Leseprobe Der Lord, der mein Herz gewann

Kapitel 1

Worthington House, Berkeley Square, Mayfair. März 1818

»Italien!« Wahrscheinlich konnte man den Aufschrei ihres Bruders im ganzen Stadthaus und auf dem Berkeley Square hören. Vermutlich sogar noch weiter in der Ferne.

Von ihrem Platz auf dem Sofa aus verkniff sich Lady Augusta Vivers ein Seufzen. Sie wollte nicht zulassen, dass sie die Fassung verlor oder dass sich Enttäuschung in ihrem Gesicht abzeichnete. Sie hatte bereits geahnt, dass es nicht einfach werden würde, ihre Familie von ihrem geplanten Studium zu überzeugen. Vielleicht hätte sie schon früher mit der Überzeugungsarbeit beginnen sollen. Oder vor ihrem Bruder ein paar Andeutungen machen sollen, um seinen Schock etwas abzumildern.

»Es ist nicht so, als wäre Padua irgendein unbekannter Fleck in Südamerika oder Afrika«, stellte sie in einem ruhigen Tonfall klar.

»Wie um alles auf der Welt kamst du auf so eine … Idee?« Ihre Mutter wurde bleich, ihre schwache Stimme klirrte in der dicken Luft.

»Ich möchte mich weiterbilden.« Augusta kämpfte dagegen an, verzweifelt zu klingen. Warum sonst sollte sie zur Universität gehen? Nicht nur das, die Reise dorthin und ein vorübergehender Aufenthalt in Italien würden es ihr ermöglichen, ein wenig von der Welt zu sehen, von der sie in Büchern bereits so viel gelesen hatte. »So gebildet Miss Tallerton und Mr. Winters auch sind, sie sind schon lange am Ende dessen angelangt, was sie mir beibringen können. Deshalb habe ich mit Professoren auf dem Kontinent korrespondiert und Unterricht bei Gastwissenschaftlern genommen, in der Hoffnung, noch mehr zu lernen. Aber es genügt mir nicht mehr.« Genauer gesagt war ihr Wissensdurst inzwischen derartig gestiegen, dass sie die Universität so dringend besuchen musste, wie sie Nahrung oder Luft brauchte. »Es hat sich herausgestellt, dass ich nur dann vorankomme, wenn ich von Experten lerne. Deswegen muss ich an die Universität.«

»Aber mein Schatz«, ihre Mutter hielt einen Moment inne, als wolle sie ihre Gedanken ordnen, »möchtest du denn nicht heiraten?«

Natürlich wollte sie das. Nur. Nicht. Jetzt. »Ich erinnere mich nicht daran, dass irgendjemand Charlie gefragt hat, ob er vorhatte, die Ehe aufzugeben, bloß weil er nach Oxford gehen wollte.« Sie wünschte, Graces Bruder, offiziell Earl of Stanwood genannt, wäre hier. Er würde ihr helfen können. Augusta wandte sich wieder an Matt. Als ihr Vormund und als Earl of Worthington lag die endgültige Entscheidung bei ihm. »Wenn ich ein Junge wäre, würdest du mir erlauben, zu gehen.«

»Da liegst du völlig falsch, meine Liebe.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Paris könnte ich vielleicht in Erwägung ziehen, aber Italien ist zu weit weg. Wenn irgendetwas geschieht«, diesmal strich er sich mit der Hand über das Gesicht, »dann würden wir es nicht rechtzeitig zu dir schaffen. Ich bezweifle, dass es dort überhaupt einen englischen Konsul oder Vizekonsul gibt.«

Sie war froh, dass sie sich auf dieses Argument vorbereitet hatte.

»Der nächste Konsul ist in Venedig. Nur etwa zweiundzwanzig Meilen Richtung Osten.«

»Augusta.« Graces sanfte Stimme war ein starker Kontrast zu Matts aufgebrachtem Ton. »Gibt es keine Universität, die Frauen aufnimmt und näher ist als Italien?«

Augusta richtete den Blick auf ihre Schwägerin neben sich und lächelte. »Es gab mal eine in Holland, aber sie wurde zu einer weiterführenden Schule herabgestuft, so wie Eton. Gerade versucht sie, ihren Status als Universität zurückzuerlangen.« Sie bemühte sich, den besorgten Blick in den Augen ihrer Mutter und das Zucken in Matts Kiefer zu ignorieren, und konzentrierte sich auf Grace, die von allen Anwesenden scheinbar die einzig hilfreiche Person war. Vielleicht könnte sie ja Matt überzeugen. »Außerdem ist Padua die einzige Universität, die einen exzellenten Ruf genießt und auch Frauen einen Abschluss machen lässt.«

Ihre Schwägerin nickte. »Ich verstehe.«

»Schatz.« Die Mundwinkel ihrer Mutter zogen sich leicht nach oben. »Du hast die Frage nach der Heirat noch nicht beantwortet.«

»Ich sehe keinen Grund, es mit der Ehe zu überstürzen. Grace hat erst mit vierundzwanzig geheiratet.« Nachdem sie geglaubt hatte, sie könne nie heiraten, weil sie die Vormundschaft über ihre Geschwister hatte. Alle waren sich einig, dass Matt, der sie davon überzeugt hatte, dass man ihm die Vormundschaft anvertrauen konnte, das Beste für all ihre angeheirateten Brüder und Schwestern war.

Da man dem nichts hinzufügen konnte, kehrte wieder Stille ein. Das einzig Beruhigende war, dass Matt tatsächlich nicht Nein gesagt hatte.

Es war so leise im Zimmer, dass man das Zwitschern der Vögel draußen und das Stampfen der Kinder im Obergeschoss hören konnte. Das dumpfe Geräusch von jemandem, der den Flur herunterkam, ließ sie alle aufhorchen.

Es klopfte an der Tür und der siebzehnjährige Walter Carpenter, ein anderer Bruder von Grace und Augustas bester Freund, steckte den Kopf in das Arbeitszimmer und starrte in die Runde. »Schlechter Zeitpunkt? Ich bin schon wieder weg.«

»Bleib, wo du bist.« Matts befehlshabender Tonfall brachte Walter zum Anhalten. »Was weißt du über Augustas Plan, an die Universität zu gehen?«

»Ich … äh …« Walter warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Nur, dass sie schon seit einigen Monaten darüber nachdenkt.« Matt hob eine Braue. »Es ist ja nicht so, als hätte sie etwas Unerhörtes vor. Sind wir nicht alle dafür, dass Frauen sich weiterbilden?«

Augusta grinste Walter dankbar an. Ihre Mutter seufzte, Graces Lippen fingen zu zucken an und Matt klatschte sich die Handfläche auf das Gesicht.

Der Mann ihrer Mutter, Richard, Viscount Wolverton, der die ganze Zeit am Kamin gesessen hatte, meldete sich zu Wort. »Wann fängt das Semester an?«

»Erst im September.« Bedeutete seine Frage, dass er ihr Vorhaben, nach Padua zu fahren, unterstützte? »Ich bringe es jetzt schon zur Sprache, weil ich alles, was ich ohne eine endgültige Erlaubnis erledigen konnte, schon erledigt habe. Außerdem wird die Reise nach Padua auch noch einen Monat in Anspruch nehmen.«

»September«, piepste ihre Mutter glücklich und mit erleichtertem Gesichtsausdruck.

Oh nein. Augusta konnte nicht zulassen, dass dieses Gespräch damit beendet war. »Der andere Grund, weshalb ich es jetzt schon anbringe, ist, weil ich euch die Kosten einer Ballsaison für mich ersparen will.« Augusta war sich sicher, dass sie von allen Mädchen in der Familie die Einzige war, die es nicht kümmerte, ob sie ein Debüt hatte. »Wenn ich zur Universität gehe, muss ich nicht auf dem Heiratsmarkt sein.«

»Ich befürchte, dafür ist es zu spät«, murrte Matt.

Augusta konnte ihre Kinnlade kaum davon abhalten, herunterzufallen.

»Was er meint, ist«, Grace reichte Augusta die Hand, um sie zu beruhigen, »dass die meisten deiner Kleider bereits bestellt wurden. Außerdem wirst du davon profitieren, bereits dein Debüt gehabt zu haben, wenn Matt und deine Mutter damit einverstanden sind, dass du studierst.«

»Ja, so ist es, meine Liebe«, warf ihre Mutter rasch ein. Augusta hatte das Gefühl, dass ihre Mutter betete, sie würde sich doch für die Heirat entscheiden und ihr Studium wieder vergessen. »Grace hat absolut recht. Sich mit den Umgangsformen in London vertraut zu machen, ist essenziell für die … persönliche Entwicklung.«

Augusta musterte die anderen Gesichter im Raum. Keines von ihnen sah glücklich aus. Sie würden es nicht gut annehmen, wenn sie sich weigerte. Es gab keinen Grund, ihre Pläne und Bemühungen um ein Studium nicht fortzuführen und gleichzeitig zu gesellschaftlichen Veranstaltungen zu gehen. »Na gut. Ich bin mit einer Saison einverstanden.« Augusta durchbohrte ihren Bruder Matt mit einem scharfen Blick. »Das heißt nicht, dass ich mein Vorhaben, an die Universität zu gehen, aufgegeben habe.«

Er presste die Lippen zusammen und nickte. »Dieses Gespräch werden wir später weiterführen.«

»Du solltest wissen«, sie holte tief Luft, »dass ich Cousine Prudence Brunning kontaktiert und sie gefragt habe, ob sie meine Aufsichtsperson sein möchte.«

Matts dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wen?«

»Du würdest dich nicht an sie erinnern«, sagte ihre Mutter und machte eine ausfallende Geste. »Sie ist die Tochter von Martha Vivers und George Paine, einem Pfarrer. Prudence ist etwa ein Jahr jünger als du und verwitwet. Ihr Mann war bei der Leibgarde und ist in Waterloo gestorben.«

»Genau.« Augusta war froh, dass ihre Mutter sich an Cousine Prudence erinnerte. »Als er in Spanien und Portugal stationiert wurde, ist sie mit ihm dorthin gereist. Fremde Länder ist sie also gewohnt.« Matt starrte Augusta an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. »Außerdem spricht sie Italienisch, Portugiesisch und Spanisch.«

»Natürlich, warum sonst würdest du sie kontaktieren?« Er schloss für einen Moment die Augen, als verspürte er Schmerzen. »Du hast mir einiges zum Nachdenken gegeben.«

Augusta drückte Graces Hand und erhob sich. »Danke für eure Aufmerksamkeit.«

Ihre Ansprache wurde mit einer Reihe von nickenden Köpfen und angespannt lächelnden Gesichtern erwidert. Als sie den Korridor erreichte, waren ihre angeheirateten Zwillingsschwestern Alice und Eleanor Carpenter, fünfzehn Jahre alt, und Augustas leibliche Schwester Madeline Vivers, ebenfalls fünfzehn, zu Walter gestoßen.

Alice hielt sich den Zeigefinger vor den Mund und Eleanor griff nach Augustas Hand.

»Komm«, flüsterte Madeline. »Wir können sie vom Vorzimmer des anderen Salons aus hören.«

Sie eilten in den selten genutzten Salon und öffneten die Tür in ein Zimmer, das Augusta an einen Anrichteraum erinnerte. Nur waren die Regale, statt mit Geschirr und Silber, mit Haushaltsbüchern, Papieren, Schreibfedern und Tintenfässern gefüllt. Wie konnte sie nicht von diesem Raum gewusst haben?

»Du musst ganz leise sein«, flüsterte eine der Zwillingsschwestern.

»Matt, du kannst nicht allen Ernstes in Erwägung ziehen, sie nach Italien reisen zu lassen!« Mamas Stimme war durch die Tür deutlich hörbar. »Es wäre netter von dir gewesen, ihr gleich Nein zu sagen.«

Das Anstoßen von Gläsern war zu hören und es folgten ein paar Sekunden der Stille, bevor Matt antwortete: »Ich finde, sie verdient die Chance, ihrem Wunsch nach Bildung nachzugehen.«

»Ja, aber nicht in Italien.« Mama klang fast verzweifelt.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Richard. »Wenn Worthington sie gehen lässt, dann weißt du genauso gut wie ich, dass er bestens für ihren Schutz sorgen wird.«

»Matt«, sagte ihre Mutter wieder. »Erinnerst du dich denn nicht daran, was Caro Huntley passiert ist?«

»Wer ist Caro Huntley?«, fragte Richard.

»Die ehemalige Lady Caroline Martindale, eine meiner Freundinnen«, antwortete Grace. »Sie hatte mit ihrer Großmutter zusammengelebt, und eines Tages hat ein Adliger aus Venedig einfach beschlossen, dass sie ihn heiraten sollte. Huntley hat sie geheiratet, um sie vor ihm zu schützen.«

»Sie dachte bestimmt, sie wäre in Sicherheit«, warf ihre Mutter ein.

Augusta wollte ächzen. Natürlich erinnerte ihre Mutter sich an so eine Geschichte. Nun ja, sie würde schon dafür sorgen, dass sie in keine Ehe hineingezwungen wurde. Zumindest nicht, bevor sie ihren Abschluss hatte.

»Komm, Schatz«, sagte Richard. »Lass uns den armen Worthington mit seiner Entscheidung alleinlassen. Gib mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«

»Danke. Das werde ich«, sagte Matt.

Die Tür zu Graces Arbeitszimmer wurde geschlossen. Ohne Vorwarnung riss jemand die Tür ins Vorzimmer auf und die Zwillingsschwestern purzelten in den Salon. Augusta wäre auch gestürzt, hätte Madeline sich nicht in den Weg gestellt und den Fall verhindert.

Matt beobachtete, wie die Mädchen sich wieder aufrichteten. »Ich nehme an, ihr habt alles mitgehört. Oder wollt ihr, dass ich irgendeinen Teil für euch wiederhole?«

»Ich will mehr über Caro Huntley hören«, sagte Alice.

»Nicht jetzt, Schätzchen.« Graces Augen funkelten vor Belustigung. »Augusta, wir werden uns weiterhin nach Weiterbildungsmöglichkeiten für dich umhören.« Ihre Schwägerin erhob sich. »Komm. Bald ist es Zeit für den Tee, und Charlie sollte bald hier sein.«

»Matt?«, fragte Madeline. »Woher wusstest du, dass wir lauschen?«

»Ihr seid nicht so leise, wie ihr denkt.« Er zog leicht an einem ihrer Zöpfe. »Geht schon. Wir sehen uns im Morgenzimmer.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag verließ Augusta das Arbeitszimmer. »Ich schätze, es hätte schlimmer laufen können.«

Walter holte sie ein. »Er hätte sich weigern können, dich überhaupt anzuhören.«

»Meine Mutter wird noch zum Problem werden. Wahrscheinlich wird sie mir jeden Mann, den sie finden kann, an den Hals hetzen.«

»Nicht jeden.« Walter grinste. »Sie müssen schon heiratstauglich sein.«

»Davon gibt es immer noch zu viele.« Warum konnte ihre Mutter nicht einfach akzeptieren, dass sie mehr vom Leben wollte? »Wenigstens werde ich vorbereitet sein.«

***

In einem Warenlager in der Nähe des Londoner Hafens inspizierte Lord Phineas Carter-Woods die zahlreichen Kisten, die er aus Mexiko mitgebracht hatte. »Die rot Markierten müssen nach Elsworth.« Das war der Großteil von ihnen. Früher oder später würde er das Anwesen besuchen müssen, das ihm vermacht worden war. »Lass den Rest zum Haus meines Bruders auf dem Grosvenor Square bringen. Und stell sicher, dass sie nicht auf dem Dachboden gelagert werden.«

»Ja, Mylord.« Boman, Phinns Sekretär, Teilzeit-Schreibhilfe, allgemeine rechte Hand und Freund, gab einem der beiden Kutscher, die auf Anweisungen warteten, ein Zeichen. »Hast du schon entschieden, wann wir weiterreisen?«

Das würde heikel werden. »Ich hoffe darauf, in einem Monat auf dem Weg nach Kontinentaleuropa zu sein, aber ich habe meinem Bruder versprochen, dass ich mich nach einer Frau umsehe. Wir nehmen es, wie es kommt, oder?«

»Damit willst du also sagen«, Boman warf Phinn einen strengen Blick zu, »du hast Seiner Lordschaft noch nicht verkündet, dass du nicht in England bleiben wirst.«

»Sagen wir mal so, ich hatte noch keine Zeit, ihm all meine Pläne darzulegen.« Boman hatte recht. Phinn würde seinem Bruder, dem Marquis of Dorchester, davon erzählen müssen, dass er vorhatte, England wieder zu verlassen. Wenn Dorchester und seine Frau es doch nur geschafft hätten, ein oder zwei Söhne zu bekommen, statt vier Töchter, dann würden sie Phinn nicht zur Heirat drängen. Er wusste sowieso nicht, wie um alles in der Welt sie auf die Idee gekommen waren, dass das Kinderkriegen bei ihm besser laufen würde.

»Er wird nicht gerade erfreut darüber sein.«

Das war untertrieben. Phinn hatte beschlossen, seinem Bruder nichts zu erzählen, bis die Abreise kurz bevorstand. »Ich bleibe die Ballsaison über. Sobald er erkannt hat, dass ich keine geeignete Frau gefunden habe, wird er mich bereitwillig gehen lassen.«

»Was, wenn dir eine junge Dame ins Auge fällt?«

Grundgütiger! Boman auch noch? »Warum will mir jeder plötzlich Fesseln anlegen?«

»Ich sage ja nur, dass es passieren könnte.« Er zuckte mit den Schultern. »Du wärst fast dieser Señorita in Mexiko-Stadt auf den Leim gegangen.«

»Aber nicht, weil ich hinter ihr her war.« Phinn schob einen Finger unter seine Krawatte. »Dass ich ihr entkommen bin, habe ich allein deinem scharfen Blick zu verdanken.« Hätte Boman nicht mitbekommen, wie die Dame etwas in Phinns Getränk mischte, dann hätte er wahrscheinlich geschlafen, statt sich auf dem Fenstersims zu verstecken, als sie in sein Zimmer geschlichen kam. Gott sei Dank waren englische Frauen nicht so hinterhältig. »Je weniger Worte wir darüber verlieren, desto besser.« Der letzte Koffer wurde in die Kutsche geladen. »Wir müssen nach Dorchester House fahren und uns dort einrichten.« Phinn hätte lieber im Hotel übernachtet, aber sein Bruder bestand darauf, dass er bei ihm wohnte. »Morgen werden wir keine Zeit haben. Mein Bruder hat einen Termin für mich bei seinem Schneider, Weston, vereinbart.« Er sah seine abgenutzten Kniehosen aus Chagrin an. »Anscheinend habe ich keine angebrachte Kleidung, um als gute Partie durchzugehen.«

Phinn stieg in die Kutsche, gefolgt von Boman, der sich in den rückwärtsgerichteten Sitz setzte und fragte: »Hast du dich dazu entschieden, einen richtigen Kammerdiener einzustellen?«

Die Kutsche rollte durch die engen Straßen. »Mir gefällt die Vorstellung nicht, einen Mann einzustellen und ihn nach nur ein oder zwei Monaten wieder zu entlassen.«

»Wir können ihn mitnehmen. Kontinentaleuropa ist ja nicht der Ferne Osten oder Mexiko. Du brauchst jemanden, der weiß, wie man mit deinem Rasur-Set umgeht.«

»Ich schätze, du hast recht.« Phinn blickte aus dem Fenster und staunte darüber, wie die Gesellschaft sich nie wirklich änderte. Es gab immer die Armen, die im Elend lebten, und die Reichen, die es nicht zu kümmern schien. »Bis jetzt konntest du mir assistieren, aber du wirst damit beschäftigt sein, die nächste Reise vorzubereiten.«

»Ständig erwähnst du die Reise.« Bomans Tonfall war trocken wie Teile Mexikos. »Und dabei haben wir das Haus deines Bruders noch nicht einmal betreten.«

Es war nicht so, dass er seinen Bruder nicht gernhatte, aber es wäre Phinn lieber gewesen, ihn nur eine Woche zu besuchen und danach wieder aufzubrechen. Nicht, dass das überhaupt möglich gewesen wäre. Er hatte noch ein Thesenpapier bei der Royal Institution einzureichen, Briefe zu schreiben, Reisedokumente einzuholen und eine Menge anderer Kleinigkeiten zu erledigen. Leider musste er, abgesehen vom Thesenpapier, das meiste Boman überlassen, während er wortwörtlich nach der Pfeife seiner Schwägerin tanzen und die Pläne seiner Familie verfolgen würde, ihn unter die Haube zu bringen.

»Hast du die Talismane?« Er wusste nicht, ob es damit klappen würde. Vielleicht war das alles bloß Hokuspokus. Nach vier Töchtern versuchte sein Bruder langsam verzweifelt, das Erbe zu sichern, und da Dorchester dafür nun auf Phinn setzte, brauchte dieser jede Hilfe, die er kriegen konnte. Vermutlich war es lächerlich von ihm, den Zaubermitteln einer haitianischen Hexe zu vertrauen, aber alles war einen Versuch wert.

Kapitel 2

Augusta, ihre ältere Schwester Louisa, die Duchess of Rothwell, ihre Stiefschwester Charlotte, die Marchioness of Kenilworth, und deren gemeinsame Freundin und Cousine Dotty, die Marchioness of Merton, verließen das Geschäft der Modistin, in dem Augusta verschiedene maßgeschneiderte Kleider anprobiert hatte. Was danach folgte, konnte nur als extravagante Einkaufstour beschrieben werden, die fast den ganzen Tag andauerte, bis sie schließlich in Charlottes Stadthaus zurückkehrten. Gerade wurde ihnen Tee serviert, sowie eine Auswahl an Keksen, Brot, Käse und Pflaumentörtchen.

»Ich muss wohl nicht aufgepasst haben, als ihr drei euer Debüt hattet.« Augusta streckte den Arm aus und streichelte Collette, die Chartreux-Katze ihrer Schwester.

»Du bist damals noch zur Schule gegangen«, stellte Dotty klar.

»Immer mit der Nase im Buch.« Louisa gab Abby, Charlottes Dänischer Dogge, unauffällig ein Stück Käse.

Charlotte trank einen Schluck Tee. »Ich kann verstehen, dass du diese Saison nicht vorhast, zu heiraten. Aber das würde ich keinem Gentleman erzählen, den du kennenlernst.«

»Warum nicht?« Augusta hielt nichts von Schwindeleien. Es wäre unredlich, einen Gentleman hinzuhalten, indem sie den gleichen Eindruck vermittelte wie ihre Schwestern und Dotty damals. »Ich will niemandem falsche Hoffnungen machen.«

»Du willst auch nicht zur Herausforderung werden.« Charlottes trockener Ton veranlasste Louisa, schulterzuckend die Serviette vor den Mund zu halten.

Was war so witzig? »Ich verstehe nicht.«

»Männer im Allgemeinen«, sagte Dotty, »finden, was sie nicht haben können, besonders verlockend.«

Das war nichts, was Augusta hören wollte oder überhaupt bedacht hatte. Doch jetzt, wo sie darüber nachdachte, war Bentley tatsächlich die ganze Saison nicht von Louisas Seite gewichen, selbst nachdem wirklich alle erfahren hatten, dass sie ihn nicht heiraten wollte. Und Harrington hatte dasselbe mit Charlotte getan. Sie hatte es sich mit ihm jedoch ein paar Mal überlegt, bis sie schließlich Kenilworth kennenlernte. Trotzdem hatten beide es geschafft, am Ende eine andere Frau zu finden. »Was habt ihr getan?«

»Als ich versucht habe, Gentlemen abzuwimmeln«, sagte Louisa, »hat mir Grace geraten, freundlich zu sein, ihnen aber nicht das Gefühl zu geben, ich würde sie besonders nett behandeln.«

»Leider«, Charlotte verzog das Gesicht, »funktioniert das nicht immer.«

»Lass dich niemals alleine mit einem Gentleman erwischen.« Dottys Tonfall war ernst, aber ihre Augen funkelten. »In meinem und Charlottes Fall ist es gutgegangen, aber das wird es nicht, wenn du vorhast, diese Saison unverheiratet zu bleiben.«

»Ich muss sichergehen, dass ich auf Veranstaltungen nie allein bin.« Vielleicht könnte sich Augusta mit den anderen Damen anfreunden, die sie auf Lady Bellamnys Empfang kennenlernen würde. »Und ich werde nicht versuchen, einen Gentleman davor zu bewahren, in die Ehe gezwungen zu werden, oder mich entführen lassen.«

»Das sollte reichen«, sagte Louisa, während Dotty und Charlotte lachten. »Du kannst uns und unsere Männer immer zu Hilfe rufen.«

Freundlich sein, aber zurückhaltend. Wie schwer konnte das schon sein? Danach zu urteilen, was sie bei den Zusammenkünften auf dem Land gesehen hatte, redeten die meisten Männer sowieso nur von sich selbst. Und das würde sie einfach zulassen.

***

Phinn kam genau dann am Haus seines Bruders an, als die Kisten, die er entsandt hatte, geliefert wurden. Nach seinen vergangenen Besuchen nahm er an, dass man ihn im grünen Zimmer im vorderen Teil des Hauses unterbringen würde. Glücklicherweise gab es ein kleines, kaum genutztes Zimmer nebenan.

»Saddock«, sagte Phinn, als der Butler, der bereits bei seinem Vater angestellt gewesen war und nun seinem Bruder diente, sich verbeugte. »Seien Sie ein guter Mann und lassen Sie die Kisten in das Zimmer neben meinem bringen.«

»Sehr wohl, Mylord. Sie finden Seine Lordschaft und Ihre Ladyschaft im Morgenzimmer. Sie sind gerade dabei, den Tee einzunehmen.«

»Hervorragend, ich bin schon etwas hungrig.« Er stiefelte zum Ende des Hauses, bevor Saddock überhaupt anbieten konnte, ihn anzukündigen.

Als er in die Nähe des Morgenzimmers kam, hörte Phinn, wie sein Bruder und seine Schwägerin Helen seinen Namen sagten. Er näherte sich langsam und seine Schritte wurden leiser.

»Hast du schon eine Liste mit geeigneten Damen gemacht?« Im Tonfall seines Bruders verbarg sich eine Heiterkeit, die Phinn nicht gefiel.

Ein Augenblick verging, bis Helen antwortete. Er konnte fast spüren, wie sie Dorchester mit zusammengekniffenen Augen ansah. »Noch nicht. Lady Bellamnys Empfang für junge Damen ist heute Abend. Ich werde dich und Phineas allein lassen, damit ihr euch wieder vertraut machen könnt, während ich beim Empfang bin.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob eine junge Dame … wie soll ich sagen … dieser Rolle gewachsen ist.«

»Ich würde meinen, jede Dame, die sich mit einem Gentleman zufriedengibt, der urplötzlich beschließen könnte, davonzulaufen und wo auch immer hin zu segeln, ist der Rolle gewachsen.« Ihr Tonfall war scharf und zweifelsohne beißend.

»Er hat versprochen, dass er aufhört, zu reisen, wenn er eine Ehefrau findet.« Genau richtig, Chess, setz dich für deinen Bruder ein.

»Dasselbe hat er gesagt, bevor er sich nach Mexiko, und wohin auch immer er sonst gereist ist, abgesetzt hat.« Ihr Tonfall wurde kein bisschen freundlicher.

»Helen, das nicht fair. Du weißt genauso gut wie ich, dass mein Vater ihn nach Mexiko geschickt hat.«

»Er könnte sich auch einfach wie ein normaler Gentleman verhalten und in Großbritannien bleiben.«

Hinter ihm ertönten schwere Schritte und eine Uhr schlug zur vollen Stunde. Phinn klopfte an die offene Tür und trat ein. »Seid gegrüßt, ich komme mit Geschenken.« Er sah sich um, als wüsste er nicht, dass nur sein Bruder und Helen im Zimmer waren. »Wo sind meine Nichten?«

Als wäre sie gerade nicht giftig wie eine Schlange gewesen, eilte Helen zu ihm hin. »Phineas, ich bin so froh, dich wiederzusehen.« Sie blickte auf das in Wachstuch gewickelte Paket. »Möchtest du auf dem Sofa Platz nehmen und dein Bündel auf den Tisch legen?«

»Ausgezeichneter Vorschlag.« Er verneigte sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange, die sie ihm anbot.

Der Butler trat ein, gefolgt von einem Bediensteten mit einem Teetablett.

»Du kommst gerade rechtzeitig.« Sie ließ sich in ein kleineres Sofa ihm gegenüber sinken und fing an, einzuschenken. »Die Mädchen sind gleich unten.«

Wie auf Kommando waren plötzlich hohe Stimmen aus dem Korridor zu hören. Seine vier Nichten kamen herein, gefolgt von ihrem Kindermädchen.

»Onkel Phinn, bist du es wirklich?« Emma, die mit sieben Jahren die Älteste war, stellte sich vor ihn. Nur sie würde sich an ihn erinnern. Cicely war erst drei gewesen, als er seine Reise angetreten hatte.

»Das bin ich.« Er umarmte sie und sie fiel ihm um den Hals. »Komm, lass mich Cicely begrüßen.« Das kleine Mädchen mit blondem Haar und großen blauen Augen, genau wie ihre Mutter, kam vorsichtig auf ihn zu. Er lehnte sich vor und streckte die Arme aus. Sie erlaubte ihm, sie hochzuheben, und bald waren auch Anne, vier Jahre alt, und Rosanna, zwei Jahre alt, mit ihm auf dem Sofa. »Emma, wärst du so gut und würdest das Paket auf dem Tisch aufmachen? Ich glaube, darin sind Puppen für euch. Sie wurden in Mexiko angefertigt.« Er sah seinen Bruder und Helen an. »Ich habe euch Kakao mitgebracht.«

»Wie überaus freundlich.« Helen lächelte angespannt, als Emma ihr eine verschlossene Silberschatulle gab und ihren Schwestern danach die Stoffpuppen mit bunten Kleidern reichte.

»Onkel Phinn.« Cicely zog an seinem Ärmel. »Warum haben die Puppen schwarze Haare?«

»Weil das die häufigste Haarfarbe in Mexiko ist.«

»Trägt man dort wirklich diese Kleider?« Emma hielt ihre Puppe hoch und inspizierte das Musselin-Hemd, die bestickte Weste und den knallroten Rock. »Die sind ganz anders als unsere.«

»Das sind Aztekinnen.« Oder eher das Abbild dessen, wie sich Europäer den Kleidungsstil der Aztekinnen wünschten. Helen hätte die Puppen aus dem Haus verbannt, wären sie in die freizügigen Tücher gehüllt gewesen, die die Aztekinnen gerne trugen. »Die spanischen Damen tragen die gleiche Kleidung wie ihr.«

»Ich trage das.« Anne hielt ihrem Kindermädchen die Puppe hin. »Bitte mach mir so eins.«

»Ich schaue mal, was ich tun kann, Mylady. Und nun«, das Kindermädchen versammelte die Mädchen mit einer Geste, »ist es Zeit, dass wir zurück ins Kinderzimmer gehen und eure Geschenke weglegen, damit wir unseren Spaziergang machen können.«

»Mir wäre es wirklich lieber, wenn die Mädchen blieben.« Er war geradezu verzweifelt. »Ich will sie besser kennenlernen.«

Helen sah ihn an, als wüsste sie, was er vorhatte. »Jetzt, wo du wieder zu Hause bist, wirst du genug Zeit haben, deine Nichten kennenzulernen.« Sie nickte dem Kindermädchen zu, das stehengeblieben war. »Sie können gehen.« Kurz nachdem die Mädchen gegangen waren, stand sie auf. »Ich lasse euch beide jetzt allein.«

Phinn und sein Bruder erhoben sich und standen da, bis Helen den Salon verlassen hatte. Dann nahmen sie wieder ihre Plätze ein.

Verflucht! Er musste Dorchester beichten, dass er wieder abreisen würde, aber wie sollte er das anstellen? Vor allem, nachdem Helen ihn daran erinnert hatte, dass Phinn nie lange zu Hause blieb. Es war nicht so, als hätte er gelogen, er hatte es nur nie versprochen.

»Nun«, sein Bruder ging zur Anrichte und schenkte ihnen zwei Gläser Wein ein, »ich schätze, wir sollten uns über deine Suche nach einer Frau unterhalten.«

»Schwebt dir irgendjemand vor?« Nicht, dass Phinn dachte, sein Bruder würde den Heiratsvermittler spielen. Er nahm das Glas entgegen und trank dankbar einen Schluck Wein. Bei seiner Schwägerin sah es allerdings anders aus.

»Nein, nein.« Dorchester betrachtete den Kelch und schwenkte ihn. »Ich glaube, Helen geht zu einem abendlichen Empfang, bei dem sie auf ein paar Ideen kommen könnte.« Er sah Phinn an. »Ich nehme an, du hast niemanden vor Augen.«

»Gar niemanden.« Wie könnte er auch? Er war erst seit knapp über einem Tag wieder da. Die Unterhaltung stockte. Wenn er doch nur einen Weg finden könnte, seinem Bruder klarzumachen, dass er wirklich noch nicht heiraten wollte. »Ich werde keine Lady heiraten, zu der ich keine starke Zuneigung verspüre.« Das sollte seine Auswahlmöglichkeiten einschränken ­– und zwar auf exakt null potentielle Damen.

»Natürlich«, stimmte sein Bruder rasch zu. »Ich würde nicht wollen, dass du das Gefühl hast, du opferst dich auf.«

Was natürlich genau das war, was Phinn gerade tat. »Ich möchte die Suche nach einer Frau zeitlich begrenzen.« In jedem Fall musste er ein festes Datum haben, bis zu dem er das Land verlassen würde. »Ich erwarte, dass ich binnen eines Monats, höchstens sechs Wochen, alle geeigneten Damen kennengelernt haben werde. Außer natürlich, eine Dame taucht erst mitten in der Saison auf.« Er nahm noch einen Schluck Wein. Nach dieser Unterhaltung würde er sich von seinem Sekretär eine Flasche Brandy bringen lassen. »Wenn ich keine Frau finde, zu der ich mich hingezogen fühle«, großer Gott, ich höre mich an wie ein Idiot, »dann werde ich eine kleine Reise nach Kontinentaleuropa unternehmen. Ich verspreche, ich werde bis zum Herbst zurückkehren und es noch einmal versuchen.«

Dorchester leerte die Hälfte seines Glases und starrte Phinn einige Augenblicke lang an. Schließlich seufzte er. »Ich weiß, dass du nicht heiraten willst. Und ich weiß, dass du denkst, ich verhalte mich unfair.« Phinn öffnete den Mund, doch Dorchester hielt die Hand hoch. »Lass mich ausreden, bevor du uns beide anlügst. Du wirst mir vermutlich zustimmen, dass unser Erbe scheinbar in Gefahr ist.« Phinn fragte sich, ob es Boman schon gelungen war, die Zaubermittel in die Schlafgemächer seines Bruders und seiner Schwägerin zu schmuggeln. »Wir werden weiterhin versuchen, einen Sohn zu zeugen, aber auch du musst deinen Teil beitragen und heiraten.«

»Ich verstehe.« Phinn konnte seinem Bruder nicht einfach widersprechen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich schwöre, ich werde mein Bestes geben, um diese Saison eine Ehefrau zu finden. Trotzdem möchte ich dich um dein Einverständnis bitten, dass ich nach Frankreich reisen darf, wenn ich es innerhalb eines realistischen Zeitraumes nicht geschafft habe, das zu tun, was du verlangst. Ich werde nicht weit reisen.« Das würde er nicht tun müssen, um die Kirchen und anderen Bauten zu studieren, die er bisher nur auf Gemälden gesehen hatte. »Wie es aussieht, werde ich Einiges bewerkstelligen können, ohne weiter als bis nach Paris zu fahren. Ich hätte die Reise nach Mexiko nicht angetreten, wenn Kontinentaleuropa eine Option gewesen wäre.« Er wusste nicht, weshalb er es für nötig hielt, das zu betonen. Abgesehen davon, dass ihm die Gereiztheit seiner Schwägerin bezüglich seiner Reisen auf die Nerven ging. »Außerdem werde ich beten, dass du und Helen das nächste Mal einen Jungen bekommt.«

Sein Bruder rieb sich am Nacken, doch seine Lippen zuckten, wahrscheinlich bei der Vorstellung, dass Phinn den Kopf neigte und gläubig die Hände zusammenfaltete. »Das klingt gut. Falls du noch keine Dame gefunden haben solltest, wenn die Saison schon halb vorbei ist, dann kannst du nach Kontinentaleuropa reisen, mit der Bedingung, dass du dich im September wieder hier blicken lässt und es noch einmal versuchst.«

Frei! Dem Himmel sei Dank, er war frei. »Ich werde versuchen, eine Gattin zu finden.«

»Ich weiß, dass du das wirst.« Sein Bruder schüttelte den Kopf. »Obwohl es mich ehrlich gesagt wundern würde, wenn du es schaffst, eine Braut zu finden, bevor du die Notre-Dame findest.«

So eindrücklich die Notre-Dame wohl sein musste, Phinn war es viel mehr ein Anliegen, das Hôtel de Cluny zu besichtigen, angeblich das älteste architektonisch faszinierende Gebäude in Paris. Trotzdem war er etwas überrascht, dass sein Bruder ihn verstand. »Ich danke dir.«

»Ganz im Gegenteil, ich habe dir zu danken.« Dorchester trank noch einen Schluck Wein. »Ich bin es, dessen Pflicht es ist, einen Erben zu zeugen. Ich sollte mich nicht auf meinen kleinen Bruder verlassen müssen.«

»Das ist etwas, worüber wir keine Kontrolle haben.« Diese verfluchten Talismane sollten besser funktionieren. Würde er es schaffen, die Heirat aufzuschieben, bis sie ihr nächstes Kind bekämen? Wann auch immer das sein sollte.

»Zum Glück«, sein Bruder zog eine Grimmasse, »sollen Mädchen trotz ihrer Mitgift auf Dauer immer noch günstiger sein als zu viele Söhne. Aber wenigstens einen Sohn brauche ich dennoch.«

»Wie gesagt, ich werde mein Bestes geben.« Phinn stand auf.

»Ich habe Termine für dich vereinbart, gleich morgen um elf Uhr geht es los.« Ein leichtes Grinsen zeichnete sich auf Dorchesters Gesicht ab. »Du musst dich wie ein heiratswürdiger Gentleman anziehen und dich auch so verhalten.«

Phinn wusste, dass er eine neue Garderobe brauchte. Um ehrlich zu sein, sah seine Kleidung tatsächlich etwas abgenutzt aus. Er neigte den Kopf. »Zu Ihren Diensten.«

»Mein Kammerdiener wird einen Kammerdiener für dich einstellen.« Sein Bruder stürzte seinen Wein hinunter und stellte das Glas ab.

»Ich fände es gut, wenn Boman an der Auswahl beteiligt wäre.« So könnte Phinn sichergehen, dass der Mann nichts gegen Überseereisen hatte. »Er weiß, wer geeignet für mich ist.«

Dorchester hob eine Braue, als wüsste er, dass Phinn etwas im Schilde führte. »Wie du willst.«

Ein paar Minuten später traf Phinn auf Boman. »Hast du einen Ort gefunden, wo du die Talismane verstecken kannst?«

»Du hattest recht. Es waren in beiden Schlafzimmern welche vonnöten.« Phinn fragte sich, woher sein Sekretär diese Information eingeholt hatte, aber er war nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. »Es ist mir gelungen, sie in beiden Betten jeweils zwischen Kopfende und Matratze zu befestigen.«

»Hervorragend.« Er lächelte in sich hinein. Nächstes Jahr um diese Zeit würde sein Bruder mit etwas Glück einen Erben haben, und er müsste nicht heiraten.

»Wie lange bleiben wir in England?« Boman war leiser geworden.

»Höchstens sechs Wochen. Ich denke, ein Monat sollte reichen.« Das sollte Phinn genug Zeit geben, alle Ladies zu prüfen und abzulehnen. Es konnte keine junge Frau geben, die sich für etwas anderes interessierte als für Mode und ihr Debüt. Oder die mehr wusste als das, was man ihr zu lernen aufgetragen hatte.