Leseprobe Der Kuss des Earl of Creswick

Kapitel 1

Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. (Oscar Wilde)

Miss Wilhelmina Eleanor Crawford, von ihren Freunden und Verwandten Mina genannt, sog genüsslich den aromatischen Duft der Suppe ein, die in dem großen eisernen Topf vor sich hin köchelte und die sie jetzt umrührte. Bei dem Gedanken an den herzhaften Geschmack lief ihr das Wasser im Mund zusammen. „Das duftet ja köstlich, Mrs. Bell“, sagte sie mit breitem Lächeln und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich unter ihrer Kochhaube hervorgestohlen hatte und sie an der Nase kitzelte. „Sie müssen zugeben, es war ein Geniestreich von mir, Zwiebel und Thymian hinzuzufügen.“

Die stämmige Köchin lächelte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. In der großen Küche war es ziemlich heiß, aber das war immer noch der eisigen Kälte vorzuziehen, die vorher in den grauen Steinwänden gesteckt hatte.

„Ich sehe es nicht gern, dass Sie so schuften, Miss Mina. Küchenarbeit schickt sich nicht für eine Lady.“

„Unsinn. Ich bin gerne bei Ihnen und helfe mit.“

Mrs. Bell schnaubte unwillig, doch ihre blanken haselnussbraunen Augen leuchteten vor Zuneigung zu ihrer jungen Herrin. Aus reiner Notwendigkeit hatte Mina begonnen, der Köchin zur Hand zu gehen, denn ihre Familie war in finanzielle Schwierigkeiten geraten und konnte sich keine weiteren Dienstboten mehr leisten.

Als sie draußen jemanden rufen hörte, trat Mina ans Fenster und blickte hinaus. Sie musste grinsen, als sie den kleinen Tommy entdeckte, der auf dem Ast einer Weide hockte und versuchte, seinen Drachen zu befreien, der sich in den Ästen verfangen hatte – denselben Drachen, den sie ihm erst vor zwei Wochen zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie musste lachen, als sie ihn fluchen hörte, weil der heftige Wind seinen schmächtigen Körper vom Baum zu wehen drohte. Zum Glück war der Boden schneebedeckt, sodass er weich gefallen wäre.

„Der flucht ja wie ein Seemann“, bemerkte die Köchin. „Und die ganzen Schimpfwörter haben Sie ihm beigebracht. Jetzt hat er sich in den Kopf gesetzt, dass er eines Tages kein Stallbursche mehr sein wird, sondern ein Arzt! Sowas habe ich ja noch nie gehört.“ Abfällig schnaubend schüttelte sie den Kopf. „Sie sollten ihm nicht so einen Floh ins Ohr setzen, Miss Mina, sonst bildet er sich bald sonstwas ein und wird ein hoffnungsloser Träumer.“

„Aber ich glaube an ihn! Der kleine Tommy kann werden, was oder wer er will, und ich werde ihm dabei helfen“, entgegnete Mina und presste ihre Nasenspitze an die kalte Fensterscheibe. Wie gerne wäre sie jetzt auch dort draußen gewesen. „Ach, jetzt hat er den Drachen befreit. Sehen Sie nur, wie er fliegt!“

„Warum gehen Sie nicht auch hinaus? Das sieht ja jeder, dass Sie gerne bei ihm wären.“

Das sanfte Drängen der Köchin, etwas so Simples zu tun wie einen Drachen steigen zu lassen, erinnerte Mina überdeutlich daran, was für Träume sie früher einmal gehabt hatte. Alles in ihr hatte sich damals danach gesehnt, verrückte Abenteuer zu bestehen. „Ich bin kein junges, waghalsiges Mädchen mehr“, antwortete sie leise, während sich wieder dieses schmerzhafte Sehnen in ihrem Herzen bemerkbar machte. Seit sechs Jahren bin ich es nicht mehr. Entschlossen schob Mina das Gefühl der Einsamkeit beiseite, das von ihr Besitz ergreifen wollte, straffte die Schultern und drehte sich um.

Die Köchin schüttelte erneut den Kopf. „Es ist nichts Unschickliches dabei, hier auf einen Baum zu klettern – es sieht sowieso niemand. Ich wüsste nicht, warum Sie sich dieses harmlose Vergnügen verkneifen sollten, Miss Mina. Es ist nicht normal, dass sich ein hübsches Mädchen wie Sie auf dem Land vergräbt, statt das Leben zu genießen.“

Das entfernte Geräusch einer Tür, die zugeschlagen wurde, ersparte Mina eine Antwort. Stirnrunzelnd bemerkte die Köchin: „Es hört sich an, als wäre der junge Herr wieder zu Hause. Er knallt immer die Tür so zu.“

Besorgt legte Mina den Holzlöffel auf einem kleinen Teller ab, der vor ihr stand. An manchen Tagen konnte sie die Laune ihres Bruders schon daran erkennen, wie er sein Landhaus betrat. Da es keinen Butler gab, der die Türen öffnete und schloss, musste er es selbst tun, auf die Art und Weise, wie ihm gerade zumute war.

Sie zog sich die Haube vom Kopf und sagte leise: „Ich werde ihn fragen, ob er mit uns isst, Mrs. Bell.“

Mina eilte einige Stufen hinauf, dann über die Dienstbotentreppe zur Eingangshalle, deren Wände nicht länger von prächtigen Gemälden geziert wurde. Mit wachsender Besorgnis vernahm sie die liebliche Melodie, die aus dem Musikzimmer drang, denn immer wenn Anthony Sorgen hatte, suchte er Trost im Klavierspiel, besonders in den Stücken von Beethoven. Bedeutete das, dass die Drummonds Bank ihm das Darlehen verweigert hatte?

Eiligen Schrittes lief sie zum spärlich möblierten Musikzimmer und öffnete die angelehnte Tür. Bei ihrem Eintritt hörte Anthony auf zu spielen und drehte sich zu ihr um. Abrupt blieb Mina stehen, als sie für einen Augenblick die Angst in seinen dunkelgrünen Augen sah, bevor sein Blick ausdruckslos wurde.

„Anthony, was ist denn?“ Sie trat ein paar Schritte in den Raum hinein. „Bitte, sag es mir. Was immer es auch sein mag, gemeinsam werden wir es durchstehen.“

Er tat einen zitternden Atemzug und stieß hörbar die Luft aus. „Die Bank gibt uns keinen Kredit. Sie wollten sich meine Pläne nicht einmal anhören.“

Mina verschränkte die Finger so fest, dass es schmerzte. Das war tatsächlich eine Katastrophe. „Haben sie gesagt, warum?“

„Weil ich noch die letzten beiden Kredite abzahle. Sie glauben nicht, dass ich noch einen dritten bewältigen kann“, antwortete er mit einem freudlosen Lachen. „Auch wenn ich der Viscount Crawford bin, stehen keine reichen Erbinnen Schlange, die mich wegen meines Titels heiraten wollen. Und das wissen die Bankiers genau. Einer von ihnen hat sogar gesagt, dass mit Landwirtschaft nichts mehr zu verdienen sei. Heute dreht sich alles um Fabriken, und wir haben weder die Mittel noch die geeigneten Leute, um die Landwirtschaft aufzugeben.“

Bevor er nach London aufbrach, hatten Mina und ihr Bruder alles ausführlich besprochen und dabei auch in Betracht gezogen, dass ihr Antrag abgelehnt werden könnte. Dennoch war sich Mina nicht gänzlich über die Folgen im Klaren gewesen. Mrs. Bell hatte schon seit über einem Jahr keinen Lohn mehr bekommen, und ihr einziger Diener und der Pferdeknecht hatten Familien, für die sie sorgen mussten. Sie brauchten das Geld. Außerdem standen am Herrenhaus dringende Reparaturen an, und die Speisekammer war auch beinahe leer.

„Ich habe noch Mamas Halskette. Die könnten wir für ein bisschen Geld versetzen. Das würde für dieses Jahr reichen, bis wir einen neuen Plan haben“, sagte sie zuversichtlich. „Wir müssen eben sparen und uns noch mehr einschränken –“

„Noch mehr einschränken? Wir können ja kaum noch durchhalten, Mina. Was soll ich denn noch tun? Unser gesamtes Einkommen geht für Kredit- und Schuldenzinsen drauf.“

Wie ein schweres Gewicht lagen die Gewissensbisse ihr auf der Seele. Vor fünf Jahren, als ihr Vater noch lebte, hatten sie einen Plan gefasst, der Familie finanziell wieder auf die Beine zu helfen, doch mit ihrem Leichtsinn und ihrer Unbesonnenheit hatte Mina diesen Plan zum Scheitern gebracht und außerdem ihren guten Ruf gründlich und für immer ruiniert, als sie mit einem Mann durchgebrannt war.

In ihrer Naivität hatte sie es als grandioses Abenteuer angesehen, und nun war ihre Zukunft tatsächlich abenteuerlich. Bei dem Gedanken an die unsichere Lage krampfte sich ihr Herz zusammen.

„Ich muss morgen früh fort“, sagte Anthony plötzlich, ohne sie anzusehen.

„Wohin denn?“

„Vielleicht nach London“, antwortete er in bitterem Ton. „In ein paar Wochen beginnt die Saison. Erinnerst du dich noch an Lord Phineas Moulton? Er hat vor kurzem eine amerikanische Erbin geheiratet und damit seinen Besitz gerettet. Vielleicht kann ich das Gleiche für uns tun.“

Eine verzweifelte Hoffnung angesichts der Tatsache, dass ihre Familie nirgendwo mehr eingeladen wurde. „Wo willst du übernachten? Unser Haus in Mayfair wurde doch kürzlich vermietet.“

Anthony richtete seinen Blick an die Decke und kniff sich in den Nasenrücken. Sie hasste es, ihn so zu sehen, denn dann musste sie daran denken, dass sie ihre Familie im Stich gelassen hatte, als sie mit einem Mann davonlief, von dem sie dachte, sie sei in ihn verliebt. Mit zitternden Fingern band sie sich die Schürze ab und atmete tief durch. Ihr Bruder wirkte so verzweifelt, dass es nicht nur an dem abgelehnten Kredit liegen konnte. „Erzähl mir alles von Anfang an, Anthony. Bitte.“

Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich habe eine Dummheit begangen, aber damit will ich deine zarten Gefühle nicht verletzen –“

Sie stieß ein kurzes, ungläubiges Lachen aus. „Meine was? Die sind mittlerweile ziemlich abgehärtet, das kann ich dir versichern.“

„Mina –“

„Anthony!“ Sie stützte eine Hand in die Hüfte. „Wir haben einander immer die Wahrheit gesagt seit …“ Seit meinem idiotischen Einfall. „Wir haben versprochen, einander nie zu belügen. Bitte, sag mir, was dich plagt. Ich spüre doch, dass da noch etwas anderes ist als das Darlehen.“

Mit wachsender Beklommenheit sah sie, wie er schwer schluckte. Was hielt ihr Bruder für so schrecklich, dass er es ihr nicht erzählen konnte?

„Hast du jemanden umgebracht?“

„Um Himmels willen nein, Mina. So schlimm ist es nicht.“

Doch noch immer wich er ihrem Blick aus. „Naja, jedenfalls noch nicht“, fügte er hinzu und schloss für eine Sekunde die Augen. „Ich muss mich duellieren“, platzte er schließlich heraus.

„Ein Duell?“

„Ja“, antwortete er und blickte sie verzagt an.

Sie war völlig verwirrt. „Ich verstehe das einfach nicht. Was meinst du damit, dass du dich duellieren musst? Fährst du deswegen nach London?“

„Nein“, erwiderte er und verzog das Gesicht. „Ich will hinterher zurück in die Stadt fahren. Aber um das Duell komme ich nicht herum, denn sonst wäre unser Ruf rettungslos dahin.“

Während nackte Panik in ihr hochstieg, ging Mina langsam auf ihren Bruder zu. „Das ist doch absurd, Anthony. Duelle sind verboten und das schon seit vielen Jahren, wenn ich mich recht entsinne. Nur daran teilzunehmen, wäre schon ein Verbrechen, ganz abgesehen von der Gefahr für dein Leben. Wie bist du nur in so eine Sache hineingeraten?“

Er blickte sie entnervt an. „Es finden immer noch heimlich Duelle statt, Mina. Gentlemen verzichten nicht einfach auf diese Ehrenkämpfe, nur weil sie verboten wurden. Manchmal geht mir deine Naivität auf die Nerven.“

„Naiv bist du selbst. Warum willst du bei sowas mitmachen, obwohl du weißt, dass es gegen das Gesetz verstößt?“, fragte sie entgeistert. „Hast du denn nicht an die Folgen gedacht?“

„Mir bleibt keine andere Wahl“, erwiderte er knapp.

„Mit wem sollst du dich duellieren?“

Nach kaum wahrnehmbarem Zögern antwortete er: „Mit Simon Laughton, dem Earl of Creswick.“

Mina fuhr zurück, als hätte sie ein Schlag getroffen. Zwar hatte sie den Earl nie persönlich kennengelernt, doch sein Ruf eilte ihm voraus und war bis in den ländlichen Winkel gedrungen, in dem sie sich seit sechs Jahren vergrub. Wie Mina gehört hatte, war der Earl ein gewiefter und ehrgeiziger Politiker.

Ihr Vater hatte den jungen Adligen für seine Intelligenz und seinen Scharfsinn bewundert. Zahlreiche Zeitungsartikel, die Mina allesamt verschlungen hatte, erwähnten die Härte des Mannes ebenso wie seine Ehrenhaftigkeit und seine Redegewandtheit in den Debatten im Unterhaus und später, nachdem er seinen Titel geerbt hatte, im Oberhaus. Seine Argumente hatten dazu beigetragen, dass Gesetzesvorlagen angenommen wurden, die weitreichende Auswirkungen hatten und das Land von Grund auf verändern würden.

„Warum sollte der Earl so etwas tun und seinen guten Ruf damit aufs Spiel setzen? Es ist einfach unklug“, sagte sie mit schwacher Stimme und ließ sich auf die Kante eines Stuhls sinken. „Warum nur?“

„Ich war zu einer Partie Karten in kleinem Kreis im Haus des Earls in Hertfordshire eingeladen“, erklärte ihr Bruder mit kummervoller, zerknirschter Miene. „Ach, wäre ich doch bloß nicht hingegangen, Mina. Aber ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, nützliche Beziehungen zu knüpfen und …“ Er fuhr sich mit der Hand durch sein angenehm aussehendes Gesicht und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich habe gehofft, ich könnte vielleicht jemanden finden, der mir einen Investitionskredit gibt. Doch dann … war plötzlich die Rede von … von Falschspielerei und …“

„Und dieser Schuft hat dich zum Duell gefordert!“, rief sie. „Hat er mal über die Folgen nachgedacht? Wie können wir das nur verhindern? Ich habe mal gelesen, dass man mit einer Entschuldigung –“

Ihr Bruder blickte sie mit schwer zu deutendem Ausdruck an. „Ich kann mich nicht entschuldigen, Mina. Ich habe ihn gefordert.“

Sie starrte ihren Bruder an, als seien ihm plötzlich Hörner gewachsen. „Du hast den Earl zum Duell gefordert?“

„Ja.“

Mina war so perplex, dass sie lachen musste. „Ist das vielleicht ein schlechter Scherz?“ Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: „Was hast du dir nur dabei gedacht, Anthony? Selbst wenn der Earl beim Kartenspiel geschummelt hat, hättest du einfach darüber hinwegsehen sollen. Es war doch nur ein Spiel, um Himmels willen. Warum nimmt man das so ernst?“

Er blickte sie so beschämt an, dass es ihr ans Herz griff. „Ich war derjenige, der beim Spiel betrogen hat, Mina.“

Sie spürte, wie sich tief in ihrem Bauch Angst zusammenballte. „Ich verstehe nicht.“

„Ich vermute, Creswick wusste, dass ich ein paar Karten in meinem Ärmel versteckt hatte. Ich konnte es daran sehen, wie er mich dauernd anstarrte. Und dann … dann habe ich die Nerven verloren und ihn beschuldigt, zu betrügen.“

Mina ließ das Gesicht in ihre Hände sinken. Das ist eine Katastrophe.

Anthony war nicht nur ihr Bruder, sondern ihr Zwilling, und sie kannte ihn besser als jeder andere. Er war ein guter, sehr zartfühlender Mensch mit ausgeprägtem Sinn für Anstand und Gerechtigkeit. Es war kaum zu glauben, dass er versucht hatte, derart einflussreiche Männer beim Spiel zu betrügen und dann auch noch einen von ihnen zu beschuldigen. Auf einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass die Verzweiflung ihn zu dieser Wahnsinnstat getrieben hatte. „Was war im Pot, Anthony?“

„Fünftausend Pfund.“

Sie erschrak. Solch ein Vermögen bei einem privaten Glücksspiel musste eine entsetzliche Verlockung für Anthony gewesen sein, der nicht wusste, wie er den Ruin ihrer Familie abwenden sollte. Er hatte einen Schuldenberg und einen heruntergekommenen Landsitz geerbt und hatte obendrein noch eine Schwester, die er liebte, die aber keine Aussicht darauf hatte, ihrer Familie mit einer guten Heirat zu helfen.

Die Tränen brannten ihr in der Kehle, als sie an das Gespräch mit ihrem Vater dachte. Er wollte damals wissen, ob sie bereit war, die Folgen zu tragen, wenn sie einen Mann heiratete, der ihrer Familie weder mit Geld noch Beziehungen von Nutzen sein konnte.

„Ja, Papa, weil wir uns lieben!“

Wie sicher und voller Leidenschaft sie gewesen war. Wie töricht! Nie hätte sie sich vorstellen können, dass ihr Bruder irgendwo auf freiem Feld sterben könnte, nur weil sie vor sechs Jahren die falsche Entscheidung getroffen hatte. „Und wieso hast du dann den Earl beschuldigt, Anthony?“

Er wirkte so beschämt, dass es sie beinahe zu Tränen rührte. Doch stattdessen richtete sich Mina kerzengerade auf und blickte ihm direkt in die Augen.

„Er reagierte mit einer solch kühlen Belustigung auf meine wüsten Vorwürfe. Am Tisch wurde es totenstill, und dann hat er gelacht, Mina.“

Anthony griff nach einem Sofakissen und schleuderte es mit solcher Wucht an die Wand, als könne er damit alle Scham und Verzweiflung loswerden. „Dann sagte der Earl, für mich wäre ihm seine Zeit zu schade. Es klang so abfällig, als hätte ich etwas zu verbergen und … Ach Gott, Mina, ich weiß wirklich nicht, was für ein Teufel mich geritten hat, aber ich wurde wütend und forderte ihn zum Duell. Der Duke lachte nur und sagte, wir sollten nicht unüberlegt handeln, doch bevor ich noch antworten konnte, nahm der Earl meine Herausforderung an.“

„Wie haben sich die anderen verhalten? Sie sind doch hoffentlich eingeschritten.“

„Im Zimmer wurde es totenstill.“ Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Und dann war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Die Würfel waren gefallen.“

Mina konnte sich den Schreck ihres Bruders vorstellen, als sein Versuch, von seinem eigenen Fehler abzulenken, so unerwartete Folgen hatte. „Musst du … Brauchst du Sekundanten? Wird ein Arzt anwesend sein?“

„Der Earl sagte nur, ich solle morgen früh bei Tagesanbruch zu seinem Landsitz Norbrook Hall kommen. Von Sekundanten und ähnlichem hat er nichts erwähnt. Der Earl bot mir sogar an, dass ich die Waffen wählen dürfte. Obwohl das eigentlich dem Herausgeforderten zustünde, fügte er auf seine verdammt lässige Art hinzu“, erklärte Anthony verzweifelt.

Duelle waren verboten. Welche Regeln konnten da gelten? Mina fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Wir besitzen keine Duellpistolen“, sagte sie schließlich. Ihr letztes Paar – antike Pistolen von unschätzbarem Wert – hatten sie vor einigen Wochen verkauft.

„Deshalb habe ich den Degen gewählt. Damit bin ich gar nicht so schlecht.“

Plötzlich keimte in Mina eine Hoffnung wie eine Blüte im Frühling auf. „Den Degen?“

„Ja.“

Anthony hatte recht, er war gut im Fechten … Aber Mina war hervorragend. Ihr Vater hatte sie zärtlich seine Fechtmeisterin genannt.

Sollte sie es wagen? Die Vorstellung, sich anstelle ihres Bruders zu duellieren, fühlte sich beängstigend, absurd, aber zugleich richtig an. „Anthony?“

„Ja?“

„Ich werde für dich kämpfen.“

Erschrocken schnappte er nach Luft. „Was willst du damit sagen?“

„Weißt du noch? Als wir Kinder waren, habe ich oft deine Kleider angezogen und bin mit dir auf Bäume geklettert. Selbst unsere Eltern konnten uns kaum auseinanderhalten“, erklärte sie, während sie sich immer mehr für ihren Plan erwärmte. „Schließlich sind wir Zwillinge und sehen uns sehr ähnlich. Die gleichen Augen, Gesichtsform und Haarfarbe. Du bist zwar etwas größer als ich, und ich bin ein bisschen schwerer, aber –“

Mit einer schneidenden Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. „Hast du den Verstand verloren, Mina? Du willst für mich gegen Lord Creswick kämpfen? Dieser Aufgabe bist du wohl kaum gewachsen. Ich bin weiter herumgekommen als du und kenne den Ruf des Earls besser. Er ist mit seinen siebenundzwanzig Jahren zwar nur drei Jahre älter als wir, aber er ist gerissen, unglaublich schlau und dazu skrupellos. Niemals würde ich riskieren, dass er dich an meiner Stelle tötet!“

Ihr Herz begann wie wild zu klopfen. „Du glaubst, er will sich auf Leben und Tod duellieren?“

Anthony schluckte schwer. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Mina.“

„Ich fürchte, vor lauter Angst spielt deine Fantasie dir einen Streich“, sagte sie beruhigend, obwohl ihr selbst Zweifel kamen. „Und dass du glaubst, Creswick würde sogar sein Ansehen in der guten Gesellschaft riskieren, ist ein Grund mehr für mich, an deiner statt zu kämpfen. Du hast mich im Fechten noch nie geschlagen, Anthony. Es tut mir leid, wenn ich deinen Stolz verletze, aber so ist es nun mal.“

Er schien einen Augenblick zu zögern, doch dann straffte er die Schultern und sagte mit entschlossener Miene: „Das ist einfach zu gefährlich für dich. Wenn dich jemand erkennt, wäre dein guter Ruf zerstört und damit auch dein Glück.“

„Mein Glück wäre zerstört?“ Verblüfft stieß Mina ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. „Was für ein Glück?“

„Aber Mina“, antwortete er verwirrt.

Anthony hatte natürlich nicht erkannt, dass sie angesichts der großen Verantwortung, die auf ihm lastete, unzufrieden war. Ihre Pflicht war es, darauf zu achten, dass er sich nicht auch noch Sorgen um sie machen musste.

„Über vieles in meinem Leben bin ich nicht glücklich, Anthony. Und das sage ich nicht, um dich damit zu belasten. Du sollst nur wissen, dass meinem Ruf gar nichts mehr schaden kann“, sagte sie leise. „Ich habe vor sechs Jahren einen Fehler begangen, als ich dachte, ich wäre verliebt. Seitdem habe ich aufgehört, an mich zu denken, weil ich glaube, dass meine impulsive und leichtsinnige Natur mit ein Grund für unsere jetzige Notlage war. Wenn ich an deiner Stelle kämpfen will, geht es dabei vielleicht um mehr als nur darum, deine Haut zu retten. Es ist für mich eine Gelegenheit, der Langeweile des Landlebens wenigstens für eine kurze Zeit zu entfliehen und zu leben, statt nur zu … existieren.“

Mina lächelte ihrem Bruder beruhigend zu und hoffte, dass ihre Aufrichtigkeit ihn überzeugt hatte. Sie wusste nicht, wann genau sie erkannt hatte, dass sie nicht mehr länger nur existieren wollte. Was hatte es ihr gebracht, sich auf dem Land zu verstecken und dem Leben aus dem Weg zu gehen? Nichts. Und diese Erkenntnis machte sie unsagbar traurig. Denn sie war davon überzeugt gewesen, dass es von Vorteil wäre, sich still zu verhalten und ihre wahre Natur sogar vor sich selbst zu verbergen. Dass sie es geschafft hatte, ihr verwegenes Herz so lange zum Schweigen zu bringen, bewies nur, dass sie wirklich so standhaft und unnachgiebig war, wie ihr Vater immer lobend gesagt hatte.

Mina schob die unangenehmen und schmerzlichen Erinnerungen beiseite, denn die halfen ihr auch nicht, ihrer gegenwärtigen Situation zu entkommen. Mit dem Duell wollte sie Anthony retten, und vielleicht würde es genügend Kampfgeist in ihr wecken, um ihre quälende innere Leere durch etwas anderes zu füllen. „Anthony –“

Mit erhobener Hand schnitt er ihr das Wort ab. „Ich bin bereits als Betrüger gebrandmarkt; da könnte ich nicht damit leben, auch noch ein Feigling zu sein, der seine Schwester dem Tod ins Auge blicken lässt, während er sich zu Hause verkriecht.“

Mina stand auf und ärgerte sich, dass ihr die Knie zitterten. „Aber Anthony! Was ist, wenn du verlierst?“

Furcht blitzte in seinen Augen auf, doch er reckte trotzig das Kinn. „Ich kann es mir nicht leisten zu verlieren, und deshalb werde ich es auch nicht.“

Damit wandte er sich ab, um in die Bibliothek zu gehen, wo zwei Degen an der Wand hingen. Ihr Vater war sehr stolz auf die beiden Fechtwaffen gewesen, da sie ein Geschenk von König George persönlich waren. Mina stemmte die Fäuste in die Seiten. „Willst du jetzt einfach so gehen?“

„Ich …“ Da rumpelte es in seinem Magen, und er lächelte sie verlegen an.

Dieses Lächeln tat ihr in der Seele weh, denn ihr war klar, dass er sie in Sicherheit wiegen wollte, obwohl er selbst Angst hatte. Sie war seine um fünf Minuten ältere Schwester, und sie hatte ihn schon einmal enttäuscht. Das durfte nie wieder geschehen.

Plötzlich fuhr sie herum, weil sie eine Bewegung in der offenen Tür wahrgenommen hatte. Es war Mrs. Bell, die sich mit ihrem Schürzenzipfel eine Träne abwischte. Offensichtlich hatte sie das Gespräch mitangehört und schreckliche Angst um ihren jungen Herrn bekommen, der sie wie ein Familienmitglied behandelte.

„Ja, Mrs. Bell?“, sagte Anthony nach kurzem Räuspern.

„Ich habe die Suppe aufgetragen, Mylord. Sie ist ein wenig dünn, wird Ihnen aber für die Nacht den Bauch füllen.“

Mina versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen biss sie sich auf die zitternde Unterlippe. „Wir kommen gleich, Mrs. Bell. Essen Sie heute Abend mit uns?“

Vor einigen Monaten hatte Mina die Grenze zwischen Dienerin und Herrin außer Kraft gesetzt, als sie die Schüssel mit Kaninchenragout nahm, damit die Treppe hinunter in die Küche ging und sich zu der Köchin an den Tisch setzte. Zögernd und ein wenig unbehaglich hatte Anthony es ihr gleichgetan. Mrs. Bell war so überrascht gewesen, dass sie beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, doch zugleich hatte in ihren Augen ein Ausdruck mütterlicher Besorgnis gelegen. So war sie schweigend auf ihrer Bank beiseite gerückt, um den beiden Platz zu machen. An jenem Abend hatte der Eintopf noch einmal so gut geschmeckt, und Mina hatte sich nicht mehr so einsam und verlassen gefühlt. Selbst Anthony hatte gelächelt, als er das einfache Gericht aus Kaninchenfleisch, Möhren und Kartoffeln verzehrte.

„Heute Abend nicht, Miss Mina.“ Ihre klaren Augen blickten von einem zum anderen. „Ich nehme an, der junge Master und Sie möchten eine Weile alleine sein.“

Nachdem Mrs. Bell fort war, wandte sich Mina an ihren Bruder: „Ich muss mich frisch machen.“

„Ich werde mit dem Essen auf dich warten.“

„Du kannst ruhig schon anfangen“, erwiderte sie. „Ich … brauche vielleicht etwas länger.“

Er nickte, und Mina spürte seine Blicke im Rücken, als sie eilig die Bibliothek verließ und zu ihrem Zimmer im ersten Stock lief. Drinnen war es so kalt, dass sie schauderte, weil das Feuer im Kamin fast heruntergebrannt war. Mina ging in ihr Badezimmer und legte geschickt Kleid, Unterröcke und Unterwäsche ab, da sie seit über einem Jahr daran gewöhnt war, es ohne Hilfe zu tun.

Ihr Vater hatte das Herrenhaus vor einigen Jahren mit Wasserleitungen versehen lassen, und so war das Badewasser nicht eiskalt, sondern lauwarm. Mina hielt sich nicht lange in der geräumigen Badewanne auf, sondern seifte sich mit raschen Bewegungen ab, darauf bedacht, dass ihre üppigen Locken nicht nass wurden. Danach zog sie ein schlichtes Kleid aus dunkelgrünem Bombasin an, das vorne mit mehreren Reihen von Knöpfen verziert war. Ihre Strümpfe hatten Löcher, aber sie hielten ihre Füße warm.

Mina zog sich gerade die Schuhe an, als es leise an die Tür klopfte. „Ja?“

Die Tür ging auf, und Mrs. Bell lugte durch den Türspalt. Überrascht richtete sich Mina auf, den Stiefel vergessen in der Hand. „Falls Sie los wollen, Miss Mina, dann gehen Sie besser jetzt. Der junge Master schläft.“

Mina keuchte erschrocken. „Was meinen Sie damit?“

Mrs. Bell blickte sie mit schmerzlichem Ausdruck an. „Ich habe ihr Gespräch mitangehört, Miss Mina, und da habe ich ihm ein paar Kräuter vermischt mit etwas Laudanum in die Suppe getan.“

„Mrs. Bell!“

„Ich schätze, es ist harmloser als das, was Sie vorhatten, denn ich weiß, dass Sie ihn nicht hätten gehen lassen. Wahrscheinlich wollten sie mit ihm trinken, bis er zu beduselt gewesen wäre, um auf ein Pferd zu steigen.“

Mina lächelte. „Ich habe daran gedacht, aber da keiner von uns beiden Alkohol gut verträgt, wäre ich genauso betroffen gewesen. Ich wollte mir etwas anderes einfallen lassen, um Anthony zu überzeugen.“

„Ja“, sagte Mrs. Bell lächelnd. „Und jetzt los mit Ihnen, Miss Mina.“

Mina war die Kehle vor Rührung wie zugeschnürt. Sie ging hinüber zu der freundlichen Frau, die nicht nur als ihre Köchin und Haushälterin fungierte, sondern stets ein offenes Ohr und eine Schulter zum Ausweinen für sie hatte. „Ich danke Ihnen, Mrs. Bell. Bitte kümmern Sie sich um meinen Bruder, bis ich wieder da bin.“

In aller Eile lief sie in das Zimmer ihres Bruders, um sich umzuziehen. Seine schon etwas ältere Hose saß ein wenig locker, sodass sie den Gürtel enger schnallen musste. Ihr bescheidener Busen brauchte eigentlich nicht gebunden zu werden, doch zur Sicherheit umwickelte sie ihren Brustkorb mit Leinenstreifen. Dann zog sie ein Unterhemd, eine blau–weiß gestreifte Weste und eine Jacke an. Zuletzt löste sie ihr Haar, dass es ihr lose über den Rücken fiel, nahm eine Schere zur Hand und holte tief Luft. Mina wollte, dass der Earl sie für Anthony hielt, und es vielleicht schaffen, seine Anerkennung zu gewinnen. Wenn ihr das gelang, würde es Anthony in der feinen Gesellschaft sehr voranbringen, und dann wendete sich vielleicht ihr Glück.

Doch noch immer zögerte Mina. Die Erinnerung daran, wie ihre Mama ihr das Haar gebürstet und dabei gesungen hatte, erfüllte sie mit schmerzlicher Sehnsucht. Mit unwilligem Schnauben über ihre eigenes Zaudern legte Mina die Schere beiseite, steckte sich das Haar zu einem Krönchen auf und bedeckte es mit einer eng anliegenden Mütze, die sie tief in die Stirn zog.

Beim Blick in den Spiegel erschien ihr die Verkleidung hervorragend gelungen. Sie besaß die gleichen Augen und schrägen Wangenknochen wie ihr Zwillingsbruder. Er war ein wenig größer, doch beide hatten sie den gleichen schlanken, eleganten Körperbau. Sie konnte nur hoffen, dass der Earl die kleinen Unterschiede nicht bemerkte.

Ihr wurde ein wenig unbehaglich zumute, als sie daran dachte, dass der Mann berühmt für seinen Scharfsinn war. Doch rasch schob sie das Gefühl beiseite, lief die Treppe hinunter und warf einen kurzen Blick in die Bibliothek, wo Anthony auf einem alten, abgenutzten Sofa lag und schnarchte. Sie zog die Tür zu, holte ihren Mantel und den Degen und lief zum Stall, wo ihr letztes verbliebenes Pferd stand. Der Hengst war ihr Lieblingspferd gewesen, und daher hatten sie es noch nicht einmal für das dringend benötigte Geld fertiggebracht, sich von Raven zu trennen.

Der kleine Tommy sprang vom Heuboden und half ihr, das Pferd zu satteln.

„Schlaf nicht im Stall, Tommy“, sagte sie leise. „Es könnte schneien.“

„Ja, Miss Mina. Und Raven ist ja dann auch nicht mehr da.“

„Na, dann ab ins Haus mit dir.“ Lächelnd sah sie ihm nach, als er davonrannte.

Gewandt und ohne die Hilfe eines Aufsitzblocks schwang sich Mina in den Sattel. Norbrook Park war einige Stunden zu Pferd entfernt. Sie kannte den Landsitz, da sie früher einmal mit ihrem Vater daran vorbeigefahren war. Es war eines der größten Herrenhäuser in ganz Hertfordshire, umgeben von rund achtzig Hektar gepflegten Rasenflächen und Wald. Doch sie musste sich in Acht nehmen, wenn sie als Frau alleine unterwegs war, besonders, wenn sie Halt machen musste, um Raven zu tränken.

Sie konnte nur hoffen, dass Anthony nicht aufwachen und ihre Abwesenheit bemerken würde, bevor das Duell vorüber war. Aber selbst wenn, hätte ihr Bruder keine Möglichkeit, an ein Pferd oder eine Kutsche zu kommen, um ihr zu folgen und sie aufzuhalten. Vielleicht hätte sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollen, doch bestimmt würde sich Mrs. Bell um Anthony kümmern und ihm alles erklären. Auf ihrem geliebten Hengst ritt Mina die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Schließlich ließ sie das Pferd in Galopp fallen, bis sich ihre rasenden Gedanken beruhigten und ihr Siegeswille erwachte. Wenn sie gewann, würde das dazu beitragen, Anthonys guten Ruf wieder herzustellen. Vielleicht stiege er dann auch in der Achtung der Gentlemen, mit denen er eine Geschäftsverbindung anstrebte. Als sie daran dachte, wie niedergeschlagen er sogar im Schlaf gewirkt hatte, war Mina mehr denn je überzeugt, das Richtige zu tun. Schließlich war alles ihre Schuld. Wenn sie einen einflussreichen Mann geheiratet hätte, stünde Anthony als der neue Viscount jetzt ganz anders da. Ihre Entscheidung, mit diesem Kerl davonzulaufen – sie mochte nicht einmal mehr an seinen Namen denken – war der erste Stein, der aus der Fassade gebrochen war und so das ganze Gebäude zum Einsturz gebracht hatte.

Noch vor Morgengrauen erreichte Mina den Landsitz des Earls. Sie ritt auf den Vorplatz, stieg vom Pferd, streichelte und klopfte ihrem Hengst den Hals, während sie ihm zuflüsterte: „Danke, dass du mich sicher hierher gebracht hast, Raven.“

Dann führte Mina das Pferd zu den etwas entfernten weitläufigen Stallungen, wo sie es einem Stallburschen übergab, der herausgerannt kam und das Tier ohne eine Frage entgegennahm. Mina zog ihre Taschenuhr aus der Jackentasche und hielt das Zifferblatt ins helle Mondlicht, um zu sehen, wie spät es war. Fast vier Uhr morgens. Mina zog den Umhang fester um sich, als eine Windböe sich in der dichten, von Nebelschwaden durchzogenen Dunkelheit erhob.

Festen Schrittes über das offene Gelände zum Landsitz hinüber zu gehen, kostete sie mehr Anstrengung, als sie sich eingestehen wollte. Ihre verflixten Knie zitterten so sehr, dass sie einen Augenblick stehenbleiben musste, um sich zu sammeln. Gegen die plötzliche Angst, die sie erfasste, atmete sie tief durch und schritt langsam über die kalte, leere Rasenfläche, wo an manchen Stellen der Schnee unter ihren Stiefeln knirschte.

Draußen war niemand zu sehen, und auch das große Landhaus wirkte verlassen. Als sie aufblickte, sah sie hohe cremefarbene, von kleinen Kuppeln gekrönte Türme in den sternbedeckten Himmel ragen. Die mit Zinnen bewehrten Mauern dazwischen erhoben sich drei Stockwerke hoch, und eine große, goldverzierte Eingangstür führte in den Hauptteil des Hauses. Jetzt in der Dunkelheit wirkte das eindrucksvolle Gebäude ein wenig unheimlich, und als eine Eule rief, zuckte Mina zusammen.

Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ihr Plan funktionieren und keiner ihre List durchschauen würde. Auch wenn sie ihrem Bruder versichert hatte, wie wenig sie bei der Sache riskierte, mochte sie sich nicht ausdenken, was wäre, wenn der Earl of Creswick herausfand, dass er sich mit einer Frau duelliert hatte.

Kapitel 2

„Willst du dich wirklich mit dem Knaben duellieren?“, ließ die affektierte Stimme des Duke of Beswick vernehmen, der in lässiger, doch eleganter Pose am Kamin saß. „Ein bisschen grausam, meinst du nicht, Creswick? Deine Fechtkunst ist tadellos, und du hast noch nie einen Zweikampf verloren. Dir ist doch sicher aufgefallen, was für eine Angst die ganze Sache dem Burschen eingejagt hat. Er musste sich schon zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben.“

Die leisen Worte seines Freundes drangen kaum in das Bewusstsein von Simon, dem Earl of Creswick, der soeben einen Brief zusammenfaltete, den ihm ein besonders zuverlässiger Informant geschickt hatte. Er gehörte dem Netzwerk an, das der Earl aufgebaut hatte und das bis in die verborgensten Winkel der Londoner Unterwelt reichte.

Achtung. Diejenigen, die einmal Freunde waren, sind nun Feinde.

Die Botschaft klang ernst und Unheil verkündend, doch sie kam keineswegs unerwartet angesichts der Tatsache, dass der Earl sich seit kurzem entschieden für soziale Reformen einsetzte. Es gab etliche, die ihr Vermögen damit gemacht hatten, dass sie Männer, Frauen und Kinder ausbeuteten. Und einige von ihnen fürchteten, Geld oder Einfluss zu verlieren, sollten bestimmte Gesetzesvorlagen angenommen werden. Habgier war eine starke Triebfeder für Angriffe bis hin zum Mord.

Manch anderer mochte bei dem Gedanken erschrecken, dass seine politischen Gegner ihm etwas antun wollten, doch Simon dachte bloß düster: Kommt nur. Er war fest entschlossen, sich durch derartige Drohungen nicht von seinem Einsatz für die Ärmsten der Armen im Land abbringen zu lassen. In jahrelangem Kampf war es ihm gelungen, Armut und Elend dieser Schwächsten der Gesellschaft ein wenig zu lindern, doch die Ungerechtigkeit war noch lange nicht besiegt. Es brauchte Männer wie ihn, die ihren beträchtlichen Einfluss dafür einsetzten, um die Welt zu verbessern. Für Simon war das die oberste Pflicht.

„Willst du uns noch lange ignorieren?“, wollte Daniel, Lord Stannis, wissen. „Nun komm schon, Mann. Jetzt ist nicht die Zeit für Grübeleien.“

„Viscount Crawford hat beim Kartenspiel betrogen“, sagte Simon, hob sein Whiskyglas an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. „Er hat mich gefordert, und ich habe lediglich angenommen.“

„Ja, wir hatten alle den Verdacht, dass der Viscount betrügt, und zwar sehr ungeschickt. Trotzdem hat er seinen ganzen Gewinn gleich darauf wieder verloren“, bemerkte Beswick und blickte den Earl mit seinen kühlen grünen Augen durchdringend an. „Ich dachte nur, solche Nebensächlichkeiten würden deiner Aufmerksamkeit entgehen, und bin erstaunt, wie sehr dich die Sache beschäftigt, Creswick.“

Auch Lord Stannis blickte Simon interessiert an. „Wir dachten, du hättest große Hochachtung vor seinem Vater gehabt.“

„Gerade weil ich Lord Crawford sehr geschätzt habe, bin ich entschlossen, seinem Sohn eine Lehre zu erteilen“, erwiderte Simon in gleichmütigem Ton. Er hatte den Vater des Viscounts für seine beeindruckenden Reden im Oberhaus bewundert. „Es war nur gut, dass der verdammte Esel gerade mich beschuldigt hat“, fuhr der Earl fort. „Andere Männer hätten es nicht auf die leichte Schulter genommen, von einem Betrüger des Betrugs bezichtigt zu werden.“

Darauf wussten seine Gefährten nichts zu sagen, nur der Duke erhob sein Glas wie zu einem Trinkspruch. „Versuch, den Knaben nicht umzubringen. Ich habe keine Lust darauf, ihm ein Grab zu schaufeln.“

In diesem Augenblick drang das laute Rumpeln von Kutschenrädern durch das geöffnete Fenster.

„Hat Crawford es so eilig, dass er zu früh kommt?“, fragte Stannis mit rauem Lachen, während er zu dem Rosenholztischchen ging, um sich nachzuschenken.

Der Duke warf ihm einen vielsagenden Blick zu, worauf Stannis merklich zusammenzuckte. Das weckte in Simon den Verdacht, dass die beiden etwas im Schilde führten. „Ich habe eine Verabredung im Morgengrauen und keine Zeit für eure Ausschweifungen“, sagte er.

Mit maliziösem Grinsen schlenderte der Earl of Stannis auf ihn zu und versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. „Komm schon, Mann. Bevor man sein Leben aufs Spiel setzt, sollte man sich noch einmal amüsieren.“

Sein anzüglicher Ton ließ darauf schließen, welche Art von Amüsement er im Sinn hatte.

„Mein Leben ist nicht in Gefahr“, entgegnete Simon mit verächtlichem Lächeln.

Er wusste, wie gut er mit dem Degen umgehen konnte, und hoffte im Grunde genommen, dass der dumme Junge mit sich reden ließe und es nicht zu einem Zweikampf käme. Der junge Viscount hatte einen unbesonnenen und verzweifelten Eindruck gemacht, was Simons Neugier geweckt und ihn dazu bewogen hatte, dem jungen Mann eine Lektion zu erteilen. Doch bei Männern, die so offensichtlich verzweifelt waren, musste man vorsichtig sein, da sie vielleicht glaubten, sie hätten nichts mehr zu verlieren. Der junge Viscount und seine verrückte Duellforderung waren ein gutes Beispiel dafür, denn schließlich setzte er seine Ehre, seinen Ruf und sein Leben damit aufs Spiel.

Da ging die Tür auf, und vier aufreizend gekleidete Damen kamen herein, gefolgt von George, dem Marquess of Moncrieff, der ebenfalls zum Kreis der Freunde gehörte. Er trug kein Halstuch, und seine Miene verriet satte Befriedigung. Offensichtlich hatte George die Kurtisanen nach ihrem Talent ausgesucht, auch die abgestumpftesten Sinne zu reizen und vor allem das Interesse des gleichgültigen Simon zu wecken.

„Was wollen die Damen hier?“

Wieder schlug ihm Stannis auf die Schulter. „Das sind keine Damen, mein Lieber, sondern erstklassige Kurtisanen, die einem Mann jede erdenkliche Wonne bereiten. Noch bevor der Tag anbricht, werden sie uns so ausgepumpt haben, dass wir uns kaum noch rühren können.“

Es waren in der Tat wunderschöne Frauen, und wären sie etwas dezenter gekleidet gewesen, hätte man sie auf den ersten Blick für Perlen der High Society halten können.

Die größte von ihnen war eine Brünette mit dunklem Teint, blitzenden dunklen Augen und einer hübschen Stundenglasfigur. Ihr scharlachrotes Kleid stand ihr vorzüglich. Die Rothaarige, die sich auf ihren Arm stützte, war wohl etwas beschwipst, doch ihre zierliche Figur wurde von zwei entzückenden alabasterweißen Halbkugeln gekrönt, die aus dem Mieder ihres eng geschnürten grünen Kleides hervorquollen.

Die dritte Dame war in ihrem himmelblauen Kleid am sittsamsten gekleidet, und nachdem sie Simon mit einem kurzen, prüfenden Blick bedacht hatte, senkte sie züchtig wie eine Nonne die Augen. Ihre hellblonde Lockenfrisur war das Werk eines hervorragenden Friseurs, und sie spielte die Rolle der Unschuld sehr überzeugend. Das vierte Mädchen, das an Georges Arm hing, hatte sahneweiße Haut, hellbraunes Haar und mandelförmige braune Augen.

Obwohl die Bibliothek nur von dem kleinen Feuer im Kamin erleuchtet wurde und der Raum größtenteils im Schatten lag, waren die Reize der Damen nicht zu übersehen.

„Ihr habt schon ohne uns angefangen“, beklagte sich Stannis, während er gemächlich auf eine der Frauen zuging, sie an sich zog und ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund gab.

Moncrieff grinste. „Die Zugreise von London war langweilig, wir hatten ein Privatabteil, die Damen brauchten Abwechslung, und ich war ihnen gerne zu Diensten.“

„Und die Abwechslung dauerte auch noch während der Kutschfahrt an?“, fragte Beswick skeptisch.

Wieder grinste Moncrieff. „Ja.“

Obwohl Simon in letzter Zeit rastlos und unzufrieden war und vielleicht ein wenig Zerstreuung brauchte, überkam ihn wieder dieses nur allzu vertraute Gefühl des Überdrusses. Seine Freunde hatten ihm immer wieder zugeredet, sich öfter den Sinnesfreuden hinzugeben, doch Simon hatte festgestellt, dass nicht einmal die besten Gefährten und die reizendsten Kurtisanen ihn für längere Zeit zu fesseln vermochten, da sie weder seine Interessen noch seinen Intellekt ansprachen. Die anwesenden Herren waren nette Kerle, aber eher interessiert daran, sich zu amüsieren, als der Gesellschaft von Nutzen zu sein.

„Na, das ist ja mal ein Hübscher“, gurrte die Blonde und kam mit sinnlichem Hüftschwung auf ihn zu. „Männer, die so gut und dabei doch männlich aussehen, haben mir immer gefallen.“

Als sie Anstalten machte, sein Gesicht zu streicheln, hielt Simon ihre Hand fest. „Nicht anfassen, bevor man dazu aufgefordert wird“, sagte er mit schneidend kalter Stimme. Er hatte es noch nie gemocht, einfach von anderen berührt zu werden. Außerdem ärgerte er sich, wenn man ihn als hübsch bezeichnete, besonders, weil die anwesenden Herren sich dann gerne über ihn lustig machten.

Für einen Augenblick wirkte die Kurtisane verunsichert und blickte hilfesuchend zu den anderen Männern hinüber. Simon ließ ihren Arm los und entfernte sich einen Schritt aus dem Dunstkreis ihres leichten, blumigen Parfüms.

„Komm schon, Mann“, bemerkte Moncrieff spöttisch, „sag mir nicht, du wärst nicht in Versuchung.“

„Nicht im Geringsten.“

„Dann bleibt umso mehr für uns“, erwiderte Beswick in affektiertem Ton und legte seine Arme um die Taille von zwei Kurtisanen, die leise kicherten.

Mit einem einzigen Zug leerte Simon sein Glas und genoss das Brennen, mit dem der Whisky durch seine Kehle rann. Dann stellte er das Glas hin und sagte zu den Männern: „Ihr könnt gerne über meine Gästezimmer verfügen, Gentlemen.“

Damit verließ er die Bibliothek und ging durch den prächtigen Korridor zu seinem privaten Arbeitszimmer, das von mehreren Gaslampen und dem Kaminfeuer erleuchtet wurde. Er ließ sich auf einem Lehnsessel am Fenster nieder und blickte hinaus in die Dunkelheit. Ein kurzer Blick auf die Kaminuhr hatte ihm verraten, dass es erst kurz nach vier war und die Morgendämmerung noch etwa zwei Stunden auf sich warten lassen würde. Da Viscount Crawford nun bald eintreffen musste, war es zu spät, sich noch einmal hinzulegen.

Plötzlich ärgerte sich Simon über sich selbst, weil er die Herausforderung angenommen hatte. Er hätte den jungen Viscount einfach beiseite nehmen und ihn eindringlich vor den Gefahren des Falschspielens warnen sollen, und zwar in einer Sprache, die der Junge verstand. Denn wenn er an den Falschen geriet, konnte sich der junge Mann in eine ausweglose Lage manövrieren. Möglicherweise glaubte der junge Viscount wirklich an diesen alten Blödsinn, dass es bei einem Duell um Ehre und den guten Ruf ging, aber eine ordentliche Tracht Prügel hätte ihn vielleicht von diesem närrischen und gefährlichen Weg abbringen können. Doch jetzt wollte Simon nur noch, dass die Sache endlich vorbei war. Es gab wichtigere Dinge, die seine Zeit und Aufmerksamkeit erforderten.

Plötzlich tauchte vor seinem Fenster eine schlanke, geschmeidige Gestalt auf, die durch die Dunkelheit herangeschlichen war. Er erschrak nicht schlecht, als sich gleich darauf ein kleines Gesicht gegen die Scheibe presste. Für einen kurzen Moment nahm Simon schräge Wangenknochen, volle Lippen und eine klassisch geformte Nase wahr, bevor er unvermittelt in ein Paar wache grüne Augen blickte.

Ein unbekanntes Gefühl durchfuhr ihn, dann war es wieder verschwunden. Die fremden Augen wurden weit, als sie ihn dort sitzen sahen, und ihr Besitzer erstarrte.

Endlich passierte mal etwas Interessantes.

Simon schnappte sich seinen Degen, der auf dem Tisch lag, ging zum Fenster und schob es mit einer ungeduldigen Bewegung hoch. Der Eindringling fuhr zurück und trat in den Schatten. Simon schwang erst einen, dann den anderen Fuß über den Fenstersims und stieg hinaus in seinen hochherrschaftlichen Garten. „Geben Sie sich zu erkennen! Was wollen Sie in meinem Garten?“

„Ich bin der Viscount Crawford und gekommen, um mich mit dem Earl of Creswick zu duellieren.“

„Sie sind früher hier als erwartet, Crawford. Soll es mich etwa beeindrucken, mit welchem Eifer Sie Ihrem Untergang entgegengehen?“

Zu seiner Überraschung vernahm Simon das scharfe Zischen eines Degens, der aus der Scheide gezogen wurde, und schon spürte er den Druck der Degenspitze an seinem Hals, direkt über der Stelle, wo sein Puls schlug. Himmel! Damit hatte er nicht gerechnet.

Simon war unbestreitbar beeindruckt.

„Meinem Untergang?“, fragte die tiefe, raue Stimme. „Sie wollen also einen Mann wegen eines Kartenspiels ermorden, Mylord? Wo bleibt da die unbefleckte Ehre, über die einige in ehrfürchtigem Flüsterton reden? Vielleicht werde ja ich dafür sorgen, dass Sie heute Nacht den Tod finden.“

Die Drohung hatte etwas Wildes und Brutales. „Untergang und Tod sind nicht dasselbe“, erwiderte er mit ausdrucksloser Stimme, um seinem Gegenüber nicht seine Gefühle zu verraten. Zugleich wirbelte er mit einer Gewandtheit herum, die seinem Gegner ein überraschtes Keuchen entlockte. Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog Simon seine Klinge und richtete die Spitze gegen den Boden. Er spürte die Anerkennung des Viscounts mehr, als dass er sie sah.

„Sie sind sehr flink“, murmelte Crawford. „Und Sie bewegen sich sehr elegant.“

„Stimmt.“

„Aber ich bin besser.“

Die leisen Worte hatten einen stählernen Unterton, der die Unerschrockenheit seines Gegners bewies. Vor Überraschung darüber, dass der Bursche so viel Mumm besaß, hätte Simon beinahe gelacht. „Erstaunlich, dass Sie das glauben“, murmelte er und umkreiste Crawford mit behutsamen Schritten auf dem schneebedeckten Rasen.

„Ein würdiger Gegner“, bemerkte der Viscount mit mildem Sarkasmus, dem durch das leichte Zittern in seiner Stimme die Schärfe genommen wurde. „Das hier verspricht, eine interessante Begegnung zu werden.“

Vielleicht wollte der junge Lord sich ja tatsächlich duellieren. Simon, der den Kampfgeist seines Gegners und die vage Gefahr belebend fand, freute sich auf einen guten Kampf. Er rechnete nicht damit, dass der Viscount ihm lange standhalten konnte, hoffte jedoch, dass Crawford gut genug fechten konnte, um sich nicht allzu sehr zu blamieren.

„Stimmen Sie zu, dass mit diesem Duell Ihrer Ehre Genüge getan ist?“, fragte Crawford leise.

„Ja.“

Nach kurzem Schweigen fügte der junge Viscount hinzu: „Es ist kein Arzt anwesend.“

„Ich habe nicht vor, Sie zu verletzen.“

„Da ich noch nie ein Duell hatte, weiß ich nicht, womit ich rechnen muss. Ich habe nur darüber gelesen. Wo sind Ihre Sekundanten, Mylord?“

„Sind wir denn keine Ehrenmänner? Was brauchen wir da Sekundanten?“

Er spürte, wie der Viscount ihn überrascht anstarrte. „Sie halten mich noch immer für einen Ehrenmann?“

„Ja, wenn auch einen törichten.“

Wieder trat Stille ein, und die Luft knisterte förmlich vor Gefahr.

„Dann werde ich gut kämpfen, damit Sie wieder eine gute Meinung von mir bekommen, Mylord. Man sagt allerdings, wenn die einmal verloren ist, bekommt man sie nie wieder.“

„Daran könnte etwas Wahres sein.“

„Nun, dann werde ich mich umso mehr anstrengen.“

En garde“, sagte Simon.

Allez“, erwiderte der Viscount und machte einen Ausfallschritt.

Der Stoß der aufblitzenden Klinge wurde von Simon prompt pariert, und der Klang von Metall auf Metall durchschnitt die Stille der zu Ende gehenden Nacht.

Die Fechtkünste des Viscounts waren bemerkenswert, seine Bewegungen flink und graziös, auch wenn ihm die Stärke seines Gegners fehlte. Jetzt sprang er wieder vor und attackierte den Earl mit einem solchen Wirbel von Stößen, dass Simon sie kaum abwehren konnte. „Ich bin beeindruckt, Crawford.“

„Das war auch meine Absicht, Mylord.“

Bei seinem Gegenangriff hätte Simon dem jungen Lord fast den Degen aus der Hand geschlagen, doch wieder gelang es Crawford, den Stoß zu parieren. Sie umkreisten einander mit langsamen Schritten, und ihre innere Anspannung stieg stetig. Plötzlich donnerte es, und der Viscount blickte zum Himmel auf und sagte: „Ich fürchte, es gibt gleich ein Unwetter, Mylord.“

„Ich bin gleich mit Ihnen fertig“, entgegnete Simon und verlieh seiner Stimme einen gelangweilten Unterton.

„Mir scheint, es ist an der Zeit, Ihren Irrtum zu korrigieren. Ich war bisher nur nachsichtig mit Ihnen.“

„Nachsichtig?“, fragte Simon mit neu erwachtem Interesse.

„Aber ja. Bei einem Duell gehört es sich, dass man dem Gegner erlaubt, stolz auf seine Leistung zu sein.“

„Nun denn, überraschen Sie mich“, murmelte Simon amüsiert und mit neu erwachtem Interesse.

„Darf ich mir die Freiheit nehmen?“

„Selbstverständlich“, gab Simon hochmütig zurück. „Ich erwarte keine Rücksichtnahme.“

„Ein Gentleman mit einem gesunden Selbstbewusstsein ist wirklich bewundernswert.“

Simon lachte. Der Viscount wirkte heute anders – selbstsicherer als gestern am Kartentisch. Ein schneller Hieb des Viscounts konnte von Simon abgewehrt werden, bevor er mit drei rasch aufeinanderfolgenden Angriffen vordrang. Doch nach zwei weiteren Minuten musste Simon erkennen, dass er seinen Meister gefunden hatte.

Mit einer Finte brachte der Viscount Simon dazu, von links anzugreifen, um dann von der Flanke her eine Konter–Riposte auszuführen. Die Aktion wurde so vollendet ausgeführt, dass sie Simons Bewunderung erregte. Der Mann war ein vorzüglicher Kämpfer, und Simon musste seine ganze beträchtliche Fechtkunst gegen ihn aufbieten. Es folgten drei weitere Aktionen, dann drückte die Spitze des gegnerischen Degens gegen seine Brust.

„Muss erst Blut fließen? Das wäre doch schade.“ Die Stimme des Viscount klang leicht blasiert.

Simon zog eine Braue hoch. Beide atmeten ein wenig angestrengt, und trotz der kühlen Nachtluft stand Simon der Schweiß auf der Stirn. „Ihre Fähigkeiten sind bemerkenswert.“

„Aber gewiss doch.“

Dieses kleine Zeichen von Arroganz wirkte beinahe charmant, und Simon musste sich ein Lächeln verkneifen. „Ich bin noch nie zuvor geschlagen worden.“

„Das ist ein großes Lob von Ihnen, Mylord. Ich nehme es gerne entgegen.“

Der unterschwellige Humor dieser Bemerkung überraschte ihn. Dann senkte der Viscount seinen Degen und schob ihn in die Scheide, und Simon tat es ihm nach. „Ich werde allen, die Ihre Forderung mitbekommen haben, sagen, dass Sie aus dem Duell als rechtmäßiger Sieger hervorgegangen sind. Sind Sie damit zufrieden, Crawford?“

„Ja, Mylord. Vielen Dank.“

Nach kurzem Nachdenken setzte der Viscount leise hinzu: „Ich werde mich öffentlich dafür entschuldigen, dass ich beim Spiel betrogen habe. Das war ein Fehler von mir, und ein noch größerer Fehler war es, Sie zu beschuldigen, Mylord. Es tut mir leid, und ich schäme mich dafür.“

Wie seltsam. Warum hatte er sich nicht schon während des Kartenspiels oder vor dem Duell entschuldigt? Es kam Simon in den Sinn, dass der Mann seinen Respekt gewinnen wollte, indem er ihn besiegte, einen Gentleman, welcher in der High Society in vielerlei Hinsicht als unschlagbar galt. „Sie haben sich bei mir entschuldigt, aber ich verlange auch eine Erklärung.“

„Nun gut, Mylord. Ich brauchte dringend Geld, und nachdem eine sichere Investition und die Bitte um ein Darlehen gescheitert waren, stellten die fünftausend Pfund im Pot eine fatale Versuchung für mich dar. Zwar kann diese Erklärung mein schändliches Verhalten nicht entschuldigen, aber ich hoffe, Sie verstehen es nun ein wenig besser und können mir meinen Fehler verzeihen.“

„Ich nehme Ihre Entschuldigung an.“

Ein erleichterter Seufzer erfüllte die kühle Luft. „Danke, Mylord.“

Simon hatte seine Meinung über den Viscount geändert. Der Mann hatte Schneid und brauchte vielleicht nur eine Chance, bei der ihm bisher sein verschuldeter Besitz im Weg gestanden hatte. „Kommen Sie mit mir auf einen Glas hinein. Dann können wir uns über Ihre Geldsorgen und Ihre geplanten Investitionen unterhalten. Vielleicht findet sich für Sie sogar ein Platz in meinem politischen Team.“

Er merkte, wie der Viscount erschrak. „Ins Haus?“

„Ja.“

„Um meine geschäftlichen Pläne zu besprechen?“

„Das sagte ich“, erwiderte Simon bedächtig und legte den Kopf schief, als sich der Viscount ein wenig in die Dunkelheit zurückzog.

Noch ein zitternder Atemzug. „Zu meinem Bedauern muss ich ablehnen, Mylord. Ich bin überstürzt von Zuhause aufgebrochen und möchte nun meiner Schwester über den Ausgang des Duells berichten. Ich muss also nach Hause und ihr sagen, dass alles gutgegangen ist. Dürfte ich heute Abend wiederkommen, um mit Ihnen zu sprechen?“

„Ja, gerne.“

„Vielen Dank, Mylord. Und jetzt möchte ich mich verabschieden. Ich werde heute Nachmittag gegen fünf wieder bei Ihnen vorsprechen.“

Als Simon eine kleine Verbeugung machte, überkam ihn plötzlich ein eigenartiges Gefühl. Der Viscount wandte sich zum Gehen, als in irgendeinem Zimmer des Landhauses ein Licht anging und das Profil des Viscounts und seinen lächelnden Mund beleuchtete, die vorher im Schatten gelegen hatten.

Simon war wie erstarrt, denn tief in seinem Bauch begann es heiß und unangenehm zu kribbeln. Mit einem Ruck richtete er sich auf und blieb regungslos stehen. Etwas Listiges lag in diesem Lächeln, aber auch ein süßer, verführerischer Ausdruck. Die Empfindung, die ihn wie ein glühender Pfeil der Versuchung getroffen hatte, war im nächsten Augenblick wieder verschwunden, bevor Simon noch Zeit hatte, ihr auf die Spur zu kommen. Doch sie schien sich wie ein erregendes Feuer in sein Fleisch eingebrannt zu haben.

Es war wirklich höchst befremdlich, und all das nur wegen eines Paars sinnlich geschwungener Lippen. Für Simon war es der schlagende Beweis, dass sein Gegner, der ihn mit seiner Furchtlosigkeit und seinen überragenden Fechtkünsten besiegt hatte, eine Frau war. Sein Herz machte einen Sprung, und er stieß langsam und hörbar den Atem aus.

Donnerwetter!