Kapitel 1
Aylesbury, Buckinghamshire – Mai 1879
Mai war der schönste Monat im ländlichen Teil Englands. Das fanden alle. Von den sorgfältig gepflegten Gärten bis hin zu den wilden, weitläufigen Wiesen, überall sprossen bunte Blumen. Die Bäume ragten stolz aus der Erde und waren in voller Blüte. Wohlige Düfte wehten von den knospenden Feldern in die ruhigen, idyllischen Dörfer. Zu dieser Jahreszeit schienen die Dorfbewohner am glücklichsten. Sie schenkten ihren Nachbarn zur Begrüßung ein Lächeln und unterhielten sich beherzt in den schmalen Gässchen zwischen Cottages und gut besuchten Geschäften.
Doch während alle anderen vor frühsommerlicher Heiterkeit übersprudelten, verspürte Mariah bloß Nervosität. Jedes Jahr zog der Frühling an ihr vorbei und hielt ihr den Spiegel vor. Mit jedem Jahreszeitenwechsel und jedem neuen Jahr trieb sie weiter davon weg, jemals eine eigenständige Frau zu werden, und immer tiefer in die Ehelosigkeit. An sich wäre dieses Schicksal nicht schlimm gewesen, doch ab einem gewissen Alter zog es frustrierende Konsequenzen nach sich, unverheiratet zu sein.
»Oh, Mariah! Guck mal, da drüben«, quietschte Mariahs kleine Schwester Victoria und zog sie am Arm, als sie gerade in der Ortsmitte von Aylesbury Besorgungen machten.
»Was ist da?«, fragte Mariah. Alles, was sie sah, waren zwei Reihen von Geschäften mit vielseitig bestückten Schaufenstern und die alte Mrs Murphy, die die Bauernkinder, denen sie für ein paar Penny Schulunterricht gab, die Straße hinunterscheuchte. Dann waren da noch drei junge Männer in roter Militäruniform, die sich an der Ecke vor dem Pub unterhielten.
»Nein, guck nicht.« Victoria kicherte und zog an Mariahs Arm, als einer der Offiziere herschaute und lächelte.
Mariah wollte die Augen verdrehen. Aber Victoria war erst neunzehn und wusste erst seit Kurzem, wie einfach es war, Männer dazu zu bringen, sich umzudrehen, wenn man nur nett lächelte und eine gute Figur abgab. Mariah erinnerte sich allzu gut daran, wie mächtig sie sich damals bei dieser Erkenntnis gefühlt hatte. Leider war ihr gleichzeitig umso bewusster, dass diese Macht inzwischen verflogen war. Verstorben war, zusammen mit Robert. Möge er in Frieden ruhen.
»Schnell!« Victoria ließ Mariahs Arm los und nahm ihre Hand. »Wir sollten über die Straße gehen und an ihnen vorbeilaufen.«
»Aber MacTavish’s Buchhandlung ist auf der anderen Straßenseite«, erwiderte Mariah.
»Wen interessiert es? Lass uns mit ihnen reden. Sie sehen so gut aus.«
So, wie Victoria sich anstellte, war Reden nicht mehr nötig. Die drei Offiziere musterten sie und flüsterten sich Dinge zu, und Victorias Lächeln wurde immer breiter. Mariah verstand sofort, dass sie ihre Schwester ins Auge gefasst hatten. Doch abgesehen von ein paar anfänglichen Blicken hatte niemand Augen für sie.
»Victoria«, sagte sie in einem schiefen Tonfall, »benimm dich. Auch gut aussehende Offiziere sehen es nicht gerne, wenn junge Frauen sich aufführen, als ob –«
»Sie kommen rüber.« Victoria schnappte nach Luft und ignorierte Mariah völlig. »Ach du meine Güte.«
Victoria ließ Mariahs Hand los, um sich in die Wangen zu kneifen und ihren Rock glatt zu streichen, der sich um ihre Hüften schmiegte und unter den Knien ausgestellt war. Mariah hielt sowieso nichts von diesen neumodischen, eng anliegenden Röcken – vor allem, weil sie lange, elegante Schritte unmöglich machten –, aber als sie sah, wie ihre Schwester diesen Stil nutzte, um sich vor fremden Männern zu präsentieren, kochte ihr das Blut in den Adern.
»Ladys.«
Sie trafen an der Kreuzung vor dem Pub auf die Offiziere. Alle drei schienen unbedingt Bekanntschaft mit Victoria machen zu wollen. Sie grinsten und verneigten sich.
»Guten Tag«, begrüßte Victoria sie und klimperte mit den Wimpern.
Mariah seufzte in sich hinein und blickte an den Offizieren vorbei zur Buchhandlung. »Gentlemen.« Dann nickte sie den Herren höflich zu.
»Wir hatten uns gerade gefragt«, begann einer der Herren mit blondem Haar und dickem Schnurrbart, »was zwei so reizende junge Damen an diesem schönen Nachmittag wohl zu erledigen haben.«
Victoria kicherte und eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen. Überhaupt gab sie ein zartes, hübsches Bild ab. »Meine Schwester und ich sind auf dem Weg zur Buchhandlung.«
»Schwester?« Ein Offizier mit dunklem Haar musterte Mariah.
Sie wusste sofort, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging. Victoria war jung, blond und trug Rosa, wohingegen Mariah brünette war, mit ihren siebenundzwanzig Jahren bereits Staub fing und Violett trug, was das Ende einer langen Trauerphase symbolisierte.
Victoria bemerkte seinen skeptischen Blick nicht. »Ja«, sagte sie. »Das ist meine Schwester Mariah, und ich bin Miss Victoria Travers.« Furchtlos reichte sie den drei Herren die Hand.
Mariah schämte sich zutiefst für ihre kühne Schwester. Sie waren den Männern nicht förmlich vorgestellt worden. Auch wenn die sittsamen Zwanziger vorbei waren und ihnen die modernen Achtziger bevorstanden, war Victorias Verhalten unerhört.
»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Miss Victoria.« Der blonde Offizier nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich bin Colonel Nigel Scott.«
»Und ich bin Leutnant Gordon Banfield«, sagte der Mann mit den dunklen Haaren und nahm Colonel Scott Victorias Hand ab.
»Ich bin Leutnant Walter King«, sagte der dritte Mann, der kleiner, aber stämmiger war als die anderen, und nahm Victorias Hand als Letztes.
Colonel Scott blinzelte und nickte Mariah zu. »Miss Travers.«
Mariah rang sich ein Lächeln ab. Es sollte nicht so eine Qual sein, in Victorias Schatten zu stehen. Doch es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ungestüme junge Männer wie diese auch sie umgarnt hatten. Robert war einer von ihnen. Aber Robert gab es jetzt nicht mehr, und auch ihre Blütezeit war damit vorbei.
»Es ist uns eine Freude, Sie kennenzulernen, Gentlemen«, sagte Mariah und nahm Victorias Hand, als Leutnant King sie losließ. »Aber bitte entschuldigen Sie uns, meine Schwester und ich haben heute noch viel zu tun.«
»Mariah.« Victoria lachte und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Wir können doch nicht so unhöflich sein und uns von diesen freundlichen Herren verabschieden, obwohl wir gerade erst ihre Bekanntschaft gemacht haben.«
»Nein, keineswegs«, sagte Leutnant Banfield zwinkernd.
Mariah hob eine Braue. Sie traute diesen Männern nicht. Vor allem, weil zwei von ihnen scheinbar mehr an Victorias Brüsten interessiert waren als an der Unterhaltung. Vater hätte allen dreien trotz seines hohen Alters eine Tracht Prügel verpasst, hätte er gesehen, wie sie sich verhielten.
»Das kann sein«, fuhr Mariah fort. »Aber es ist nicht ratsam, sich mit Männern zu unterhalten, denen man nicht von einer vertrauten Person vorgestellt wurde.«
»Mariah«, zischte Victoria und gab es auf, ihren Zorn zu verbergen.
»Nennen Sie uns Ihre Freunde und wir kümmern uns um die Formalitäten«, sagte Leutnant King.
»Nun«, begann Victoria, »unsere Freunde sind – Autsch!«
Mariah zerrte ihre Schwester von den Offizieren weg. Sie war sich sicher, dass sie nichts Gutes im Schilde führten und dass Victoria nicht die leiseste Ahnung hatte, was für eine Gefahr sie darstellten.
»Das war äußerst unhöflich«, zischte Victoria, als Mariah sie die Straße hinunter in MacTavish’s Buchhandlung scheuchte. »Sie wollten doch nur mit uns reden.«
Mariah seufzte und schaute durch das Schaufenster, um sicherzugehen, dass die Männer ihnen nicht gefolgt waren. Wie es aussah, waren sie in den Pub auf der anderen Straßenseite gegangen. Sie wandte sich Victoria zu. »Ein schönes Gesicht garantiert noch lange keinen schönen Charakter, meine Liebe.«
»Vielleicht nicht«, sagte Victoria und verschränkte die Arme, »aber du hast seit Roberts Tod keinen einzigen Mann angelächelt.« Sie machte ein besorgtes Gesicht, das für ihr Alter untypisch war. »Das tut dir nicht gut.«
Mariah hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Doch ihre Zuneigung zu ihrer Schwester durfte nicht überschatten, was für eine schlechte Menschenkenntnis diese hatte. »Papa und Mama wären außer sich, wenn sie wüssten, dass du fremden Männern auf der Straße schöne Augen machst.«
»Ich habe ihnen keine schöne Augen gemacht«, erwiderte Victoria entschlossen. Doch dann zog sie eine reuevolle Miene. »Jedenfalls nicht wirklich. Du hast es ja nicht zugelassen.« Mariah fixierte sie mit ihrem strengen Blick. »Mal ehrlich«, fuhr Victoria fort, strotzend vor jugendlicher Energie, »wie soll ich heiratsfähige Gentlemen finden, wenn du mich vor jedem Kandidaten retten willst, der sich in unseren Ort verirrt?«
»Du weißt doch gar nicht, ob sie heiratsfähig waren«, erwiderte Mariah. »Und du wirst genug Gelegenheiten haben, in einem anständigen Rahmen geeignete Herren kennenzulernen. Du bist erst neunzehn.«
»Und du warst erst zwanzig, als du dich mit Robert verlobt hast«, schoss Victoria zurück. »Oh.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund und lief rot an. »Es tut mir leid, Mariah. Ich wollte nicht –«
»Schon in Ordnung«, seufzte Mariah und kehrte dem Schaufenster den Rücken. »Ich wünschte, ihr wärt nicht immer so vorsichtig damit, Robert in meiner Gegenwart zu erwähnen.« Sie ging auf die Ladentheke im hinteren Teil der Buchhandlung zu.
»Nun ja, es sind fünf Jahre vergangen, seit Robert gestorben ist, aber du trägst immer noch –« Sie zeigte auf Mariahs Kleid.
»Violett steht mir«, sagte Mariah schulterzuckend. Das war zwar die Wahrheit, aber es war nicht der einzige Grund, wieso sie immer noch Trauerkleidung für einen Verlobten trug, der zwei Wochen vor ihrem Hochzeitstermin verstorben war. Es war ihr lieber, dass die Leute in Aylesbury sie für eine trauernde Geliebte hielten, die einem tragischen Unglück zum Opfer gefallen war, als für eine herabgewürdigte Jungfer, deren Verlobter mit dem Milchmädchen durchgebrannt und auf der Flucht von einer vorbeirasenden Kutsche überfahren worden war. Es war weniger demütigend, sich einzubilden, dass alle Männer von Aylesbury bis London sie mieden, weil sie ihren geschätzten, verstorbenen Freund respektierten, und nicht, weil ihr der Ruf einer verbitterten Junggesellin nacheilte.
»Ah, Miss Travers, Miss Victoria.« Mr MacTavish begrüßte sie, als sie bei der Ladentheke ankamen. »Was kann ich heute für Sie tun? Ich habe ein paar wundervolle Postillen auf Lager, die Sie bestimmt interessieren.«
Victoria rümpfte die Nase und machte einen angewiderten Ton. Dann widmete sie sich einem Stapel druckfrischer Modezeitschriften aus Frankreich.
»Ich habe gehört, Sie haben den neuen Gedichtband des Amerikaners Walt Whitman vorrätig«, sagte Mariah und legte lächelnd die Hände auf die Theke.
Auf einmal war Mr MacTavishs Lächeln nicht mehr herzlich, sondern herablassend. »Aber Miss Travers, Sie wissen doch, dass ich Ihnen dieses Buch nicht verkaufen kann.«
»Wie bitte?« Mariah blinzelte. »Aber warum denn nicht?«
Er schmunzelte, als würde er mit einem Kind reden. »Ich denke, Sie wissen, warum.«
»Nein«, erwiderte sie beharrlich. »Das weiß ich nicht.«
Mr MacTavish seufzte. »Die Gedichte von Mr Whitman sind nichts für Damen wie Sie.«
»Wie bitte?« Mariah blinzelte empört und schüttelte den Kopf. »Sie hatten noch nie ein Problem damit, mir einen Gedichtband zu verkaufen.«
»Nun ja. Die Gedichte von Matthew Arnold und Tennyson haben auch nichts Anstößiges an sich«, erklärte Mr MacTavish.
»Die Gedichte von Whitman auch nicht«, erwiderte Mariah.
Wieder schmunzelte Mr MacTavish, als wäre sie ein naives, kleines Kind. »Ich befürchte, mit dieser Annahme liegen Sie falsch, Miss Travers.«
Mariah stellten sich die Haare im Nacken auf. »Ich liege falsch?«, fragte sie zähneknirschend.
»Sie wissen genau, dass ich einer unverheirateten Dame keinen anrüchigen Lesestoff verkaufen darf«, sagte Mr MacTavish.
»Ob ich verheiratet bin, hat nichts mit meiner Fähigkeit zu tun, Gedichte zu lesen und zu schätzen, Mr MacTavish.«
»Ich wäre kein verantwortungsvoller Buchhändler, wenn ich zuließe, dass Sie solch aufrührerische Inhalte in die Finger kriegen, meine Liebe.«
Mariah kochte vor Wut. »Es ist ein Buch, Mr MacTavish. Bloß ein Buch. Ich glaube kaum, dass die Welt untergehen wird, nur weil ich ein Buch mit Gedichten lese.«
»Es tut mir leid, aber ich könnte nachts kein Auge zumachen, wenn ich wüsste, ich hätte solchen Lesestoff in die Hände einer unverheirateten Frau gegeben.«
Das Schlimmste war, dass er wirklich der Meinung war, Mariah sollte manche Dinge nicht zu Gesicht bekommen. Sosehr sie auch stampfen und schreien wollte, sosehr es ihr den Magen verdrehte, Mr MacTavish dachte allen Ernstes, er täte das Richtige.
»Vielleicht können Sie Ihren Vater ja darum bitten, das Buch für Sie zu kaufen«, schlug Mr MacTavish vor. »Ihm würde ich es bedenkenlos verkaufen, und wenn er es als angemessen erachtet, es an Sie weiterzugeben, dann sei es so.«
»Nein, danke, Mr MacTavish«, sagte Mariah und wunderte sich, dass ihr noch kein Dampf aus den Ohren stieg. »Komm, Victoria.«
»Oh, aber ich würde gerne dieses Heft hier kaufen«, sagte Victoria und legte die Zeitschrift auf den Tisch.
»Gute Wahl, Miss Victoria.« Mr MacTavish lächelte Victoria so gutmütig an, dass Mariah fast weinen musste.
Es war, als würde sie durch ein Fernglas blicken und die junge Frau sehen, die sie einst gewesen war. Die Welt lag einem zu Füßen, wenn man jung und hübsch war und nichts im Sinn hatte, außer gut aussehende Männer anzulocken. Mariah wünschte sich von ganzem Herzen, dass Victoria möglichst bald einen finden und heiraten würde. Es gab nichts Schlimmeres als den ständigen Zustand des Kindseins, wenn man noch immer auf dem Markt war. Es ging nicht nur um Gedichtbände. Ohne die Erlaubnis ihres Vaters und ohne Begleitung durfte sie fast nirgendwo hingehen. Sie musste sich auf Bällen und Empfängen zu den Witwen an den Rand setzen und den jüngeren Damen den Vortritt lassen. All das nur, weil sie das Pech hatte, als Frau geboren worden und in der Ehe gescheitert zu sein.
»Komm«, sagte sie und hielt Victoria, die in ihrer Zeitschrift blätterte, die Tür auf. »Wenn wir uns beeilen, ist Mrs Wentworths Teekuchen noch warm, wenn wir zu Hause sind.«
»Mmm. Ich liebe frisch gebackenen Teekuchen«, sagte Victoria grinsend und begann fast, zu schweben. »Die Butter zergeht einem auf der Zunge.«
Mariah versuchte, sich von der guten Laune ihrer Schwester anstecken zu lassen, doch sie war mit dem Herzen nicht bei der Sache. Wie schön es sein musste, wenn die einzige Sorge, die man hatte, war, ob beim Tee die Butter schmolz.
»Ein Jammer, dass Mr MacTavish dir dieses alberne Büchlein nicht verkaufen wollte«, sagte Victoria auf dem Weg nach Hause, als sie an den großen Anwesen der etwas wohlhabenderen Anwohner Aylesburys vorbeiliefen. Es wunderte Mariah, dass Victoria in der Buchhandlung überhaupt etwas mitbekommen hatte.
»Ach, so schlimm ist es nicht«, seufzte sie, obwohl es sehr wohl schlimm für sie war.
»Ich verstehe sowieso nicht, warum du so mit Büchern beschäftigt bist«, Victoria zuckte mit den Schultern, »wenn doch gerade so gut aussehende Offiziere in der Stadt sind. Bestimmt richtet jemand bald einen Ball aus und lädt sie ein. Oh! Ein Empfang wäre gerade genau das Richtige. Seit ich diese Illustration hier gesehen habe, möchte ich mein grünes Kleid umnähen lassen.« Sie hielt ihr die Zeitschrift vor die Nase.
»Seitdem?« Mariah hob erschöpft eine Braue. »So lange schon, hm?«
Ihr Sarkasmus ging völlig an Victoria vorbei. Sie plapperte munter weiter über Rüschen und Rocksäume, Kleider und Korsette, all die Dinge, die Mariah mal wichtig gewesen waren, ihr jedoch schon längst nichts mehr bedeuteten.
Ihre Laune war an einem Tiefpunkt, als sie zu Hause ankamen. Daher überraschte es sie umso mehr, als ihre Mutter sie im Flur mit den Worten begrüßte: »Mariah, dein Vater und ich möchten dich sofort im Arbeitszimmer sprechen.«
»Vater ist wach?«, fragte Victoria und grinste breit.
Ihr Vater, Sir Edmund Travers, war für seine Arbeit im Parlament nach London gereist und erst gestern Nacht nach Hause zurückgekehrt. Als geschätzter Abgeordneter des House of Commons kam sein Dienst für das Land an erster Stelle und seine Familie an zweiter. Daher war es immer eine schöne Überraschung, wenn er zurückkehrte und seiner Frau und seinen Töchtern seine langersehnte Aufmerksamkeit widmete.
»Ja«, antwortete ihre Mutter. »Und es gibt aufregende Neuigkeiten, die wir mit dir besprechen möchten.«
»Mir?« Mariah warf Victoria einen Blick zu.
»Ja, dir, Liebling. Und jetzt komm.« Ihre Mutter hakte sich bei ihr ein und führte sie den Gang hinunter zum Arbeitszimmer ihres Vaters.
»Erzähl mir später alles«, flüsterte Victoria ihr hinterher.
Mariah war zu überrumpelt, um zu antworten. Ehe sie sichs versah, stand sie vor dem Schreibtisch ihres Vaters, und ihre Mutter schloss die Tür.
»Mariah, mein Schatz«, sagte ihr Vater und sprang mit einem Mal auf. Er ging um den Tisch herum und umarmte sie. »Mein liebes, süßes Mädchen.«
»Papa.« Mariah erwiderte die Umarmung und genoss jede Sekunde dieser seltenen und wundervollen Geste. Plötzlich war all der nachmittägliche Frust vergessen. Sie war nicht mehr wütend. Alles, was sie spürte, war Liebe zu ihrem Vater.
»Nun, mein Spatz«, sagte ihr Vater schließlich und ließ sie los. Mariah hatte nichts dagegen, dass ihr Vater sie noch immer beim Kosenamen nannte, den er ihr als Kind gegeben hatte. »Setz dich. Lass uns etwas plaudern. Deine Mutter und ich haben spannende Neuigkeiten.«
Mariah sah ihre Mutter an, die sich erwartungsvoll an die Brust fasste. Sie sah aus, als wäre sie den Tränen nahe.
»Was ist los?«, fragte Mariah. »Gibt es ein Problem?«
»Nein, nein. Ganz im Gegenteil.«
Statt ihr geschäftsmäßig den Stuhl vor seinem Schreibtisch anzubieten, schlang ihr Vater den Arm um ihre Taille und führte sie zum langen Ledersofa am Kamin. Ihre Mutter setzte sich auf die eine, und ihr Vater auf die andere Seite.
»Du musst wissen, dass ich mich sehr darüber freue«, sagte ihre Mutter. »Und dass dein Vater meine vollste Unterstützung hat.«
»Vollste Unterstützung wofür?«, fragte Mariah halb lachend und halb aus der Haut fahrend vor Ungeduld.
Ihr Vater holte Luft und sah sie an. »Ich habe einen Mann für dich gefunden, Liebling.«
Mariah blinzelte. Sie musste sich verhört haben. »Wie bitte?«
»Ich habe einen Mann für dich gefunden«, wiederholte ihr Vater, als hätte ihm die Queen höchstpersönlich eine Medaille verliehen.
Mariah starrte ihre Mutter mit offenem Mund an. Doch statt verwirrt zu sein wie Mariah, waren ihre Augen vor Begeisterung weit aufgerissen. Sie nickte enthusiastisch und deutete auf Mariahs Vater.
»Du hast einen Mann für mich gefunden.« Mariah blinzelte. »Ich wusste gar nicht, dass ich einen gesucht habe.«
»Nun ja, das hast du vielleicht nicht«, sagte ihre Mutter und sah Victoria auf einmal verblüffend ähnlich, »aber alle Frauen brauchen einen Mann. Seit Roberts Tod machen wir uns Sorgen um dich.«
»Ja, genau. Es ist furchtbar.« Ihr Vater errötete und schien peinlich berührt.
»Außerdem, Liebes«, ihre Mutter tätschelte Mariahs Knie, »ist das Leben als Jungfer sowieso nichts für dich.«
Mariah konnte nicht anders, als raunend zuzustimmen. Es war peinlich, diese Tatsache vor Augen geführt zu bekommen. Und das ausgerechnet von ihrer Mutter.
»Aber –« Sie rutschte hin und her und sah ihre Mutter an, dann ihren Vater. »Wie kam es überhaupt dazu? Wir sind schließlich nicht mehr im Mittelalter. Väter ziehen nicht mehr los und werben Ehemänner für ihre Töchter an.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ihr Vater und lächelte. »Es war tatsächlich ein glücklicher Zufall.«
»Ach ja?«
»Ja, erzähl es ihr, Edmund«, sagte ihre Mutter mit einem kindlichen Strahlen in den Augen. »Es ist so eine nette Geschichte.«
»Nun ja«, sagte er, »es begann vor achtzehn Monaten –«
»Achtzehn Monate?« Mariah schüttelte den Kopf. »Und du erzählst mir erst jetzt davon?«
»Vor etwa achtzehn Monaten«, wiederholte ihr Vater beharrlich, »hat ein guter Freund von mir, Lord Peter deVere, den Wunsch geäußert, wieder zu heiraten.«
»Oh?« Mariah dachte nach, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater jemals einen Lord Peter deVere erwähnt hatte.
»Ja«, warf ihre Mutter ein. »Seine erste Ehe hat so tragisch geendet.«
Mariah presste die Lippen zusammen. Bestimmt fand ihr Vater ihr gescheitertes Liebesleben genauso tragisch und war der Meinung, sie und Lord Peter hätten etwas gemeinsam.
Ihr Vater hob die Hand und übernahm wieder das Wort. »Peter ist ein guter Vertrauter von mir und seine erste Frau Anne ist gestorben, bevor sie ihm einen Erben schenken konnte. Ich habe mir erlaubt, dich, Spatz, dafür vorzuschlagen, mit ihm einen Erben zu zeugen.«
»Papa!« Mariah vergrub ihre plötzlich glühend heißen Wangen in ihren Händen. »Sag mir nicht, du hast mich diesem Mann als Zuchtvieh verkauft.«
»Nein, nein.« Ihr Vater hob die Brauen so hoch, dass sie fast seinen Haaransatz berührten. »Nicht doch, Liebes. So habe ich das nicht gemeint.«
»Dem Himmel sei Dank.« Mariah legte eine Hand auf ihr heftig klopfendes Herz. Dann schreckte sie kurz zusammen und fragte: »Was hast du dann gesagt?«
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Peter meinte, er müsse wieder heiraten. Ich sagte, ich hätte eine Tochter, die eine gute Ehefrau abgeben würde.«
Mariah biss sich auf die Lippe. Sie war nicht sicher, ob das sonderlich besser war. »Und er hat … was gesagt?«
»Er hat gesagt, er würde dich gerne kennenlernen«, sagte ihr Vater.
Wieder dachte sie scharf nach und versuchte, sich zu erinnern, ob sie jemals jemanden kennengelernt hatte, der auch nur ansatzweise der Beschreibung ihres Vaters entsprach. Sie hatte in London eine Ballsaison mitgemacht, bevor Robert ihr seine Absichten dargelegt hatte. Aber seit seinem Tod hielt sie sich von der Stadt fern. Sie erinnerte sich noch an einige junge Gentlemen, aber ihr Vater hatte ältere Freunde. Besonders gut verstand er sich mit einer Gruppe von Herren, die mit ihm im Krimkrieg gedient hatten, aber das war ewig her. All seine Freunde waren entweder Abgeordnete des House of Commons, so wie er, oder Abgeordnete des House of Lords, und Mariah hatte sie so selten zu Gesicht bekommen, dass sie die meisten nur vom Namen her kannte.
Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. »Wenn euer Gespräch achtzehn Monate her ist, warum höre ich erst jetzt davon?«
»Nun ja, ähm -« Ihr Vater räusperte sich. »Womöglich habe ich Peters Absichten eine Weile lang nicht ernst genommen. Offenbar hat er sich sofort mit dem Gedanken angefreundet, dich zu heiraten, und, ähm, wartet schon die ganze Zeit darauf.«
»Und das hast du mir nicht erzählt?« Mariah wusste nicht, ob sie beleidigt sein oder darüber lachen sollte, wie absurd das alles war.
»Dein Vater ist ein wichtiger und viel beschäftigter Mann«, erinnerte ihre Mutter sie. »Er und seine Kollegen engagieren sich aktiv darin, den Frauen in diesem Land mehr Rechte zu erkämpfen.«
Das stimmte. Ihr Vater war ein bekannter Verfechter des Persönlichkeits- und Besitzrechts von Frauen in Großbritannien. Er und seine Freunde arbeiteten gerade an einem Gesetzesentwurf, der Frauen – genauer gesagt verheirateten Frauen – einen breiten Rechtsschutz verschaffen sollte, den sie zurzeit noch nicht genossen.
»Aber du hättest doch sicherlich ein paar Minuten Zeit gefunden, um mich zu informieren, dass es einen Mann gibt, der mich heiraten will, Papa«, sagte Mariah.
»Mir war das Ausmaß seiner Absichten nicht bewusst«, erwiderte ihr Vater zu seiner Verteidigung und lief vor Scham rot an.
»Wann wurde es dir denn bewusst?«
Ihr Vater überlegte einen Moment, dann zuckte er zusammen. »Vor drei Tagen.«
»Drei Tage?« Mariah sprang vor Aufregung fast vom Sofa auf. »Du hast vor drei Tagen erfahren, dass dieser Freund es ernst damit meint, mich zu heiraten?«
»Ja.« Wenigstens hatte ihr Vater den Anstand, ein verlegenes Gesicht zu machen. »Diese Kurzfristigkeit ist allein mein Verschulden. Aber das heißt nicht, dass ich ihn nicht für einen geeigneten Partner halte. Ganz im Gegenteil. Peter ist ein anständiger Gentleman. Auf so einen Ehemann kann man als Frau nur hoffen.«
»Allerdings«, stimmte ihre Mutter zu. »Ich habe ihn schon getroffen. Er ist freundlich und hat das Herz am rechten Fleck.«
»Aber ich kenne ihn nicht«, erwiderte Mariah.
»Die wenigsten Frauen kennen ihre Gatten vor der Vermählung«, platzte es aus ihrem Vater heraus.
Mariah hätte sich mit ihm streiten können. Der Heiratsmarkt funktionierte nicht mehr wie damals, als ihre Eltern noch jung waren. Doch bevor sie Widerspruch erheben konnte, ergriff ihre Mutter das Wort: »Er ist ein Earl, Mariah. Der Earl of Dunsford. Du wärst eine Countess.« Sie strahlte vor Stolz.
Mariah war sprachlos. Adelstitel und Vermögen hatten ihr noch nie etwas bedeutet. Alles, was sie zum Überleben brauchte, war ein bescheidenes Heim und die Freiheit, alles zu lesen, was sie wollte, ohne wie ein Kind behandelt zu werden. Und auf einmal bot man ihr den Titel und das Leben einer Countess an? Sie konnte es nicht fassen.
»Peter hat einen wunderschönen Landsitz in Cornwall«, erklärte ihr Vater. »Ein Teil seines Anwesens liegt am Ärmelkanal, aber der Großteil liegt im Inland. Die Familie deVere hat in den letzten paar Generationen ein Vermögen im Bergbau gemacht. Das Starcross Castle gilt als eines der schönsten Gutsgebäude im Südwesten Englands.«
»Starcross … Castle?« Sie quietschte fast.
»Ich kann mir dich so gut als Herrin eines Schlosses vorstellen«, sagte ihre Mutter und legte die Hand aufs Herz.
Mariah verstand die Welt nicht mehr. Es konnte nicht wahr sein, dass aus dem Nichts ein Earl aufgetaucht war und sie heiraten und zur Herrin seines Schlosses am Meer machen wollte. Sie, die arme Mariah Travers, vergessen und verstoßen, kurz vor der ewigen Ehelosigkeit. Die Vorstellung, dass ein wohlhabender Earl ihr den Hof machen wollte, war absurd.
»Wann –«, krächzte sie. Dann räusperte sie sich und versuchte es noch einmal. »Wann darf ich Lord Peter denn kennenlernen?«
»Ah. Nun ja.« Ihr Vater wurde unruhig und zog an seinem Kragen. »Die Sache ist die, er kommt morgen.«
»Morgen?« Mariah riss die Augen auf.
»Ja, und er geht davon aus, dass ihr diesen Freitag heiraten werdet.«
»Diesen Freitag?« Einen Moment lang konnte Mariah nur wortlos in die Luft starren. »Warum geht er davon aus?«
»Weil ich ihm genau das gesagt habe«, beichtete ihr Vater mit einem Seufzen und ließ die Schultern hängen. »Aber wenn du ihn nicht heiraten willst, kann ich das Ganze absagen und ihn fortschicken.«
»Aber, Schatz.« Ihre Mutter packte sie am Arm und sah sie mit ernster Miene an. »Danach wird nie wieder jemand um deine Hand anhalten.«
Schweigen trat ein. Mariah leckte sich die Lippen und sah ihre Mutter an. Ein schwaches Bedürfnis, ihr zu widersprechen, machte sich in ihr breit, doch dann verflog es wieder. Ihre Mutter hatte recht. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie in diesem Alter noch einen Heiratsantrag bekommen würde. Und da fast jeder im Ort wusste, dass es ihr nicht gelungen war, Robert bei Laune zu halten, hatte sie sowieso keine Wahl. Entweder sie heiratete den besagten Freund ihres Vaters, den sie kaum kannte, oder sie würde nie Teil der Gesellschaft werden und für immer bevormundet bleiben. Es war eine Entscheidung zwischen einem Sprung ins Ungewisse, in die Freiheit, und ihrem eintönigen Leben als Jungfer.
»Gut«, sagte sie mit hauchdünner Stimme.
»Gut?«, fragte ihre Mutter.
Mariah blickte zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater hin und her. »Ich heirate deinen Freund, Papa«, sagte sie. »Ich heirate ihn am Freitag.«
»Hervorragend, Spatz.« Ihr Vater atmete durch und tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. »Einen Moment lang habe ich mir Sorgen gemacht. Ich weiß nicht, was ich Peter gesagt hätte, hättest du Nein gesagt.«
»Jetzt musst du ihm nur noch Ja, Ja und noch mal Ja sagen«, gluckste ihre Mutter vor Freude. »Ach, wie schön«, seufzte sie. »Meine Tochter, eine Countess. Nun kannst du auch Victoria mit heiratsfähigen, adligen Gentlemen bekannt machen.«
»Eins nach dem anderen, Mama«, sagte Mariah schließlich lächelnd zu ihrer Mutter und tätschelte ihr Knie.
Als Countess würde sie wohl tatsächlich die Möglichkeit haben, Victoria anständigere Männer vorzustellen als die, an denen sie zurzeit interessiert war. Und es wäre eine reizvolle Aufgabe, oder in ihrem Fall Pflicht, die Hausherrin eines Schlosses zu sein. Und Lord Peter einen Erben zu schenken? Ach, über diese Pflicht würde sie sich Gedanken machen, wenn es so weit war. Nicht eine Sekunde eher.
Kapitel 2
Hoffnung hatte Peter deVere schon vor über zehn Jahren verloren. Hoffnung führte zu Erwartungen, und wenn Erwartungen nicht erfüllt wurden, trat Enttäuschung ein. Und mit fünfzig war Peter es leid, enttäuscht zu werden. Er war es leid, Träumen nachzujagen, die niemals wahr wurden, und gebrochene Herzen wieder ganz zu machen, vor allem sein eigenes. Er war es einfach leid.
Daher konzentrierte er sich auf seine Umgebung statt auf das, was ihn erwartete, als die Kutsche, die sein Freund Edmund ihm bestellt hatte, ihn am Bahnhof abholte und durch die sonnigen Straßen des idyllischen englischen Örtchens ratterte, vorbei an Cottages mit blühenden Fensterbänken und kleinen, gut besuchten Geschäften. Ein paar Kinder, die vor einem Cottage einer Gans hinterherjagten, fielen ihm ins Auge und brachten ihn zum Lächeln. Doch die Hoffnung, nächstes Jahr um diese Zeit selbst ein Kind zu haben, das er lieben und verwöhnen könnte, ließ er gar nicht erst aufkommen. Seine Erwartung, ein Kind zu kriegen, war schon so oft enttäuscht worden, dass selbst der freudige Anblick spielender Kinder einen stechenden Schmerz in ihm auslöste.
Er wandte seinen Blick ab, räusperte sich und ließ seine Schultern kreisen, die vom langen Sitzen etwas angespannt waren. Ohne sich jegliche Hoffnungen zu machen, ging er noch einmal die Fakten durch. Edmunds Tochter war im gebärfähigen Alter. Sie war nicht Anne. Und Annes fünfzehn Fehlgeburten waren Beweis genug, dass das Kinderkriegen nicht seinetwegen gescheitert war. Es war keine Hoffnung, sondern reine Mathematik, die dafürsprach, dass diesmal alles anders laufen würde.
Doch das änderte nichts an seiner Erschöpfung. Diesmal könnte es anders laufen, aber was, wenn es das nicht tat?
Die Kutsche wurde langsamer und bog in eine halbkreisförmige Einfahrt vor einem mittelgroßen Haus ein. Edmund hatte keine Geldsorgen, aber er war bekannt für seinen bescheidenen Lebensstil. Sein Haus in Aylesbury sah bequem aus, die Gärten sorgfältig gepflegt und der Bedienstete, der eilig die Kutschentür öffnete, diszipliniert. Doch es war nicht Edmunds sichtbarer Wohlstand, der tief in Peter Skepsis auslöste. Es waren die freundlich aussehenden Menschen, die in einer perfekten Reihe vor der Tür standen, um ihn willkommen zu heißen: Edmund, seine Frau Emily und seine beiden Töchter. Die jüngere war aufgeweckt und mädchenhaft, doch es war die ältere, seine Verlobte, die ihm sofort ins Auge sprang.
Mariah Travers sah jünger aus als erwartet. Sie hatte ein reizendes ovales Gesicht mit üppigen Lippen und warmen, braunen Augen. Sie war etwas bleich, aber ihre Wangen hatten eine gesunde, zarte Röte. Das violette Kleid, das sie trug, war modisch und schmeichelte ihrem Teint. Sie wirkte nervös, was unter solchen Umständen kein Wunder war.
Als der Bedienstete die Kutschentreppe ausgeklappt hatte, räusperte sich Peter, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare – er hätte zum Friseur gehen sollen, denn Locken sahen in seinem Alter absurd aus und betonten nur seine grauen Strähnen –, strich sein Jackett glatt und trat aus der Kutsche, um seiner Zukunft entgegenzublicken.
»Danke schön«, flüsterte er dem Bediensteten zu. Dann holte er Luft und ging auf Edmund zu.
Die Töchter beachteten ihn nicht und schauten weiter gespannt auf die Kutsche. Peter bekam ein flaues Gefühl im Magen.
»Wo ist er?«, fragte die jüngere Tochter – Victoria, wenn er sich recht entsann. Sie runzelte die Stirn und betrachtete die leere Kutsche. Dann sah sie ihn an. »Sind Sie Lord Peter deVeres Vater?«
Aus seinem flauen Gefühl wurde langsam ein Knoten. »Nein.« Er bemühte sich, höflich zu bleiben, und setzte ein, wie er hoffte, bedauerndes Lächeln auf. Er wandte sich an Mariah und hoffte, betete, sie würde ihm sein Alter nicht übel nehmen.
»Ah, Peter.« Edmund trat hervor und begrüßte ihn, etwas erröteter als sonst. Victoria schnappte nach Luft und er warf seinen Töchtern einen nervösen Blick zu. »Wie schön, dass du heil angekommen bist.«
»Edmund.« Peter nickte und gab seinem Freund die Hand. Doch Händeschütteln reichte Edmund nicht, und er zog Peter in eine Umarmung. Das verschaffte Peter einen kurzen Moment, um seine Auserkorene zu mustern, bevor er ihr gegenübertrat.
Mariah sah überrascht aus, und ihre Wangen wurden immer röter. Es war offensichtlich, dass sie jemand anderen erwartet hatte. Jemand völlig anderen. Wieder zerbrach seine Hoffnung in tausend Teile, und an ihre Stelle trat Enttäuschung. Nur diesmal war er die Enttäuschung.
»Meine Frau Emily kennst du ja noch.« Edmund ließ ihn los, trat einen Schritt zurück und deutete auf seine Gattin.
»Es ist uns eine Ehre, Sie in unserem Zuhause willkommen zu heißen, Mylord.« Mrs Travers begrüßte ihn mit einer Herzlichkeit, die an Vergötterung grenzte.
»Bitte.« Peter schüttelte den Kopf. »Nennen Sie mich doch Peter.«
»Oh, nein«, protestierte Mrs Travers. »Sie sind ein Earl. Ich muss beim ›Mylord‹ bleiben.«
Peter versuchte, nicht zu zucken. »Wie Sie wünschen, Madam.«
»Und das hier sind meine Töchter«, fuhr Edmund fort und deutete auf die jungen Damen. »Victoria ist die jüngere. Und hier haben wir, natürlich, Mariah.« Er schenkte Mariah ein stolzes Lächeln, das Peter bewundernswert fand.
Kaum hatte Peter Mariah einen flüchtigen Blick zugeworfen, stieß Victoria hervor: »Der ist ja steinalt!«
Mrs Travers schnappte lautstark nach Luft. Edmund wurde sichtlich panisch. Doch Peter interessierte nur Mariahs Reaktion. Denn diese bestimmte den Rest seines Lebens. Mariah presste bloß die Lippen zusammen, errötete noch mehr und senkte den Blick. Peter hatte keine Ahnung, ob sie sich für ihre Schwester oder für ihn schämte.
»Wie geht es Ihnen?« Er verließ sich auf die Umgangsformen, die ihm in der Jugend eingebläut worden waren, sowohl von seinem strengen Vater als auch im Militär, wo er stets strammstehen und sich auf Kommando verneigen musste. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, bis Mariah schließlich durch ihre dichten Wimpern hochblickte und ihm in die Augen sah. Sein Herz pochte wie verrückt, und er setzte ein Lächeln auf.
»Mir geht es gut«, antwortete sie und sank in einen zaghaften Knicks, als wüsste sie nicht, wie sie ihn begrüßten sollte.
Es war nicht das leidenschaftlichste oder reibungsloseste Aufeinandertreffen eines zukünftigen Ehepaares, aber wenigstens war es keine totale Katastrophe. Wenigstens war es nicht –
»Du kannst ihn nicht heiraten«, flüsterte Victoria ihrer Schwester zu. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, aber ihr Blick war streng auf Peter gerichtet und man konnte sie klar und deutlich hören. »Er ist ein alter Mann. Er hat weiße Haare.«
»Victoria, sei still«, fauchte Mrs Travers sie an.
»Aber, Mama, sie kann nicht«, fuhr Victoria fort und versuchte, beim Sprechen ihren Mund nicht zu bewegen. »Das geht nicht. Er ist ganz zerknittert.« Sie schenkte Peter ein höfliches Lächeln, unwissend, dass er alles mithörte.
Eigentlich sollten ihm die taktlosen Kommentare eines Mädchens, das erst kürzlich noch die Schulbank gedrückt hatte, nicht so nahegehen, doch er war auch nur ein Mensch. Er straffte die Schultern und versuchte, die Selbstzweifel abzuschütteln, die sich in ihm breitmachten.
Die Zeit war der Feind aller Männer, aber er hatte eigentlich gedacht, er hätte ihr ziemlich gut standgehalten. Er betätigte sich regelmäßig sportlich und bemühte sich darum, dass sein Körper nicht weich und schlaff wurde. Doch es war ihm durchaus bewusst, dass er Falten an den Augen hatte. Und seine weißen Haare konnte er auch nicht leugnen.
»Ich kann Ihnen versichern, ich stehe mit keinem Fuß im Grab«, erwiderte er und betete, dass sein Versuch, ihren Kommentar mit Humor zu nehmen, nicht alles verschlimmern würde.
Victoria schloss sofort den Mund, errötete und schämte sich, dass man sie hatte hören können. Doch noch viel besser war, dass sich Mariahs Mundwinkel leicht nach oben zogen.
»Natürlich nicht«, sagte Mariah. »Und bitte verzeihen Sie meine schlechten Manieren. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.« Sie reichte ihm die Hand.
Peter trat vor und nahm sie. Dieser Moment entschied alles, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Sollte er sich verhalten, als wären sie bereits miteinander vertraut? Sie waren schließlich verlobt. Oder sollte er respektvoll sein und Abstand halten? Würde das einen gefühlskalten Eindruck machen? Fand sie ihn genauso abstoßend wie ihre Schwester, und wenn ja, konnte er sie trotzdem guten Gewissens heiraten? Was würde er sonst tun?
All diese Gedanken kamen ihm in dem Moment, als er ihre Hand zu seinen Lippen führte und ihr in die Augen sah. Vielleicht war das eine etwas zu förmliche Begrüßung für eine moderne Dame, aber er musste Mariah Travers mit allen Mitteln davon abhalten, ihn wegen seines Alters abzuweisen. Denn je mehr Sekunden vergingen, desto mehr schmerzte sein Herz vor heimtückischer Hoffnung und desto mehr wünschte er sich, dass ihr Ehebund glückte. Er kam sich nur deswegen nicht wie ein völliger Narr vor, weil Mariah ihm ein Lächeln und einen freundlichen Blick schenkte. Auch wenn ein Hauch von Mitleid durch diesen Blick hindurchschien.
»Nun.« Edmund klatschte die Hände zusammen, um die Stimmung zu lockern. »Jetzt, wo wir das hinter uns gebracht haben, warum gehen wir nicht alle ins Haus und trinken einen Tee?«
»Ja, genau das sollten wir tun«, stimmte Mrs Travers zu und hakte sich bei ihrem Mann ein. Sie machte Mariah darauf aufmerksam, als sie sich ins Haus begaben, und deutete mit dem Kinn auf Peter.
Peter bemerkte das überraschte Aufblitzen von Mariahs Augen bei dieser subtilen Anweisung. »Wir müssen nicht«, flüsterte er, als er an Mariahs Seite schritt, und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu.
Sie atmete erleichtert auf, und gemeinsam gingen sie weiter, ohne sich zu berühren. Victoria lief hinter ihnen her und stöhnte angewidert.
***
Zwei Fragen gingen Mariah beim Tee durch den Kopf: Was haben sich ihre Eltern nur dabei gedacht und was zum Teufel machte Lord Peter deVere so traurig?
»Natürlich wird es einige Jahre dauern, bis der Entwurf so ausgefeilt ist, dass man ihm dem Parlament zur Abstimmung vorlegen kann.« Lord Peter erklärte den Gesetzesentwurf, an dem er im House of Lords arbeitete. Er ähnelte dem ihres Vaters aus dem House of Commons dahin gehend, dass er Frauen mehr Rechte verschaffen sollte. Lord Peter saß in einem hölzernen Sessel schräg gegenüber von Mariah, die zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater auf dem Sofa saß. »Wir hoffen, dass möglichst viele Leute davon profitieren werden, sobald das Gesetz in Kraft tritt.«
»Wie ehrenvoll«, sagte Mariahs Mutter. »Ist das nicht ehrenvoll, Mariah?«
»Ja, sehr.« Mariah nickte. Das fand sie wirklich, doch es war schier unmöglich, sich auf irgendwelche gesetzlichen Einzelheiten zu konzentrieren – auch wenn die Gesetze ihr und anderen Frauen zugutekämen –, wenn man gerade mit der größten Überraschung seines Lebens konfrontiert war.
Kein Wunder, dass sie dem Namen Lord Peter deVere kein Gesicht hatte zuordnen können, als ihr Vater ihr gestern ihre Zukunft offengelegt hatte. Sie hatte sich in der Generation vertan. Lord Peter war in etwa so alt wie ihr Vater. Er war fast doppelt so alt wie sie. Aber nicht ganz. Für einen Mann solch reifen Alters sah er zweifellos gut aus. Sein Gesicht war etwas mitgenommen, als hätte er einiges durchgemacht, aber es war wohlgeformt. Er hatte einen starken Kiefer und markante Augenbrauen, und seine blauen Augen strahlten Weisheit und Intelligenz aus. Victoria warf ihm vom Ende des Sofas immer noch angeekelte Blicke zu, als wäre er ein schmieriger, lüsterner Bösewicht aus einem der unzähligen Groschenhefte, die sie gelesen hatte. Doch je genauer Mariah ihn musterte – heimlich und aus dem Augenwinkel, während seine Aufmerksamkeit ihrem Vater galt –, desto offensichtlicher wurde es, dass mehr hinter diesem Mann steckte. Er war faszinierend und auf eine sonderbare Art attraktiv.
»Noch etwas Tee, Mylord?«, fragte ihre Mutter und stupste Mariah an, um sie aufzufordern, ihn einzuschenken.
Mariah ließ sich nicht anmerken, wie verärgert sie darüber war, und griff nach der Teekanne. Sie warf Lord Peter einen fragenden Blick zu.
Er zögerte einen Moment, dann antwortete er: »Ja, gerne.«
Sie lächelte, hob die Teekanne an, und er hielt ihr seine Tasse und Untertasse hin. Sie hatte das Gefühl, er wollte den Tee nicht und nahm ihn nur aus Höflichkeit an. Und genau genommen war sie gerade auch nicht in der Stimmung, Tee einzuschenken. Als sie die warme Flüssigkeit in Lord Peters Tasse goss, wissend, dass ihr Vater sie beäugte, trafen sich ihre Blicke. In diesem Moment merkte Mariah, dass sie beide in derselben, seltsamen Bredouille steckten. Vor allem, als er ihr Lächeln erwiderte.
Vielleicht war er ja doch nicht so alt. Die Falten an seinen Augen schienen eher die Überbleibsel Tausender Lächeln zu sein. Diese Augen waren strahlend blau, voller Herzlichkeit und Humor. Und Intelligenz. Obwohl ihre Eltern keine spannenden Themen aufgeworfen hatten, hatte Mariah sofort erkannt, dass Lord Peter gebildet war. Doch diese mysteriöse Trauer, die ihn umgab, faszinierte sie am meisten. Ihr Vater hatte erwähnt, dass er ein Witwer war. Hatte er seine erste Frau geliebt? Vermisste er sie?
»Ich weiß, Shayles ist dein größtes Hindernis«, sagte ihr Vater. Er redete immer noch vom Parlament und von Gesetzesentwürfen, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was gerade zwischen Mariah und Lord Peter vorgegangen war. »Genauso wie Turpin dem House of Commons im Weg steht. Es wird eine große Herausforderung sein, sie zu überzeugen, dass das schönere Geschlecht überhaupt Rechte verdient hat.«
»Vielen Dank«, sagte Lord Peter freundlich und lehnte sich mit seinem frischen Tee zurück. Dann wandte er sich wieder ihrem Vater zu. »Alles, was ich über Turpin weiß, ist, dass Malcolm ihn nicht ausstehen kann.«
Ihr Vater schnaubte. »Malcolm Campbell kann keinen Tory ausstehen. Aber ich auch nicht, um ehrlich zu sein.« Ihr Vater lachte laut.
Victoria verdrehte die Augen und hielt Mariah mit einem raschen »Für mich bitte auch« davon ab, die Teekanne abzustellen.
Während Mariah ihr Tee einschenkte, sah Victoria Lord Peter angewidert an.
Mariah warf ihr einen mahnenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Dann stellte sie die Teekanne weg. Lord Peter war höflich, wohingegen Victoria sich wie eine verzogene Göre aufführte.
»Männer wie Shayles und Turpin werden uns nicht aufhalten«, sagte Lord Peter. »Jedenfalls nicht lange. Frauen haben jedes Recht, in einer Ehe ihren Besitz zu behalten und verwalten. Genauso wie Männer.«
Mariah hob eine Braue und horchte auf. »Finden Sie wirklich?«
Er wandte sich ihr zu, als wäre sie genauso Teil der Unterhaltung wie ihr Vater. »Absolut. Es gibt keinen vernünftigen Grund, wieso eine Frau nicht behalten sollte, was ihr gehört, wenn sie heiratet.«
Mariah lächelte. Sie war überrascht, dass ein Mann von Lord Peters Rang solche Ansichten hatte. Es ging nicht an ihr vorbei, dass so ein Mann einen ausgezeichneten Gatten abgeben würde. Doch bevor sie diese aufmunternde Tatsache auf sich wirken lassen konnte, stieß ihr Vater hervor: »Hast du das gehört, Schatz? Heirate Lord Peter und du kannst all deinen Besitz behalten.« Auf seinen Kommentar folgte ein Lachen, das Mariah erröten ließ.
Lord Peter sah genauso beschämt aus, das musste man ihm lassen. Das steigerte ihre Wertschätzung für ihn umso mehr.
»Ich besitze sowieso nicht viel, was ich durch eine Heirat verlieren könnte«, sagte sie und sah ihren Vater an, dann Lord Peter.
»Unsinn«, sagte ihre Mutter. »Da wäre zum Beispiel die Jahreszahlung von meiner Familie.«
»Über zweihundert Pfund pro Jahr wird man wohl kaum streiten müssen«, warf ihr Vater ein. »Mein lieber Peter wird ihr zweihundert Pfund Nadelgeld pro Woche geben, da bin ich mir sicher.« Wieder lachte er.
Mariah wurde übel vor Demütigung. Doch ein Blick in Lord Peters Augen verriet ihr, dass er den Kommentar mit Humor nahm, und sie schämte sich nicht mehr ganz so sehr. Er machte sich zwar nicht über ihren Vater lustig, doch es schien ihm bewusst zu sein, wie ungehobelt dieser sich verhielt. Er war befreundet mit ihm, daher wusste er wohl genauso gut wie Mariah, dass ihr Vater sich nur zum Narren machte, weil er nervös war.
»Mein Vater sagte, Ihr Anwesen in Cornwall heiße Starcross Castle«, sagte Mariah, damit es nicht mehr um sie ging.
»So heißt es«, antwortete Lord Peter, scheinbar dankbar für den Themenwechsel. »Es gehört meiner Familie schon seit Generationen. Das Schloss wurde im sechzehnten Jahrhundert erbaut, unter Queen Elizabeths Herrschaft. Danach wurde es mehrfach umgebaut und erweitert.«
»Wirklich?«, fragte Mariah rasch. Zum ersten Mal, seit sie im Salon saßen, kam ein angenehmes Thema auf, und sie konnte nicht zulassen, dass ihre Eltern wieder davon ablenkten.
»Der Hauptbau ist das ursprüngliche elisabethanische Schloss«, erklärte Lord Peter. »In restauriertem Zustand, natürlich. Der Westflügel wurde während der Herrschaft von Georg II. erbaut, und der Ostflügel war ein Herzensprojekt meines Vaters. Ich selbst habe die Küchen und das Bedienstetenhaus vor etwa zehn Jahren renovieren lassen.«
»Ihre Dienerschaft weiß es sicherlich zu schätzen.« Mariah lockerte ihre Haltung und lehnte sich unauffällig vor.
»Mrs Harmon, die Köchin, dankt mir ständig dafür«, sagte er. Sein Lächeln verriet, wie sehr ihm seine Dienerschaft am Herzen lag. »Meistens mit Pasteten.«
»Pasteten?« Mariah lachte.
»Cornwall ist bekannt für seine Cornish Pastys«, erklärte er, »und die von Mrs Harmon schmecken besonders gut. Ein Wunder, dass ich nicht zwanzig Kilo mehr wiege.« Er zwinkerte nicht, auch wenn das Funkeln in seinen blauen Augen es vermuten ließ.
»Also auf mich wirken Sie gut in Form«, sagte Mariah.
Victoria schnaubte.
»Junge Dame –«, ihr Vater lehnte sich vor und versperrte Mariah die Sicht auf Lord Peter, »– deine Manieren lassen heute zu wünschen übrig.«
»Weil ich gehustet habe?«, erwiderte Victoria. »Ich habe bloß gehustet.«
»Du hast nicht bloß gehustet«, zischte ihre Mutter in sich hinein, doch man konnte sie trotzdem hören.
»Doch. Ich schwöre.« Victorias Blick fiel auf Lord Peter. Es kostete Mariah all ihre Kraft, bei diesem ungewollt lauten Schlagabtausch nicht zusammenzuzucken.
Ihre Mutter seufzte. »Dein Vater hätte dir auch einen Ehemann suchen sollen«, murmelte sie, aber nicht leise genug. »Dir fehlt es an Disziplin.«
»Ach, Papa kann bestimmt noch eine vertrocknete Mumie in den Hinterbänken des Parlaments auftreiben.«
»Victoria«, rief ihre Mutter empört. Sie sah aus, als wäre sie entweder den Tränen nahe oder kurz davor, ihr die Leviten zu lesen. »Benimm dich.«
»Mein Benehmen ist vollkommen angebracht«, protestierte Victoria und rutschte ein Stück vor. »Ich bin die Einzige hier, die nur das Beste für meine Schwester möchte. Wer lässt sich heutzutage noch auf eine arrangierte Ehe ein?«
»Viele Menschen«, sagte ihre Mutter.
»Ruhe jetzt«, sagte ihr Vater gleichzeitig. An wen er sich richtete, war unklar.
»Uns allen liegt Mariahs Wohlbefinden am Herzen«, sagte ihre Mutter mit rauer Stimme. »Das ist die letzte Chance auf eine Heirat, die deine Schwester je haben wird.«
»Lord Peter.« Mariah stand auf und erhob die Stimme, um der Blamage ein Ende zu setzen. »Möchten Sie unseren Garten sehen?«
Lord Peter stellte seine Tasse Tee ab und stand auf. »Ja, das wäre wunderbar.«
»Hier entlang.«
Mariah lief an ihrem Vater vorbei, bevor er aufstehen konnte, und winkte Lord Peter zu den Terrassentüren am Ende des Salons. Sie zitterte vor Wut und Demütigung und konnte kaum den Schlüssel umdrehen, um die Türen zu öffnen.
»Gestatten Sie?«, fragte Lord Peter sanft und schloss die Tür für sie auf. Er sah sie an und sein Blick verriet, dass er ihr vieles zu sagen hatte. Doch er würde warten müssen, bis Mariah sich tausendfach für ihre furchtbare Familie entschuldigt hatte.