Leseprobe Der letzte Bote

1. Kapitel

Noch nie war ihm der Weg von der Bibliothek nach Hause so lang vorgekommen. Vierzig Minuten dauerte es normalerweise, wenn er schlenderte, dreißig, wenn er in der Früh spät dran und keine Straßenbahn in Sicht war.

Aber heute hatte Ben das Gefühl, er laufe rückwärts. Dieses Gebäude mit der barocken Fassade und den Fensterscheiben, die dringend geputzt werden müssten – an dem war er zwei Häuserblocks zuvor schon vorbeigekommen, oder?

Ben bemühte sich vergebens um einen langsameren Schritt. Es war Mitte November und die Temperaturen in Wien lagen bereits unter zehn Grad, doch in seiner Jacke wurde ihm warm und Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Im Gehen warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, ein unauffälliges Uhrwerk an einem rissigen Lederband, das dringend ausgewechselt werden sollte. Eine Viertelstunde blieb ihm noch; das war weniger, als er gehofft hatte.

Verbissen heftete er seinen Blick wieder auf den Bürgersteig und folgte der Straße bergab, die ihn nach Hause führen würde.

Wenn er recht hatte, und davon ging er aus, dann befand sich seit fast fünfzehn Minuten eine Möglichkeit in seinem Rucksack, sie zu finden. Wenn sich sein Verdacht bestätigte … Allein der Gedanke daran beflügelte ihn, und anstatt eine kurze Pause einzulegen, um Luft zu holen, hastete Ben weiter die Straße entlang und schnaufte dabei wie eine Dampflok.

Der Wind fuhr ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen, bis er abbog und in den Tiefen des neunten Bezirks verschwand. Hier war seine Wohnung, diese Gassen waren ihm inzwischen vertraut.

Einige seiner neuen Freunde wohnten auch hier, die vielen Lokale in den Erdgeschossen der Gebäude, die nachts zum Fortgehen einluden, waren bestechend für sie.

Wieder ein Blick auf die Uhr. Zehn Minuten, dann sollte er eine Antwort haben.

Noch bevor Ben den Altbau erreichte, in dem er seit zwei Monaten lebte, kramte er in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel für das Haustor. Er ertastete Taschentücher und einen Müsliriegel, aber der Schlüssel war nicht da. Hatte er vergessen, ihn einzustecken, als er heute Morgen die Wohnung verlassen hatte?

Ben biss die Zähne zusammen, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Auch der Zweitschlüssel kam nicht infrage, seine Nachbarin, die ihn bei sich aufbewahrte, arbeitete immer bis spätabends, sie war bestimmt nicht zu Hause.

Wenn in der Mappe in seinem Rucksack war, was er vermutete, dann könnte er schon morgen abreisen. Noch mal von vorn beginnen.

Ben verscheuchte die Gedanken, die ihn ablenkten, nahm den Rucksack von den Schultern und zog seine Jacke aus, um sie zu durchsuchen.

Die Taschentücher und der Riegel fielen auf den Bürgersteig, ansonsten waren die Taschen leer. Der Wind ergriff die federleichten Taschentücher und Ben trat einen beherzten Schritt nach vorn, bedeckte sie mit seinem Schuh und sammelte auch den Riegel wieder ein, bevor er auf Nimmerwiedersehen davonrollen konnte.

Kein Schlüssel.

Er starrte auf das schwarze Haustor vor seiner Nase, das einen gebogenen Rahmen ausfüllte und klapperte, wenn eine Windböe von der Seite darauf traf.

In dem Moment hörte er die Schiebevorrichtung, mit der das Tor im Inneren des Gebäudes entriegelt werden konnte.

Ben seufzte erleichtert, dann griff er nach seinem Rucksack und wartete neben der Tür, bis das Tor nach außen aufschwang und eine Hundeschnauze aus der Dunkelheit auf die Straße lugte. Ein kleiner, braun-weiß gefleckter Hund trippelte auf den Bürgersteig, und die Dame mittleren Alters, die ihm in einem eleganten Wintermantel folgte, hatte das Tor fest im Griff.

„Entschuldigen Sie, darf ich? Ich wohne hier“, murmelte Ben und legte seine Hand auf das Türschloss, damit die Tür auf keinen Fall einrasten konnte.

Die Dame, deren schwarze Haare durch die Luft flogen, als wären es Windsäcke und keine Locken, kümmerte sich nicht um Ben.

„Danke.“ Ben huschte ins Innere des Gebäudes und ließ das schwere Tor hinter sich zufallen. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das Dämmerlicht im Eingangsbereich zu gewöhnen. Er zwinkerte fest, drehte dabei den Kopf hin und her und warf dann wieder einen Blick auf die Uhr.

Sechs Minuten.

Da wurde Bens Aufmerksamkeit von einer schaukelnden Bewegung eingefangen, die er rechts von sich im Augenwinkel sah. Er wandte den Kopf und stieß erleichtert die Luft aus. Vom Windstoß bei seinem Eintreten bewegt, baumelte sein blaues Schlüsselband samt Schlüssel an seinem Briefkasten, den er heute Morgen geleert hatte.

Ben schüttelte den Kopf über seine Unachtsamkeit, zog den Schlüssel aus dem Schloss und begab sich auf den Weg nach oben.

Vom Eingangsbereich führten zwei gegenüberliegende Treppen zu den zwei Treppenhäusern des Hauses, wobei Bens Wohnung auf der rechten Seite lag.

Er nahm mehrere Stufen auf einmal, stützte sich am Geländer ab und erreichte schließlich den dritten Stock, der verlassen vor ihm lag. Als er in seine Wohnung kam, warf er seine Jacke in die Ecke des Vorraums und lief zu seinem Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Zeitschriften stapelten. Mit einer forschen Handbewegung verschaffte er sich Platz auf der Arbeitsfläche, wo er seinen Rucksack schließlich abstellte und an dem Reißverschluss des hinteren Faches zog. Dann endlich holte er die Mappe heraus, etwa zwanzig Seiten Papier, die er in der Bibliothek ausgedruckt hatte. Sein Blick wanderte zur Fußzeile des ersten Blattes und ein Name sprang ihm ins Auge.

Catalina Dunai.

Das musste sie sein, sie musste Bescheid wissen.

Er schloss einen Moment die Augen, bevor er an seinem Schreibtisch Platz nahm. Irgendwo zwischen diesen Seiten …

Schrill läutete sein Telefon, und Ben ließ das erste Blatt fallen, als ob er sich daran verbrannt hätte. Zehn Minuten, wenn er nur zehn Minuten länger Zeit gehabt hätte …

Ben fuhr sich über das Gesicht und schob die Mappe zur Seite, um seine Ellbogen auf die Tischplatte legen zu können, bevor er das Handy aus der Tasche fischte. Die Nummer war wie üblich unterdrückt.

Es wird funktionieren, erklärte er sich selbst in Gedanken, richtete sich auf und nahm das Gespräch an.

2. Kapitel

Es ist nichts geschehen, schalt sich Noah zum wiederholten Mal an diesem Tag, während er auf den Bildschirm seines Computers starrte.

Keine neuen Nachrichten, informierte ihn sein E-Mail-Programm fast vorwurfsvoll, weil Noah erneut in seinen Ordner gesehen hatte. Einen kurzen Blick zum Telefon, das neben ihm lag, konnte er sich ebenfalls nicht verkneifen, doch auch hier waren keine Nachrichten oder Anrufe erschienen.

Oft hatte er sich Ruhe gewünscht, aber jetzt, wo er auf eine Antwort wartete, war sie unangenehm wie ein Sessel ohne Kissen. Noah rutschte hin und her und versuchte, sich selbst das Versprechen abzunehmen, keinen Blick mehr auf das Telefon zu werfen. Zumindest nicht für die nächsten dreißig Minuten, doch dann ertappte er sich wieder bei einem kleinen Seitenblick, weil er dachte, das Display habe geleuchtet.

Seufzend sah er aus dem Fenster und beobachtete die obere Etage eines knallroten Doppeldeckerbusses, der Touristen vom Stadtzentrum San Antonios im US-Bundesstaat Texas ostwärts Richtung Alamo kutschierte.

Der Straßenlärm war bis hier oben zu hören, hupende Autos, laute Musik, Menschenrufe – es kribbelte Noah in den Fingern, bald die Wohnung zu verlassen und das Leben der Stadt auf sich wirken zu lassen. Sich abzulenken und seinem Bruder Ben Zeit zu geben, um sich endlich zu melden und zu sagen, dass alles in Ordnung war.

Noahs Blick wanderte in der leer geräumten Wohnung auf und ab. Lange schon hatte er umziehen wollen, denn so sehr er die Nähe zur Innenstadt in seinen Zwanzigern auch genossen hatte, jetzt wollte er seine Ruhe am Abend.

Ruhe. Noahs Blick huschte erneut zum Telefondisplay, das nach wie vor dunkel blieb, und er drehte das Handy kurzerhand um, sodass er nur noch seine Hülle sah. Der Plan war gewesen, zuerst umzuziehen und dann den alten Job zu kündigen, um den neuen anzunehmen. Doch manchmal kam alles anders, als man es plante.

Die neue Wohnung war viel kleiner als diese hier, deshalb hatte er begonnen, seine Möbel und Habseligkeiten, die er nicht in der neuen Wohnung unterbringen konnte, zu verschenken und zu verkaufen. Heute hatte er den ganzen Tag Kisten gepackt und Kartons gestapelt.

Noah atmete tief durch. Bald würde die Nachricht kommen, dass alles in Ordnung war. Dass er sich umsonst Sorgen gemacht hatte.

Alles hatte harmlos begonnen. Seit zwei Monaten war sein jüngerer Bruder Ben nicht mehr in San Antonio, sondern wohnte in Wien, wo er ein Jahr lang bleiben und arbeiten wollte. Vorgestern hatte Noah ihm eine Nachricht geschickt und ihn gefragt, ob er seinen zweiten Fernseher, den er verschenken wollte, für ihn aufheben sollte.

 

Ruf mich bitte so schnell wie möglich an! Es ist dringend!

 

Noah hatte Bens Antwort erst eine Stunde später gesehen und dann sofort angerufen, doch sein Bruder hatte nicht abgehoben. Der Fernseher war vergessen gewesen, aber auch auf Noahs Nachricht, er sei ab jetzt erreichbar, hatte Ben nicht mehr reagiert. Noch nie hatte Ben eine solche Nachricht verfasst und während Noah auf den Rückruf gewartet hatte, hatte er alle möglichen Szenarien im Kopf gehabt. Ein Unfall, eine dringende Frage zur Wohnung … Was es auch war, Ben hatte sich nicht mehr gemeldet.

Gestern hatte Noah dann mit seiner Mutter telefoniert und ihr von Bens Nachricht erzählt. Als sie berichtete, dass sie das letzte Mal am Wochenende von ihrem jüngeren Sohn gehört hatte, war Noah stutzig geworden. Während er versucht hatte, seine Mutter zu beruhigen und ihr zu versichern, dass alles in Ordnung war, hatte er eine weitere Nachricht an seinen Bruder verfasst, in der er ihn darum gebeten hatte, sich sofort zu melden. Keine Reaktion.

Noah hatte versucht, sich einzureden, dass Ben nur das Handy nicht eingeschaltet hatte und ihm vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben, sich zu melden. Drei Stunden waren noch übrig und Noah überlegte längst, wie er weiter vorgehen sollte, wenn Ben stumm blieb. Eine Anzeige machen, weil sein kleiner Bruder vermisst wurde?

Noah wurde schlecht, als er daran dachte, was Ben zugestoßen sein könnte. Auf der anderen Seite war Ben niemand, der sein Handy ständig mit sich trug. Die Hoffnung, dass er es irgendwo vergessen hatte und erst morgen wieder einen Blick darauf werfen würde, hielt Noah davon ab, noch einmal auf das Telefon zu schauen.

Stattdessen verwarf er seinen Plan, bis zum Sonnenuntergang zu warten, bevor er loszog, um auf andere Gedanken zu kommen. Hier in seiner Wohnung würde er sich nur weiterhin Sorgen machen, er musste an die frische Luft und mit Menschen sprechen.

Gedankenverloren griff er nach seinem Schlüssel und zog die Turnschuhe an. Die Jacke im Schrank ließ er, wo sie war, denn Noah genoss den kühlen Abendwind. Als er die Haustür öffnete, schlug ihm milde Stadtluft entgegen, eine Mischung aus Abgasen, dem Geruch von Menschen und Beton.

Noah beschloss, seinen Rundgang im kleinen Pub seines Kommilitonen Josh zu beginnen. Dort hatte er in der Vergangenheit schon die spannendsten Menschen getroffen, außerdem freute er sich darauf, mit seinem alten Studienkollegen zu plaudern.

Der Weg führte ihn über eine aus dunkelgrauem Stahl gefertigte Brücke, die den Fluss an einer ruhigen Stelle abseits der touristischen Pfade überquerte. Hier herrschte das alltägliche Leben einer Großstadt, Menschen, die telefonierend an ihm vorbeihasteten oder ihren Hund an der Leine spazieren führten.

In dem Moment klingelte das Handy in seiner Tasche – eine neue Nachricht. Bens Name leuchtete auf dem Display auf, und Noah spürte, wie ein riesiger Steinbrocken von seinem Herzen fiel. Er griff sich an die Stirn und atmete tief durch.

Eilig öffnete er dann die Nachricht und runzelte im nächsten Moment die Stirn über seinen Bruder.

Habe ich dir verraten, wo ich meinen Zweitschlüssel für die Wohnung aufbewahre? Mein Hauptschlüssel ist weg, und ich weiß nicht mehr, was ich mit dem anderen gemacht habe.

Verwirrt blieb Noah stehen und las die Nachricht erneut. Auf all die Fragen, wo Ben sei und dass er sich melden solle, kam diese Antwort?

Noah schüttelte innerlich den Kopf und kämpfte gegen die Wut an, die sich in seinem Bauch sammelte. Warum hatte Ben vor zwei Tagen geschrieben, er müsse dringend mit ihm telefonieren? Was war geschehen?

Kurzerhand wählte Noah Bens Nummer und rief an. Das Wartezeichen ertönte mehrmals, dann sprang der Anrufbeantworter an. Noah legte auf und schüttelte langsam den Kopf, während er versuchte, Bens Verhalten zu verstehen.

Ich weiß nichts von einem Zweitschlüssel. Wenn du noch sprechen möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen, schrieb Noah zurück.

***

In Joshs Pub hatten sich nicht viele Menschen verirrt, nur drei Tische des großen Hauptraums waren besetzt. Als Noah durch die Tür trat, hatte er den Geruch von Frittiertem in der Nase, der nicht nur dem Pub, sondern auch seinem Besitzer seit jeher anhaftete.

Josh selbst saß am Tresen und blätterte in einem Katalog, in seiner Linken hielt er einen Stift, mit dem er sich immer wieder nachdenklich durch die Haare fuhr und am Kopf kratzte.

„Alles klar bei dir?“ Noah klopfte Josh zur Begrüßung auf die Schulter und nahm auf einem der Barhocker Platz.

„Geht“, murmelte Josh und hob den Blick. „Was führt dich zu dieser Uhrzeit hierher? Musst du nicht arbeiten?“

Noah seufzte. „Ich habe gekündigt.“

Josh, der bis zu diesem Moment mit einem Auge noch bei seinem Katalog gewesen war, in dem Taucherausrüstung zu sehen war, sah ihn überrascht an. „Was ist passiert?“

„Eine Meinungsverschiedenheit. Und der Wunsch, etwas anderes zu machen.“ Noah versuchte, dabei so selbstsicher wie möglich zu klingen, aber Josh zog die Augenbrauen in die Höhe. „Und jetzt?“

Noah zögerte einen Moment. Dann beschloss er, die Geschichte kurz zusammenzufassen, und erzählte, dass er vom ansässigen Lokalblatt zu einer für investigative Recherche bekannte Zeitschrift wechseln würde, die sich auf Reportagen und Interviews spezialisiert hatte. Allerdings würde er dort erst im Februar beginnen können.

Josh zog die Augenbrauen hoch. „Und der neue Job ist es wert, drei Monate lang kein Gehalt zu bekommen?“

Noah zuckte mit den Schultern. „Das Risiko bin ich bereit, einzugehen.“

„Hmpf“, machte Josh. „Dann wünsche ich dir alles Gute dafür, wirklich.“

„Mehr brauche ich nicht.“ Noah trommelte mit den Fingerspitzen auf das Tresenholz und sah sich um. „Wenig los heute.“

Josh zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht unglücklich darüber, seit gestern sind zwei Mitarbeiter krank.“ Er stand auf und faltete den Katalog zusammen.

„Tauchen?“, fragte Noah.

„Ja, meine Freundin hat versprochen, den Pub nächsten Sommer für zwei Wochen zu übernehmen“, berichtete Josh. „Übrigens hat sich Ben auch wieder beworben, um im Sommer hier zu arbeiten.“ In dem Moment winkte ihm einer seiner Gäste vom Tisch aus zu und er ging zu ihnen.

Noah blieb an der Bar und zog zwei kleine Servietten aus dem Ständer am Tresen, faltete sie und zupfte die Ränder aus. Als Ben während des Colleges nach einem Job gesucht hatte, hatten Josh und dessen Freundin angeboten, dass er im Pub aushelfen konnte. Auch Noahs Ex-Freundin hatte hier hin und wieder neben dem Studium als Kellnerin gearbeitet.

„Hey, Noah, komm mal her!“ Joshs Stimme schien weit weg zu sein, wie in einem anderen Raum, und Noah benötigte einige Sekunden, bevor er reagierte. „Ja?“

Josh stand bei seinen Gästen und lachte mit ihnen, bis Noah sich dazugesellt hatte. „Damit du nicht den ganzen Abend lang an der Bar bist – setz dich hierhin und komm mal wieder unter Menschen.“

„Viel gearbeitet?“, erkundigte sich die Frau mit einer wilden Lockenmähne, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte.

„Allerdings.“

Der Mann, der auf der anderen Seite saß und dabei war, ein Sandwich zu essen, räusperte sich. „Bist du von hier?“

Noah nickte. „Ich wohne seit ein paar Jahren hier, ja. Aber aufgewachsen bin ich in der Nähe von Austin.“ Er tippte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah die drei Tischgenossen aus dem Augenwinkel an. Die Frau mit dem Dutt saß auf einer Seite, während ihr gegenüber eine Frau mit langen glatten Haaren neben dem Mann Platz genommen hatte.

„Wir kennen Josh von seiner Zeit in Wellington“, erklärte der Mann, als sich Noah an den Tisch setzte.

„Ach, dann kommt ihr aus Wellington?“, fragte Noah überrascht.

„Geboren und aufgewachsen, ja. Studiert habe ich hier. Biochemie.“ Die Frau mit dem Dutt reichte ihm die Hand. „Ich heiße übrigens Carol.“

„Noah, freut mich.“

„Dann willkommen an unserem Tisch. Noch willkommener wirst du uns sein, wenn du uns später hilfst, Josh zu überreden, uns einmal an die Musikanlage zu lassen.“

„Alles klar.“

***

Noah würde es schon als Gabe bezeichnen, sich zwei Stunden lang zu unterhalten, und doch nichts Bemerkenswertes dabei zu sagen. Als er sich um kurz nach halb zehn von seinen drei neuen Bekannten und Josh verabschiedet hatte, waren fast alle Tische des Pubs voll besetzt gewesen und die Musik hatte ihre Gespräche übertönt.

Irgendwann war Noah dann vom Tag und dem Zuhören erschöpft aufgestanden und hatte sich auf den Weg nach Hause gemacht. Als er seine Wohnung erreichte und sich dort auf das Sofa setzte, um den Kopf abzustützen, fielen ihm fast die Augen zu. Ein kurzer Blick auf das Handy zeigte ihm, dass Ben keine weitere Nachricht hinterlassen hatte.

Morgen. Morgen werde ich noch mal versuchen, ihn zu erreichen.

3. Kapitel

Die Tür knarrte, als sie die Kammer aufsperrte und sich durch den Eingang schob. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihre Hände zitterten leicht, während sie einen Fuß in die Dunkelheit setzte. Das Licht am Gang war ein dämmriges gewesen, und trotzdem konnte sie nichts erkennen, nur schwache Konturen, die sich von der Finsternis abhoben. Sie streckte die Arme nach vorn und tastete sich voran, Zentimeter um Zentimeter. Kein Geräusch durfte sie machen, ein Poltern und sie flog auf.

Die Vandenynos waren noch munter, über sich hörte sie ihre Stimmen und ihre Schritte.

Ein Fenster, es gab ein Fenster, hatte er gesagt. Sie tastete sich weiter, bis sie an der Wand ankam und dort mit den Händen über die Oberfläche strich, bis sie einen Stoff ertastete, den sie zur Seite ziehen konnte, und das Fenster schließlich vor sich hatte. Im nächsten Moment stieß sie mit dem linken Fuß gegen einen truhenartigen Gegenstand am Boden und verkniff sich einen Fluch. Es war kein lautes Geräusch gewesen, doch die Stimmen, die sie von oben vernommen hatte, verstummten einen Augenblick lang.

Sie kniff die Augen zusammen und tastete weiter. Wenn sie sie gehört hatten, würden sie gleich hier sein. Eine Minute, zwei höchstens. Die Truhe, gegen die sie gestoßen war, war aus Holz, das konnte sie erkennen, als sie mit der Hand darüberstrich, um nicht noch einmal dagegen zu laufen.

Die Tür zum Gang hatte sie wieder verschlossen, doch als jemand eine Lampe am Flur benutzte, konnte sie den schwachen Lichtschein im Raum sehen. Auf einmal wurden die Konturen zu Möbeln und sie konnte die Gegenstände ausmachen, die hier gehortet wurden. Nie hätte sie gedacht, es hierher zu schaffen, und nun, da sie mitten in dem Raum stand, den die Vandenynos am besten bewachten, würde sie scheitern. Das Licht am Flur wurde stärker und sie konnte die Schritte hören, die sich der Tür näherten.

„Ich schwöre dir, es war nichts“, hörte sie einen Mann sagen. Ein Schlüsselbund klirrte.

„Und ich habe die Verantwortung. Warum lässt du mich nicht meine Arbeit machen und konzentrierst dich auf deine?“

Ihr Körper spannte sich an, als sie sich hektisch nach einem Versteck umsah. Sie duckte sich und schob sich zwischen Truhe und Wand, kauerte sich dort zusammen und lauschte, als die Tür aufschwang.

Im Raum wurde es hell, und jemand räusperte sich. „Wie kann es sein, dass nach einem Jahr immer noch nicht alle verstanden haben, dass die Räume bewacht werden müssen?“, beschwerte sich der eine, während der andere nervös hustete. „Das ist wirklich unglaublich.“

„Das hat hier unten auch nichts verloren. Wenn das jemand sieht …“ Es klang, als würde er einen schweren Gegenstand aufheben. „Nimm das und schaff es weg, am besten entsorgst du es so weit weg wie möglich. Geh zu Fuß und lass dich nicht beobachten.“

Sie seufzte innerlich erleichtert auf. Die beiden schienen davon überzeugt zu sein, dass hier niemand einbrechen konnte, weswegen sie gar nicht auf die Idee kamen, nach jemandem zu suchen.

„Los jetzt.“ Das Licht wurde schwächer und die Tür fiel ins Schloss. Sie wartete noch einige Augenblicke, bis sich die Schritte entfernt hatten, dann kroch sie aus ihrem Versteck und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Konnte sie es riskieren, ein Streichholz zu benutzen?

Sie zog ein Hölzchen heraus und entzündete es, sodass eine kleine Flamme aufgeregt tanzte. Dann holte sie einen Kerzendocht hervor, übertrug das Feuer und sah sich erneut in dem Raum um. Der Plan hatte bis zu diesem Zeitpunkt einwandfrei funktioniert. Doch als sie sich im Kreis drehte und sah, welchen Mengen an Gerümpel sie gegenüberstand, wusste sie, dass die eigentliche Herausforderung nicht war, in diesen Raum zu gelangen, sondern ihn mit dem richtigen Gegenstand zu verlassen.