben kann, werde ich nie verstehen.“
Christopher drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange und löste sich aus ihren besitzergreifenden Klauen. Er war nur zu dem Ball gekommen, um seinen Schwestern einen Gefallen zu tun, und nun hatte er das Gefühl, er habe seine Schuldigkeit getan. An diesem Abend hatte er einfach keine Lust, mit irgendwem zu tanzen oder den geschickten Flirtversuchen der Damen zu entgehen, die gerne eine Duchess wären. Sein Blick ging noch einmal zu Miss Cavanaugh hinüber, die sich mit einer Frau unterhielt, die ihr bemerkenswert ähnlich sah, allerdings schlanker war als sie. Ihre Mutter, wie er annahm. Die Damen hatte die Köpfe zusammengesteckt und sprachen vertraulich miteinander. Plötzlich schwankte die ältere Dame und presste offensichtlich erschrocken die Hand auf die Brust. Zweifellos hatte sie soeben erfahren, wie Mr. Nigel Williamsfield sich benommen hatte.
Die beiden Damen bahnten sich einen Weg durch die Menge, worauf sich Christopher unauffällig, um kein Aufsehen zu erregen, in die Eingangshalle begab. Anstatt nach seiner Kutsche zu schicken, verließ er das Haus durch die Eingangstür, die der Butler ihm aufhielt.
Es war noch recht früh, kaum Mitternacht. Am Straßenrand reihten sich mehrere Kutschen, von denen eine gerade davonfuhr, während eine andere mit weiteren Gästen eintraf. Von der kühlen Nachtluft umspielt schritt Christopher langsam an der Reihe der Wagen entlang, wobei er sich immer weiter vom lauten Festgetriebe entfernte. Seltsamerweise beschäftigte Miss Cavanaugh noch immer seine Gedanken. War auch ihre Kutsche vorgefahren? Er hatte sie und ihre Mutter weder in der Halle noch vor dem Haus gesehen. Waren die beiden unauffällig im Garten verschwunden?
Er war sicher, dass Miss Cavanaugh nicht gewusst hatte, wer er war, denn sie war nicht auf die üblichen Tricks verfallen, die viele junge Damen der Gesellschaft einsetzten, um ihn zu kompromittieren und so zu einer Heirat zu zwingen. Bei ihrer unverhofften Begegnung in der Bibliothek hätte Miss Cavanaugh wohl nicht gezögert, lauthals um Hilfe zu rufen, auch wenn sie damit die Aufmerksamkeit auf sie beide gelenkt hätte. Daher war Christopher auch zunächst in der dunklen Ecke der Bibliothek sitzen geblieben, ohne sich zu erkennen zu geben. Er war sicher gewesen, dass sie nicht lange bleiben würde. Doch dann war Nigel aufgetaucht und hatte sich als ein Lump der übelsten Sorte erwiesen.
Mit wie viel Tapferkeit und Stolz sie den Verrat des Mannes ertragen hatte. Da hatte es weder Ohnmachtsanfälle noch Tränenströme gegeben, und sie hatte sich ihm auch nicht mit verzweifeltem Flehen an die Brust geworfen. Stattdessen hatte sie gefasst und würdevoll reagiert, und so war zum ersten Mal seit Jahren sein Interesse an einer jungen Dame der Gesellschaft geweckt worden. Als sie dann schließlich die Fassung verlor und in herzzerreißendes Schluchzen und Fluchen ausbrach, stieg sein Interesse in ungeahnte Höhen.
Was also sollte er jetzt tun? Die Tatsache, dass er zum ersten Mal so viel Neugierde und Bewunderung für einen anderen Menschen aufbrachte, war näherer Betrachtung wert. Christopher musste über sich selbst lächeln. Mit in langen Jahren erworbener Routine hatte er die gefährlichen Untiefen der High Society bisher mühelos umschifft und war besonders den Fallstricken ehrgeiziger Mütter entgangen. Dabei war er nicht grundsätzlich gegen die Ehe. Keineswegs. Eine Duchess und Kinder mussten einfach sein. Schließlich kannte er seine Pflicht ebenso gut wie alle früheren Dukes seiner Familie. Es galt, ihre Werte weiterzugeben, für einen Erben zu sorgen, das Familienvermögen zu bewahren und den guten Namen nicht in den Schmutz zu ziehen.
Diese Lektion war ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen, als er noch ein kleiner Knirps von vier Jahren war und, auf den Schultern seines Vaters sitzend, mit ihm durch die Obstgärten gestreift war. So hatte er von klein auf begriffen, dass Stolz und Ansehen sein Erbteil waren, und er war mit allem einverstanden gewesen, was von ihm verlangt würde, sobald er volljährig wäre.
Seit nunmehr vier Jahren war er der neunte Duke of Carlyle, und er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um den Anforderungen seines hohen Standes gerecht zu werden – bis auf eine. Er hatte nicht geheiratet. Alle früheren Dukes waren mit sechsundzwanzig verheiratet gewesen, und als sie achtundzwanzig waren, tummelten sich bereits zwei Söhne in der Kinderstube. Also wurde erwartet, dass auch er eine vornehme Dame mit untadeligem Ruf heiratete, die den anderen Damen der Gesellschaft ein Vorbild an Anstand und Schicklichkeit war.
Doch jetzt, mit dreißig Jahren, war Christopher noch immer Junggeselle, und eine Duchess war weit und breit nicht in Sicht. Seine Mutter war außer sich, seine Schwestern bemühten sich hartnäckig darum, diesen Missstand zu beheben, und er selbst war … nun ja, zufrieden mit der Situation. Er hatte einfach noch nicht die Richtige gefunden, wie er es einmal seinem guten Freund Edward, dem Marquess of Bancroft, gegenüber ausgedrückt hatte. Der hatte ihn darauf nur einfältig angestarrt und festgestellt, dass doch alle Frauen gleich seien. Sie besaßen weiche Schenkel und Brüste, die einem Mann Behaglichkeit und das süße Gefühl von Vertrautheit gaben. Allesamt liebten sie Handarbeiten, Bälle, Klatsch und Tratsch. Und wenn er sich mit einer Lady unterhielt, war es, als redete er mit allen.
Christopher war da anderer Meinung. Dabei war er sich nicht sicher, worauf es ihm bei seiner zukünftigen Duchess ankam. Die Vorstellung von jemandem, der so streng und ehrbar war wie die Gattinnen seiner Vorfahren, besaß für ihn keinen Reiz. Auch wenn sein Ehrgefühl ihm gebot, seinem Titel keine Schande zu machen, wünschte er sich doch jemanden, den er gernhaben … bewundern … begehren konnte, und nicht solch einen Inbegriff von frostiger Wohlanständigkeit wie seine Mutter und Großmutter. Ach ja, er liebte die beiden schon sehr, aber dennoch. Und er wünschte sich noch mehr als Bewunderung und Wollust, strenge Pflichterfüllung und gute Umgangsformen. Doch da er es nie kennengelernt hatte, wusste er nicht genau, was es war. Aber wenn er die Richtige fand, würde er es wissen, davon war er überzeugt. Eine Überzeugung, die seine Freunde einfach idiotisch fanden.
Und dann, nachdem er jahrelang den heiratsstiftenden Müttern entgangen war, hatte er für einen kurzen Augenblick in das tränenverschmierte Gesicht einer Fremden geblickt, und ein unbekanntes Gefühl war in ihm erwacht. Bist du es?, hatte er im Stillen gefragt.
Er hatte das ausgelassene Treiben des Balls hinter sich gelassen und bog in die St. James’s Street ein, um zu seinem Stadthaus an der Grosvenor Street zu gelangen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte sich ihm diese Frage gestellt, und ausgerechnet bei einer Frau, die seine Mutter und der Rest der Familie nie und nimmer gutheißen würden. Er lächelte, ehrlich erstaunt.
Bist du die Richtige, Miss Pippa Cavanaugh?